Title: Kornelius Vanderwelts Gefährtin
Roman
Author: Rudolf Herzog
Release date: June 9, 2025 [eBook #76254]
Language: German
Original publication: Stuttgart und Berlin: J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger, 1928
Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net
Anmerkungen zur Transkription
Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion
des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche
Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden.
Worte in Antiquaschrift sind "kursiv" dargestellt.
Kornelius Vanderwelts Gefährtin
Roman
von
Rudolf Herzog
2.-50. Tausend
1 · 9 · 2 · 8
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger
Stuttgart und Berlin
Alle Rechte insbesondere das Übersetzungsrecht vorbehalten
Für die Vereinigten Staaten von Amerika: Copyright, 1928, by
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger, Stuttgart und Berlin
An Emma Elisabeth
[S. 7]
Das Mädchen stand mitten auf der Landstraße, als Kornelius Vanderwelts Wagen in weiter Ferne wie eine winzige Staubwolke sichtbar wurde. Die Hände hielten das im Winde flatternde Mäntelchen in den Taschen am Körper fest. Der kleine Handkoffer ruhte wohlbehütet vor dem Straßenschmutz auf den Stiefelspitzen.
Das Mädchen stand mit einem gesammelten Ausdruck des Gesichtes und sah dem Wölkchen entgegen. Die schmale Gestalt hielt sich, als wäre es so und nicht anders selbstverständlich, aufrecht in den Schultern. Aber die kräftig betonte Linie dieser Mädchenschultern und die kleinen, festen Bogen der Brüste, die der hastige Flußwind in das Gewand kerbte, zeigten wohl, daß die Schmalheit der Gestalt eher einer Herbheit der Erdentage als einer Mißgunst des Schöpfungstages zuzuschreiben sei.
Die Augen, von dem hellen Grau durchtränkt, das dem dämmernden Tageslicht gleicht, schlossen sich zu einem schmalen Spalt, sammelten blitzschnell ihr Licht und ließen es frei. Der Ausdruck des Gesichtes änderte sich keine Sekunde. Nicht verschlossen, unaufgeschlossen erschienen die merkwürdig ruhigen Züge, von einem Mädchentum zusammengehalten, das, sich selber unbewußt, nach Art scheuer Tiere eine Schutzfarbe sucht.
Es war, als ob nur die Augen atmeten, der Körper sprungbereit gehalten würde.
[S. 8]
Das Flußbett der Ruhr zur Linken, herbstroten Buschwald zur Rechten, kam Kornelius Vanderwelts Wagen näher und näher. Der Fahrer, wohl auf Geheiß des Herrn, schlug ein langsameres Zeitmaß an, und Kornelius Vanderwelt saß mit bloßem Kopfe am heruntergesenkten Fenster, ließ den Wirbelwind in seinem Haar wühlen und trank mit den Augen die weltabgewandte Flußlandschaft in sich hinein. Keine andere Erfrischung war ihm lieber zwischen den lauten Stunden der Schifferbörse und der nachmittäglichen Kontorzeit.
Kornelius Vanderwelt lachte lautlos vor sich hin, als er diesem Gedanken Raum gab. Sein Gesicht bräunte sich. Fast hätte er als ehrlicher Mann die heißen Zecherstunden der Nächte vergessen.
»He, Wilm! Was ist los?«
Das Mädchen auf der Landstraße hatte den Arm gehoben. Das freigewordene Mäntelchen flatterte wie schlagende Flügel hoch in der Luft, und der Wind preßte das Kleid fest zwischen die überschlanken Knie.
»Bitte!« rief das Mädchen dem Fahrer zu, ohne sich um den Herrn zu kümmern.
»Was will sie denn, Wilm?«
»Ob das hier richtig wär, nach Ruhrort!«
Kornelius Vanderwelt beugte sich ein wenig vor. Seine breiten Schultern füllten das Fenster. Er sagte nichts, aber seine Augen schossen ein lustiges Licht auf das gestraffte Menschlein, das ihm der Kuppler Wind in allen Linien preisgab.
»Geht hier der Weg nach Ruhrort?« rief die Stimme des Mädchens den Fahrer noch einmal an.
»Mein gnädiges Fräulein,« erwiderte Kornelius Vanderwelt, »der Fahrer ist stumm und auch taub, wenn er den Herrn fährt. Wie es sich gehört. Sie müssen also schon mit mir fürlieb nehmen.«
[S. 9]
Das Mädchen wandte den Kopf und sah den Herrn an. Es sah in den hellgefärbten Mannesaugen den Spott und mit dem unbeirrbaren Tastgefühl, das unerweckter Jugend gleich den Schlafwandlern zu eigen ist, daß der Spott nur ein Übermut sei.
»Geht hier der Weg nach Ruhrort?« rief die Mädchenstimme zum dritten Male, und keine Schwingung in ihr war anders als zuvor.
»Gewiß, mein stolzes Fräulein. Seit den Tagen der alten Römer geht hier der Weg.«
»Wie weit noch —?« fragte sie zurück.
»Wenn Sie die Fußwanderung vorziehen: zwei Stunden. Mit dem Wagen: knapp eine halbe.«
»Danke!« klang es durch den Wind. Und als sie sich bückte, um die Handtasche von den Stiefelspitzen aufzunehmen, sprang der Wind wie ein meckernder Kobold sie im Wirbel an, von links und von rechts, von vorne und im Rücken, wie sie sich auch wenden mochte, um den Mantel zu haschen, um das aufflatternde Kleid über die Knie niederzuschlagen. Über der geraden, schmalrückigen Nase grub sich eine Furche steil in die breitgelagerte Stirn. In den grauen Augen saßen, tief auf dem Grunde, heiße Lichter.
»Einsteigen!« gebot Kornelius Vanderwelt. Und als das Mädchen nicht alsogleich im Kampf mit dem Winde nachzulassen vermochte, öffnete er den Wagenschlag von innen und sprang hinaus.
Sie reckte sich augenblicks hoch und ließ flattern, was wollte. Dicht voreinander standen sie, und ihr Scheitel, von einer dunklen Wollmütze bedeckt, reichte dem Vierzigjährigen bis ans Herz.
»Sind Sie so klein?«
»Nein. Sie sind so groß!«
[S. 10]
»Richtig. Es kommt immer auf den eigenen Standpunkt an.«
Er nahm sie um die Mitte und hob sie ohne Widerrede in den Wagen. Die leichte Tasche hielt sie mit beiden Händen an sich gezogen.
»Mit halber Kraft auf Ruhrort. Los, Wilm.«
Der Wagenschlag schnappte zu. Vorwärts ging's. Links schimmerte in Schlangenlinien der weiße Wasserspiegel der Ruhr. Rechts lohte in heißer Herbstfeier der Buschwald in Rot und Gold.
Kornelius Vanderwelt streckte die Beine und äugte über die Schulter hin auf seinen Fahrgast. Der saß schmal und steif in die Ecke gerückt und hielt die Reisetasche auf den Knien.
»So setzen Sie sie doch hin. Ich stehle keine Reisetaschen. Vielleicht fresse ich von Zeit zu Zeit junge Mädchen.«
Aus ihrer Kehle stieg ein einzelner Ton. Nie im Leben wurde sich Kornelius Vanderwelt darüber klar, ob es ein Lachen oder ein Knurren gewesen sei.
»Zeigen Sie doch mal Ihren Mund. Nein. Nicht die Zähne. Das sind wahrhaftig alle Zweiunddreißig. Was tun Sie denn mit einem so herrlichen Gebiß?«
»Beißen,« sagte sie halblaut und zog die Muskeln des Leibes zusammen. Wie ein Tier, das sich zum Sprunge schickt.
Diesmal aber wußte Kornelius Vanderwelt mit Bestimmtheit, daß es ein drohendes Knurren war.
»Ach so. Das war die Antwort auf den ›Menschenfresser‹.«
Da lachte sie ein kinderhohes, erlöstes Lachen.
»Ja,« fuhr er fort, als hätte er bisher den Erklärer gemacht, »und nun wundern Sie sich wohl, daß dieses paradiesische Landschaftsbild der Vorhof zur schwarzen[S. 11] Hölle Ruhrort ist. Aber das muß wohl so sein. Als ausgleichende Gerechtigkeit. Die in der Hölle braten, haben den Himmel am nötigsten. Zeigen Sie doch mal Ihre Augen her.«
Starr, die Haltung versteift, sah sie ihm mitten in die Augen.
Er tat, als gewahre er die Abwehr nicht. Er forschte in Ruhe weiter.
»Hm — grau. Ist das nun grauer Himmel oder — ist es der Vorhang zum Himmel?«
»Fragen Sie doch die eigenen Augen! Sie sind so grau wie die meinen!«
»Kind, Kind, das hätten Sie sich nicht wünschen sollen. Auch nicht im Zorn. Wenn ich danach meine grauen Augen frage — weiß Gott, Sie haben recht, im Grunde sind sie grau wie die Ihrigen — wenn ich danach meine grauen Augen frage, werden sie blitzblau vor lauter wilder Freud'. Denn nur sie wissen, was hinter ihrem Vorhang steckt. Bitte — nehmen Sie doch mal die Mütze ab.«
»Weshalb —?«
»Weshalb? Weil ich glaube, daß wir auch von der gleichen Haarfarbe sind. Menschen, die durch die höhere Bildung jeden Blick verloren haben, nennen es Tizianblond. Wir aber wissen, daß es das heiße Blond unserer Vorfahren gewesen ist, denen Sonne und Seewasser abwechselnd den Schädel peitschte. Die meinen waren Seeräuber. Fraglos! Und die Ihren?«
»Vielleicht nicht weit davon.« — —
Sein Auge, voller Belustigung unter dem erkünstelten Ernst, prüfte sie genauer. Wen hatte er sich da aufgeladen? Was lief denn zu Fuß mit einer Reisetasche stundenweit über die Landstraße und ließ sich zerzausen? Eine kleine Arbeiterin oder eine kleine Abenteurerin? In Kornelius[S. 12] Vanderwelt kämpfte der scharfe Geschäftsmann, für den er über das ganze Hafengebiet Ruhrort hinaus bis zu den Zechen und Hochöfen im weiten Umkreis galt, mit dem noch schärferen, laut bejubelten und heimlich getadelten Lebensbezwinger einen nur kurzen Kampf und unterlag in der Freude am Augenblick.
»Seltsam. Da reden sich die Menschen ein, nur die ungleichen Pole zögen sich an. Die Hellen und die Dunklen. Die Starken und die Schlappen. Die Glückseligen, die ihr Blut wie Götter verspüren, und die Armseligen, denen die Angst den Magen verstört. Ewige Eselei. Als ob der königliche Löwe — nein, werden wir nicht hochtrabend — als ob der starke Wolf mit einer anderen Kumpanin jagen könnte als mit einer Wölfin. Stimmt meine Rechnung? Wie alt bist du eigentlich, Kind?«
»Das Kind,« wiederholte sie, und durch die Nüstern pfiff der Atem, »das Kind ist zwanzig Jahre alt.«
In ihrer Mädchenentrüstung schien sie ihm zum jungen Weibe zu wachsen. Das gefiel ihm.
»Hältst du auch das Fahrgeld bereit?«
»Das — Fahrgeld?«
»Aber — aber! Ein jeder Gast muß doch das Fahrgeld im voraus entrichten. Auf der Eisenbahn und in der Postkutsche. Selbst im Gasthof, wenn er ein gänzlich Unbekannter ist.«
Ihr Gesicht, das in der Ruhe verharrt hatte, erblaßte vor innerer Erregung. Noch schmaler schien es. Noch schmaler die gerade Nase, der dunkle, fest zusammengepreßte Mund. Die Augen aber funkelten aus dem Blaß in einem noch tieferen und heißeren Grau.
»Was kostet mich die Fahrt?«
Ihre Hände nestelten an der Reisetasche. Sie suchten das Schloß zu öffnen. Und Kornelius Vanderwelt sah auf[S. 13] diese Hände und sah, daß sie feingegliedert und in jedem Glied ausdrucksvoll waren, wie ein erlesen Kunstwerk, oder doch wie erlesenes Werkzeug, der Kunst die feinsten Quellen zu erschließen. Er nahm die beiden Hände in seine starken, gut gehaltenen Manneshände und schloß sie darin ein, daß sie wie Edelmetall im Erzgestein lagerten. In der Landschaft draußen war der silberhelle Fluß, war das Paradiesgärtlein verschwunden. Auf schwarzgesprenkelter Halde wuchsen statt lodernder Purpurbäume rauchende Schlote auf, einzeln erst, dann in Heeresmassen, fernhin von den Festungstürmen speiender Hochöfen umgrenzt.
»Was die Fahrt kostet?« fragte Kornelius Vanderwelt zurück. »Nein, nicht in Mark und Pfennigen ausrechnen. Im Märchen geht es immer um Sternentaler. Und die heilige Zahl ist drei. Zuck' nicht mit den Fingerlein. Gib dein Mündchen. Einmal — zweimal — dreimal — — —«
Und er küßte sie kräftig auf die linke Wange und küßte sie kräftig auf die rechte Wange und küßte sie ganz zart nur, als wär es ein Streicheln, über die Linie des Mundes.
Ein Ruck — ihre Hände waren frei, schlugen nach ihm, zu Fäusten geballt, in entfesseltem Zorn.
»Einmal — zweimal — dreimal!«
Er wischte die Fäuste wie Blumenblätter von der Stirn, kämmte die Fingerlein durch und sagte nur: »Falsch. Beim dritten Mal hab' ich nur gestreichelt, du aber hast auch zum drittenmal geschlagen. Nun hat das Märchen einen falschen Ausklang, und wir müssen es wiederholen.«
Da schossen ihr die Zornestränen aus den Augen ...
Schmal und steif saß sie in die Ecke gerückt und hielt die Reisetasche auf den Knien. Aber die Muskeln des Leibes zogen sich zusammen.
»Bitte!« bat Kornelius Vanderwelt, und er bat wie ein großer, ungestümer Junge, der sein Ungestüm bereut und[S. 14] doch vor einem kleinen Mädchen nicht die Segel streichen möchte. »Bitte! Keine Tränen weinen! Tränen kann ich nicht sehen! Hörst du auch? Oder ich muß sie alle fortküssen. Alle. Aus deinen Augen. Von deinen Wangen. Und wenn sie dir zwischen die Brüstlein laufen, dann hilft es nichts: ich muß sie — alle — alle —«
Was war geschehen?
Der Wagen kreuzte in der Vorstadt eine elektrische Straßenbahn. Er fiel ein paar Sekunden in Schritt. Und schon hatte der Fuß des Mädchens die Türklinke niedergedrückt, hatte das Knie des Mädchens den Wagenschlag weit aufgestoßen. Ein geschmeidiges Tier konnte nicht schneller in der Freiheit sein.
Wo sie untergetaucht war im Gewühl, vermochte Kornelius Vanderwelt in den wenigen Augenblicken, die ihm belassen wurden, nicht zu ergründen. »Wagenschlag schließen! Wollen Sie Kleinholz machen?« donnerte ein Schutzmann, erkannte Kornelius Vanderwelt, legte die Hand an den Helm und grüßte mit seinem fröhlichsten Gesicht.
Und Kornelius Vanderwelt grüßte mit seinem fröhlichsten Gesichte wieder, mit den hellen und übermütigen Augen, die ihm die Liebe alles Hafenvolkes gewannen und den Neid aller eigenen Kreise, zog den Wagenschlag ins Schloß und rief den Fahrer an.
»Zum Kontor. Los, Wilm.«
Er saß, die Beine übereinandergeschlagen, das Kinn in der aufgestützten Hand versenkt, grübelnd im Polster. Aber er grübelte nicht über das verschwundene Mädchen. Hatte er auf seiner Entspannungsfahrt überhaupt ein Mädchen zu Gesicht bekommen? Oder gar ein paar Herzschläge lang im Arm gehalten? Unsinn. Die Wasser des Rheins stiegen, und die Frachten würden fallen zu Berg und zu Tal, gen[S. 15] Mannheim und gen Rotterdam. Aber da war die selten so günstige Arbeitslage auf dem Kohlenmarkt. Jeder Zeche, jedem Großhändler mußte an der Ausnutzung gelegen sein, und die bedrohten Frachtlöhne würden sich wieder hochreißen lassen.
Kornelius Vanderwelt saß im Lederpolster seines Wagens und seine Gedanken fuhren sieghaft rheinauf und rheinab und weit über die schiffbefahrene See — —
Träumte er und wachte er zu gleicher Zeit? Konnte er seine Wachheit in Traumländer hinüberspielen und aus seinen Traumbildern heraus haarscharf den wachen Tag überblicken? Der Wagen bog in die Straßen Duisburgs, glitt durch gepflegte Anlagen, wand sich durch das Gewirr der langen Häuserzeilen, die angefüllt waren mit dem Verkehrstreiben und der geschäftlichen Anspannung der arbeitschwangeren, arbeitgebärenden Großstadt. Und Kornelius Vanderwelts Augenlider öffneten sich, sobald sie sich öffnen mußten, und senkten sich, sobald die Achtsamkeit nicht verlangt wurde. Jetzt neigte er in höflichem Ernst den Oberkörper, und der Gruß galt einem vorüberbrausenden Zechenherrn und schien zu sagen: Hier haben Sie den Mann für die schnellste Verfrachtung Ihrer Förderungen. Jetzt hob er grüßend die Hand, und der kurze Wink rief einem eifrig dahintrottenden Geschäftsfreunde zu: Halbpart, mein Junge, oder du kommst über Bord. Jetzt zeigte er nur in vertraulichem Lachen die Zähne, und der Schiffer, der in Strickweste und weiten Manchesterhosen breitbeinig eine Hafenbrücke überquerte, drehte bei, lüftete grinsend die Mütze und machte die Gebärde des Schnapsverholens, eine Gebärde, die von Kornelius Vanderwelt in einem schönen Gleichmaß wiederholt wurde, gleichsam als füge er ein Prosit hinzu. Und wiederum schlossen sich träumerisch die Augenlider[S. 16] bis auf einen schmalen Schlitz, durch den er den wachen Tag einließ.
Enger und rauchiger wurden die Straßen, als der Wagen die letzte der Hafenbrücken hinter sich gelassen hatte. Ein Gewirr von Gassen und Wasserzeilen tat sich auf. Geschwärzte Giebel schwammen auf kohlenschwarzen Wasserspiegeln. Und Schiffsrumpf an Schiffsrumpf. Plump, riesenstark, mit unersättlich geöffneten Mäulern.
Ruhrort — das schwarze Venedig.
Und Kornelius Vanderwelt dachte aus Träumen und Wachen, als der Wagen in eine Toreinfahrt bog und stand: Immer mehr Land muß noch verschwinden, immer mehr Wasser sich breiten, Rheinwasser und Ruhrwasser, in Hafenbecken und Kanälen, und die Kanäle sollen die Kohlen aus den Zechenfeldern saugen, und die Ruhrhäfen sollen sie aufschlucken und unermüdlich die Beute dem Herrn überantworten, dem Rhein, und dem Herrn des Rheins — uns — uns, uns!
Aufrecht, nur noch die Wachheit des Tages in den Augen, stieg Kornelius Vanderwelt aus dem Wagen und schritt ins Kontorgebäude. Die schreibenden und rechnenden Herren an den Pulten grüßten kurz und fuhren ungestört in ihren Arbeiten fort. Wortlos war Kornelius Vanderwelts Gegengruß. Ein lautes Wort, und ein überflüssiges zumal, konnte eine Berechnung über den Haufen werfen.
Aus einer holzvergitterten Nische erhob sich der bevollmächtigte Geschäftsführer und folgte mit einem Bündel Papiere dem Geschäftsherrn in das Sonderkontor. Kornelius Vanderwelt reichte ihm die Hand, hing seinen Hut an den Haken und ließ sich in seinem Drehsessel nieder. Stumm nahm er das Bündel Papiere entgegen, glättete es auf dem Schreibtisch und begann es durchzusehen. Kaum daß die Blicke abglitten, zog die Rechte Bleistift und Papierblock[S. 17] heran, schrieb kurze Merkworte nieder, Zahlen, Gleichungen. Die Blätter raschelten und schichteten sich zur Seite.
»Setzen Sie sich doch, Beckenried.«
Der ergraute Mitarbeiter nahm geräuschlos an der gegenüberliegenden Breite des Tisches Platz. Er sah stumm auf die hin und her gleitende Schreibhand des Herrn. Nur wenn die Schreibhand innehielt oder die Fingerknöchel auf den Tischrand trommelten, vergewisserte er sich des Papieres, das eben vorlag, und mit einem kurzen Aufblick der Gesichtszüge des Herrn.
»Mehr Schiffsraum heran, mehr Schiffsraum. Bevor die Zechen in ihren Kohlenhalden ersticken, verschreiben sie sich mit Haut und Haaren dem Herrn Eisenbahnminister. Und den kann von uns aus der Teufel holen.«
»Dann müßt' sich der Teufel selber holen.«
»Was soll das? Ach so, Sie meinen: Der, dem man sich mit Haut und Haaren verschreibt, müßt' unbedingt auch ein Teufel sein. Lieber Beckenried, nur für Ihr mathematisches Hirn. In Wirklichkeit ist die Sache gottlob oft anders. Weiter im Text. Mit Frachtaufträgen sind die Herrschaften verdammt freigebig, wenn der Winter vor der Tür steht und der kleinste Kanonenofen nach Kohlen schreit. Mit den Frachtpreisen aber zähe wie Hinterleder. Ne, ne, ich schimpfe ja nicht! Wozu wären wir denn da?«
Er ließ auf dem Papierblock eine Reihe Zahlen aufmarschieren und hielt sie seinem Mitarbeiter hin.
»Stimmt das mit den Ihren? Vergleichen Sie mal.«
»Es stimmt. Wie immer.«
»Wollen Sie mit diesem ›wie immer‹ mir eine Schmeichelei sagen oder Ihrer eigenen Person? Schön, die unbedingt notwendige Tonnenzahl stände fest. Was ist in[S. 18] Summa an Kahnraum und Schleppdampfern heute früh angeboten? Sind die Abmachungen, die ich von der Schifferbörse herübergab, ausreichend? Tonnengehalt! Pferdekräfte! Los, lieber Beckenried.«
»Mit den nachbörslichen Aufträgen brauchen wir das Doppelte. Das ist nicht im Handumdrehen zu beschaffen, denn es ist nicht nur die Firma Kornelius Vanderwelt auf der Jagd nach Schiffsraum.«
»Beckenried! Wie oft soll ich Ihnen diese Wahnvorstellungen noch ausreden! Nur die Firma Kornelius Vanderwelt braucht Frachtkähne und Schlepper. Nur die Firma Kornelius Vanderwelt ist auf der Jagd nach Schiffsraum. Für uns nur Kornelius Vanderwelt! Alle übrigen können uns — nun, Beckenried, befleißigen wir uns im Verkehr mit der Geschäftswelt der ausgesuchtesten Höflichkeit — also sie können es auch unterlassen.«
Beckenried verbeugte sich kühl.
»Ich habe übrigens ›sie‹ klein geschrieben,« sagte Kornelius Vanderwelt sachlich. »Und nun fahren Sie fort.«
»Abgemacht,« erklärte der im Geschäft Ergraute, ohne eine Miene zu verziehen, »der Schiffsraum ist nur für uns da. Aber die verschiedenen Arten von Schiffsraum? An der einen Sorte ist viel und an der anderen ist wenig zu verdienen, besonders wenn es, wie gerade jetzt, um scharfe Berechnungen geht.«
»Mein verehrter Freund und Mitarbeiter ist mal wieder unzufrieden mit mir?«
»Wenn ich ein Feigling wäre, was ich aber nicht bin, und hätte Angst vor Ihnen,« sagte Beckenried, hauchte auf die Gläser seines Kneifers und putzte sie spiegelblank, »so würde ich mir bei jeder Maßnahme des Oberhauptes denken: der Herr ist klüger als du. Oder sonst was.«
[S. 19]
»Das ›oder sonst was‹ verbitte ich mir. Weiter.«
»Halte ich mich aber in Wirklichkeit für Ihren Freund und Mitarbeiter, so ergibt sich für mich daraus die unbedingte Geschäftspflicht, aus allen Unternehmungen die höchsten Gewinne herauszuwirtschaften.«
»Mir ganz aus dem Herzen gesprochen, lieber Beckenried.«
»Ich will Ihnen aber gar nicht aus Ihrem Herzen heraussprechen, sondern von Hirn zu Hirn.«
Kornelius Vanderwelt hob langsam den Kopf. Es war ein schmaler, fester Kopf mit weitausladenden Stirnknochen. Das dichte blonde Haar trug einen schimmernden Glanz, wie der lichte Schnurrbart, den er behutsam mit den Fingerspitzen strich. Und nun hob er langsam die Augenlider und lächelte seinen Ratgeber mit dem hellsten Hell seiner grauen Augen an.
»Von Hirn zu Hirn, Beckenried. Das ist ein Wort. Aber was wäre das Hirn ohne Herz? Eine Maschine unter Druck bis zum Bersten. Ein Reiter ohne Buddel. Ein Mädchen ohne Liebe. Was nützte dem Reiter alle Schenkelkraft und dem Mädchen alle Schönheit, wenn nicht zum Ausgleich irgendwo eine derbe Erdenfreude winkte. Mein kaufmännisches Hirn treibt mich zu den Schiffsparks der Großreeder. Dort wickeln sich die Geschäfte schneller und einträglicher ab. Darum habe ich aber doch mein Herz, das seine Freude will, für die Kleinschiffer entdeckt, für die Herren ›Partikuliers‹, wie sie sich so bieder und eigentumsstolz benennen, und wo für die Krippengäule gedroschen wird, bleiben wohl auch ein paar Hände voll für das lustige Federvieh.«
»Es ist nicht mein Geschäft,« sagte der Vertraute, steckte den Kneifer ein und legte die Papiere zusammen. »Ich habe hier nur Rat zu erteilen.«
»Gut,« entgegnete Kornelius Vanderwelt. »Sie haben[S. 20] ihn erteilt. Und nun will ich Ihnen auch einen Rat erteilen. Sie waren einmal ein fröhlicher Bursche. Bitte, keine erstaunten Augen. Sie haben mit mir manche Flasche leergetrunken und sich manche Ruhrorter Nacht um die Ohren geknallt, als Sie noch jünger waren und die Firma noch unbedeutend. Hüten Sie sich vor dem Verknöchern. Es tritt ein, wenn wir das Geld nur noch um des Geldes willen einscheffeln und nicht mehr wegen seiner befreienden Eigenschaften. Ich bin weiß Gott ein scharfer Rechner und rieche einer Mark an, ob ein Taler darin steckt, wenn die anderen sie noch mißtrauisch in den Fingern herumdrehen. Aber letzten Endes doch nur, um auch mehr Spaß im Leben davon zu haben als die Pfennigfuchser, die ihren Spaß im Geldschrank aufhäufen, bis ihnen jäh der Sargdeckel auf die Nase fällt. Lieber Freund, nur das Leben erhält jung, und dazu gehört das Lebenlassen.«
»Sie sind entweder eine Dichternatur oder ein ganz Gerissener.«
»Also bleiben Sie bei dem Ganzgerissenen, da Ihnen die Künste im Kaufmannsleben ein Greuel sind.« Er erhob sich, legte dem kleineren den Arm um die Schulter und wiegte ihn hin und her. »Also denken Sie, daß ich für meine Liebe zu den Herren Partikuliers nicht nur poetische, sondern auch sehr eigensüchtige Gründe habe. Daß es mir nicht nur auf die Saufnächte mit den urwüchsigen Kerls ankommt, sondern auch — auf ihre Gegenliebe — am nüchternen Tag — auf der Schifferbörse — bei den Abstimmungen — und so weiter! — Verstanden? — Verstanden? — Und nun stecken Sie sich mal diese Zigarre an und lassen Sie mich arbeiten.«
Der Arbeitsgefährte kniff die Augen ein. Das Hin- und Hergewiegtwerden hatte ihn schwindlig gemacht.
»Ich verstehe. Ich verstehe. Und ich verstehe immer:[S. 21] Volkstribun. Soweit mir aus meiner unerfreulichen Schulzeit her noch bekannt ist, haben Volkstribunen immer noch den Hals gebrochen. Aus Verschwendungssucht, um volkstümlich zu bleiben. Oder aus Herrschersucht, um die Patrizier kleinzukriegen. Den Hals aber hat's immer gekostet.«
Kornelius Vanderwelt dehnte sich in den breiten Schultern. Und die Augen des Tadlers freuten sich, ob sie wollten oder nicht, an dem straffen, muskelharten Körper.
»Lassen Sie das meine Sorge sein, Beckenried. Ob Sie einmal aus Altersschwäche, sozusagen stückweise in den Himmel kommen, oder durch einen wilden Sprung — doch das gehört nicht ins Kontor. Liegt nichts Wichtigeres mehr vor, so können wir unsere Besprechung beenden. Bei den Einzelkähnen der Partikulierschiffer bleibt es.«
»Die Rotterdamer Maatschappij fragte durch den Fernsprecher an, ob sie dem nächstfälligen Schleppzug Rückfrachten geben könnte. Preise nach den Ruhrorter Frachtkursen.«
Ein Blitzstrahl schoß aus den grauhellen Augen. Und der Blitzstrahl verzehrte jählings den Volkstribunen und ließ ebenso jählings den Geschäftsherrn Kornelius Vanderwelt erscheinen.
»Hält uns die Rotterdamer Maatschappij für Hinterwäldler? Solch eine Dummpfiffigkeit. Ruhrorter Frachtkurse! Rotterdamer Frachtkurse, und wenn die Seeschiffe nicht zur Stunde den Rotterdamer Hafen anlaufen, und die Übernahme der Rückfrachten sich nicht wie ein Uhrwerk vollzieht, gesalzene Aufschläge!«
»Die holländischen Gesellschaften sind großmächtige Leute, Herr Vanderwelt. Vor dieser Gefahr kann man nicht die Augen verschließen. Und bevor wir die Kähne leer nach Hause schleppen lassen, sollte man den kleinen Gewinn ...«
»Jawohl. Das sollte man. Wenn kein größerer herauszuschlagen wäre. Und der ist herauszuschlagen. Hier«, er[S. 22] pochte auf ein paar Zettel, »in diesen frischen Drahtnachrichten liegen die letzten Wetter- und Wasseransagen vor. Schneefälle in der Schweiz und im Schwarzwald. Pegelstand bei Kehl und bei Mainz leicht steigend. Nur dieser verrückte Wind braucht sich noch zu legen, und Sie sollen mal was von Regengüssen erleben. Ich sage Ihnen, innerhalb einer Woche haben wir einen Meter Wasser mehr im Rhein, und das Frachtgeschäft drängt bis zur Atemlosigkeit zu Berg und zu Tal und reißt den letzten Kahn mit, der noch zu schwimmen vermag.«
»Was soll ich nach Rotterdam sagen?«
»Ich besorg's schon selbst. Meine Stimme ist zuweilen verständlicher.«
Er nahm den Hörer vom Fernsprecher. »Kontor? Stellen Sie doch eine dringende Verbindung mit der Rotterdamer Maatschappij her. Danke.« Er legte den Hörer auf die Gabel. »So, Beckenried, und nun wollen wir einmal in den Rotterdamer Großherrenschädeln das Wetter aufklaren. Großmächtige Leute! Holländische Gefahr! Für die Rheinschiffahrt und das Frachtengeschäft! Alles wahr. Alles unzweifelhaft richtig, wenn ihr Ruhrorter euch vor jedem holländischen Gulden klein macht, statt, wenn's darauf ankommt, drauf zu pfeifen.«
»Geschäft ist Geschäft, Herr Vanderwelt.«
»Ach, Beckenried, ich habe Sie höher eingeschätzt. Sie haben doch so manche Nacht mit mir gesoffen, als Sie noch nicht verledert waren, und der Wein fördert die Stimme der Natur. Da hätten Sie aus der meinen lernen können. Geschäft ist Geschäft nur für Schreiberseelen, denen es Hekuba ist, von wem Sie befehligt werden, wenn nur am Monatsletzten bei Heller und Pfennig die Löhnung auf dem Tische liegt. Ein jedes Geschäft ist aber noch lange kein Geschäft für die Kapitänsseelen, die unter fremder[S. 23] Flagge Schiffsjungendienste verrichten sollen, und wenn sie noch soviel Geld verdienen und Sonntags sogar den Kapitänsrock tragen dürfen. Geld ist gut. Aber Herrenrecht im Hause ist besser. Hallo, der Fernsprecher.«
Mit kühlen Augen nahm er den Hörer von der Gabel.
»Kornelius Vanderwelt. Ja, selbst. Welche Zeche? Ah, guten Tag, Herr Direktor.«
Seine Hand tastete nach Bleistift und Papierblock, während sein Ohr dem Sprecher folgte. Jetzt setzte die Hand einige Zahlen aufs Papier. Der Blick überflog sie.
»Vielen Dank. Ein schöner Auftrag. Fast zu schön, um ihn zu bezwingen. Wie meinen, Herr Direktor? Ein Hexenmeister wie ich? Sie kennen doch das Dichterwort: ›Wächst mir ein Schleppzug auf der flachen Hand?‹ Und für zwanzigtausend Tonnen brauche ich gut und gern drei Schleppzüge, wenn ich für je fünf große Kähne in der heutigen Bedrängnis drei starke Schleppdampfer auftreibe. Nun, für Geld ist alles zu haben.«
Er horchte aufs neue in den Hörer hinein. Seine Augen lachten stillverschwiegen.
»Natürlich gebe ich Ihrem Auftrag den Vorzug vor allen anderen. Ich bin sogar bereit, ein großes Geschäft mit Rotterdam Ihretwegen schwimmen zu lassen. Bitte, bitte, das ist eine Selbstverständlichkeit. Deutsche an die Front! Aber wenn ich Ihnen behilflich sein kann, daß Sie mit zwanzigtausend Tonnen vor Ihren Mitbewerbern in Mannheim landen und die höheren Preise hereinholen können, so müssen Sie mir auch ein paar Pfennige mehr für die Schiffer bewilligen. Wie meinen? Jaja. Nennen Sie es nur ruhig Bestechungsgelder. Der Name tut wirklich nichts zur Sache.«
Und als Kornelius Vanderwelt wieder in den Hörer horchte, waren seine Augen falkenscharf.
[S. 24]
»Abgemacht. Versicherung und Verladekosten zu Ihren Lasten. Es wird ein Beutezug für Sie werden, für den ich gutsage, und ich freue mich auf die Flasche Hallgartener Nußbrunnen Auslese, zu der Sie mich im Namen Ihrer Aktiengesellschaft in der ›Erholung‹ einladen werden. Frohes Wiedersehen!«
Beckenried schrieb den Auftrag nieder, wie Kornelius Vanderwelt ihn vorsprach. Er schüttelte den Kopf.
»Kein Schiffsbefrachter Ruhrorts wird den Laderaum in so knapper Zeit, wie hier gewünscht wird, zusammenbekommen. Verlassen Sie sich darauf.«
»Ich werde mich lieber auf den Volkstribunen verlassen,« sagte Kornelius Vanderwelt und blickte durch das Fenster über den Hafendamm ins Weite.
Noch einmal schrillte die Glocke des Fernsprechers. Schriller. Anhaltender. Mit der Erregung, mit der sie eine Auslandsverbindung anzeigt. Die Rotterdamer Maatschappij meldete sich.
»Hier Kornelius Vanderwelt in Person. Jawohl, danke sehr, Ihre Anfrage wurde mir übermittelt. Leider, leider ist es so gut wie eine Unmöglichkeit, die Kähne auch nur vierundzwanzig Stunden über die Ausladezeit im Rotterdamer Hafen liegen zu lassen. Wir bekommen großes Wasser, und das Frachtengeschäft hier in Ruhrort hat sich über Nacht zum Hochbetrieb entwickelt. Die Schifferbörse war noch von der Plötzlichkeit überrumpelt, aber morgen schon werden wir den erfreulichen Umschwung an den Frachtkursen verspüren. Wie hoch ich die allgemeine Steigerung berechne?. Sie wird bis hundert Prozent gehen. Und Sie werden es uns nicht verargen, daß wir allen Leerraum von draußen schleunigst zurückpfeifen und an der hohen Welle teilhaben lassen.«
Kornelius Vanderwelt sprach über den Fernsprecher[S. 25] hinweg. Er richtete seine Ausführungen unmittelbar an seinen Mitarbeiter Beckenried, der sie mit einem verlegenen Lächeln entgegennahm.
»Ob ich das Angebot der Maatschappij annehme? Oh, das meinen Sie nicht ernsthaft. Ich verstehe nicht. Bei unserer alten und bewährten Geschäftsverbindung? Ja, das ist auch mein Stolz, daß sich unsere alte Verbindung bei gutem und bei schlechtem Wetter bewährt hat, und ich will es, wenn Sie sich umgehend entschließen, auf meine Gefahr nehmen, Ihnen die Kähne mit nur fünfzig Prozent über heutigen Ruhrorter Kurs zur Verfügung zu lassen. Wie? Was? Entschuldigung, ich erhalte gerade eine Nachricht. Eine unserer großen Kohlenzechen verlangt von mir dringendste Anschaffung von zwanzigtausend Tonnen Schiffsraum. Das ist schon der Anfang. Alle Mann an Bord und jeder Kahn heran!«
Und Beckenried jedes Wort auf den Kopf zusagend, wiederholte Kornelius Vanderwelt den Rotterdamer Zuruf.
»Mit fünfzig Prozent über heutigen Ruhrorter Kurs. Gut, ich schließe ab, um Ihnen meine Dienstfreundlichkeit zu zeigen. Selbstverständlich der gleiche erhöhte Satz für Wartezeit und Ladezeit. Nein, nein, daran ist nicht zu rütteln. Und nun hoffe ich, daß Sie mich und meine Dienste zu allen Zeiten bevorzugen. Glückauf!«
»Glückauf,« wiederholte er und machte seinem Geschäftsführer eine tiefe Verbeugung.
»O ja. O ja doch. Wenn man Kornelius Vanderwelt ist und sein eigener Herr und Meister —«
»Wenn die Beckenrieds nicht mal über das kleine Einmaleins Herr und Meister werden können, können sie keine Vanderwelts werden, die nur im großen Einmaleins tief Atem holen. Darum keine Feindschaft und jeder an seinem Platz. Lassen Sie im Kontor die Berechnungen durchführen[S. 26] und die Güterversicherungen. Überprüfen Sie sie bis in die letzte Pore. Ich unterschreibe blindlings. Mann, wenn ich Sie nicht hätte, Ihr Kornelius Vanderwelt könnte Partikulierschiffer werden auf seinem Kohlenkahn.«
Ein Lächeln glitt um Beckenrieds gekniffenen Mund. Ein Lächeln stiller Zustimmung und Selbstbewertung. Er nahm die Hand, die Kornelius Vanderwelt ihm rasch entgegenstreckte, und empfahl sich.
Bis zum Abend saß Kornelius Vanderwelt über seine Arbeit gebeugt. Seine Schriftzüge bedeckten Seiten. Seine Zahlenreihen füllten Bogen an. O nein, es war keine Rede von blindlings erteilten Unterschriften. Es war nur die Rede gewesen von der Kunst der Menschenbehandlung. Früh brach die Dunkelheit in das enge Hafenviertel. Gewohnheitsmäßig suchte die Linke den Lichtschalter der Tischlampe, während die Rechte unbeirrt weiterschrieb. Flog der Blick durch das Fenster, so sah er die Lichter aufflammen in allen Geschäftsräumen der Häuser ringsum, die Bordlichter an den Kähnen, die Fahrt- und Haltlaternen an den Masten der Schlepper. Die Festbeleuchtung des schwarzen Venedigs.
Kornelius Vanderwelts Atem ging tiefer. Für Sekundenlänge sog er das Bild in sich hinein, horchte er, als wäre es ein feingesetztes Musikstück, auf die grellen Pfiffe, die aus der Dunkelheit ins Licht stießen, auf das Gerassel ferner Ankerketten, das Anrollen der Eisenbahnwagen, das Aufkreischen der Verladekipper, die mit unaufhörlichem Hungergestöhn den Inhalt der Wagen schluckten und ihn lustbrüllend in die Kähne spien. Und in seinen Augen lagerte der Widerschein des Musikstückes, während er rechnete und schrieb, während er den Hörer vom Fernsprecher hob und kurze Gespräche mit diesem und mit jenem unsichtbaren Kapellmeister führte oder mit einem der Musikanten selbst.[S. 27] Wieder und wieder öffnete sich die Tür zu seinem Sonderkontor, wurden Stöße von Briefen, Bestätigungsschreiben, Versicherungsscheinen zur Unterschrift auf seinen Arbeitstisch geschoben, wartete der Bote, bis der Herr scharfäugig die Zahlen verglichen, die Briefe durchflogen, unterschrieben oder zur Abänderung zurückgegeben hatte. Ein Kleines noch, und im Hauptkontor scharrten Schuhe eilig den Boden, klappten Türen, wurde es kirchenstill.
Das gelbliche Gesicht Beckenrieds blickte durch den Türspalt, sah fragend auf den arbeitversponnenen Herrn.
»Sie haben wohl Durst, Beckenried? Den verdanken Sie mir.«
»Ich verdanke Ihnen eine Leberanschoppung, Herr Vanderwelt.«
Kornelius Vanderwelt schloß den Schreibtisch. Er reckte die Glieder wie ein Soldat nach der Schlacht. Und gähnte, bis die Kiefern knackten.
»Ne, Geliebter, die verdanken Sie Ihrer Unmäßigkeit. Meinethalben der — der — falschen Gewichtsverteilung. Da neigt sich der Kahn zu Wasser. Zum kohlenschwarzen Wasser, Beckenried, statt zum himmelsgoldenen Wein. Ich will ein Menschenfreund sein und Sie noch einmal in die Lehre nehmen.«
»Gott soll mich bewahren. Zerrütten Sie Ihre Gesundheit auf eigene Rechnung. Meine Leber haben Sie doch in früheren Jahren genug mißhandelt.«
»Gute Nacht, undankbarer Schüler. Und was meine Gesundheit betrifft —« er spannte die Brust und schlug lachend mit der Faust auf die Wölbung. »Nun? Hört sich das wie Zerrüttung an?«
»Ich müßte lügen, Herr Vanderwelt. Es hört sich an wie eine Weinkanne.« Und er ließ den Geschäftsherrn an sich vorüberschreiten, um hinter ihm die Kontortür zu schließen.
[S. 28]
»Gehen Sie schlafen, Beckenried. Ihnen fehlt jede Begabung für die Musik des Lebens.«
»Gute Nacht, Herr Vanderwelt.«
Kornelius Vanderwelt schritt den Damm entlang, verharrte am Hafenmund und schnupperte den teerdurchtränkten Herbstwind ein. Südwind, dachte er, aber es ist schon ein Hauch von Feuchtigkeit darin, und morgen werden wir Westwind haben. Westwind. Regen. Großes Wasser. Ruhrorter Frühlingsluft — —!
Die Häfen lagen ausgestorben. Der Feierabend hüllte sie in seine warmen, weichen Schwingen. Nur die Hochöfen gluteten im weiten Rund wie ruhlos fiebernde, schweratmende Vulkane.
Von einem Holländer Kahn glitten die Klänge einer Harmonika ins Dunkle. »Wilhelmus von Nassauen« spielte der Schiffer.
Von einem Oberländer Kahn klang die heimatgefärbte Antwort.
schluchzte die Harmonika und ging in einen handfesten Gassenhauer über. Irgendwo auf einem Kahn schlug ein Spitz an. Ein zweiter, ein dritter, ein Dutzend antworteten. Eine Minute lang beherrschte das hellgestimmte Gekläff das weite, nächtliche Hafengebiet und brach jäh ab.
Eine Weile noch horchte Kornelius Vanderwelt in das Schweigen hinein. Dann sah er im Scheine der Hafenlaternen nach der Taschenuhr, bog in die gartengeschmückte Rheinallee ein und schritt ausholend der mächtigen Brücke zu, die den dahinflutenden Strom des Rheines überspannt und Ufer an Ufer reißt, Menschen zu Menschen, Arbeit zu Arbeit, Freude zu Freude, und stand vor seinem Hause.
Durch einen Vorgarten ging er hindurch. Rosensträucher,[S. 29] noch einmal aufjauchzend in heißer Blütenpracht, boten dem Herbstwind Trotz. Eine hochaufragende Weide, Wacht und Schönheit in eins, warf aus verkuppelter Krone undurchdringbares Zweigegewirr, silbrig wogende Schleier über das weiße, schlichte Landhaus, lockend und bergend.
Kornelius Vanderwelt spannte das Gehör, als er den getäfelten Hausflur betrat. Er verzog den Mund, wie von Schmerzen befallen. Klavierspiel drang an sein Ohr. Vorschriftsmäßig in der Taktgestaltung, aber hart im Anschlag, unverstanden im Wesentlichsten, dem Geist. Und zu dem Kinderspiel gebot eine trockene Frauenstimme unablässig: »Eins, und — zwei, und — drei, und —!« und legte der silbern hüpfenden Sonate des göttlichen Wolfgang Amadeus Mozart ein Zwangsleibchen an.
In wenigen Sätzen war Kornelius Vanderwelt die Treppe hinauf, stand er im Musikzimmer am Flügel. »Mörder!« schrie er, »Schwerverbrecher! Wen soll ich zuerst erwürgen?«
»Mich, Papa! Mich!« Die Stimme des zwölfjährigen Mädels überschlug sich vor Entzücken. »Damit die Quälerei zu Ende geht!«
»Vom Klavierbock herunter, Juliane! Ist der Flügel eine Fleischbank, auf der Wolfgang Amadeus Mozart zu Wurstfleisch zerhackt wird?«
»Sag's doch Fräulein Bilsenbach! Sag's ihr,« hetzte das Mädel ausgelassen.
»Ich muß doch sehr bitten, Herr Vanderwelt, vor dem Kinde mein Ansehen zu wahren.«
»O Fräulein Bilsenbach, nichts für ungut, aber das Ansehen Mozarts geht vor. Außerdem! Wer so bezaubernd kocht, braucht auf das Ansehen anderer Künstler wirklich nicht neidisch zu sein. Ja, da lächeln Eure Gnaden. Wie gut Sie das kleidet — —«
[S. 30]
Und er saß auf dem Klavierbock, legte mit leisem Streicheln die Hände auf die Tasten und blickte über das Notenblatt. Ein Quellengeplauder hob an unter seinen Fingerspitzen. Ein blitzendes Bächlein sprang eigenwillig und doch von der Schönheit eingebettet durch die Blumenwiesen. Mit einem Seufzer der Liebeslust sprang es dem aufrauschenden Fluß in die Arme, der bewimpelte Schiffe trug und auf den Schiffen vor Seligkeit singende Menschen. Und der Fluß ward zum Strom durch tausend Quellen, die ihm ihr blitzendes Wasser brachten und die Elfenlieder von den Blumenwiesen, und strömte durch goldene Mittagssonne und purpurnes Abendgold und strömte aus in einem Meer von Mondlicht und Sternenreigen.
Das Antlitz des alternden Fräuleins hatte sich gerötet, und diese Röte war angefacht von Beschämung und zwiefach dazu von aufquellender Lust.
»Herr Vanderwelt, ich will doch lieber, wenn Sie es erlauben, Ihnen zuhören, als den Kindern meinen nur alltägigen Unterricht erteilen. Der Haushalt und die Überwachung der Kinder verlangen die ganze Kraft.«
Kornelius Vanderwelt träumte noch ein weniges den Mozartschen Weisen nach. Jetzt wandte er den Drehstuhl und gewahrte das gerötete Fräulein.
»Friedlich, friedlich, Fräulein Bilsenbach. Nicht gleich die Flinte ins Korn werfen. Sie sind in der Musik eine so taktsichere Frau, wie Sie es im Leben sind. Nur daß der Takt oft gerade die seltensten Melodien in der Blüte verkümmern läßt. Denken Sie sich einmal die Liebe im Takt. Das muß flüstern, stammeln, pausieren, drauflosgehen wie der Deibel! Oh — Entschuldigung.«
»Wenn Sie es wünschen, können wir zu Tisch gehen, Herr Vanderwelt.«
[S. 31]
»Darf ich um Ihren Arm bitten, Fräulein Bilsenbach?« Und ritterlich neben ihr schreitend, fragte er sie nach den Mühen des Tages, nach den Sorgen um die Kinder.
Im Speisezimmer fanden sie die Kinder vor. Wie es der Vater liebte, standen sie aufrecht hinter ihren Stühlen. Dann aber war des Haltens nicht länger.
»Papa! — Papa!«
Zwei Jungen hielten ihn zu gleicher Zeit umschlungen, vierzehn- und fünfzehnjährige schlanke Burschen. Und der Kopf des zwölfjährigen Mädels kuschelte sich unter seinen Arm.
»Guten Abend, Justus. Guten Abend, Thomas. Ob die Juliane schon ihren Kuß weggekriegt hat, weiß ich wirklich nicht.«
»Nein! Nein! Nein! Gib ihn mit Zinsen!«
»Hüt' dich, Mädel, hüt' dich! Wer als erstes an die Zinsen denkt, denkt als letztes an den Anlagebetrag.«
»Hier hast du meinen Mund!«
»Ist das nun ein liebender Mädchenmund oder ein rechnender?«
»Ach, so küss' ihn doch nur, wenn ich ihn doch hinhalte ...«
»Wenn du so freigebig bist, hast du meistens eine leere Geldtasche.«
»Geraten! Geraten! Und da ich dich in so gute Laune gebracht habe, gibst du mir ordentlich. Gelt, du Lieber?« —
»Juliane,« rief der fünfzehnjährige Justus, »du beträgst dich wie ein Gassenmädel.«
»Sieh mal an, das große Brüderlein. Kennt schon Gassenmädel.«
»Nicht doch,« wehrte sanft und überlegen Thomas, der Vierzehnjährige. »Sie hat im Religionsunterricht von der Salome gehört und spielt sie uns ein bißchen vor.«
»Mund gehalten, ihr Drei!« Kornelius Vanderwelt[S. 32] schluckte das Lachen nieder, das fröhlich mittun wollte, richtete sich auf und zeigte drohende Augen. »Ich bitte mir drei Muster tadellosester Erziehung aus.«
Die Kinder huschten hinter ihre Stühle. Sie standen in Reih und Glied, die Hände auf den Lehnen, die Köpfe nach dem Vater gerichtet.
»Fräulein Bilsenbach, ich bitte. Niedersetzen,« gebot er.
Und die Kinder saßen auf den Stühlen, aufrecht und regungslos, bevor der Hausherr den Stuhl des Fräuleins angerückt hatte und den eigenen Sitz einnehmen konnte. Und ein dreifach Gelächter begrüßte den Nachzügler.
»Rangen, habt ihr nicht mehr Ehrfurcht vor eurem alten, steifgewordenen Vater?«
»Alt! Steifgeworden! Ach, das arme Väterchen! Schon ganz verhutzelt sieht er aus.«
»Wenn man einen Stuhl auf den Tisch stellt, kann er kaum noch drüberspringen.«
»Jeden Abend um acht muß er ins Heiabettchen.«
»Ruhe! Ich bitte mir die vollkommenste Ruhe aus.«
»Heute morgen,« lief das Plappermäulchen des Mädchens weiter, »heute morgen in der Schule sagte noch Antonie Ausdemwerth zu mir, und alle Mädchen hörten zu, ihre Mama habe gesagt —«
»Juliane, was Antonie Ausdemwerth sagte und was ihre Mama gesagt hat, ist sozusagen ausgesagt, wenn ich gesagt habe, es wird nichts mehr gesagt.«
»Sagte, sagte, sagte,« spotteten die Brüder der Schwester nach.
Die zeigte ihnen blitzschnell die Zungenspitze und wischte sich, als sie den empörten Blick des Fräuleins gewahrte, seelenruhig mit dem Zünglein die Lippen. »Ach, einen Hunger hab' ich — —«
Ein älteres Hausmädchen trug die Speisen auf, bot sie[S. 33] dem Fräulein zuerst, dann mit einem freundlichen, wie um Entschuldigung bittenden Lächeln dem Hausherrn, auf dessen Anordnung die Reihenfolge geschah, und den Kindern der Altersstufe nach. Kornelius Vanderwelt nickte ihr mit gleicher Freundlichkeit einen ›Guten Abend‹ zu. Alle seine Hausangestellten waren seit langen Jahren im Dienst, noch aus den Zeiten der schönen Frau Vanderwelt, die nach der Geburt ihres Mädels allzu rasch in das gesellschaftliche Treiben zurückverlangt hatte und an zu stark gesteigertem Leben verschieden war.
»Nun dürft ihr wieder reden,« erlaubte der Hausherr, der die Kinderstimmen liebte und an den sprunghaften Einfällen der jungen Gehirne seine Freude hatte. »Aber bitte nicht im Chor. Da weiß man nie, wer die größte Dummheit vorgebracht hat. Also Justus, wie war's in der Schule?«
»Ausgezeichnet, Papa. Der Lateinlehrer konnte vor Katzenjammer nicht unterrichten, und ich habe ihm den nassen Klassenschwamm aufs Pult gelegt.«
»Edler Samariter. Hat er sich stürmisch bedankt?«
»Das nicht. Aber er hat mich ins Klassenbuch geschrieben.«
»Justus,« tadelte der Vater kopfschüttelnd, »wann wirst du lebensklug werden? Der Herr Lateinlehrer wird den Schwamm nehmen und sich damit seine letzte Zuneigung zu dir aus dem Schädel wischen.«
»Pah — ich stehe in der Klasse prima.«
»Und wenn du primissima ständest wie der liebe Gott: die Rache ist mein, spricht der Herr Lehrer, und seine Wege sind unerforschlich.«
Die Kinder stießen sich unter dem Tische an. Ihre Augenbrauen waren hoch hinaufgezogen.
»Thomas, erzähl du mir einmal von deinem heutigen Schulerleben. Hoffentlich war es lobenswerter.«
[S. 34]
»Wir haben den deutschen Klassenaufsatz zurückbekommen, Papa. Er lautete: Der Charakter der Jungfrau von Orleans. Der meine erhielt eine Eins. Aber mit einer Bemerkung in roter Tinte.«
»Was wünschte die rote Tinte, Thomas?«
»Der Verfasser möge sich in Zukunft in der Beurteilung von Frauencharakteren mehr in acht nehmen.«
»Von Frauencharakteren? Ich denke, es handelt sich um eine Jungfrau?«
Die Kinder hielten den Atem an. Das Fräulein räusperte sich und nestelte das Schnupftuch hervor.
»Das ist nämlich ein Unterschied. Der Charakter einer Jungfrau ist wie ein Saitenspiel, das auf den Harfner wartet. Es kann auf Dur und Moll und klar oder verworren abgestimmt sein, erst in der Hand des Harfners liegt es, den Ton zu bestimmen und zu gestalten, so er ein rechter Künstler ist. Und der Charakter einer echten Frau wird, ganz gleich, wie sie als Jungfrau gedacht und empfunden hat, immer die getreue Widerspieglung des Mannes sein, in dessen Hände sie sich auf Glück oder Verderb gegeben hat. Auf die Manneshände kommt es an.«
»Das dürfte wohl für die Kinder zu abwegig sein,« sagte das Fräulein, um der Verlegenheit Herr zu werden.
»Vielleicht für heute, Fräulein Bilsenbach. Aber im Unterbewußtsein schwingt es weiter und wird dann eines Tages zur Stelle sein, wenn es in der Auswirkung gebraucht wird.«
»Was ist das: Unterbewußtsein?« fragte die kleine Juliane in Spannung.
Da lachte Kornelius Vanderwelt erlöst und erheitert auf.
»Hör' einmal, Jungfer Naseweis: wenn du dich gleich in dein Bett begibst, voll bewußt aller deiner Tugenden und Vorzüge, und irgend etwas redet dir in deinen Schlaf[S. 35] hinein: ›Juliane, du hast mal wieder deine Schularbeiten nicht gemacht‹, so ist das das Unterbewußtsein. War das deutlich, mein Mädchen?«
»Ich hab' sie aber — fast alle.«
»Das freut mich über die Maßen, Juliane. Und den kleinen Rest wirst du nachher in meinem Arbeitszimmer erledigen. Ich möchte nun auch gern von dir einmal etwas über die wichtigsten Schulereignisse hören.«
Das Mädchen wetzte mit der Zunge flink die Lippen. In den Augen jagte die Ungeduld.
»Heute morgen sagte Antonie Ausdemwerth in der Schule zu mir, und alle Mädchen hörten zu: ihre Mama habe gesagt —«
»Sagte, sagte, habe gesagt,« spotteten die Brüder ihr nach.
»Papa,« rief die Kleine zornig, »du hast mich gefragt und nicht den Justus und den Thomas!«
»Ich habe dich gefragt. Fahre ruhig fort.«
»— ihre Mama habe gesagt: es gäbe nur einen Mann in Ruhrort, und die anderen wären Kohlentrimmer, und der Mann hieße Kornelius Vanderwelt. So, ihr weisen Jungs, nun sagt, ob ihr was Besseres wißt.«
Die Jungen gaben sich geschlagen. Sie prosteten dem Schwesterchen mit den Wassergläsern zu.
»Frau Ausdemwerth ist eine sehr liebenswürdige Dame,« meinte Kornelius Vanderwelt und spürte ein leises Erröten vor den Kindern, »aber man muß nicht auf Schmeicheleien hören, sondern die Tatsachen für sich reden lassen. Und für dich, meine aufmerksame Juliane, sollen sie jetzt einmal durch die Schulaufgaben reden. Ich wünsche allerseits eine gesegnete Mahlzeit. Fräulein Bilsenbach, ich habe letzthin in Amsterdam nicht besser gegessen. Und die Holländer sind stolz auf ihre Küche.«
[S. 36]
Noch einmal hingen sich die Jungen gute Nacht wünschend an Kornelius Vanderwelts Hals. Dann suchte der Hausherr sein Arbeitszimmer auf, und Fräulein Bilsenbach nahm das schweigsam gewordene Mädchen bei der Hand und folgte ihm nach.
»Nun, mein Mädelchen? Da du fast alles schon gelernt hast, wird's ja im Handumdrehen getan sein. Um was handelt es sich denn in der Hauptsache?«
»Um die französischen unregelmäßigen Zeitwörter.«
»Potztausend. Das ist ja eine ganze Menge. Die paukt man doch nicht mit einem Male in sich hinein?«
»Sie lernen schon seit Wochen daran,« sagte das Fräulein, »aber Juliane bringt ihnen nicht die nötige Beachtung entgegen.«
»Französisch lerne ich einmal in Lausanne,« erklärte die Kleine hochmütig. »Und Englisch auf der Insel Wight. Papa gibt mich ja doch in die allerfeinsten Erziehungsanstalten. Da brauch' ich doch nicht hier schon mit den dummen unregelmäßigen Zeitwörtern geplagt zu werden.«
Kornelius Vanderwelt winkte dem aufbegehrenden Fräulein freundlich ab. Er wandte sich an Juliane.
»Mein liebes Kind, was dein Vater einmal tun wird oder nicht tun wird, darauf kommt es hier nicht an, sondern was du tun wirst. Ein jeder Mensch hat sich nur auf sich selber zu verlassen. Denn die väterlichen Geldbeutel können über Nacht ein Loch kriegen, und dann heißt es, nach dem Schulsack greifen und Nachschau halten, ob der gut gefüllt ist. Ist er's, so bist du für das Leben gesichert und bleibst Dame in den schwierigsten Verhältnissen. Hast du aber nicht vorgesorgt, so sinkst du wie Blei auf den Grund, und wenn dein Vater tausendmal Kornelius Vanderwelt war. Denn ein jeder Mensch steht nur für sich. Nur!«
Das vom Leben gerüttelte alte Fräulein nickte kurz vor[S. 37] sich hin. Es ließ sich im Winkel des Arbeitszimmers nieder und zog das Kind an sich heran. »Ihre Gegenwart dürfte schon genügen,« sagte der Blick, der den Herrn des Hauses traf, und bald füllte ein leises Gemurmel das Gemach, einförmig, zuweilen nur ärgerlich sich steigernd. »Venir, tenir, vouloir, s'en aller, s'asseoir, prendre, battre, mettre ...«
Rauchend saß Kornelius Vanderwelt im Ledersessel und überflog die Abendzeitungen. Die Börse war leidlich, eher zurückhaltend. Da hieß es achtgeben, denn man schien zu einem überraschenden Schlag auszuholen. Von den städtischen Nachrichten fanden nur die neuen Hafenplanungen seine regere Anteilnahme, und auch diese schienen seinem Vorwärtsdrängen noch nicht aus dem größten Augenwinkel erfaßt. Die Politik? Er hatte unter den erwählten Volksboten genügend brave Seifensieder kennengelernt, von denen er wohl seine Seife, aber nicht seine politische Weisheit bezogen haben würde. Ah ... Er lehnte sich bequemer zurück. Hier stand über die Großen im Reiche der Kunst zu lesen. Klavierabende. Beethovensche Symphonien. Uraufführungen neuer Opern. Ein Wogen und Wallen war um ihn, ein Kämpfen und Erlösen, Aufschreie der Menschennatur, Zurruhestreicheln, Jubel oder Untergang.
Längst saß er vornübergebeugt, das starke Kinn vorgeschoben, die Nüstern geweitet. Und mit einem Male knüllte er mit einem Griff die Zeitung zusammen und warf sie in den Papierkorb.
Sofort erhob sich das Fräulein, nahm das aufstrahlende Kind bei der Hand und näherte sich ihm.
»Es geht jetzt leidlich, Herr Vanderwelt. Wir können uns zurückziehen.«
Kornelius Vanderwelt hatte sich höflich erhoben. »Gute Nacht,« sagte er. »Es war sehr lieb von Ihnen, daß Sie[S. 38] mir die unregelmäßigen Zeitwörter abgenommen haben. Man hat sich im eigenen Leben genug damit abzuplagen. Gute Nacht, kleine Juliane. Auswendiglernen ist noch das leichteste.«
Er küßte sie auf die schlafmüden Augen und stand, bis die Tür ins Schloß gefallen war.
»Allein,« sagte er vor sich hin. »Mutterseelenallein. Man kann doch nicht auch noch in der Nacht von Kohlenladungen reden ... Herrgott, ständ' ich doch am Steuer eines Seeschiffes, all das tausendmal durchgeackerte Philisterland hinter mir, neues Inselland vor mir, mit nackten Menschen, unverkleideten Leidenschaften, unberührt, unberührt. O du wilde, du zarte, du zärtliche Schöpferfreude ... Geh in ein Wirtshaus, Kornelius Vanderwelt.«
Vor einem Bilde verharrte er noch, vor einem strahlend fröhlichen Frauenbild.
»Ja, ja, Du warst wild, du warst zart, du warst zärtlich und warst alles in eins bis zur Selbstvernichtung. Mit dir lohnte es noch.« — —
Er ging und verließ trotz später Stunde das Haus.
[S. 39]
Wie das Haus eines alten Wikings, der ruhebedürftig nach wilden Küstenfahrten und doch in ruheloser Sehnsucht nach dem Wasser, das zum Meere strebt und den Weg zeigt zu den fernsten, wogenumbrandeten Ländern, seine Ausrast am unteren Stromlauf des Rheines nahm, nahe den Schlupfwinkeln der Ruhr-, der Emscher- und Lippemündungen, erhebt sich auf dem Damm zu Ruhrort das Versammlungshaus der Schiffer und der Schiffahrtsfirmen, der ungezählten Hunderte, die in den Wasserarmen der Rhein-Ruhr-Häfen laden und löschen, harren und handeln, aus Schiffsraum und Maschinenkraft, Wetter, Wasser und Wind ihr tägliches Brot holen, verschwitzte Groschen oder Gold, wie es aus der Präge kommt. Fachwerkartig strebt das Haus in den mittelalterlichen Giebel, und das Gerippe des dunklen Eichengebälks gibt ihm Sturmfestigkeit, Ansehen in den Augen der Strombefahrer und die Gewähr der Dauer. Von alters her gewöhnt an Luft und Ellbogenfreiheit, blieb das Volk der Schiffer dem Damm, der Straße vor der Schifferbörse, treu, doch wenn der Regen peitschte, der Nebel von der See her in Schwaden über die Niederungen zog oder naßkalter Winterwind die Wolken gen Holland trieb, stapften sie zufrieden in den Wappen-, Bilder- und spruchgezierten Börsensaal, äugten in die Seitenkojen, die von den großen Verfrachtern und Schiffsmaklern gemietet waren, und harrten und handelten[S. 40] gemächlich und bedächtig, als läge ihnen nichts an Zeit und Geld, und noch viel weniger an dem drängenden Eifer der Geschäftsleute.
Aus allen Häfen des Rheins und des Rhein-Seeverkehrs, aus allen Plätzen der Kanalschiffahrt ins deutsche Binnenland, nach Holland, Belgien und Frankreich hinein, sammelten sich die Schiffer, die bei Ruhrort vor Anker lagen und neue, günstige Ladeabschlüsse erharrten, um die elfte Morgenstunde auf dem Damm und erwarteten Begrüßung und Angebot der Herren aus Ruhrort, aus Duisburg, Homberg und Hochfeld, der Kohlenzechen, Eisenhütten und Stahlwerke, die nach leerem Schiffsraum fahndeten. In breitem Schiffergang trotteten sie heran, in Hosen aus braunem Baumwollsammet und derbgestrickten Westen, in blauen Leinwandhosen und verfärbten Wetterjacken, in dunklen Tuchanzügen mit goldenen Ankerknöpfen, den goldenen oder silbernen Ring im Ohr, Mützen jeder Gattung in den Nacken geschoben. Die Tonpfeife qualmte in Kräuseln, die zerbissene Zigarre hing im Mundwinkel, der Priemtabak lagerte unsichtbar hinter den Zähnen verstaut.
Viele aber, die keine Ladung zu löschen hatten und nicht an die Stunde gebunden waren, erschienen schon frühzeitig wiegenden Ganges auf dem Damm, blinkten in den engen Quergassen nach den Kneipenschildern und löschten ihren frühzeitigen Durst. Und die Geschäfte, die zwischen einigen Geneverschnäpsen zustande kamen, erschienen oft beiden Vertragsteilen als die besseren und bequemeren.
»Döres, noch eine Lage. Verdammt hartleibig heute, der Klaas. Tu ihm ein Stücksken Zucker 'rein, damit et ihm glatter in den Magen geht. Also, Klaas: ein Mann un ein Wort. Ist dein Kahn nun frei für mich oder nicht?«
Dichter und dichter füllte sich der Damm vor der Schifferbörse. Längst kamen Gefährte nicht mehr durch die Massen[S. 41] hindurch und mußten einen Bogen schlagen. Weithin vernehmbar gab eine Glocke das Zeichen zum Beginn der Börsenstunde, und das Gewoge schien lebensgefährlich anzuschwellen und war doch nur ein gemütliches Vordrängen und ein ruhiges Hin und Her zwischen dem Börsensaal und der Straße.
»Wat notieren die Kurse?«
»Nach dem Nordpol oder dem Südpol, du Dämel?«
»Nach Amsterdam!«
»Junge, Junge, un wenn du selbs mit deinem Äppelkahn heil da 'runter kommst, die Amsterdamer Meischen sind dich über.«
»Alles wat rechtens is, Hein: der Pitter spricht aus Erfahrung.«
»Als er wiederkam, hatt' er dich die Hosentaschen leer und den Hosenboden voll.«
Und in das Gelächter der Umstehenden brachen drängend die Stimmen der Makler ein und brachten alles Gelächter zum Schweigen: »Zehntausend Tonnen direkt Rotterdam. Zwanzigtausend Tonnen direkt Mannheim. Fünfzehntausend Tonnen Zwischenlandungen zu Berg. Wer bietet an? He, Petrus, frei mit wieviel? Gebhardt, was kann ich von Ihnen bekommen?«
»Wir kriegen steigend Wasser,« sagte der Gebhardt bedächtig, rollte den Priemtabak in die andere Backe und blickte den Makler abwartend an.
»Vor Abend is Regen da,« stellte der Petrus fest, beleckte den Zeigefinger und hob ihn prüfend in die Luft.
Der Makler machte sein Angebot. Die Männer schwiegen vor sich hin. Der Makler drängte: »Schlagt zu, Leute, bevor die großen Reedereien unterbieten.« — »Wat fordern denn die großen Klause? Bangemachen gilt nich.«
Durch alle Reihen, durch alle Gruppen drängten sich[S. 42] die Makler, anfeuernd, belehrend, lustige Schlagworte tauschend und schon wieder emsige Geschäftsvermittler. Schiffsbefrachter, die ohne Maklerhilfe ihr Schäflein ins Trockene zu bringen suchten, spielten ihre eigene Geige. Sie verkehrten in vertraulicher Rede, nahmen in Herzlichkeit die Klagen entgegen, um sie mit einem derben Scherze zu zerstreuen und die Lacher in den Bann ihres guten Einvernehmens zu ziehen. Angestellte der Großreedereien, vielerorts die Geschäftsherren selbst, verhandelten mit gesammelten Mienen in der Börsenhalle, in den Kojen. Ihre geräumigen Schiffsparks waren der Straße entrückt, bildeten das feste Gerippe des Umschlagegeschäfts, den Zeiger an der Uhr der Frachtkursnotierungen. Hier und da feilschte ein Börsenbesucher, der nur eine einzelne Ladung zu vergeben hatte, um eine Beteiligung und kam nach langwierigen Bemühungen nur mit hohem Aufgeld davon.
Die Schiffsvermieter reckten die Hälse, wandten die Dickschädel. Einige unterbrachen die angesponnenen Verhandlungen und warteten den Mann ab, dem die angestauten Haufen mit Bereitwilligkeit Platz machten, um ihn alsbald in die Mitte zu nehmen.
»Guten Morgen, Herr Vanderwelt.«
»Guten Morgen? Gut Wetter, müßt ihr sagen, Leute. Steigend Wasser und Regen in Sicht. Gut Herbstgeschäft allwege!«
»Zum Deuwel, Herr Vanderwelt, wenn einer die Wahrheit sagt, sind Sie et.«
»Sie reden wenigstens nich stundenlang um den Brei herum, als wenn et keine Fische mehr im Rhein zu fangen gäb.«
»Keine Fische mehr im Rhein?« Kornelius Vanderwelt zeigte seine weißen Zähne. »Jungens, sie beißen wie nie, und wenn ihr die Nase nur lang genug ins Wasser haltet,[S. 43] beißt einer an. Ich bin hier, um Geschäfte zu machen, und ihr seid hier, um Geschäfte zu machen. Darin sind wir uns wohl einig.«
»Verdammich, Herr Vanderwelt, dat is ein Wort von Mann zu Mann.«
»Kommt nur drauf an, wer dat bessere Geschäft dabei macht. Der Vanderwelt oder wir.«
»Drickes, wenn Ihr mir nicht traut, schert ruhig mit Eurem Kahn aus der Reihe.«
»Nix für ungut, Herr Vanderwelt, aber wir kriegen letzthin dat Fell so oft über die Ohren gezogen, dat et bloße Denken oft lauter zutage tritt, als man gewollt hat.«
Kornelius Vanderwelt faßte ihn mit beiden Händen bei den Schultern.
»Drickes,« sagte er und sah ihm mit zusammengezogenen Augen in den queren Blick, »ich müßte doch der größte Schafskopf auf der Duisburg-Ruhrorter Hammelwiese sein, wenn ich meine Geschäfte nicht Hand in Hand mit den Euren gehen ließ. Wer Geld verdienen will, muß Geld springen lassen. Denn das springende Geld, Drickes, schafft aufgeräumte Laune, schafft Schwung in die Arbeitsleistung und schafft schnelle Bereitwilligkeit und Vorsprung vor den anderen, die ewig Frachttreibereien fürchten. Heda, du Blindgänger, sind das aufgedeckte Karten oder nicht? Ich will nicht nur Geschäfte machen, sondern ich will so schnell wie möglich Geschäfte machen, und das kann ich nur, wenn ich Euch ohne lang Hinundher beteilige. Ist das klar?«
»Bieten Sie an, Herr Vanderwelt. Bieten Sie an,« rief es aus dem Haufen. »Gestern notierten die Frachtkurse nach Mannheim eine Mark zwanzig die Tonne. Un heut schlägt et Wetter um.«
»Ohne viel Gefackel, Jürgens: zehn Prozent drauf!«
»Ohne viel Gefackel, Herr Vanderwelt: fünfzehn Prozent![S. 44] Ne. Abgerundet auf eine Mark vierzig. Dat rechnet sich besser. Wollen Sie meine vierhundert Tonnen dafür? Meine sechshundert? Meine achthundert?«
Ein Dutzend und mehr riefen ihm zu. Aus anderen Gruppen winkte man ihm mit den Händen, zeigte man ihm durch die Fingersprache die Tonnenzahl an. Kornelius Vanderwelt zog sein Notizbuch und rechnete.
»Herrschaften, da muß ich aber den Zechenonkels die Daumenschrauben anziehen.«
»Dat würden Sie ja auch ohne unsere Mithilfe besorgen.«
Einige lachten, einige kraulten sich in gebändigter Erregung den Schifferbart und harrten gespannt auf den Zuschlag.
»Also auf meine Gefahr hin,« sagte Kornelius Vanderwelt kurz. »Aber mit einer Bedingung.«
»Brauchen Sie uns nich erst zu sagen. Wir spucken in die Hände, dat et schäumt.«
»Der erste Schleppzug, der herausgeht, ist der von Kornelius Vanderwelt, Pitter, und wenn et hollandsche Meischen regnet!«
»Dann,« meinte Kornelius Vanderwelt mit seinem übermütigsten Gesicht, »würd' ich mir an eurer Stelle die Sache noch mal überlegen. ›Meischen‹ fallen unter die ›höhere Gewalt‹. Gesegnete Mahlzeit, Herrschaften. Heute nachmittag auf dem Kontor die Ladeweisungen abholen.«
Die angestaute Menge machte ihm Platz. »Mahlzeit, Herr Vanderwelt, Mahlzeit.« Und Kornelius Vanderwelt schritt hindurch und in die Börsenhalle. Hier suchte er die Kojen der Großreeder auf.
»Wieviel bieten Sie an?« fragte er, sein Merkbuch in der Hand.
»Ach ne. Lückenbüßerspielen is nich.«
»Machen Sie doch keine Scherze. Selbst der Wüstenlöwe[S. 45] überläßt den armen Schakalen die Beutereste ohne zu blinzeln.«
»Aber erst, wenn er sich selber den Ranzen zum Platzen vollgeschlagen hat.«
»Vor diesem Platzen möchte ich Sie ja gerade bewahren. Gegen Ihre großen Schiffsparks kommt die ganze Gilde der Kleinschiffer zusammengenommen nur mit einem Halbteil an. Also machen Sie eine großmütige Geste und gönnen Sie den armen Kerls ihren Beuteanteil im voraus. Der Löwenanteil bleibt Ihnen ja doch, und Sie erhalten sich die gute Kameradschaft für schlecht Segelwetter.«
»Vanderwelt, an Ihnen ist ein Sonntagsprediger verloren gegangen. Aber einer, der Christus sagt und Kohlen meint. Was können wir für Sie tun, ohne geradezu über den Löffel barbiert zu werden?«
»Wieviel bieten Sie an? Und zu welchen Notierungen?«
»Im Vertrauen, Vanderwelt: die heutigen Kurse werden um zehn Prozent in die Höhe schnellen. Greifen Sie zu, wenn Sie sich decken müssen. Eine gewisse Zeche soll schon einem gewissen Schiffsbefrachter ›plein pouvoir‹ gegeben haben, wenn er ihre Förderungen als die ersten auf den Wasserweg bringt.«
»Was Sie nicht sagen,« meinte Kornelius Vanderwelt gelassen. »Solche Schlauberger gibt's? Da muß ich mich wohl beeilen, beizubleiben, und Ihre zehn Prozent auf Treu und Glauben bewilligen. Zehntausend Tonnen? Ach, auf einmal können's zwanzigtausend sein? Gut, ich will sie übernehmen, wenn Sie mir mit dem Schlepperlohn gründlich entgegenkommen. Lassen wir das einmal billigst zusammen berechnen.«
Er hockte bei den Herren nieder, und während die Stimmen der Hunderte in der Halle sie umbrandeten, lösten sie die Fragen wie in der Stille des Kontors.
[S. 46]
»Der erste schöne Tag im Jahr,« sagte aufatmend der Reeder Hinrichsen. »Heut haben wir das Mittagessen verdient.«
»Bis zum Abend dürfte es vielleicht zu einer besseren Flasche in der ›Erholung‹ langen,« meinte der Reeder Auffermann und rieb sich das spiegelglatte Kinn. »Ich wäre imstande, die dritte zu bezahlen.«
»Glauben Sie, Auffermann, daß Hinrichsen die beiden ersten übernimmt?«
Die entrüsteten Reeder wandten sich gemeinsam gegen den Sprecher. »Wie? Was? Und Sie selber? Nur mittrinken möchten Sie? Vanderwelt, Ihr Schamgefühl muß doch erheblich gelitten haben.«
»Es schämt sich nur der ewig gleichen Langeweile, meine Herren. Vielleicht nehmen Sie nach der ›Erholung‹ noch ein Glas Bier oder einen Brandewein von mir an? Es kommt von Herzen.«
»Ah —! Ah —! Hinterher! Bei einem Wirte wundermild.«
»Auf Wiedersehen, meine Herren, im Festgewand.«
Er suchte die eigene Koje auf, schrieb die Auftragszettel aus und schickte sie durch einen Boten an Beckenried zur Weiterbearbeitung. Die vereidigten Kursmakler verließen gerade das Beratungszimmer. Der ermittelte Frachtenkurs erschien an den Tafeln. Kornelius Vanderwelt warf einen Blick auf die Tafeln und sah, daß er, Kleinschifferraum und Großreederraum gegeneinander gerechnet, gut abgekommen war.
An der Straßenecke fand er seinen Wagen.
»Los, Wilm. Irgendwohin ins Freie. Heute müssen wir's kürzer machen.« —
Zwei Stunden später saß er schon in seinem Sonderkontor, der Geschäftsführer ihm gegenüber. Verteilungsplan[S. 47] und Reihenfolge der Kähne lag fertig vor. Die Anweisungen für die Schiffer wurden ausgefertigt.
Kornelius Vanderwelt klingelte die Zeche an, die ihm den dringlichen Auftrag erteilt hatte.
»Den Herrn Direktor, bitte. Ah, schon zur Stelle? Ja, ja, wer heute Geld verdienen will, muß den anderen um ein paar Bootslängen voraus sein, und ich war so frei, nach derselben Richtschnur zu handeln. Ihre Kohlen können auf und davon. Die Kähne werden bis morgen Mittag an Ihrem Kipper verholt. Haben Sie mit Eisenbahnwagen vorgesorgt? Gottlob! Dann lassen Sie ab morgen Mittag anrollen, was die Achsen leisten können. Kein Dank notwendig. Freut mich, daß ich Ihnen den Dienst erweisen konnte. Glückauf.«
»Na, Beckenried? Krieg' ich diesmal ein Patschhändchen? Freund, nicht die alte Litanei. Ich hätte noch mehr aus dem Geschäft herausholen können, ich weiß. Wenn ich nur mit den Großkophtas und zu zehn Prozent abgeschlossen hätte. Aber dann wär's eben nur ein Geschäft gewesen und keine Freud'!«
»Seltsame Freud', sein gutes Geld zwecklos wildfremden Menschen in die Hand drücken.«
»Wildfremd, Beckenried? Das wäre nur ein Schuldbekenntnis, daß wir sie nicht zutraulich zu machen wußten. Und zwecklos, sagen Sie? Sehen Sie sich gleich mal die verschmitzten Mienen an, wenn meine Schiffsmannen hereingetrampt kommen. Kein Gesicht, in dem nicht zu lesen ständ: ›den Kornelius Vanderwelt haben wir aber diesmal hineinfallen lassen. Wir sind nämlich auch mit Rheinwasser getauft. Wir!‹ Ach, Beckenried, fröhliche Mitmenschen schaffen — wenn das keine Freud' ist!«
»Draußen im Kontor versammeln sich die fröhlichen Mitmenschen schon,« sagte Beckenried aufhorchend. »Wünschen Sie sie einzeln oder in der Gesamtheit zu empfangen?«
[S. 48]
»Einzeln. In der Reihenfolge ihrer Kähne. Hier, nehmen Sie die Liste mit.«
Kornelius Vanderwelt erhob kaum den Kopf von der drängenden Schreibarbeit, als der erste eintrat. Der Mann scharrte mit den Stiefelsohlen und bot dem Kaufherrn die Tageszeit.
»Setzen Sie sich, Gebhardt, ich bin gleich so weit. So ...! Ihr habt gut lachen, wenn Ihr auf dem Rhein schwimmt und habt Ruhrort im Rücken. Ich kann mir die Finger krumm schreiben.«
Der Schiffer streckte seine borkigen Hände vor.
»Sehen Sie sich dat mal an. Die sind vom Tauziehen und Ruderpacken auch nich die feinsten geblieben. Ich mein' als immer, wie ich auf die Welt gekommen wär', hätten die ganz anders ausgesehen.«
Kornelius Vanderwelt ergriff die Hand und schüttelte sie.
»Aber eingesalbt hab' ich sie heute mittag.«
»Wenn wir Sie man bloß nich eingesalbt haben, Herr Vanderwelt,« grinste der Schiffer. »Ich sag' Ihnen ja nix Neues mehr damit, dat wir Partikulierschiffer über Tageskurs mit Kornelius Vanderwelt abgeschlossen haben. Lassen Sie et sich nich gereuen. Der eine oder andere möcht' sich auch mal einen zweiten Kahn bauen lassen können.«
»Wohin damit, Mann? Die Liegeplätze sind voll, die Häfen dicht besetzt, alle Kranen und Kipper überbeschäftigt.«
»Herr Vanderwelt, meine Kameraden meinen, gerade der Herr Vanderwelt wäre der Mann dazu, hier Abhilfe zu schaffen. Durchzusetzen, dat et Hafennetz gründlichst Erweiterung erfährt, dat mit der Herstellung von neuen Kanälen begonnen wird, dat — dat — in einem Wort gesagt, dat die Brotfrage für den Schiffersmann leichter wird un seine Hoffnungsmöglichkeiten. Unsereins möcht' ebensowenig[S. 49] versacken, wie die Herren auf den Kontoren und möcht' seine Familie in die Höhe bringen.«
Kornelius Vanderwelt stand am Fenster und blickte nach dem Strome. Schwerfällig segelten graue Wolkenungetüme darüber hin. In Fäden begann es zu regnen.
»Gebhardt, Sie irren sich. Ich bin nicht der mächtige Mann. Soll meine Stimme stärkere Geltung bekommen, so muß sie noch recht gekräftigt werden. Durch Euch, Gebhardt. Durch Euch und die ganze Kameradschaft. Nicht durch Eure Lungenkraft. Durch Schreien hat noch keiner sein Recht auf Arbeit bewiesen. Dadurch, Gebhardt, daß Ihr für mich schafft, wie für keinen anderen! Daß die Machthaber im Ruhrorter Geschäft merken, mit dem Vanderwelt arbeitet es sich am schnellsten, und sich an mich heranmachen. Bis meine Stellung unangreifbar ist und meine Vorschläge Durchschlagskraft gewinnen. Es liegt an Euch.«
Der Schiffer sah ihm scharf in die Augen. Dann plinkte er ihm vertraulich zu.
»Hab' verstanden, Herr Vanderwelt, un bei den anderen werd' ich et Verständnis schon wecken. Wat die Firma Kornelius Vanderwelt an Schiffsbefrachtung un Abwicklung in die Hand nimmt, dat soll fluppen, als wär der fliegende Holländer von der Partie. Kann ich meine Papiere haben?«
»Hier, Gebhardt. Ihr Kahn ladet zuerst. Wann kann er verholt sein?«
»Heute abend noch liegt er ladefertig unterm Kipper.«
»Vorwärts denn. Lassen Sie den nächsten eintreten.«
Durch die Türfüllung schob sich vierschrötig der Schiffer Petrus. Sein wettergebräuntes Gesicht schien mit einem helleren Rot aufgefrischt. In den Augenwinkeln schwamm es feucht.
[S. 50]
»Hallo, Petrus. So angestrengt gefrühstückt?«
»Bei allen vierzehn Nothelfern, Herr Vanderwelt: nich einen Bissen hab' ich heruntergekriegt.«
»Glaub' ich unbesehen. Es gibt auch flüssige Leckerbissen. Na, wohl bekomm's. Und Achtung jetzt auf die Papiere.«
»Wat Sie meinen, is nich, Herr Vanderwelt,« beschwor der Schiffer und schlug sich dreimal auf die Brust. »Un nu können Sie et glauben oder nich: et is nix als die Rührung. Jawohl.«
»Rührung, altes Rauhleder?«
»Jawohl hab' ich gesagt. Weil et im Ruhrorter Hafen unter all den verdammt feinen Kerls wenigstens einen so gemeinen Menschen gibt wie den Kornelius Vanderwelt.«
»Also für einen ganz hundsgemeinen Menschen halten Sie mich? Das ist ja allerhand.«
»Herr Vanderwelt. Keine Silben stechen. Wenn ich gemein sage, mein' ich doch mit uns gemein. Po—Populär. Aber Fremdwörter, da sehen Sie et, Fremdwörter sind immer Glückssache.«
»Mein lieber Petrus,« sagte Kornelius Vanderwelt zärtlich, »dafür verlass' ich mich auch auf meine Freunde. Buchstabieren Sie Ihre Anweisungen. Ich hab' mein Wort verpfändet, daß ihr vollgeladen habt und schwimmt, bevor die anderen anfangen, und Ihr werdet es einlösen. Der Gebhardt liegt mit seinem Kahn heut abend schon unterm Kipper. Sie sind Nummer zwei und werden sich nicht für einen heurigen Schiffsjungen verschleißen lassen.«
Der Wetterbraune wuchs. Die Papiere klatschte er in seine Brieftasche.
»Gotts Donner, Herr Vanderwelt, wenn sich der Gebhardt keine Flügel am Hinterteil wachsen läßt, ramm' ich seinem Kahn ein Loch in die Rippen.«
»Beim Matthes ›Zu den fünf Erdteilen‹ soll es noch[S. 51] Bindewasser die Fülle geben. Auch um Mitternacht. Der nächste!«
Der Schiffer schlug sich die Mütze ins Genick, legte das Steuer um und nahm Kurs ins Freie. Und schon stand statt seiner der lange Hein vor dem Herrn aufgepflanzt, die schwarze Locke über der Stirn, um den Hals das flatternde bunte Seidentuch, den Silberring verwegen im Ohr.
»Zur Stelle, Herr Vanderwelt.«
»Kerl! Hein! Sie werden mit jedem Tag gefährlicher. Man sollte Ihnen wahrhaftig keinen Kahn nach Mannheim mehr anvertrauen.«
»Oho, Herr.«
»Ich glaub', selbst die schönste Jungfrau Lorelei hängt sich Ihnen ins Schlepp, geschweige denn die anderen Frauenzimmer.«
»Ah — so meinen der Herr Vanderwelt.« Der Bursche lachte geschmeichelt. »Ja, dafür kann der Hein nix. Der is von Natur so gewachsen. Aber in seine Schiffergeschäfte läßt sich der nich 'ereinliebeln.«
»Nicht? Und wenn's in Ruhrort nur so um ihn herumwimmelt? Da wär' ich doch gespannt. Ernsthaft, Hein, mir hat ein Vögelchen gepfiffen, es würden da verschiedene« — er rieb den Daumen gegen den Zeigefinger — »Anforderungen gestellt, und der Hein wär für bestimmte Hafenplätze nicht mehr zu haben.«
Die Siegermiene geriet ein wenig ins Wanken. Die herausfordernde Geste wich.
»Ein Wort im Vertrauen, Herr Vanderwelt, wenn Sie gestatten würden. Bei solchen Geschichten fehlt zwar meistenteils der Beweis. Aber vorsichtiger wär et immerhin, wenn der Herr Vanderwelt für meinen Kahn als Eigentümer zeichnen wollt, bevor sie mir den verramschen.«
[S. 52]
Seine Augen schielten nach dem Herrn, und die schwarze Locke hing ein wenig kläglich.
»Mit anderen Worten: Sie möchten mir den Kahn anhängen und auf Löhnung fahren. Soso. Wenn Sie von der Mannheimfahrt zurückkommen und Ruhrort anlaufen, wollen wir das Geschäft besprechen. Es ist Ihre Sache, sich zu beeilen. Sie sind in der Ladefolge der dritte. Sorgen Sie, daß Ihr Kahn morgen früh pünktlich am Ort liegt.«
»Herr Vanderwelt! Wenn Sie mal im Leben ein paar zärtlich zupackende Fäuste brauchen — dat hier, dat wären die Muster!«
»Flott, Hein,« sagte Kornelius Vanderwelt und blickte über ihn hinweg, »die anderen stehen sich die Beine in den Leib.«
Und einer folgte dem anderen, wurde kurz auf Herz und Nieren geprüft, bei seiner schwächsten Stelle genommen, erhielt sein Stichwort und schob sich mit einem vergnüglichen Grinsen zur Türe hinaus.
Im Zimmer blieb ein Schwaden von Teer, Schweiß und Branntwein.
Kornelius Vanderwelt hob den Hörer vom Fernsprecher. »Ich bitte Herrn Beckenried zu mir.«
Der Geschäftsführer erschien mit der Unterschriftenmappe. Er verzog krampfhaft das Gesicht und nieste.
»Ja, mein Lieber, das ist der Ozon, der uns zum Leben nötig ist.«
»Die Vanderweltschen Lungen sind nun mal anders geartet als die üblichen. Sie gestatten wohl, daß ich beide Fensterflügel öffne, oder ich habe meine Verhandlungsunfähigkeit zu erklären.«
»Nehmen Sie eine Zigarre, Beckenried. Nicht bei der Arbeit? Gerade bei der Arbeit qualmt der Schornstein am fröhlichsten. Also zur Sache. Die Verladung ist im Lot.[S. 53] Meine Freunde, die uns eben verlassen haben, werden schuften wie die schwarzen Teufel. Bis sie fertig sind, werden auch die Herren Großreeder nachgerückt sein, so daß es eine Lücke nicht gibt. Keine Stunde Ruh' sollen sie vor dem Fernsprecher haben. Und nun — Feierabend.«
Ein tiefer, langgezogener Seufzer stieg ihm aus der Brust.
»Wahrhaftig, Beckenried, Sie haben recht. Der Ozon war diesmal ein bißchen reichlich.«
»Ich geh' trotzdem nicht mit Ihnen, Herr Vanderwelt.«
»Wirklich nicht? Auch nicht, wenn ich Ihnen einen Abend der tiefsten Sammlung in Aussicht stelle? Ja, was machen Sie denn mit der unendlich langen Nacht? Man schläft doch nur, wenn man einmal müde ist.«
»Dann lernen Sie es nie, Herr Vanderwelt. Bitte, noch ein Dutzend Unterschriften.«
Kornelius Vanderwelt setzte sich wieder, überflog die Bogen, verbesserte ein Wort, eine Wendung, und unterschrieb Blatt um Blatt.
»Beckenried,« sprach er, während die Feder die Namenszüge zog, »es ist auch das einzige, was ich nicht lernen will. Der Schlaf ist die törichtste Unterbrechung jeder Lebensfreude und tritt immer ein, wenn man die Minute für die aller- allerschönste hält. Ach, Beckenried, ich wollt', Sie könnten für mich mit schlafen.«
»Es sollte mein Geheimnis bleiben, Herr Vanderwelt: ich tu's schon seit Jahren!«
»Lieber Freund, wenn Sie darauf anspielen wollen, daß Sie mir mit Ihren täglichen zehn Kontorstunden über sind, dann bewahre Ihnen Gott Ihren frommen Kinderglauben. Amen.«
Er erhob sich, drückte seinem Mitarbeiter die Briefmappe in den Arm, klopfte ihm auf die Schulter und nahm Abschied.[S. 54] Draußen empfing ihn der Regen. Er atmete tief und gierig die Nässe ein, zog den Mantel näher heran und schlug den Nachhauseweg ein.
»Nun, Fräulein Bilsenbach? Waren Sie mit dem Tag zufrieden?«
»Mit der Juliane war es heute besonders schwer, Herr Vanderwelt. In ihre Klavierübungen wollte sie sich nicht mehr hineinsprechen lassen. Sie spielte, wie es ihr paßte, ob es in den Noten stand oder nicht, und als ich ihr ihre Eigenmächtigkeiten verwies, behauptete sie, der Papa hätte es ihr so vorgespielt.«
»Wie wir uns verstehen, Fräulein Bilsenbach. Wenn ich nur frage, ob Sie mit dem Tag zufrieden waren, kommen Sie ohne weiteres auf die Kinder zu sprechen.«
Das Fräulein stutzte. Die Züge verschärften sich, die Schultern zogen sich hoch, als hätten sie eine neue Last des Gekränktseins auf sich zu nehmen.
»Ich habe ja nicht nur die Sorge um das Hauswesen zu tragen, sondern auch die Sorge um die Kinder.«
Kornelius Vanderwelt zog begütigend ihre Hand an seine Lippen.
»Ich bin Ihnen zu unendlichem Dank verpflichtet. Das weiß keiner besser als ich. Und nun nicht gleich böse sein. Außer den Kindern gibt es nämlich auch noch andere Menschen und Dinge, die einer Unterhaltung wohl wert wären und deren Berechtigung man nicht stets von vornherein von den kleineren oder größeren Unarten der Kinder abhängig machen sollte. Fräulein Bilsenbach, ich habe es in allen Häusern, in denen sich alles und jedes um die Kinder und immer wieder um die Kinder drehte, am drückendsten und unerträglichsten gefunden, in den Häusern aber, in denen die Erwachsenen ohne Weiterungen auf ihrem Lebensanteil bestanden, am frohesten und klarsten.«
[S. 55]
»Bitte, Herr Vanderwelt, entlasten Sie mich von dem Klavierunterricht. Ich bin ihm nicht mehr gewachsen.«
»Er ruht, bis ich eine geeignete Lehrkraft gefunden habe. Gestatten Sie mir nur den Hinweis, Fräulein Bilsenbach, daß Sie persönlich den Klavierunterricht als eine Art Entspannung von den Hausgeschäften zu übernehmen wünschten und ich Sie keineswegs dazu gedrängt habe.«
»Ich bin ihm nicht mehr gewachsen,« wiederholte das Fräulein und schüttelte ängstlich den Kopf.
»Quälen Sie sich doch nicht. Menschen, die alles können, erweisen sich in keinem Einzelfache als sattelfest. Und die Küche meines verehrten Fräulein Bilsenbach wäre nicht durch das verlockendste Klavierspiel desselben Fräulein Bilsenbach zu ersetzen.«
Die Verbitterung löste sich. Ein kleines Lächeln kroch hervor.
»Sie verstehen es, die Menschen aufzurichten. Nun schäme ich mich fast, daß ich so wenig an Ihre abgearbeiteten Nerven dachte. Es kann sofort zu Abend gegessen werden, Herr Vanderwelt.«
Und auch an diesem Abend wiederholte sich der laute Begrüßungssturm der Kinder, das Verhör in den Vorkommnissen des Schultags, die Übungen in der Kunst des geistigen Florettfechtens in Angriff und Abwehr.
»Vergeßt mir nur nicht, ihr discipuli, daß der Geist erst durch das Gemüt seine Lebensgeltung erhält. Sonst wäre er wie ein tönendes Erz und eine klingende Schelle. Gute Nacht, ich muß meine Weisheit noch anderorts ausschenken.«
Eine halbe Stunde später schritt er unter triefendem Schirm, den ärmellosen Tuchumhang über den Gesellschaftsanzug geworfen, dem Klubhaus der Ruhrorter Herren, der ›Erholung‹, zu. Breit und selbstsicher stieß es hinein in die dunklen Gassen des Hafenviertels.
[S. 56]
Eine gewichtige Anzahl von Herren saßen bequem um die Tische geschart. Und daß nicht nur die Zahl eine gewichtige war, zeigten viele und viele der ausgearbeiteten Köpfe an, der scharfgemeißelten Schädel, der aufmerksam spähenden Augen. Männer, bei denen tagsüber Spannkraft und Willenskraft zuhause war und abends ein gelöstes Sichgehenlassen.
Der Wein schwamm in den Römern, die Unterhaltung schwoll an, tiefgründige Worte wurden in ein derbes Scherzwort abgeleitet, von dröhnendem Lachen belohnt. An den Spieltischen klappten die Karten.
Als Kornelius Vanderwelt eintrat, schauten nur wenige auf. Aber die wenigen gaben ihre Erkenntnis durch Blicke weiter, die die Aufmerksamkeit der Umsitzenden weckten und auf den Eintretenden hinlenkten.
»Sieh da. Herr Kornelius Vanderwelt in Person. Sagen Sie, lieber Vanderwelt, leiden Sie unter Anwandlungen von blindlings gesteuerter Langeweile?«
»Wenn ich wüßte, was Sie wissen, Herr Kommerzienrat, langweilte ich mich an keinem Tische der Erde.«
»Verdammter Kerl, der. Nicht schlecht gegeben. Bin nur gespannt, was ich da wieder mehr wissen soll.«
»Oh, nur einiges. Zum Beispiel, ob die neuen Hafenpläne zur Ausführung gelangen oder nicht?«
»Das müssen Sie den Herrn Oberbürgermeister fragen. Ich beuge mich der Allmacht der Behörde.«
Kornelius Vanderwelt zeigte lachend die Zähne.
»Der Herr Oberbürgermeister sitzt ja allabendlich neben Ihnen. Sollte da nicht eine Befruchtung der Allmacht in aller Stille möglich sein.«
»Hören Sie auf! Das grenzt an Gotteslästerung.«
»Mein verehrter Herr Vanderwelt,« mischte sich die feine Stimme des Oberbürgermeisters ein, »seitdem die Verschmelzung[S. 57] von Ruhrort und Meiderich mit Duisburg glücklich vor sich gegangen ist, hat sich auch die Zahl der Erzengel in meinem Verwaltungshimmel vermehrt, und die vereinigten Herren Stadtverordneten haben mehr denn je das Wort.«
Kornelius Vanderwelt verneigte sich tief.
»Das Wort! Und Ihr kluges Lächeln sagt: ›Ihrer sei das Wort, mein sei die Tat!‹«
»Hierher, Vanderwelt! Wir wollen auch unseren Nutzen ziehen! Heda! Unsereins auch!«
Kornelius Vanderwelt schritt weiter, verharrte an einem Tische, ließ sich zu einem anderen winken. Hinter ihm blieb ein Flüstern.
»Ein Kerl von Geist und Weitsicht,« meinte nachdenklich der Kommerzienrat. »Zuweilen von einer gefährlichen Weitsicht.«
»Wie reimt sich das zusammen, Herr Kommerzienrat?«
Der überlegene Geschäftsmann schob langsam die buschigen Augenbrauen hoch.
»Seltsame Frage das. Es braucht kein Kornelius Vanderwelt in die ›Erholung‹ zu kommen, um uns die Erweiterung der Hafenbauten zu predigen. Etwas anderes ist es, ob wir Nächstbeteiligten mit unseren Schiffsparks Schritt halten können, ob wir uns in unserem Wirkungskreis nicht einen neuen, wenig erwünschten Wettbewerb hereinholen, oder die Kleinschiffer durch die Not an Kahnraum stärker in den Vordergrund gerückt werden, als es für den reibungslosen Großbetrieb gut ist. Das nenn' ich gefährliche Weitsicht. An der Notwendigkeit der Hafenerweiterungen zweifle ich nicht eine Sekunde, und der Herr Oberbürgermeister, wie ich seine Tatkraft kenne, ebensowenig.«
Eine Weile wandte sich das Gespräch mit voller Lebhaftigkeit den Lebensadern der Stadt, den Hafenbecken und[S. 58] Kanälen zu. Die Finger zeichneten Entwürfe auf die Tischplatte, die Köpfe schmiedeten Pläne. Bald schon, und keiner wollte dahinten bleiben, der eine den anderen überbieten, bis die Trumpfkarte fiel.
»Ich schlage vor, sämtliche Straßen Ruhrorts in schiffbare Kanäle zu verwandeln, sämtliche Plätze in Hafenbecken.«
»Halt, halt,« rief ein hoher Hafenbeamter in das aufdröhnende Gelächter hinein, »der Einfall ist nicht von Ihnen!«
»Haben Sie ihn etwa zutage gefördert, Herr Regierungsrat?«
»Der Vater des Kindes heißt Vanderwelt.«
»Ich muß doch sehr bitten. Zu meinen Kindern bin ich selber Vater.«
»Es ist schon einige Zeit, da fuhr er mit mir auf dem Regierungsboot durch die Rhein-Ruhr-Häfen. Es war Hochbetrieb, in allen Wasserstraßen drängten sich die Kähne, die Hochöfen feuerwerkten wie besessen, und die Häuserreihen standen wie verloren im schwarzen Kohlenschleier.«
»Sie werden ja ganz poetisch, Herr Regierungsrat.«
»Ich nicht, aber der Vanderwelt wurde es. Mit einer Liebe ohnegleichen starrte er auf das dunkle Städtebild, das sich hier, dort, überall im dunkelgefärbten Wasser spiegelte, wandte sich zu mir und sagte leise: ›Das schwarze Venedig!‹« — —
Keiner lachte. Jeder nickte versonnen vor sich hin und spann den Gedanken weiter.
»Seltsamer Mensch das,« sagte ernst der Kommerzienrat. »Zwei Seelen wohnen in seiner Brust.«
Und wieder war der Bann gebrochen, und wieder hieß der neue Gesprächsstoff Kornelius Vanderwelt. Dichtung und Wahrheit stritten sich um den Mann.
»Er spielt auf dem Klavier wie unsereins an der Börse.«
[S. 59]
»Er liest die Dichter wie unsereins die Kurszettel.«
»Was ihn aber nicht hindert, mit aller seiner Kunst unsereins übers Ohr zu hauen.«
Der aber, von dem die Reden im Schwange waren, saß unbekümmert fernab an einem Ecktischchen und becherte mit den beiden Reedern Hinrichsen und Auffermann um die Wette. Seine Augen leuchteten hellauf, sein Mund sprudelte über von Geschichten aus der weitesten Welt und Gleichnissen aus der nächsten Nähe. Der schlanke Hinrichsen bog sich in den Hüften, der beleibte Auffermann legte sich die Arme wie Faßreifen um den hüpfenden Bauch. »Machen Sie es gnädig, Vanderwelt, machen Sie es gnädig. Wir glauben Ihnen alles — alles — alles —!«
»Das kann mich nicht kümmern, meine Herren. Kommen Sie erst einmal nach den Südseeinseln. Da gibt es kein verstohlenes Herumdrücken in den Kaschemmen und Freudenhäusern. Da herrscht Liebe auf den ersten Blick und der Zauber paradiesischer Umgangsformen.«
»Wachsen denn dort Feigenbäume, Vanderwelt? Feigenbäume in rauhen Massen?«
»Gott,« sagte Vanderwelt träumerisch, »es war wohl zu schön, zu überirdisch schön, um an Torheiten zu denken ...«
»Ja, waren Sie denn selber da drunten? Drunten im Unterland, wo's halt so schön ist? Und am Viktoria Njansa? Und bei den Roten am Orinoko und den Schlitzäugigen in der Malakkastraße? Mann, wo waren Sie denn eigentlich nicht?«
Kornelius Vanderwelt spielte mit den Fäden seines Schnurrbartes.
»Wo ich nicht war? Meinen Sie, bevor ich endgültig in Ruhrort vor Anker ging, oder —«
»Achtung, Hinrichsen, jetzt kommt eine bodenlose Grobheit.«
[S. 60]
»Oder — alsdann? Alsdann war ich noch nie unter so hinterhältigen Gentlemen, die mich erzählen lassen, während sie selber den Wein wegtrinken. Die dritte Flasche, Auffermann, bitte ich in zweifacher Ausfertigung vorzuführen. Keine Einwendungen, oder wir nehmen den Mann nicht mit auf hohe Fahrt, Hinrichsen.«
Der Reeder Auffermann rieb sich das spiegelblanke Kinn.
»Hohe Fahrt? Das überredet mich. ›Dein Mund fleußt über alle Zeit von süßem Sanftmutsöle‹, steht in einem alten Gesangbuchliede zu singen und zu sagen. Darauf trinken wir die vierte, und Hinrichsen zahlt die fünfte und die sechste. Worüber beschweren Sie sich? Sie hätten schon die erste und die zweite gezahlt? Still, Hinrichsen. Nicht in Gegenwart unseres Gastes.«
Und Kornelius Vanderwelt dachte, während der Wein die grünen Römer füllte, es sind landläufige Burschen, aber als Saufkumpane geschaffen wie weiland Ritter Falstaff für den Junker Heinz. Und er hob sein Glas, stieß an und trank in langen, durstigen Zügen.
Allmählich leerte sich das Gemach. Eine Zecherrunde nach der anderen rückte ab, und an den Kartentischen errechnete man Gewinn und Verlust, beglich die Rechnung und verabredete sich auf morgen.
»Kaum Mitternacht,« stellte Kornelius Vanderwelt fest, »und schon löschen sie die Kesselfeuer und kriechen in die Hängematten. Ich krieg' das Frieren bei so viel Kaltblütern.«
»Kaltblütern? Hinrichsen, hat er ›Kaltblüter‹ gesagt? Wollen Sie meinen Puls fühlen, Vanderwelt? Wollen Sie Hinrichsens Puls fühlen? Wenn wir auch nicht mit Südseeinsulanerinnen Vielliebchen aßen, wenn wir auch nicht — wenn wir auch nicht — mit Suahelimädchen — na, Hinrichsen, nun sagen Sie's doch schon, was wir nicht mit den Suahelimädchen ...«
[S. 61]
»Mit Kokosnüssen Tennis spielten,« half Hinrichsen aus, »und mit den Schlitzäugigen: ›Wieviel Finger sind das?‹ ...«
»So haben wir doch Ruhrorter Blut,« fuhr Auffermann fort. »Heißes Ruhrorter Blut. Verdammt heißes Ruhrorter Blut. Und jetzt gehen wir auf die Straße, wo's am schönsten ist.«
Hinter ihnen erlosch das Licht im Saale. Die Mäntel über den Gesellschaftsanzug geworfen, den steifen Hut auf dem Kopf, traten die Herren in den Hauseingang, mühten sich, in Regen und Wind die Schirme aufzuspannen, und hielten in fröhlicher Erregung den Schritt an.
Vor ihnen verzwirnten sich die engen Hafengassen, und das Licht der Laternen kämpfte vergebens mit den grauen Regenfluten der Nacht. Aber das Licht kämpfte nicht allein. Es kämpfte Dunkelheit gegen Dunkelheit, Menschen der Nacht gegen Menschen der Nacht.
»Wat sagen Sie? Sie hätten dat Mädchen nur angekuckt, Sie Piekfeiner?«
»Bleiben Sie mir vom Leibe. Ich habe mit Ihnen nichts zu schaffen.«
»Aber meiner Braut möchten Sie zu Leibe, was? Mit meiner Braut möchten Sie sich zu schaffen machen? Jetz wollen wir einmal ›Du‹ zueinander sagen, du Lauser, un jetz kriegst du meine Visitenkarte —«
Klatsch!
Der Geschlagene taumelte einen Schritt zurück, hob den Spazierstock und schlug blindlings in die Luft. Das Frauenzimmer kreischte, der Matrose duckte sich zum Sprung und sprang dem Gegner an die Brust.
Klatsch! Klatsch! Von beiden Seiten.
Schon knäulte sich ein halbes Dutzend, schon ein Dutzend Menschen um die nächtlichen Kämpfer herum. Kneipentüren öffneten sich, strömten breite Lichtwellen ins Gassendunkel[S. 62] und mit den Lichtwellen behende Gäste, die da fürchteten, zu spät zu kommen. »Hau ihn, Hendrik! Du läßt dir doch woll nich in 'n Kurs segeln von so 'nem Laffen?«
Klatsch! Klatsch! Klatsch! — Hin und her.
In der Tür der Gastwirtschaft ›Zu den fünf Erdteilen‹, die durch ihre Ecklage das Gassengewirr beherrschte, stand in Hemdärmeln und blauer Schürze breitbeinig der Wirt im roten Lichtkegel. Die Hände in den Schürzenlatz geschoben, die Augen blinkernd vor Vergnügen, feuerte er Kämpfer und Zuschauer gleichermaßen an.
»Hendrik, der saß bei dir! Blaue Augen sind schön, Hendrik, aber zumehrst beim anderen! So war's recht, mein Junge! So! Und so! Junger Herr, Sie werden doch nicht vor einem schlichten Matrosen Leine ziehen?«
Aber der Piekfeine dachte gar nicht daran, denn der Hendrik hatte im Eifer des Gefechts einen der Umstehenden vor das Schienbein getreten und einen Dankesstoß erhalten, der ihn über den Haufen warf. Und schon lag der Feine über dem Matrosen und bearbeitet ihn wütend mit den Fäusten. Das aber ging einer Handvoll Schiffersleuten gegen Strich und Faden. Einer von ihnen krakeelte den Mann an, der sein Schienbein gerächt hatte, und erhielt stracks eine gesalzene Maulschelle zur Antwort. Andere stürzten sich auf die am Boden Liegenden, rissen den Oberen vom Unteren, verloren den Halt, befanden sich in tobendem Handgemenge, ohne zu wissen, wie und für welche Sache. Denn auch der Mann, der sein Schienbein gerächt hatte, hatte eingreifen müssen und den Krakeelenden, der ihn wie ein Stier anlief, in den Knäuel geschleudert. Ein dumpfer Schmerzensschrei des Aufschlagenden, und die Zuschauermenge verlor den letzten Rest von Besinnung, stürmte in atemloser Erregung vor, gurgelte Schimpfworte[S. 63] und Kampfesrufe, schlug klatschend drein, traf auf den Falschen, teilte sich in blind ineinander verbissene Einzelgruppen, während der Mann mit dem mißhandelten Schienbein bald in diese, bald in jene Gruppe einen Angreifer hineinschleuderte, die Verbindungen zwischen den Einzelgruppen wieder herstellte und eine allgemeine tobende Kampfeslage schuf.
»Warte, Bürschken, dich sucht' ich als lang.«
»Komm her, du Großmaul, ich hau' dir ein Pechpflaster drauf.«
Klatsch! Klatsch!
»Du da! Du da! Du hast noch wat vom letzten Mal bei mir im Salz. Willste wohl nich ausreißen, du Feigling?«
»Vor so wat ausreißen? Hahaha! Nur zu klebrig biste mir.«
Klatsch! Klatsch!
»Nimm die Hand vom Hals, Hein. Nimm die Hand vom Hals —«
»Tuste Abbitte? Schön Abbitte? Bin ich ein Mädchenhändler, du Lump, oder ein Ehrenmann wie du —?«
Die drei Herren aus der ›Erholung‹ waren längst unter dem schützenden Hauseingang hervorgetreten. Dichter und dichter drängten sie an den Kampfesring heran. Fäuste griffen nach ihnen. Sie hoben die Regenschirme hoch und zeigten ihre lachenden Gesichter.
»Dat sind Herren von der ›Erholung‹! Seid ihr denn ganz blind, ihr wütigen Maulwürfe?«
Und augenblicklich zogen sich die Fäuste zurück, lüfteten die Kerle grinsend die Kappe. Uralte, schweigende Übereinkunft bewährte sich zwischen den heimkehrenden Herren der ›Erholung‹, den Reedern und Frachtverladern, und den rauflustigen Gästen des Hafenviertels. Ein derbes und herzliches Nachtverhältnis.
[S. 64]
»Guten Abend, Herr Auffermann. Guten Abend, Herr Hinrichsen.«
»Guten Abend auch, Herr Vanderwelt. Große Ehre, mit 'ner schlichten Runde Boxkampf aufwarten zu dürfen.«
Plötzlich hielt das Kampfgetöse den Atem an. Die Griffe lockerten sich, die Köpfe streckten sich vor.
»Was denn, Jungens,« rief Kornelius Vanderwelt, »ihr werdet doch nicht aufhören wollen, wenn's am schönsten ist? Wenigstens noch eine Ehrenrunde! Ich schlage vor: zwischen den beiden Herren, die das Zauberstück zuerst zur Aufführung gebracht haben.«
Unter dem niederströmenden Nachtregen, vom Licht der Laternen flackrig beleuchtet, zog man den zerbeulten Matrosen hervor und stellte ihn auf den Platz. »Wo ist der Piekfeine?« grollte er. »Bringt mir nur den Piekfeinen noch mal her.«
Aber so viel man auch suchte, der Piekfeine blieb verschwunden. Und als der Matrose den Namen seiner Braut brüllte, kam auch von dort kein Echo.
Der Piekfeine hatte die Kampfpause benutzt und sich davongemacht. Nicht ohne dem strittigen Gegenstand einen vertraulichen Wink zu geben.
Von unbändigem, immer sich erneuerndem Gelächter begleitet, nahm der Matrose neuen Kurs und stürmte, die Ellbogen angezogen, die Fäuste geballt, in die Dunkelheit, die ihn im niederströmenden Regen verschwinden ließ.
Das nächtliche Zauberstück war zu Ende gespielt. Die Mitwirkenden lüfteten ihre Heldenmasken, erkannten sich als gute Kameraden und biedere Mitbürger und grinsten sich an.
»Ich glaub' wahrhaftig — et regent ...« stellte der eine fest.
[S. 65]
»Verdammich, weshalb lassen wir uns denn eigentlich hier naß regnen?« fragte verwundert ein anderer.
Und ein dritter schlug vor: »Wir könnten unsere Abendunterhaltung doch ebensogut unter Dach und Fach fortsetzen.« Und er fand ungeteilte Zustimmung.
Kornelius Vanderwelt tauschte Gruß und Handschlag mit dem Mann, der um sein Schienbein besorgt gewesen war.
»Petrus! Natürlich! Kein anderer zwischen Mannheim und Rotterdam befördert Stückgut so im Schwunge wie Ihr!«
Der vierschrötige Schiffer machte einen Kratzfuß.
»Ich schmeichle mir, Herr Vanderwelt. Aber bevor ich den Schwung auf seiner glänzendsten Höhe hatte, war die Stückzahl schon erledigt. Schade drum.«
Kornelius Vanderwelt schob seinen Arm in den ungeschlachten des Kraftmenschen und ging im Schritt mit ihm auf die Gastwirtschaft ›Zu den fünf Erdteilen‹ zu. Der Riese setzte nur Fuß neben Fuß. Er fühlte sich sehr geehrt unter dem gemeinsamen Regenschirm und schielte backbord und steuerbord, ob auch eine genügend große Zahl von Kameraden die Bevorzugung gewahr werde.
»Petrus,« fragte Kornelius Vanderwelt, und Wein, Straße, Nacht waren vergessen, »ist Ihr Kahn verholt?«
»Herr,« entgegnete der Schiffer, »wat der Pitter einmal gesagt hat, dat hat er für alle mal gesagt. Der Kahn liegt längsseits dem Gebhardt seinen, un nu hat der Kohlenkipper et Wort.«
»Das hat wohl Durst gemacht, Petrus?«
»Herr Vanderwelt, arme Leut haben immer Durst. Durst un Hunger. Auf en ordentlich Stampglas Schnaps, auf en staatses Frauenzimmer, dat mit einem et Tanzbein schwingt, un nich zuletzt auf die Harmonika, auf so 'n richtig[S. 66] Stücksken für die gerührte, unsterbliche Seele. Wat davon abseits liegt, Herr Vanderwelt, heißt für unsereins Arbeit, Verantwortung und Kohlenstaub in 'n Hals. Durst haben wir immer.«
»Heda, Matthes, angetreten!«
Der Wirt ›Zu den fünf Erdteilen‹ trottete dem hohen Gast durch Nacht und Regen entgegen.
»Jammerschad', Herr Vanderwelt. Ich tat Ihnen doch einen Warnungspfiff, noch nich dat schöne Familienbild zu stören.«
»Pfeifen Sie bei solch einem Krach nächstens mit der Sirene und nicht mit dem gespitzten Maul.«
»Ganz die meine Meinung,« stimmt der Kahnschiffer zu. »Außerdem war außer dem Matthes nix mehr zu verprügeln.«
Der Wirt zeigte mit dem Daumen über die Schulter, während er mit der freien Hand den Schirm nahm und ihn sorgsam über die Häupter seiner Gäste hielt.
»Gerad' hatten sie die Volksbelustigung auch im ›König von Portugal‹ vernommen. Sehen Sie, meine Herren, da wimmeln sie schon heran und machen verblüffte Gesichter.«
»Matthes,« sagte Kornelius Vanderwelt, »lassen Sie die Portugiesen ruhig auf eigene Rechnung spielen. Ich hoffe, es ist gemütlich in Ihrem Winterpalast. Wo bleibt der Einzugsmarsch der Gladiatoren?«
Der Wirt klappte den triefenden Schirm zu und rief einen Befehl in die verräucherte Stube. Eine Harmonika setzte ein. Mit einem heulenden Ton ließ sie die Winde aus den Zügen, sog sich aufs neue voll und rauschte den feierlich Einziehenden wuchtig den Pariser Einzugsmarsch entgegen. Die Wirtsstube füllte sich mit Menschen. Auch ein paar Bräute rückten stolz am Arm ihrer Burschen ein und wurden auf Vorschlag des Reeders Auffermann, da es an[S. 67] Damen mangele und Taschenmesser nur beim Essen in Gebrauch genommen werden sollten, für den Weiterverlauf dieses schönen Abends jeglicher Brautschaft entkleidet.
Hinter dem letzten Nachzügler schloß Matthes zweimal die Tür ab.
»Weshalb so fürsorglich, Herbergsvater?«
»Herr Auffermann, et geschieht erstens wegen der Polizeistunde, zweitens wegen des geordneteren Bezahlens.«
»Treffliche Geschäftsumsicht. Nur zu loben.«
»Um welche Zeit«, fragte der Reeder Hinrichsen und gähnte leise und müde, »tritt denn so allgemach für die >Fünf Erdteile< die Polizeistunde ein?«
»Keine Gefahr,« flüsterte der Wirt vertraulich. »Für drei Abende in der Woche hab' ich ›Geschlossene Gesellschaft‹ angemeldet. Den Verein ›Schifferkameradschaft‹, den Verein der ›Harmonikafreunde‹ und die Karnevalsgesellschaft ›Haste nix — dann kriegste nix!‹ Wat wollen Sie, Herr Hinrichsen, meine Gäste kommen so selten von Bord an Land, dat sie mit Begeisterung Mitglieder in allen drei Vereinen geworden sind. Un über fröhliche Menschen kann die Polizei sich doch nur freuen.«
Der Reeder Hinrichsen beugte schicksalsergeben das Haupt.
»Ruhe, die verehrten Herrschaften. Die Frauenzimmer sollen dat Kreischen lassen. Herr Vanderwelt bezweckt, uns mit einer kleinen Ansprache zu erfreuen.«
Kornelius Vanderwelt stand lässig an seinem Tisch, die Hände in den Taschen seines Gesellschaftsanzugs vergraben. Aus halbgeschlossenen Augen blickte er über die gedrängt sitzenden Bruderschaften und Schwesternschaften dahin.
»Hohe Festversammlung. Schon unter den alten Heiden war es schönste Sitte, daß sich fremdhergewanderte Gäste nicht mit leeren Händen den Gaststätten nahten, sondern mit wohlerwogenen Gastgeschenken. Diese Geschenke sollten[S. 68] dazu dienen, den Gastfreunden die ihnen zustehende tiefe Verehrung zu erweisen und ihnen die Herzen zu öffnen zu traulichem Verkehr. So seien Sie denn erbötig, auch unsere Geschenke entgegenzunehmen. Ich bitte Sie, Ihre Augen nach dem Schenkentisch zu richten.«
»Sie haben sich wohl vertan, Herr Vanderwelt. Da sitzt dem Matthes seine süße Hausehre.«
»Sehen Sie, wenn ich Ihnen raten darf, über die verehrte Frau Matthes hinweg. Nicht etwa wegen des eifersüchtigen Gatten —«
»Der Kerl un eifersüchtig!« höhnte die süße Hausehre und duckte sich vor dem Blick ihres Gebieters zu einem armen Häuflein Leid.
»Aufgebaut sehe ich auf dem Schenkentisch Gläser köstlicher Soleier, Kistchen mit goldgelben Kieler Sprotten, rotbackene Käse von Holland, wohlriechende von Mainz, tränenfeuchte aus der Schweiz. Dazu Schinken und Würste in verlockendem Anschnitt. Mein Freund Hinrichsen macht sich ein Vergnügen daraus, sie Ihnen anzubieten.«
Ermüdet suchte Hinrichsen Verwahrung einzulegen. Der Reeder Auffermann überstimmte ihn lärmend.
»Nichts da, Hinrichsen. Bei den alten Heiden war das schon der Brauch. Und Sie wollen ein — ein — vorgeschrittener Christ sein?«
»Mein Freund Auffermann hingegen,« fuhr Vanderwelt fort, »bittet Sie durch meinen Mund, ein Fäßlein Bier auf seine Gesundheit und Rechnung zu leeren und auch des Schnapses nicht zu vergessen.«
Der Reeder fuhr auf. Er lehnte mit Bestimmtheit die Bevormundung ab. Bis Hinrichsens müde Stimme erklang: »Schon bei den alten Heiden ... sagten Sie nicht soeben so, lieber Auffermann?«
Da setzte sich der beleibte Mann seufzend nieder.
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»Und Sie, Vanderwelt? Was stiften Sie?«
Kornelius Vanderwelt öffnete weit die Augen, lachte über die vorgestreckten Köpfe hinweg, als brächte er ihnen allen eine Huldigung.
»Ich stifte die Musik, den Tanz und alle Freuden der Jugend! Leg' los, Harmonikamann!«
Und er warf dem Spieler im Schwunge einen Taler zu, den der Aufmerksame geschickt zwischen den Zügen seiner Harmonika auffing, um alsbald mit Kraft und Hingabe einen Walzer zu beginnen.
Ein Taumel brach los, der über Ruhrort hinaus nach flämischen Vorbildern griff. Auf den Schenkentisch stürzte sich die gastfrohe Menge, kämpfte um den kürzesten Weg, stellte dem Sieger ein Bein, setzte über Tisch und Bänke, errang eine Kiste Sprotten, einen Edamer Käse, ein Schinkenbein, und eine schwerbusige Weibsperson barg den Glasbehälter mit den köstlichen Soleiern so heftig an der Brust, daß das Glas zerplatzte und die Eier an die Erde rollten.
»Nich ausbrüten! Nich ausbrüten! Man muß dat Mädchen belehren!«
Der Matthes aber ließ den Bierhahn spielen, schwenkte die Gläser in einem Springbrunnen um und füllte sie mit dem schäumenden Naß. Hurtig rannte die hagere Frau Matthes von Tisch zu Tisch, setzte ihre Lasten ab, rannte zurück, um neue Lasten zu holen, sah dem Gebieter nach den Augen und bot Schnäpse an.
Und durch das Gelärm, das Geklapper der Gläser, die gellenden Zurufe und das Aufgekreisch der Frauenspersonen rangen sich rauschend und frech, wehmütig und wimmernd die Klänge der Harmonika hindurch, gewannen die Oberhand, gingen unter, erkämpften sich aufs neue den Sieg.
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»Was fürs Herz!« schrie der Schiffer Petrus und schlug vor dem Harmonikaspieler die Hand auf den Tisch.
Der riß seine Künstlerstimmungen hin und her wie Gäule an den Zügeln. Die Harmonika schluchzte auf.
»Teure Hei—i—mat, sei gegrüßt!«
Der Schiffer Petrus sang mit. Seine Augen glänzten, seine Hingabe war hemmungslos. Bässe brummten die Grundmelodie. Frauensoprane schwelgten in süßen Höhen. Mit den Füßen zog man die Tische heran. Ein Bursche erhob sich, bewegte den Körper nach dem Takt der Weise und schlurfte auf gleitenden Füßen in den engen Tanzraum. Schon folgte ihm ein Mädchen, nachtwandlerisch, mit wiegendem Körper, die Arme mit kraftlos tastenden Händen ausgestreckt, bis sie die Schultern des Burschen erreichten, bis die Glieder sich im Tanze verkrampften. Ein zweites Paar, ein drittes. Die Zechenden wurden an die Wände gedrückt.
Das hochbusige Frauenzimmer hatte sich den Reeder Auffermann erkoren. Es warb um einen Tanz. Es umschmeichelte ihn. Mit einer Handbewegung schob es der Reeder zur Seite. Da brach das Ungestüm durch, loderndes Gassenfeuer. »Komm her! Komm her! Ich will dich! Dich! Dich!«
Und der Reeder kam. Wortlos packte er das ungestüme Weib, wortlos hob er sie hoch, daß die Röcke rauschten, und setzte sie in den aufspritzenden Springbrunnen, dessen Becken sie füllte.
Des Festes Höhepunkt war erreicht. Wild wogte der Tanzreigen um das zeternde, unerlöste Weib. Die Lieder überschlugen sich. Die Harmonika warf ihre grellsten Feuerfetzen in den Aufruhr der Gemüter.
Und plötzlich war es Kornelius Vanderwelt, als wäre er all diesem Menschenirrsinn weit entrückt, als führe er, ein[S. 71] Einsamer, durch eine weltabgewandte Flußlandschaft, zur Linken in schimmernden Schlangenlinien den weißen Wasserspiegel, zur Rechten in heißer Herbstfeier den Buschwald in Rot und Gold, und als er sich träumerisch suchend dem Bilde hingab, war ihm, als hörte er eine Mädchenstimme rufen, und er horchte ihr grübelnd nach und vernahm sie wieder und horchte angestrengter.
War das ein Wortwechsel im Haus? Ahnte er ihn nur im alles verschlingenden Lärm?
Und mit einem Male erhob sich Kornelius Vanderwelt, warf seinen Tuchumhang über, griff Schirm und Hut und trat ungesehen hinter dem Schenkentisch ins Haus.
Er preßte sich an die Flurwand. Er glaubte eine Erscheinung zu haben und schloß für Sekunden die Augen.
Das Mädchen von der Landstraße kam die Treppe herab, blaß, mit verstörten Augen, die Reisetasche fest an sich gezogen. Und wie ein Gespenst zappelte die Frau des Matthes vor ihr her, keifend, ihr den Weg verlegend.
»Sie bleiben hier. Sie haben dat Zimmer nur gekriegt, weil Sie länger wohnen wollten.«
»Ich habe das Zimmer täglich bezahlt. Ich kann nicht mehr. Wo bin ich denn nur? Ich will fort!«
Der Wirt tauchte auf. »Marsch, ins Geschäft!« herrschte er seine Frau an, die wie ein Hauch verschwand. »Entschuldigen Sie, Fräuleinchen,« sagte er süßlich und legte ihr den Arm um den Leib, »aber Sie sollen mal sehen, wie schnell man sich an die Musik gewöhnt.«
Und jäh verzerrten sich seine Züge, warf sich sein Kopf nach hinten herum.
»Ah, Sie sind et, Herr Vanderwelt. Da können Sie von Glück sagen, dat ich Sie erkannt habe. Nehmen Sie die Daumenschrauben vom Arm.«
»Befehle, Matthes? Finger weg, oder ich dreh' Ihnen[S. 72] die Schulter ab. Sie kennen mich im Zorn, Matthes. So ist's recht. Und kein Wort darüber. Nicht das kleinste, oder die Freundschaft ist aus. Gehen Sie zu Ihren Gästen.«
Das Mädchen stand auf den Treppenstufen, blaß, mit verstörten Augen, die Reisetasche fest an sich gezogen.
Kornelius Vanderwelt sah dem Wirte nach. Er sah auf das Mädchen und öffnete die Tür, die ins Freie führte. Die Nacht quoll herein und mit ihr der peitschende Regen.
Kornelius Vanderwelt stand und sah auf das zusammenschauernde Mädchen, das ihm entgegenschritt. Er öffnete den Schirm, den er schützend in die regendurchflutete Nacht hinaushielt, und als er in der engen Tür ihre frostbebende Schulter spürte, hob er seinen Umhang und nahm sie mit unter das wärmende Tuch.
»Ich will Ihnen nur auf den rechten Weg helfen,« sagte er leise, und sie sah nach seinen Augen.
So schritten sie schweigend in Nacht und Regen, der Mann und das Mädchen.
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Als der Mann und das Mädchen aus der Gasse heraustraten, packte sie am Hafendamm der fegende Rheinwind erst mit seiner vollen Gewalt, und der Mann stemmte seine Schultern an, um des Windes und Wetters Herr zu werden. Mit der einen Hand streckte er den Schirm vor, mit der anderen hielt er den Zipfel des Umhangs gepackt, aus dem das Angesicht des Mädchens starr und regennaß in die Dunkelheit lugte.
»Legen Sie vor allen Dingen einmal die Starrheit ab,« gebot die Stimme Kornelius Vanderwelts und drang durch das Wetter zu ihrem Ohr. »Was Sie in der Gastwirtschaft ›Zu den fünf Erdteilen‹ gesucht haben, werden Sie mir später erzählen, jetzt sagen Sie mir, was Sie in Ruhrort wollen oder wohin Sie wollen.«
Das Mädchen versuchte zu sprechen. Aber Regen und Wind machten sie atemlos. Ihr Mund bewegte sich und die Brust bäumte sich auf in der Anstrengung des Sprechens.
»Langsam, langsam,« beruhigte die Stimme Kornelius Vanderwelts. »Es ist so spät geworden, daß es auf ein paar Minuten wirklich nicht mehr ankommt. Verstehe ich recht? Klavierspielerin sind Sie? Und kommen von der Hochschule für Musik? Unterricht wollen Sie erteilen, um Ihre Laufbahn fortsetzen zu können? O Sie junge Jüngerin der heiligen Cäcilie, welcher dunkle Trieb führte Sie denn geradeswegs nach Ruhrort?«
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Wieder sprach die Stimme des Mädchens, und die Worte flatterten zerfetzt davon.
»Nein,« sagte Kornelius Vanderwelt, »so geht es nicht. Meine Stimme ist an das Hafenwetter besser gewöhnt. Ich werde sprechen und Sie werden nicken oder mit dem Kopfe schütteln. Verstanden?«
Das Mädchen schloß nur die Augen zur Bejahung.
»Ich werde es ganz kurz machen,« fuhr Kornelius Vanderwelt fort. »Sie sind hier. Daran ist nicht zu zweifeln. Sie suchen Arbeit. Arbeit ist für jeden ernsthaft Suchenden zu beschaffen. Vorher aber suchen Sie eine Unterkunft. Das ist zu dieser vorgerückten Nachtstunde und in dem Zustand, in dem Sie sich befinden, schon eine schwierigere Aufgabe.«
Er wartete, und das Mädchen schwieg und mühte sich, das Frösteln zu unterdrücken.
Kornelius Vanderwelt beugte sich zu ihr nieder. Ganz nahe über ihre Augen, die ihm entgegenstarrten.
»Nicht diesen Blick. Bitte — ohne jede Angst und Zurückweisung. Als wir aus den ›Fünf Erdteilen‹ in die Nacht traten, versprach ich Ihnen meine Hilfe. Sehen meine Augen aus, wie die Augen eines Wegelagerers? Ach so, da war gestern oder vorgestern Mittag so eine Geschichte ... Auf der Landstraße ... Das war Landstraßenübermut. Das überkam mich so, wie ich Sie in Ihrer jüngferlichen Abwehr sah. Jetzt stehen Sie unter meinem Schutz, und dort ist mein Haus, und wir gehen hinein.«
»Nein,« sagte sie nur.
»Ja,« wiederholte er, »wir gehen hinein. Denn im Regen schwimmen wir fort, und es scheint mir für den in ganz Ruhrort und Umgebung bestens bekannten Kornelius Vanderwelt — so ist mein Name, mein Fräulein — nicht sonderlich passend, vor den Fenstern seiner schlafenden Kinder mit einer unbekannten jungen Dame[S. 75] durch die schwärzeste Nacht zu lustwandeln. Sehen Sie das ein?«
Sie machte sich ganz steif unter dem gemeinsamen Umhang.
»Mein liebes Fräulein,« sagte er ernst. »Ich bin nicht abergläubisch, aber hier scheint mir doch so etwas wie die Stimme des Schicksals mitzureden. Vielleicht finden Sie bei mir die Arbeit, die Sie suchen. Meinen Kindern tut eine tüchtige Klavierlehrerin not. Zeigen Sie mir morgen, was Sie können, und jetzt treten Sie ein.«
Das Mädchen bewegte den Mund, es begann zu sprechen.
»Nein, ich fürchte mich nicht. Ich fürchte mich auch nicht vor der ungewöhnlichen Stunde. Aber da ist etwas — nein, nein, es zieht mich nicht zurück — und ich bin auch nicht abergläubisch — es redet mir zu — und einer ist dem anderen doch ein Fremder.«
Und die Augen des einen befragten verwundert die Augen des anderen.
Fremde? Sind wir uns Fremde? Was ist es, was den einen für den anderen sprechen läßt?
»Ich gebe Ihnen mein Manneswort, daß Sie unter meinem Dach so sicher sind, wie meine Kinder.«
Sie antwortete nicht mehr. Aber sie ging ruhig an seiner Seite durch den Vorgarten, und die Rosenranken griffen nach ihr mit den Dornen, und sie griff hinein und spürte nur die sprühende Rose, die sie in der Hand behielt.
Kornelius Vanderwelt schloß die Türe auf und entzündete im Hausflur das Licht. Wie eine Nachtwandlerin, die eines jeden Schrittes sicher ist, folgte sie ihm in den Kleiderablegeraum, ließ sie sich von seinen Händen Hut und Mantel abnehmen, folgte sie ihm weiter, nur die Reisetasche in der Hand, und wartete geduldig in der Dunkelheit[S. 76] eines Raumes, bis ihr Führer auch hier das Licht aufflammen ließ.
Ihre Augen wanderten ringsum. Ernst und ohne Überraschung, als hätte sie die neue Umwelt so und nicht anders erwartet.
»Sie sind in meinem Arbeitszimmer,« sagte Kornelius Vanderwelt freundlich. »Setzen Sie sich nieder. Nein, nicht auf den steiflehnigen Stuhl. Hier in den tiefen Sessel können Sie sich gemütlicher hineinkuscheln. So ... Ganz Wohlbehagen ... Es wartet kein Zahnarzt mit der Zange. Aber es ist zwei Uhr nachts, und Sie haben nach dem Familienabend in den ›Fünf Erdteilen‹ die Berechtigung, müde zu sein.«
»Nein — ich bin nicht müde. Aber die Hausfrau schläft.«
»Mein liebes Fräulein, die Hausfrau schläft schon seit Jahren den ewigen Schlaf. Ich lebe mit meinen Kindern allein, zwei Jungen und einem Mädchen, und eine ältere Hausdame betreut uns. Soll ich Ihnen das Gastzimmer anweisen, oder wollen Sie mir noch ein wenig Gesellschaft leisten?«
»Wenn Sie es wünschen — will ich Ihnen noch — Gesellschaft leisten.«
»Recht so. Man lernt sich kennen und weiß am nächsten Tage, wer der andere ist. Das erleichtert die Möglichkeit Ihres Hierbleibens. Und nun wollen wir plaudern und zum Plaudern einen Tee trinken.«
Die Tiefe des Sessels verschlang die Mädchengestalt. Und aus der Tiefe heraus verfolgten die ernsten, grauen Augen jede Bewegung des Mannes, sahen auf seine starken, gutgepflegten Hände, die am Kamin die Schnur des elektrischen Kochers einschalteten, auf den jugendlich federnden Gang, der das Zimmer durchmaß, hin und her, her und hin, bis die dampfenden Teegläser auf dem Tische[S. 77] standen und eine verdeckte Schüssel. Kornelius Vanderwelt aber ließ ein jedesmal, wenn er den Schritt wandte, seinen Blick über das Mädchen schweifen, und er gewahrte den strengen Schnitt ihres Gesichtes, das flimmernde Rotblond des windverwehten Haares, die eigentümliche Ruhe der Augen, hinter der die Stürme müde geworden oder noch unerweckt zu schlafen schienen. Und wieder schweifte sein Blick über sie hin und gewahrte das billige Kleid und unter dem Kleid die Magerkeit der Glieder, die dennoch über den Fesseln eine feingeschwungene Linie zeigten, und die festgerundete Mädchenbrust, die unhörbar atmete. Und immer wieder schweifte sein Blick über die Hände, die im Schoße ruhten und ihm in ihrer Gliederung so ausdrucksvoll schienen, als sprächen sie eine eigene, beseelte Sprache.
Leise zog er sich seinen Sessel heran und setzte sich ihr gegenüber. Die Schüssel hatte er abgedeckt.
»Greifen Sie zu,« bat er freundlich. »Die kleinen Imbißbrote werden jeden Abend für mich zurecht gestellt. Ich bin, wie Sie leider schon bemerkt haben werden, ein bißchen außenhäusig geworden. Und trinken Sie tapfer Tee. Er langt für mehrere Gläser und wärmt Ihren durchfröstelten Lebensmut wieder an.«
Sie beugte sich vor und nahm das Glas aus seinen Händen. »Zucker?« fragte er und ließ, als ihre Lippen sich bewegten, ein Stück in ihr Glas gleiten.
Sie trank mit weitgeöffneten Augen. Nicht gierig, aber in langen, durstigen Zügen, als wär alles in ihr erstarrt gewesen und taute nur langsam auf unter dem heißen Trank.
»Nicht das Essen vergessen,« ermunterte Kornelius Vanderwelt, und sie nahm gehorsam eins der schmackhaften Brote und senkte die Augen, während sie aß.
Kornelius Vanderwelt tat, als leistete er ihr bei Speise[S. 78] und Trank Gesellschaft. Aber während er sie mit einer geräuschlosen Ritterlichkeit bediente, kam die Verwunderung über sein Tun in ihm hoch und wuchs und wuchs, daß er unruhig glaubte, ein Lachen in sich aufsteigen zu spüren, ein Lachen über Kornelius Vanderwelt, der von der Straße nächtlichen Besuch hereinnahm und ihm wie einem Edelfräulein aufwartete.
Und die Verwunderung wurde noch stärker, weil das Lachen ausblieb und nicht einmal einem Mitleid Platz machte, sondern nur ein grübelndes Lächeln wurde: wie schön ist es, mit diesem Mädchen zusammenzusitzen, und weshalb ist sie mir so vertraut?
Da gewahrte er, daß sie ihn anblickte.
»Nichts mehr?« fragte er. »Nicht ein kleines Brötchen mehr? Aber das Teeglas wird noch einmal gefüllt —«
»Ja, ich danke Ihnen,« sagte sie, und er sah an dem Hauch, der in feinem Rot ihr Gesicht überzog, daß sie sich erholt hatte.
»Wollen Sie mir jetzt Ihren Namen nennen? Eine Anrede ist die Hälfte des Bekanntseins.«
»Ich heiße Angela Freydag.«
»Angela? Ah, das bedeutet soviel wie ›Engel‹?«
Ihre Hand tastete nach der Reisetasche, die sie an ihren Sessel gelehnt hatte. Sie drückte auf das Schloß.
»Mein Gott,« fragte Kornelius Vanderwelt erstaunt, »haben Sie das Ding da sogar ins Zimmer mitgenommen?«
»Meine Brieftasche ist darin, und in der Brieftasche sind meine Papiere.«
»Mein liebes Fräulein Freydag, Sie verwechseln den Ort. Sie befinden sich hier nicht vor einer Behörde, sondern bei einem Ruhrorter Bürger mit Namen Kornelius Vanderwelt, der Ihnen freiwillig Gastfreundschaft anbot.«
Sie aber nestelte die Brieftasche hervor und öffnete sie[S. 79] vorsichtig auf den Knien. Zwischen wenigen kleinen Geldscheinen lagen in sauberem Umschlag ihre Ausweispapiere.
Kornelius Vanderwelt nahm sie mit kurzer Verbeugung aus ihren Händen.
»Wenn es wirklich Ihr Wunsch ist —« Und er las.
»Angela Freydag, Musikbeflissene. Tochter des verstorbenen Kapellmeisters Sebastian Freydag und seiner ebenfalls verstorbenen Ehefrau, der Sängerin Barbara Freydag geborene Brandt.«
Er ließ die Hände in den Schoß sinken und schaute sie an.
»Es folgt die Personalbeschreibung, Fräulein Freydag, die ich aber schon auswendig weiß. Also beide Eltern — beide dahin? Und keine Geschwister? Und Anverwandte? Ebensowenig?« Er legte die Papiere in ihre Hand zurück und behielt ihre Hand eine kurze Weile still zwischen der seinen.
»Und obendrein ist sowas noch ein Mädel — läuft mutterseelenallein über die Landstraße, um ihre Groschen zu sparen — jedem Zugriff ausgesetzt — nein, nein, ich weiß, es sind Krallen und Zähne vorhanden — gerät in die hochansehnliche Gastwirtschaft ›Zu den fünf Erdteilen‹ — ja, nun sagen Sie mir nur, weshalb gerade in diese?«
»Es war die billigste,« antwortete sie ruhig.
»Und was trieb Sie nach dem schwarzen Ruhrort?«
»Ich komme von der Musikhochschule in Köln. Meine Mittel sind eher erschöpft, als meine Ausbildung abgeschlossen sein wird. Da hab' ich mich auf den Weg gemacht, neue Mittel hinzuzuverdienen. Denn« — und ihre Augen sahen ihn mit einem stählernen Glanz an — »ich kann etwas und will noch viel mehr können.«
»Bravo. Aber weshalb gerade Ruhrort?«
»In Köln und in Düsseldorf und in den anderen großen Städten wachsen die Klavierlehrerinnen wie das Gras[S. 80] zwischen den Steinen. Da dachte ich an das Industriegebiet. Ich kam von der Ruhrstadt Kettwig her, als ich Ihren Fahrer auf der Landstraße anrief. Ich hatte nichts erreicht. Aber in Kettwig sprachen die Leute von der großen Entwicklung des Hafenplatzes Ruhrort. Und irgend etwas stieß mich auf den Weg.«
»Auf meinen Weg,« sagte Kornelius Vanderwelt grüblerisch. Und er befreite sich aus dem Dunkel der Gedanken und setzte munter hinzu: »Die erste Begegnung hat Sie wohl sehr erschreckt?«
Zum ersten Male sah er, daß sie lachen konnte. Nicht laut und auch nicht lautlos. Die Kehle blieb unbewegt. Nur in den Augen sprang ein Licht auf, tief im Hintergrund der grauen Augen, aber es beschien das ganze Gesicht mit einem heiteren Schein.
»Nein, die erste nicht, Herr Vanderwelt. Ich wußte wohl, daß ich im Winde stand wie eine Vogelscheuche, als mir die Kleider wegflogen. Und daß Sie mich trotzdem und ohne viel Fragens in den Wagen hoben, das empfand ich gerade darum als die erste Kameradschaft unter Menschen.«
»Das Empfinden hielt nicht lange an, und Ihre Zähne und Fäuste bedankten sich auf eine eigene Weise.«
»Hätte ich aus dem Wagen springen können, ich hätte es getan, Herr Vanderwelt.«
»So abscheulich erschien ich Ihnen? Als ein so gemeiner Wegelagerer?«
»Ich schämte mich vor mir selber und — und — nun muß ich es doch sagen — und für Sie.«
»Für mich, Fräulein Freydag? Hatte ich denn beim ersten Blick einen so guten Eindruck auf Sie gemacht?«
Sie zog nachsinnend die Stirn zusammen, daß sich über der geraden Nase steil eine Furche hob.
[S. 81]
»Ich fragte mich: greift ein Mann wie dieser Mann so wahllos nach jeder? Und wenn es ein so fadenscheiniges und abgemagertes Ding ist wie ich? Das schüttelte mich.«
»Es war nicht wahllos,« sagte Kornelius Vanderwelt. »In dieser Stunde weiß ich es, und Sie wissen es auch.«
»Ja,« entgegnete sie aus ihrem Sinnen heraus, »in dieser Stunde weiß ich es, und nun darf ich Ihnen dankbar sein.«
Kornelius Vanderwelt erhob sich.
»Da schlägt die Uhr drei. Seit zehn Uhr wenigstens gehören Sie ins Bett. Jetzt werde ich Sie in Ihr Zimmer bringen, und Sie stehen nicht vor Mittag auf. Ausnahmsweise werde ich zu Tisch kommen. Ich hole Sie aus Ihrem Zimmer ab und bitte mir einen lebensfrischen und lebensfröhlichen Hausgenossen aus. Noch eines, Fräulein Freydag.«
Sie hatte sich bei seinen ersten Worten erhoben, und er stand vor ihr und lachte ihr in die Augen.
»Wie ein Abenteuer fing es an. Aber Sie sollen auch nicht eine Minute länger als notwendig die Rolle einer Abenteurerin spielen. Der Wertschätzung wegen, die Sie bei sämtlichen Bewohnern dieses Hauses finden sollen. Und da bleibt nichts als eine ganz, ganz kleine Schwindelei für die Neugierigen. Ohren gespitzt. Gestern abend habe ich die Kölner Hochschule für Musik angerufen und den Direktor gebeten, mir noch in der Nacht eine seiner besten Klavierschülerinnen zu schicken. Solche Plötzlichkeiten ist man bei mir gewöhnt. Sie sind mit dem Nachtzug in Duisburg eingetroffen und haben sich absprachegemäß in der ›Erholung‹ zu Ruhrort bei mir gemeldet. Worauf ich Sie ohne viel Federlesens hierherbrachte und diebessicher einschloß. Wort für Wort verstanden?«
Mein Gott, dachte Kornelius Vanderwelt, wie übermütig das Mädel aussehen kann!
[S. 82]
Und doch trat keine Ausgelassenheit in ihrem Wesen zutage. Nur die Augen waren es, in denen es aufleuchtete, strahlte und sprühte, wie in mädchenlustiger Heiterkeit.
Und Kornelius Vanderwelt dachte: ein wie großes Kind muß diese junge Lebenskämpferin doch geblieben sein, daß ihr das bißchen Verkleiden schon ein so helles Vergnügen machen kann.
»Sie sind also bereit, meine Spießgesellin zu spielen?«
»Ich bin bereit, Ihre Spießgesellin zu spielen,« wiederholte sie mit einer hell anklingenden Stimme.
»Kommen Sie mit mir, Fräulein Freydag.«
Er ging ihr voran, und sie folgte ihm wortlos. Über den teppichbelegten Gang, eine teppichbelegte Treppe hinauf und wieder über einen teppichbelegten Gang. Er öffnete ein Eckzimmer, trat ein und machte Licht. Es war ein behaglicher Schlafraum in Weiß mit alten, goldgerahmten Kupferstichen an den Wänden. Über dem Bett wölbte sich ein kleiner Himmel, und die Falbeln des Behangs zitterten leicht in der Zugluft.
Sie starrte mit einem kinderseligen Gesicht darauf hin.
»Angela bedeutet doch ›Engel‹, und Engel müssen im Himmel wohnen,« meinte Kornelius Vanderwelt lächelnd. »Ich sehe, für die Erde ist Ihnen ja die Reisetasche treu geblieben. Schlafen Sie wohl, Fräulein Freydag. Gute Nacht.«
»Gute Nacht ...« klang es wie aus weiter Ferne zurück.
Unhörbar schritt Kornelius Vanderwelt den Gang entlang und die Treppe hinab zu seinem Arbeitszimmer. Er blickte sich um. Er suchte etwas und wußte, daß es nicht mehr um ihn war. Bis auf einen Duft, der sich scheu an ihn hing.
Er zog ihn in sich hinein, und der Duft war sein.
Wie ein Primaner, der hinter einem Mädchen herwittert,[S. 83] dachte er, reckte sich müde in den Gliedern, drehte das Licht ab und suchte sein Schlafzimmer auf. Und schlief traumlos bis zum Morgen.
Sein erster Gedanke beim Erwachen waren die Kähne. Die Kähne, die schon unterm Kohlenkipper verholt lagen, und die anderen, die sich im Anmarsch befanden. Seine Uhr zeigte die achte Morgenstunde. Sein Kopf war so wunderbar frisch und klar, als wäre kein Zutrunk in der ›Erholung‹, kein Kampfgetöse in der Hafengasse, kein Zechgelage in des Matthes ›Fünf Erdteilen‹ gewesen. Im Badezimmer reckte sich sein Körper unter der Brause. Den Bademantel übergeworfen, saß er in seinem Arbeitszimmer vor dem Fernsprecher.
»Bitte Zeche« — und er nannte den Namen. »Ich danke Ihnen, mein Fräulein. Hier Kornelius Vanderwelt selbst. Ich lasse den Herrn Direktor um eine halbe Minute bitten. Guten Morgen, Herr Direktor. Ob ich schon auf den Beinen bin? Selbst die Nacht war mir nicht zu schade, um Ihre Geschäfte zu fördern. Gegen Mitternacht sprach ich noch meine Schiffer. Zwei Kähne liegen schon unterm Kipper. Und sperren die Mäuler auf. Lassen Sie die Eisenbahnwagen anrollen. Ich habe einen halben Tag zugunsten Ihrer Verladung herausgewirtschaftet.«
Er horchte auf die Antwort.
»Sehr schmeichelhaft. Für Schmeicheleien aus Ihrem Munde bin ich sehr empfänglich. Lassen Sie mich den ›Zauberkünstler‹ nur recht oft für Sie spielen. Also dann: Glückauf!«
Er kehrte in sein Ankleidezimmer zurück, beendete seinen Anzug und begab sich ins Frühstückzimmer.
»Guten Morgen, Fräulein Bilsenbach. Schön ist der Tag heut, wie?«
»Es herrscht ein trostloser Regen, Herr Vanderwelt.«
[S. 84]
»Ruhrorter Arbeitswetter. Die Wasser des Rheines steigen, die Wasser der Ruhr steigen, die Arbeitskräfte der Schiffahrttreibenden steigen, und weil die Blätter des Herbstes fallen und die Winterkohle eingekellert werden muß, steigen sogar trotz des hohen Wassers die Frachtlöhne.«
Er strich sich ein Brot, nahm eine Schinkenscheibe auf den Teller und begann zu frühstücken.
»Der Zechendirektor nannte mich vorhin am Fernsprecher den Zauberkünstler Ruhrorts. Ich denke mir das Wort nur um ein weniges anders, als dies brave Arbeitspferd am Göpel des ewigen Einerlei. Aus Kohle Gold zaubern. Jawohl. Aber aus dem Gold Freude zaubern, Freude, Freude, Freude, damit das Leben sich lohnt.«
Das alternde Fräulein blickte eine Weile still in den trostlosen Regen.
»Ja, zaubern Sie Freude, Herr Vanderwelt. Sie fehlt allenthalben auf der Welt. Und die Welt altert so schnell.«
»Wenn das die Welt tut, müssen wir sorgen, daß wir umso jünger bleiben.«
Das Fräulein erhob sich und begann aufzuräumen.
»Sie brachten noch Gesellschaft mit heim, Herr Vanderwelt. Haben Sie alles Wünschenswerte vorgefunden?«
Kornelius Vanderwelt legte mit einem Ruck die Morgenzigarre auf den Tisch, die er gerade in Brand bringen wollte.
»Fräulein Bilsenbach! Ja, da soll doch gleich ein doppelt geschwänzter Teufel — nein, nein, er soll nicht, denn Sie hören ihn nicht gern —. Hat der Zauberkünstler bei aller Ruhmredigkeit sein Hauptstück vergessen! Also aus und vorbei ist es mit allem unglückseligen Flötenspiel. Gestern abend noch erreichte ich durch den Fernsprecher den Direktor der Kölner Musikhochschule. Eine Stunde darauf saß seine[S. 85] beste Klavierbeflissene, ein Fräulein Angela Freydag, auf der Eisenbahn und dampfte durch die Nacht gen Duisburg. Nach Mitternacht hatte sie in Ruhrort die ›Erholung‹ aufgefunden und ließ sich bei mir melden. Es klappte wie auf dem Theater. Ich habe dem halb erfrorenen Wesen noch einen Tee zu trinken gegeben und sie oben im Eckzimmer untergebracht. Bis zum Mittag soll sie ungestört schlafen. Ich komme heute zu Tisch und besorge dann die Vorstellungsfeierlichkeiten. Guten Morgen, Fräulein Bilsenbach.«
»Ich hätte,« stammelte das Fräulein, »ich hätte ja noch herzlich gern weiter unterrichtet ...«
Kornelius Vanderwelt betrat das Kontorgebäude. Ein kurzer, freundlicher Gruß hinüber und herüber, und er schritt weiter an Beckenrieds abgegitterter Nische vorüber, in die er einen lauten Gutenmorgengruß hineinschallen ließ, in sein abgesondertes Gemach. Eine Anzahl Blicke folgten ihm, forschten nach Gang und Haltung und kehrten zu ihren Briefen und Berechnungen zurück. Es sollte, so lief die Morgenmär, im Hafenviertel diese Nacht lustig zugegangen sein. Der Herr aber war, wie er immer war.
Eine Weile schon hatte der Geschäftsführer mit Herrn Vanderwelt die Morgenpost durchgesprochen. Jetzt hob Kornelius Vanderwelt überraschend den Kopf und gewahrte die prüfenden Augen seines Mitarbeiters.
»Diese Nacht soll es ja hier in der Nähe eine muntere Prügelei gesetzt haben? Ich hoffe, Sie waren nicht allzu stark beteiligt?«
»Ich zeichne nur in Abwesenheit des Herrn für die Firma.«
»Es ist wahr, man kann nicht überall sein. Wohin hatten Sie denn diese Nacht den Schauplatz Ihrer Tätigkeit verlegt?«
[S. 86]
»Ins Bett, Herr Vanderwelt, wo brave Bürger hingehören.«
»Brave Bürger können sich auch im Bett prügeln,« sagte Kornelius Vanderwelt und entließ ihn mit herzlichem Händedruck.
Um die Börsenstunde durchschritt er wie immer das Gedränge vor der Schifferbörse. Spannkräftig, mit kühlen Augen, die, wenn sie der Gegenstand wert genug dünkte, eine Flut von Wärme verschwenden konnten. Und das Unnachahmliche in der Haltung, das zu vertraulicher Aussprache aufrief und dennoch dem Nähertretenden unsichtbare Grenzen zog. Mützen wurden gelüftet, und Kornelius Vanderwelt lüftete den Hut. Fragen wurden gestellt und Auskünfte erbeten, und Kornelius Vanderwelt antwortete dem einen und beriet den anderen. Irgendwoher, aus einem der Schifferhaufen, kam ein heiserer Zuruf.
»Verflixt, Herr Vanderwelt, Sie haben aber wieder mal vorgelegt. Bis in den Ausguck hab' ich noch den Nebel im Kopp!«
Kornelius Vanderwelts kühle Augen suchten den Rufer.
»Wenn dir die Luft an Land zu scharf geht, bleib in der Hängematte, Mann. Aber langweile ernsthafte Geschäftsleute nicht mit Dingen von gestern.«
Und es war ein beifälliges Gemurmel und ein achtungsvolles Zunicken.
In der Halle der Schifferbörse traf Vanderwelt auf den Reeder Hinrichsen, der knapp und geschäftsmäßig eine Verhandlung führte. Und wie an jedem Morgen saß der Reeder Auffermann in seiner Koje, rechnete mit seiner Kundschaft auf Heller und Pfennig und reichte seinem Geschäftsfreunde Vanderwelt nur kurz die Hand herüber. Was zum Ruhrorter Hafengebiet gehörte, wußte Tag und Nacht schiedlich zu trennen.
[S. 87]
Um ein weniges pünktlicher nur als sonst händigte Kornelius Vanderwelt dem harrenden Geschäftsboten seine Aufzeichnungen ein, nahm im Vorübergehen die eben erst berechneten Kursnotierungen mit und begab sich nach Hause. Noch waren die Kinder nicht aus der Schule daheim. Es war ihm lieb. Der nächtliche Gast sollte für die Kinder schon im Licht des Tages stehen.
Im Badezimmer wusch er sich den Kohlenstaub des Hafens von Gesicht und Händen, horchte ins Haus und schritt die Treppe hinauf und den Gang entlang dem Eckzimmer zu.
Er klopfte, vernahm ein Wort, das von innen zu ihm wollte, und öffnete die Tür.
»Guten Morgen, Fräulein Angela Freydag. Wie haben Sie geruht?«
»Ich glaube, ich habe seit meiner Kinderzeit noch nicht so fest geschlafen. Guten Tag, Herr Vanderwelt.«
Er streckte ihr die Hand entgegen, und während er die ihre hielt, nahm er ihr Bild in sich auf und über sie hinweg das Bild ihres Zimmers.
»Sie haben ja mit sich und Ihrer Umgebung schon ordentlich aufgeräumt, Fräulein Freydag.«
Das Zimmer lag wie unberührt. Straff und faltenlos zog sich die Schondecke über das weiße Bett, die Falbeln des Himmels schwebten wie weiße Schmetterlingsflügel, und die Goldleisten der englischen Kupfer zeigten kein Stäubchen auf. Jedes Ding lag und stand wie unberührt, und nur das Mädchen schien eine andere.
Sie trug eine helle Bluse zum dunklen Rock, unter dem umgelegten Kragen schlipsartig einen bunten Seidenstreifen, an den Füßen gutgehaltene Halbschuhe. Das aber war es nicht, was Kornelius Vanderwelts Aufmerksamkeit erregte. Nicht was aus der Reisetasche hervorgegangen[S. 88] war, vermochte sein geschultes Auge zu fesseln. Das Mädchen selbst war es, der frohe, freie Mensch, der sich aus der Nacht zum Tage durchgerungen hatte.
Zwei klare, kluge Augen schauten ihn unter hochgewölbter Stirn an. Die Nüstern der graden Nase atmeten leise. Die Lippen waren wie ein blutvoller Spalt, der die Zähne hindurchschimmern ließ. Und das Haar lag locker gewellt über der Stirn und in geflochtenem Knoten im Nacken.
Durch ihr ganzes Wesen aber lief ein Drängen. Ein Drängen der Ungeduld auf das neue Leben.
»Wenn Sie«, sagte Kornelius Vanderwelt nach einer Pause, »am Klavier dieselbe Künstlerin sind, wie als Menschenkind in Ihrem Stübchen — ich meine, wenn Sie die Schönheit der Verhältnisse hochachten und ihnen dennoch aus der persönlichen Gefühlswelt heraus ein neues und eigenes Leben zu geben wissen, dann kann es nicht mangeln.«
»Prüfen Sie mich ...«
»Wie ein Rassepferd vor dem Rennen. Ich sehe Ihr Blut in den Adern.«
»Prüfen Sie mich.«
»Zunächst«, sagte Kornelius Vanderwelt heiter, »haben Sie eine andere Prüfung zu bestehen. Ich werde Sie Fräulein Bilsenbach vorführen, der Behüterin des Hauses. Bald werden sich auch Ihre Schüler zur Begutachtung einstellen.«
Sie schritt neben ihm her, das Kinn erhoben, mit dem zusammengerafften Ausdruck, den stolze Kinder vor dem Glanz fremder Häuser anzunehmen pflegen. Und Kornelius Vanderwelt sah es und freute sich.
Wieder saß sie, wie in der Nacht, im Arbeitszimmer des Hausherrn und ihre Augen tasteten die Wände ab, Bilder und Bücherreihen, langsam und ernsthaft, als müßten sie sich Zoll um Zoll der neuen Umwelt zu eigen machen.
[S. 89]
Kornelius Vanderwelt hatte dem Hausmädchen geklingelt. »Ist Fräulein Bilsenbach für mich frei?«
»Fräulein Bilsenbach ist gerade nach oben gegangen, ins Gastzimmer, Herr Vanderwelt.«
»Sagen Sie Fräulein Bilsenbach, ich ließe sie, sobald sie frei wäre, zu mir bitten.«
Aha, dachte er, sie hält Besichtigung ab. Und er wandte ein wenig das Gesicht, damit der Gast nicht das vergnügliche Schmunzeln gewahr werde.
Dann kamen schnelle Schritte über den Gang, und Fräulein Bilsenbach klopfte und trat ein.
Kornelius Vanderwelt sah ihr in Spannung entgegen und sah, was er erwartet hatte: Augen, die das Erstaunen rundete und ärgerlich schienen, weil sie verblüfft worden waren.
»Ich möchte Ihnen unsere neue Hausgenossin, Fräulein Angela Freydag, vorstellen, Fräulein Bilsenbach. Ich hoffe, es wird Fräulein Freydag gelingen, Ihre Gunst zu erringen.«
Der Gast hatte sich augenblicks erhoben und wartete achtungsvoll auf die Begrüßung der Älteren. Und die Ältere sah der Jüngeren unruhig ins Gesicht, sah mit fliegendem Blick die Überschlankheit der Glieder und erkannte den Hunger.
»Ich begrüße Sie im Hause Herrn Vanderwelts herzlich,« murmelte sie und streckte die Hand vor. Und das Mädchen legte die schmalen Finger hinein, knickste tief und beugte einen Herzschlag lang die Stirn über die hartgewordene Hand.
Das alternde Fräulein starrte auf den flimmernden Scheitel. Scheu fuhr es darüber hin. Und die beiden Frauen standen und schauten sich in die Augen.
»Sie haben eine anstrengende Nacht gehabt, Fräulein[S. 90] Freydag. Herr Vanderwelt liebt nur die raschen Entschlüsse.«
Da lachte das fremde Mädchen so heiter, daß es die andere fast in Verwirrung brachte.
»Menschen wie ich sind ja auch auf die raschen Entschlüsse angewiesen, und ich habe diesen nicht bereut.«
Der Blick der Älteren flatterte zu dem Hausherrn hinüber, der einen Brief geöffnet hatte. Sie rang um eine Fortführung des Gesprächs. Und leise sagte sie und im Tone des Vorwurfs: »Sie haben ja schon Ihr Zimmer in Ordnung gebracht. Weshalb haben Sie das nicht dem Mädchen überlassen?«
»Dem Mädchen? Ich bin doch auch ein Mädchen, Fräulein Bilsenbach, und habe noch immer für mich selbst gesorgt.«
»Ich meine, ich meine — weil Sie doch von der gehetzten Fahrt sicher müde waren?«
»Aber diese gehetzte Fahrt ging doch ins Leben!«
Kornelius Vanderwelt schloß einen Augenblick über dem Brief die Lider. Er lauschte angestrengt den hastigen Worten des Mädchens nach. Wo kamen sie her? Aus seinem eigenen Innern? Nur ein Widerhall —?
Da dröhnte die Haustür ins Schloß. Da stürmten rücksichtslose Stiefel über den Gang. Krähend flog eine Jungmädchenstimme auf. »Heda, heda, wird heute nicht gegessen?« Zwei Knabenstimmen hetzten hinein. »Fräulein Bilsenbach! Fräulein Bilsenbach! Unser Hungertod über Ihr strenges Haupt!«
»Bande!« sagte Kornelius Vanderwelt vor sich hin.
»Wirtschaft! Wirtschaft! Wirtschaft!« Die Tür zum Arbeitszimmer wurde aufgerissen. »Der Papa — — —!«
»Seit wann wird an meiner Zimmertür nicht mehr geklopft, wie? Seit wann ist mein Arbeitszimmer Wartehalle für lärmendes Jungvolk?«
[S. 91]
»Verzeihung, Papa. Wir ahnten nicht, daß — daß — du — so ganz ausnahmsweise — —«
»Meine ›ausnahmsweise‹ Anwesenheit entschuldigt euch nicht. Dieses Zimmer hat kein einziger ohne meine Erlaubnis zu betreten. Und nun bitte ich um die gebräuchliche Begrüßung.«
Die Knaben küßten der Hausdame flüchtig die Hand, hinter ihnen knickste Juliane. Und schon rannten sie auf den Vater zu und warfen ein Gewirr von Armen um ihn.
»Dort steht wohl noch eine Dame,« tadelte Kornelius Vanderwelt und drehte die Knaben an den Schultern herum.
»Justus Vanderwelt.« — »Thomas Vanderwelt.« — Die Stiefelabsätze klappten.
»Juliane,« sagte spitz die Kleine und knickste sehr zurückhaltend.
»Fräulein Angela Freydag,« stellte Kornelius Vanderwelt mit kurzer Handbewegung vor. »Unsere neue Hausgenossin, die euch in der Kunst des Klavierspiels zu vervollkommnen gedenkt.«
»Gleich hab' ich's geahnt,« flüsterte die Schwester den beiden zu.
Angela Freydag reichte einem jeden die Hand. »Guten Tag,« sagte sie freundlich. »Guten Tag,« antwortete Justus nach einem raschen Überblick. »Die Arbeiten für die Obersekunda lassen leider nur knappe Zeit.« Und die zungengewandte Juliane schloß sich eilig an. »Ich habe auch noch den Tanzunterricht und Tennisstunden und — und —« »Guten Tag,« schloß Thomas die Reihe. »Ich spiele gern Klavier, aber nicht gern wie die anderen.«
»Ich auch nicht,« stimmte ihm Angela Freydag bei und schüttelte ihm mit einem Aufblitzen der Augen die Hand.
[S. 92]
»Nun?« fragte Kornelius Vanderwelt. »Sind es nicht vielversprechende Zöglinge?«
»Wir haben Hunger, Papa!«
»Hunger? Kennt ihr euch in eurem Schiller nicht aus? Was erhält denn das Getriebe? Der Hunger und die Liebe! Hungrig muß der Mensch sein, hungrig, hungrig auf alles, was noch im Nebel liegt.«
»Auch das Mittagessen liegt noch im Nebel, Papa!«
»O über eure grobe Sinnlichkeit! Dürfen wir, Fräulein Bilsenbach? Ich bitte um Ihren Arm.«
»Mach' zu,« raunte Justus dem Bruder Thomas zu. »Ich nehme die Juliane.«
Und der junge Thomas Vanderwelt verneigte sich höflich vor dem Gast, bot ihm den Arm und folgte feierlich dem Vater. Hinter ihnen wisperten Bruder und Schwester um die Wette.
Kornelius Vanderwelt saß zwischen der Hausdame und der Fremden. »Wollen Sie sich«, fragte er den Gast, »unseren Hausgewohnheiten gleich anpassen? Wir pflegen zu den Mahlzeiten nur Wasser zu trinken, um den Kopf arbeitsklar zu halten. Wein erst nach Feierabend.«
Das aufwartende Mädchen reichte die Speisen. Es reichte sie streng der Reihe nach. Der Hausdame, weil es der Herr nicht anders wünschte, zuerst, dann dem Herrn, daraufhin erst dem fremden Fräulein und zum Schluß den Kindern.
»Entschuldigen Sie,« bat Kornelius Vanderwelt die stumm gewordene Nachbarin, »daß ich ein wenig haste. Ich brause sonst zwischen den Geschäftsstunden im Wagen durch die Wälder und Felder und verschlinge höchstens« — er hustete — »was die Landstraße bietet. Am Abend erst gesell' ich mich zur Familie — solange sie nicht schlafsüchtig ist. Heute machte ich eine Ausnahme. Um Sie gebührend einzuführen.«
[S. 93]
Angela Freydag hatte nicht mit der Wimper gezuckt, als er die Landstraße erwähnte. Jetzt hob sie die Stirn. »Darf ich noch vorspielen ...?« fragte sie.
»Ja, Fräulein Freydag. Darum wollte ich Sie jetzt bitten.«
Er stand auf, verbeugte sich nach rechts und nach links und schritt voran ins Musikzimmer. Allein der große Flügel wuchtete im Gemach. Als Sitzgelegenheiten ein paar geschnitzte Lehnsessel, ein paar geschnitzte Kirchenbänke. Und über dem Flügel hing als einziges Bild ein Schleierreigen schlanker Frauenkörper von Hans Deiters' Meisterhand.
Angela Freydag trat dicht hinter Kornelius Vanderwelt ein. Sie ging, ohne sich umzusehen, geradeaus. Als wäre nur der Flügel und sie allein in dem Gemach, und der Flügel riefe sie.
Kornelius Vanderwelt trat zur Seite und schaute auf sie. Die Hand hob er hoch, damit die Nachdrängenden auf den Zehenspitzen gingen, sich geräuschlos niederließen. Und schaute mit schwerem Atem wieder auf die Fremde.
Jetzt hatte Angela Freydag den Flügel erreicht. Jetzt stand sie still, öffnete die Lippen, und ihre Zähne schimmerten.
Jetzt beugte sie sich vor, strich mit den Händen hauchfein über das spiegelnde Holz und öffnete den Deckel.
Ganz aufrecht saß sie auf dem Klavierstuhl. Ihre Gestalt schien zu wachsen — und sank plötzlich vornüber, nur noch den Händen hingegeben, die mit aufzuckenden Fingern aus Tasten Töne und aus Tönen Beethoven schufen.
Und schon hatte die Spielerin vergessen, für wen sie spielte und um was sie spielte. Und schon hatten die jäh Aufhorchenden die unscheinbare Gestalt der Spielerin vergessen und sahen nur noch den eigenwillig strengen Kopf und den blutroten Strich des Mundes. Und dann versank[S. 94] für Kornelius Vanderwelt auch der Kopf, und er sah nichts als die Hände, die feingegliederten, ausdrucksstarken, die wie Falterfächeln des Einsamen Herzweh sangen, wie Quellenrieseln sein stilles Sehnen, sich zusammenkrallten vor der Fratze des Schicksals und sich wie Pantherkatzen in das Dunkel warfen, anspringend, zerfleischend, um mit steilem Titanentrotz das Siegeslied anzustimmen, das sich durchrang zum hinreißenden Menschenjubel der Erlösung von sich selbst.
Noch rangen und riefen die Geister übermenschlichen Liebesrausches, der Selbstvernichtung um der Liebe willen, in der Luft. Noch saß die Spielerin in sich zusammengesunken mit schlaff herniederhängenden Armen und horchte aus totenblassem Gesicht dem verklingenden Leben nach, das in die Auferstehung langte.
Das Spiel war aus, und keiner rührte sich.
Und dann stand Kornelius Vanderwelt von seinem Sitze auf, trat hinter der Spielerin Stuhl und schlug ihr wie Pranken die Hände in die Schultern.
Sie hob langsam den gesenkten Kopf, hob ihn höher und bog ihn langsam nach hinten, bis sein Gesicht über ihr stand. Und sie wußte nichts von dem schmerzenden Griff und lachte ihn lautlos an.
»Das war es,« sagte Kornelius Vanderwelt, »das war es.« Und nickte den anderen zu und verließ Zimmer und Haus.
Eine Weile harrten die Kinder noch aus. Juliane entschlüpfte zuerst, und Justus, der älteste, folgte ihr nach kurzer Überlegung. »Ich habe viel für die Schule zu arbeiten,« entschuldigte er sich bei Fräulein Bilsenbach. »Bleibt mir noch Zeit für den Klavierunterricht, so melde ich mich.«
Dann saß nur noch Thomas Vanderwelt auf seinem[S. 95] Platz, strich sich mit einer langsamen Gebärde das helle Haar aus der Stirn zurück, lugte nach der Fremden und ersah ihre Hände, unbewußt, wie es der Vater getan hatte.
Und hinter Angela Freydags Rücken sagte eine benommene Knabenstimme: »Das war schön ... Nein, es war nicht nur anders — es war die Schönheit. Ja ...«
Angela Freydag horchte auf die liebenswürdige Stimme. Sie hörte die Klangfarbe des Vaters heraus, nur weicher und ungefestigt. Und der Klavierstuhl wandte sich der Stimme zu, und Angela Freydag saß Auge in Auge mit dem Jungen. Nein, es war doch nicht der Vater. Es war ein feiner, frühmüder Junge, der seiner Gelangweiltheit den Ausdruck der Überlegenheit zu geben wußte. Oder war die Überlegenheit das echte und der Ausdruck der Gelangweiltheit der Schein? Dann stak doch wohl Kornelius Vanderwelt am meisten in diesem seinem Sohne.
»Freut Sie die Musik, Thomas?«
»Ich kann nicht sagen, ob es die Musik ist. Vielleicht ist es nur das Verlangen, sich in eine andere Welt hinüberzutäuschen. Hier ist alles so plump und lächerlich.«
»Wie alt sind Sie, Thomas? Vierzehn? Und Untersekundaner? Da wird Ihnen als dem Sohne Kornelius Vanderwelts auch diese Welt noch rosiger aufgehen.«
»Ach, nein, Fräulein Freydag. Die ganze Vanderweltsche Kraft liegt beim Vater. Für uns bleibt nicht viel übrig.«
Angela Freydag blickte den Frühreifen aus dem Augenspalt an.
»Man kann auch aus eigener Kraft, Thomas. Neben dem Vater. Nur irgendwo mit Willenskraft beginnen. Wollen wir es mal bei der Musik anpacken? Nicht um uns einzulullen — um uns zu befreien.«
»Ich bring's nicht heraus, Fräulein Freydag. Ich meine[S. 96] nicht das Notenspielen. Ich meine das, was ich ausdrücken möchte und was immer schlapp wird, wenn der große Ansprung kommt. Das meiste lohnt ja nicht, weil es lächerlich ist.«
»Spielen Sie mir einmal vor,« gebot Angela Freydag und machte den Sitz frei.
Der junge Thomas dankte höflich und nahm den Platz ein. »Es muß ja wohl sein, wenn Sie mir Klavierunterricht erteilen sollen. Viel Freude werden Sie nicht an mir erleben.«
»Das wollen wir der Zukunft überlassen. Jedenfalls bin ich dazu da, um Ihr Spiel zu verbessern.«
Er nahm ein Notenheft vor, blickte hinein und schlug lässig an. Es war die Mozartsche Sonate, die er geübt hatte. Lässig spielten die Hände die perlenden Tonfolgen und wischten den Schmelz von den Perlen.
»Sie spielen im Regen, und Mozart zauberte in Sonne, Thomas.«
»Mozart lebte in Wien, und ich lebe in Ruhrort, Fräulein Freydag.«
»Das sind rein körperliche Dinge. Der Geist fragt nicht danach und fliegt auch von Ruhrort aus in die Sonne.«
Ein leichtes Rot lief über des Jungen Gesicht. Unmerklich raffte er sich in der Haltung zusammen, überwand er die Hemmungen und suchte für sein Spiel die stärkeren Ausdrucksmöglichkeiten, dem Meister nach. Die Töne quollen heller, die Farben langten nach dem Goldschimmer, die Läufe erheiterten sich an ihrem Perlenfall. Und langsam, ganz langsam brach aus dem Notengespiele eine Knabensehnsucht hervor.
Angela Freydag sprach kein Wort mehr hinein. Sie rückte einen Stuhl dicht neben den seinen, ließ den Blick nicht von seinen beschwingter werdenden Fingern, griff[S. 97] nur plötzlich nach seinen Handgelenken und zwang sie, zu verweilen, mit jäh verdoppelter Kraft ein Tongewoge aus den Tasten zu schlagen, mit aufgelöster Kraft die Wogen zur Ruhe zu streicheln. Angela Freydag spielte, und des jungen Thomas Hände rührten die Tasten.
»Das haben Sie gespielt, nicht ich,« sagte der junge Thomas tief aufatmend.
»Ich habe Sie nur in die weitgeöffneten goldenen Fluren hineingestoßen,« sagte die junge Lehrerin, und ihr Atem sprang nicht minder.
»Ich kam aber bedenklich vom Wege ab. Oft ging's ohne Weg und Steg.«
»Auf die musikalische Ausschöpfung kommt's an! Nicht auf die einzelne ordnungsmäßige Note!«
»Ist das im Leben wirklich gerade so, Fräulein Freydag?«
»Ich weiß es nicht. Aber die Musik ist Spiegelbild und Widerhall der Natur, Thomas, und die Hingabe an die Natur heißt Befreiung und nicht neuer kleinlicher Fesselnkram.«
»Wie Sie das trefflich sagen. Wo haben Sie das nur gelernt?«
»Das innerste Wesen der Befreiung? Nun werden Sie lachen, Thomas. Ich habe es in den Fesseln des Lebens gelernt.«
Der junge Thomas streifte mit schnellem Blick die Magerkeit ihrer Gestalt, die billige Kleidung, und schaute geradeaus.
»Soll ich Ihnen jetzt die Juliane zum Vorspielen schicken? Der Justus ist nur schwer heranzukriegen, aber ich werde ihm zureden.« Und er erhob sich, ohne eine Antwort abzuwarten, verbeugte sich höflich und küßte seiner Lehrerin die Hand.
[S. 98]
Angela Freydag saß und wartete auf das Mädchen. Und während sie wartete, liefen ihre Gedanken dem Jungen nach. Klug war er über seine Jahre. Klug und verwöhnt. Und weil er vom Leben verwöhnt war, reckte sich seine Klugheit in die Frühreife und nahm die Geschehnisse des Lebens nicht für ernsthaft.
War Kornelius Vanderwelt in seinem Sohne?
Die zwölfjährige Juliane stand vor ihr, und sie hatte sie nicht eintreten hören. Mit kecken Augen, kurzen Gebärden.
»Thomas sagt, ich wär' an der Reihe.« Und sie hockte sich auf den Sitz und spielte auswendig darauflos.
»Was ist es, Juliane? Wer hat denn das in Musik gesetzt?«
»Ach, Fräulein Freydag, Namen kann ich so wenig behalten wie die Jahreszahlen in der Geschichtsstunde. Hauptsache ist doch, daß man Musik macht.«
»Ja, mein kleines Mädchen: wenn man Musik machen könnte. Du kannst einen Lärm von Tönen machen oder ein Gehack auf dem Klavier, wie der Holzhauer Holz hackt, aber Musik kannst du nicht machen, du kannst sie nur in der Seele empfinden, so dankbar empfinden, daß du sie weiterleiten möchtest in andere Menschenseelen.«
Das kleine Mädchen aber war ärgerlich, weil es ein kleines Mädchen genannt worden war.
»Seele!« wiederholte es geringschätzig. »Seele! Man spielt doch zum Vergnügen. Wollen Sie einen Walzer hören?«
Nein. Angela Freydag wollte keinen Walzer hören. »Ich weiß jetzt, was du kannst und wo instandgesetzt werden muß, Juliane. Am besten, wir beginnen morgen ganz von neuem und bauen von unten auf. Wenn wir fleißig sind — und wir sind fleißig, Juliane — haben wir das, was du[S. 99] heute zu können glaubst, in sechs Wochen wieder. Aber nicht nur äußerlich, Juliane.«
Und das kleine, vorlaute Fräulein fragte spöttisch: »Ja, üben wir denn Klavier oder üben wir Seele?«
»Ich fürchte, du und ich, wir werden nur Klavier üben. Das aber, ich verspreche es dir, gründlich.«
Da duckte sich die Kleine, sah furchtsam nach der steilen Furche in der Stirn, knickste und schlüpfte hinaus.
Wie kam Kornelius Vanderwelt zu dieser Tochter? Berechnung und Gefallsucht hatte dieser Mann doch nicht zu vererben? Oder stümperte die Natur und brachte in der Entwicklung Sprünge in den Guß, ließ die Sprünge zu weiterfressenden Fehlern werden, schuf Künstlertum um in kaltes Laientum? Nein, sie stümperte nicht, die Natur, nur rücksichtslos offen zeigte sie, daß es ihr genug sei mit dem einen und daß für die Geschlechtsnachfolger nur die Überreste des Gießererzes zur Verfügung stünden.
Und dann kam Justus, der älteste, stolz und zufahrend, wissend und seines Namens bewußt. Angela Freydag fuhr aus der Verkettung der Gedanken auf, als sie seinen Schritt vernahm, der wie der Schritt des Vaters erklang.
»Bitte, Fräulein Freydag, machen Sie es gnädig mit mir. Ich habe einen Krach mit dem Lateinlehrer, und nun soll er in meiner Rüstung auch nicht den geringsten Riß finden, seinen Dolch hineinzustoßen.«
»Das nenn' ich eine ritterliche Rache, Justus.«
»O nein. Ärgern soll er sich. Nun erst doppelt und dreifach.«
Auch er spielte die Mozartsche Sonate. Er spielte sie geläufig und mit verblüffender Kunstfertigkeit, aber es war für Angela Freydags Sinnenempfindsamkeit wohl ein Feuerwerk, aber nicht das Feuer. Nicht das echte Feuer, das darum hinreißt, weil es sich selber hingibt.
[S. 100]
»Ich danke Ihnen, Justus. Ich weiß für heute genug und möchte Ihre Rachepläne nicht stören.«
»Ich werde ihm schon seine Anrempelungsgelüste legen,« sagte der Junge hochfahrend, machte seine knappe Verbeugung und ließ Angela Freydag am Flügel allein. Und während Angela Freydag mit ausgestreckten Händen eine Trübung von den Tasten strich, ohne die Tasten zu berühren, suchte sie auch diesen Sohn in ein Gleichnis zu seinem Vater zu bringen, und er erschien ihr als der unähnlichste, weil er sich der ähnlichste dünkte.
Sie fror. Und sie dachte an Kornelius Vanderwelt und spürte eine strömende Wärme.
Das war es.
Ihre Finger streckten sich aus und brachten ein paar Tasten zum Klingen. Mehr, mehr. Aus dem Klingen wurde ein Klang. »Das war es.« So hatte auch Kornelius Vanderwelt gesprochen, so und nicht anders, als seine Hände wie Pranken in ihre Schultern griffen. Wahrhaftig, dachte sie, die Schultern schmerzen. Aber es ist ein Schmerz, den man nicht eintauschen möchte gegen tausend Schmeicheleien. Weil er wie ein Ritterschlag ist.
Immer belebter wurde ihr Spiel, immer kraftvoller, hinreißender. Sie spürte nicht, daß die frühe Dunkelheit des Herbsttages in das Zimmer einbrach und alle Ecken füllte. Sie spürte nicht, daß das alternde Fräulein eintrat, schweigend verharrte und schweigend das Zimmer wieder verließ. Angela Freydag spielte, spielte aus dunkel empfindendem, sehnsüchtig begehrendem, jungem, jungem Herzen heraus, was in ihm wogte und nach Licht begehrte, nach Leben. Dem Leben, für das sie nach dem kümmerlichen Hinleben und Lebenfristen keinen anderen Namen wußte als: das Leben.
Und brach mitten im Spiele ab und fuhr steil in die Höhe.
[S. 101]
»Sind Sie so schreckhaft, Fräulein Freydag, oder sind Sie es nur vor mir?« fragte neben ihr Kornelius Vanderwelts Stimme.
»Schreckhaft?« wiederholte sie. »Schreckhaft? Nein, ich weiß gar nicht, was Angst bedeutet.«
Und in ihr lachte die Freude, daß der Helfer aus der Not wieder neben ihr war.
»Sie hatten sich so dicht in ihre Tonbilder versponnen, daß Sie mich gar nicht gewahr wurden, Fräulein Freydag.«
Doch, doch. Auf der Stelle war sie ihn gewahr geworden. Mitten im wuchtigsten Tongewoge, das sie zerriß, um ihn sehen zu können. Und sie sah ihn in der Dunkelheit wie bei Tage.
Plötzlich füllte blendendes Deckenlicht ihre Augen. Aber die Augen schlossen sich nicht und hielten stand.
»Es schmerzt nicht,« sagte er und hielt seine Hand über ihre Augen. »Man muß Licht und Dunkel gleichermaßen ertragen können.« Und sie schüttelte hinter seiner Hand den Kopf und wiederholte. »Es schmerzt nicht. Es tut wohl.«
»Was haben Sie mit dem Nachmittag begonnen, Fräulein Freydag?«
Seine Hand sank nieder. In zwei Kirchensesseln saßen sie sich gegenüber, und Angela Freydag berichtete von ihren Prüfungsversuchen und Erfahrungen. Aufmerksam hörte Kornelius Vanderwelt ihr zu.
»Es ist keine Kleinigkeit mit Ihren Schülern. Fahrig sind sie alle drei. Und doch grundverschieden. Bei dem einen wird vielleicht einmal, wenn das Leben gründlich hämmert, eine Goldquader zutage treten, während es bei den anderen« — er strich sich über die Stirn — »bei Glimmer oder Katzengold verbleiben wird. Nun, die Zeit wird es lehren. Haben Sie nach dem Ausfall Ihrer Prüfungen noch den[S. 102] Mut, auch noch den Schöpfer dieser drei Herrlichkeiten als Schüler anzunehmen?«
»Das ist nicht Ihr Ernst, Herr Vanderwelt ...«
»Halten Sie mich für einen so hoffnungslosen Fall?«
»Ich halte Sie für einen — für einen hochstehenden Kulturmenschen, der sich über mich lustig macht.«
»Dann führen Sie diesem Kulturmenschen mal die Kraft und Größe Ihrer Natur vor die Augen.«
In ihre Stirn sprang die Furche, in ihre Augen der aufflackernde Funke.
»Ich werde mit Ihnen spielen, wenn Sie es wünschen, Herr Vanderwelt.«
»Nun wollen wir zu Tisch gehen. Fräulein Bilsenbach wird schon unglücklich sein. Ein geschäftliches Wort noch, und dann nichts mehr davon: Das Entgelt für Ihre Mühen finden Sie an jedem Monatsersten auf Ihrem Zimmer vor. Eine Bestätigung ist überflüssig. Und jetzt schnell meinen Arm.«
Da schoß ihr vor Freude das Blut ins Gesicht und machte sie schwer und unbeholfen an seinem Arm.
»Was haben Sie?« fragte er und beugte sich besorgt über sie.
Und sie riß sich zusammen und schritt federkräftig an seiner Seite.
»Es war nur der Wechsel,« sagte sie, und ein fernes Lachen schwang mit. »In den ›Fünf Erdteilen‹ gab es gestern ganz andere feierliche Gebräuche.«
Es war das erste Mal seit Jahren, und das alternde Hausfräulein wußte sich nicht des Tages zu entsinnen, wann es gewesen sein könnte, daß Kornelius Vanderwelt nach der gemeinsamen Abendmahlzeit sich nicht in sein Zimmer zurückzog, daß er nicht nach kurzer Ruhepause, die er einem Buche widmete, das schlummerversunkene Haus wieder[S. 103] verließ. Schon hatten sich die Kinder zur Nacht verabschiedet, schon hatte das Hausmädchen das Geschirr abgetragen, und immer noch saß der Hausherr vor der Flasche Wein, die auf seinen Wink vor ihn hingestellt worden war, füllte die Gläser nach, die vor seinen Nachbarinnen standen, tat selber zuweilen einen behaglichen Zug und lockte durch sein fröhliches Plaudern zuletzt sogar das Geplauder der zurückhaltenden Frauen hervor.
Einmal entdeckte er, wie sich die Hand des arbeitsmüden Fräulein Bilsenbach verräterisch zum Munde hob.
»Noch einen Abschiedsgesang an den Tag,« bat er. »Ein Erntedanklied. Nein, Fräulein Bilsenbach, ich mute es Ihnen nicht zu, noch eine Stunde im Musikzimmer auf der Bank zu sitzen. Sie haben des Tages Last und Mühen mehr als wir alle getragen. Seinen Kleinkram nämlich. Gute Nacht, schlafen Sie recht wohl.«
Er erhob sich gemeinsam mit den beiden Frauen und forschte in den Augen der jüngeren, und er sah, daß die Augen Angela Freydags so wach waren, wie am hellen Tage. Er winkte ihr zu, und sie beugte sich über die Hand der älteren und folgte ihm.
Das Musikzimmer lag feierlich still im Glanz der Deckenlichter. Als schritten sie durch eine Kapelle, so schritten sie hindurch zum Hochaltar des Flügels. Kornelius Vanderwelt schlug ein Notenbuch auf, blätterte und rückte es auf den Notenhalter. »Brahms?« fragte sie leise und froh. Er nickte. »Seine Gedanken über Händel. Ein Gespräch zwischen zwei Geistesriesen. Es ist zu vier Händen gesetzt.«
Er vertauschte den Klavierstuhl mit einer kurzen Bank. Und sie saßen dicht nebeneinander, daß der eine den Bluttakt des anderen wie den gleichen Pulsschlag fühlte. Angela Freydag neigte das Haupt. Sie begannen.
Schwer und spröde rangen sich die Bekenntnisse der[S. 104] Brahmsschen Seele hervor und huldigten dem Geiste des großen Abgeschiedenen. Und aus der Unsterblichkeit antwortete der deutsche Riese, und was er dem jüngeren zurief, übersetzte der Schwerblütige in die eigene Sprache, bis sie, des unsterblichen Geistes voll, sich freirang von der Erdenschwere und sich in Klängen ausströmte über Menschenworte hinaus von Geist zu Geist.
Die Hände ruhten. Eine Röte flackerte über Kornelius Vanderwelts Stirn, und Angela Freydags Stirn war erblaßt.
»Man darf nicht nachlassen, man darf nicht nachlassen,« murmelte der Mann. »Die Schale mag so rauh und widerborstig sein, wie sie will — irgendwo, irgendwo findet der Suchende doch den süßen Kern. Ach, über das ewige Suchen!«
Er klappte den Deckel zu. Seine Augen schweiften nach der Diele. Eine Wanduhr schlug.
»Sie wollen schlafen gehen —?« fragte das Mädchen scheu.
»Schlafen? Suchen gehen will ich. Suchen. Mit der Gewißheit, nur leere Schalen zu finden, die man mit Wein hinunterspülen muß.«
Da tastete das Mädchen nach des Mannes Hand und wußte selber nicht, woher es seinen Mut nahm.
»Tun Sie es nicht, Herr Vanderwelt. Bitte, tun Sie es nicht. Sie sind zu gut dazu.«
»Wozu?« fragte er barsch zurück. »Und was wissen Sie von meiner Gutheit? Nein, lassen Sie Ihre Hand nur liegen, wo sie liegt. Sie redet greifbarer als Ihre Worte. So muß die Hand Brahms' geredet haben, wenn ihm der Erdenmund versagte.«
Ganz locker lagen ihre Finger um seine große Hand. Sie wartete mit der Geduld eines Kindes.
[S. 105]
Da begann er zu sprechen und griff auf ihren Anruf zurück.
»Wozu sollte ich zu gut sein ... Ach, es ist der Wildwestabend, der Ihr Mädchengemüt beschwert. Wissen Sie denn nicht, daß ich Tag um Tag Kohlen verfrachte, Kohlen in Kähne und Kähne voll Kohlen stromauf und stromab? Die halbe Welt kann man damit anheizen und brennt selber dabei leer wie ein Krater. O gewiß, ein jeder Mensch hat seinen Beruf und findet sein Glücksbehagen darin, ihn auszufüllen. Ich gehöre aber nicht zu diesen Glücklichen und viel weniger noch zu diesen Behaglichen. In mir ist eine Unze Blut zu viel! Weshalb zucken Sie mit den Fingern? Eine Unze Blut zuviel ist ein Gnadengeschenk des Herrgottes oder eine seiner wilden Launen.«
»Beides stammt aus seinem Willen, und wir sind seine Kinder,« sagte sie hastig.
»Sieh einer den Klügler! Dann wäre es aus mit Sünde und Sündenbereuung, und die Unze Blut mehr rechtfertigte uns vor Gott und den Menschen.«
»Gott«, sagte sie langsam, »ist mir zu groß und zu fern, und die Menschen sind mir zu nah und zu klein. Ich muß den Glauben haben, daß mir der Schöpfer aller Kreatur die Unze Blut nicht unnütz zugegeben hat.«
»Unnütz, Sie kleine Sternendeuterin? Was nennen Ihre Mädchengedanken — nein, Ihre Künstlergedanken unnütz?«
»Wenn es nicht nützte, das Schöne vom Gemeinen zu unterscheiden und mich selber über den Alltag der Menschen emporzuheben.«
Kornelius Vanderwelt streichelte die kaltgewordene Hand.
»Bleiben wir beim Gegenstand. Nach einer Brahmsschen Musik sehen wir zu leicht durch eine überirdische Brille. Mich trieb die Unrast des Blutes in Jünglingsjahren auf die See,[S. 106] und ich durchstürmte die Entwicklungsjahre in den Meeren aller Erdteile. Es war nichts als eine dunkle Sehnsucht. Ein Drang, von irgendeiner Erdenschwere meine Brust zu befreien, zum Genuß des Unsagbaren zu gelangen. Es hätte mich ebensogut auf eine Hochschule für Musik treiben können.«
»Ja,« sagte sie nur, »es ist wohl dieselbe Sehnsucht.«
»Nur keine Kopfhängerei,« gebot er hart. »Die heulenden Derwische waren mir immer das greulichste. Ich habe zugepackt und jedes Ding auf meine Sehnsucht untersucht und hohl gefunden und wieder zugegriffen. Zum Schlusse blieben mir nur noch grobe Gehäuse in den Händen mit rasselnden Kernen. Der Matthes aus den ›Fünf Erdteilen‹ fuhr auch als Matrose, und wir waren schon in allen richtigen fünf Erdteilen zusammengetroffen, bevor wir uns nach dem Tode meiner Frau in seiner Kneipe wiederfanden.«
»Frau Vanderwelt starb schon jung?« — —
»Sieht man mir das Kneipenlaufen so sehr schon an?« scherzte er. »Ich war fünfundzwanzig Jahre und Offizier in der Handelsflotte, als die junge Ruhrorter Erbtochter mich sah und nicht mehr von mir ließ. Wohlgemerkt: ich ließ ebensowenig von ihr! Da gab's nur Heiraten. Und das Geschäft übernehmen. Drei Kinder hat sie mir geschenkt und sich selbst. Sich selbst bis in den Rest. Und das Licht erlosch und es wurde dunkel und in der Dunkelheit wurde nichts mehr geboren als nur dunkler Drang, unstetes Übersichselbsthinaussehnen ...«
Er schwieg eine Weile vor sich hin.
»So kam ich zum Matthes. Der Kerl war für mich nichts als ein Ankerplatz heftig schwärmender Erinnerungen. Für Sie aber war es der unrechte Ankerplatz, und ich freue mich, daß ich Sie aus der Wetterecke wieder hinauslotsen durfte.«
[S. 107]
Auch das Mädchen schwieg eine Weile vor sich hin. Und dann sprach es unaufgefordert und eilend.
»Die Wetterecken waren mir vertraut genug. Ich habe als Kind in mancher Wetterecke gestanden und auf meinen Vater gewartet. Er war ein so großer Kapellmeister gewesen, wie meine Mutter eine große Sängerin gewesen war. Bevor sie sich heirateten. Da zerschlugen sie gegenseitig ihre Kunst aus kleiner, ganz kleiner körperlicher Eifersucht heraus. Die Mutter fuhr dem Vater lärmend in die Proben und Unterrichtsstunden, immer argwöhnisch, seine Künstlerbegeisterung für eine Sängerin hätte andere Gründe. Der Vater, mehr und mehr seiner Persönlichkeit entkleidet, suchte im Leben der Mutter, um aus der Tiefe auftrumpfen zu können. War die Mutter beschäftigt, so trank der Vater in der Wetterecke. War der Vater beschäftigt, so trieb die Unrast die Mutter lauschend durch die Gassen. Bald habe ich auf den einen, bald auf den anderen in einer Ecke, in einem Torgang gewartet. Bis sie sich um die letzte Stelle gebracht hatten und im Haß aufeinander verstarben. O ja, die Wetterecken sind mir vertraut geworden.«
Kornelius Vanderwelt strich ihr mit der flachen Hand über Schulter und Rücken, als beruhigte er ein Kind.
»Menschenkindlein — Menschenkindlein — wer sich in der Irre und Wirre begegnet, ist sich nicht fremd.«
Sie schloß die Augen unter seinem zarten Streicheln. Wie vor einem unbekannten Geschehen.
Wieder schlug die Dielenuhr. Das Mädchen öffnete die Augen und heftete sie auf den Mann.
Kornelius Vanderwelt schüttelte den Kopf.
»Sie ruft nicht mehr nach mir. Der Matthes wird seinen Schlummerpunsch alleine trinken. Ich weiß einen Schlaftrunk, der über den Alltag hinweghilft und doch die Sinne[S. 108] jung erhält. Ihre Musik, Mädchen. Ihre innerliche Musik. Spielen Sie mir noch einmal die Sonate von Beethoven, und wir wollen zur Ruhe gehen.«
Angela Freydag setzte sich aufrecht. Die Müdigkeit, die sie überkommen hatte, schüttelte sie ab. Über ihr Gesicht lief ein Zucken — ein Aufhorchen fern, fernhin. Und der Körper gab den Händen nach und die Hände vergaßen den Körper und wandelten sich zu fremden Wesen, taumelnd, trunken, in Stürmen standhaltend, aus unermeßlichen Freiheitswonnen heimkehrend zu den auserlesenen Händen Angela Freydags. — —
Kornelius Vanderwelt verließ seinen Platz. Aber er trat nicht auf die Erschöpfte zu. Er ging mit leisen Schritten durch die Verbindungstür in sein Arbeitszimmer, suchte aus den Büchergestellen einen Band hervor und brachte ihn aufgeschlagen herein.
»Ich muß Ihnen doch irgendeinen Dank sagen. Lesen Sie.«
Sie nahm das Buch aus seinen Händen und sah, daß es ein Gedichtbuch war. Und das Gedicht, das er für sie aufgeschlagen hatte, trug die Überschrift: »Sonate«.
»Gute Nacht,« klang die Stimme des Mannes.
»Gute Nacht,« klang die Stimme des Mädchens, das das Buch in den Händen behielt. — — —
An diesem Abend wurden Kornelius Vanderwelt und die junge Angela Freydag Freunde.
[S. 110]
Nie war aus Kornelius Vanderwelts Wesen ein größerer Ernst hervorgewachsen als in dem Winter dieses Jahres, als in dem neuen Frühling und dem neuen Sommer, der in Blüten rauschte, um Früchte zu reifen. Kein grüblerischer Ernst, der die Blätter der Vergangenheit durchstrichen hätte um einer neuen Lebensführung willen. Ein Mannesernst, der aus der Freude geboren und so tief von den Freudenwehen der Geburt durchtränkt war, daß er die Freuden des Daseins bald als ein Heiliges zu nehmen gezwungen war, als kristallene Quellen, die in der Stille am lautesten riefen und das Verlangen köstlicher tränkten als der Lärm der Nachtwachen. Wohl, daß Kornelius Vanderwelt, wenn sein Weg ihn durch die Hafengassen führte und an dem stürmischen Kap ›Zu den fünf Erdteilen‹ vorüber, dem Matthes ein übermütiges Wort zuwarf, wohl, daß er wie bisher das Gedränge der Schiffer vor der Schifferbörse durchschritt und sich durch heiße Laune und klaren Ratspruch die Herzen gewann. Aber es war ein anderer Klang seines Starkmutes, der sich zur führenden Note durchrang, ein klingenderer Klang, wie aus einem nachgeschliffenen Glase, der die Augen aufblicken machte und die gröblichste Zudringlichkeit entfernte. Die Zechbrüder und geringen Geister zogen ein Maul und meinten wohl gar, der Kornelius Vanderwelt sei nun auch unter die ›Herren‹[S. 111] gegangen. Die Ernsthaften des Gewerbes aber blickten auf sein wirksames Tun und gaben der Ansicht Ausdruck, daß es für den Ruhrorter Hafen eine noch viel stärkere Auswirkung haben werde, wenn der Mann der kleinen Leute für die Großen nicht als der Spaßmacher gelte, sondern als zuverlässiger Posten in der Gesamtbuchführung.
Wenn auch Kornelius Vanderwelt nicht mehr durch die Ungebundenheit der Führerbegabung die lärmenden Nachtwachen verstärkte, so war er doch zu gegebenen Zeiten an den Tischen der ›Erholung‹ anzutreffen, erzielte unter den Größen des Handels zunächst einige Verwunderung, wurde eine Weile mit der gebotenen kaufmännischen Zurückhaltung angehört, allmählich aber mit der geweckten Teilnahme der Weitsichtigen und Überragenden, die die Bedeutung des Mannes als Stürmer und Dränger bald erkannten und für die eigenen Großpläne im Hafengetriebe nicht missen mochten.
»Nur das Wasser verbindet die Erde,« betonte Kornelius Vanderwelt immer wieder. »Wer zur See gefahren ist, weiß es am besten und weiß vor allem, wie winzig die Erde ist und wie sich das Leben darauf zusammenballt. Nur das Wasser vermag die Erde zu entlasten, nur das Wasser, meine Herren, weil es nur Straße und nichts als Straße ist. Und gerade dort, wo sich das Land in einem nicht absehbaren Gebärungsverfahren befindet wie im Lande der Kohle. Wasser heran und immer wieder: Wasser. Der Herrgott hat unserer Stadt, hat dem ganzen umliegenden Gebiet ein großes Pfund gegeben, und mit einem Pfunde soll man, schon nach dem Bibelwort, wuchern. Dieses Pfund ist der nutzbringendste Binnenhafen der Welt. Nutzbringend nicht nur für die Lebenden. Das hieße einen Fischteich leerfischen und austrocknen lassen. Nutzbringend für uns, für die, die nach uns kommen und letzten Endes für die gesamte[S. 112] Menschheit, die die Arme nach der verbilligten Kohle streckt. Denn die Kohle ist der Urstoff allen Lebens, ist Heizkohle und Öl, Farbstoff, Heilmittel, Wunder und Wahrheit. Leiten Sie sie der Welt so zu, daß auch der Ärmste danach greifen kann, daß ihm aus Wunder Wahrheit wird, nämlich die Lebensberechtigung und die verstärkte Freude an dem bißchen Leben. Und fürchten Sie sich nicht vor dem gesteigerten Wettbewerb, den neue Hafenbecken, neue Kanäle zwischen den Städten und Stromgebieten, neue Zufahrtstraßen zu den Seehäfen und somit zur ganzen, weiten Welt hervorrufen könnten. Gesteigerter Wettbewerb heißt Steigerung unserer Kräfte, und ich wiederhole es: wir sind nicht zum Schlafen auf die Welt gekommen.«
Aber es war nicht nur ein Reden, es war auch ein werktätig Handeln. Bei den Strombaubehörden und Hafenverwaltungen holte er sich Rat und arbeitete die gewonnenen technischen Erfahrungen immer wieder mit den mitbestimmenden kaufmännischen Gesichtspunkten zu einer Einheit zusammen, die er Prüfungen unterzog, umgestaltete, klärte, bis er seine Ergebnisse den ausschlaggebenden Stellen vorlegen konnte und nicht locker ließ, bis der Kampf entbrannte.
»Er ist wie ein Wolf,« hieß es oft und öfter von ihm. »Was er packt, hält er fest und läßt sich eher totschlagen, als es freiwillig wieder loszulassen.«
Im Geschäft hatte Beckenried gute Tage. Er brauchte nicht mehr in ängstlicher Hut zu sein, zur Zielscheibe unliebsamer Scherze zu dienen. Er fand den Geschäftsherrn stets gesammelt und auch bereit, des Mitarbeiters Stimme zu würdigen. Nur die Ausnutzung des Geldes bis in seine letzten Wirkungen ließ sich Kornelius Vanderwelt so wenig vorschreiben wie in früheren Tagen, und jede Mahnung des trockenen Rechners schob er mit den Worten zur Seite:[S. 113] »Sie sind eben nur ein Lebewesen, lieber Beckenried, und kein lebendiger Mensch.«
Nach wie vor galt Kornelius Vanderwelt das Geld als Schlüssel zum erweiterten Leben.
»Wenn wir Ruhrort zum bedeutendsten Binnenhafen der Welt erheben wollen, lieber Beckenried, dürfen seine Anwohner keine Pfennigkrämer, müssen sie Menschen von Weltempfinden sein. Und Weltempfinden verlangt: die Welt erleben bis in die letzte Pore und beitragen, daß sie uns lebenswert bleibt. Mit Klageweibern bringen Sie das nicht zustande, wohl aber mit notbefreiten Geschöpfen.«
»Sie werden Notbefreiung säen und Habgier oder Verschwendungssucht ernten, Herr Vanderwelt.«
»Nicht bei allen. Und um die, auf die Ihr Seherwort zutreffen sollte, ist es nicht schade. Hingegen glaube ich, daß gegen eine kleine Gehaltsaufbesserung selbst Sie nichts einzuwenden hätten.«
Nein, Herr Beckenried hatte nichts dagegen einzuwenden, und er bedankte sich mit einem stillen Geschmunzel. Und die Herren im Hauptkontor erhoben sich, als Kornelius Vanderwelt am Abend den Raum durchschritt, von ihren Sitzen und machten ihrem Brotherrn ein paar erregte Dankesverbeugungen, denn auch sie waren bei dem stark gehobenen Geschäftsgang nicht vergessen worden.
»Lassen Sie sie in Gottes Namen auf ihre Art selig werden,« erwiderte am nächsten Morgen Kornelius Vanderwelt auf die grämliche Anklage Beckenrieds, die Herren seien in der Frühe mehr ins Kontor hineingetaumelt als hineingegangen. »Die Hauptsache ist nämlich das Seligwerden. Die Art hängt vom persönlichen Geschmacke ab, und der klärt sich.«
Es war ein Jahr der Selbsterkenntnis für Kornelius Vanderwelt geworden, und die Erkenntnis seiner selbst[S. 114] war ihm gekommen durch die Erkenntnis des jungen Geschöpfes an seiner Seite.
Denn Angela Freydag war ihm zur Seite, wo er ging und stand. Er mochte sich dagegen wehren, und er hatte es lange genug getan, er fand, ob er durch das Gewoge vor der Schifferbörse schritt, ob er die Häfen durchkreiste oder in der Stille seines Sonderkontors hinter Abmachungen und Planungen hockte, seine Gedanken immer wieder in einer Art Zwiesprache mit ihr, wie sie der Meister mit dem bevorzugten Lehrling hält, und unwillkürlich richtete sich seine öffentliche Haltung wie seine innerliche nach den gläubigen Mädchenaugen seines Gedankenbildes.
Und die Einbildung wurde zur Wirklichkeit, je weiter der Winter fortschritt und die Abende sich dehnten in die Feierstunden des Advents und in die tieferen Besinnlichkeiten der Seele.
»Sonst«, sagte er zu seiner Begleiterin auf dem Flügel, »pflegte ich den ungeklärten Empfindungen aus weihnachtlicher Zeit kurzer Hand bei Freund Matthes den Garaus zu machen. Heute lasse ich mich davon einlullen, ich weiß nicht wie, und könnte mich stundenlang mit Ihnen über das Christkind unterhalten. Wenn es keine Alterserscheinung ist, muß es doch wohl die Jugend in mir sein.«
Und Angela Freydag erwiderte: »Es ist die Jugend.«
»Das ist eine Behauptung und kein Beweis.«
»Was man empfindet, braucht man nicht zu beweisen. Sie empfinden ja auch die Hand des Schöpfers, ohne sie in Worten beschreiben zu können.«
»Hübsch gesagt. Nur spielt meine Jugend bei dem Vergleich eine sehr nebensächliche Rolle.«
»Nein, nein. Das glaube ich nicht. Es gibt keine Größenverhältnisse, wenn das Gefühl spricht.«
»Wollen Sie es nicht ein wenig mehr sprechen lassen,[S. 115] Fräulein Freydag? Es ist so ein schummeriger Abend. Draußen fällt der Schnee wie weiche Watte, die ganz dicken Flocken pochen mit Geisterfingern an die Scheiben, und wo selbst die schwarzen Kohlenhalden Hermelinmäntel tragen, dürfen wir uns wohl auch für ein Stündchen in einen Märchenmantel wickeln.«
Sie schlug mit suchenden Fingerspitzen ein paar Töne an, die im Raume hängen blieben.
»Es ist kein Märchen, es ist Wahrheit, daß Sie jünger sind als wir alle. Von den anderen will ich nicht sprechen. Weil Sie es wünschen, von mir. Vielleicht ist es mir selber noch gar nicht zum Bewußtsein gekommen, was Jugend ist und was sie sein kann. Vielleicht ist sie eine große, große Kunst und nicht jedem gegeben. Ganz sicher aber bin ich, daß Sie die Kunst besitzen. Wie ein Musikstrebender die Kunst der Meister verspürt und nicht erst nach der Haarfarbe der Meister sieht. Ja, das scheint wohl ziemlich töricht dahingeredet.«
»Die Märchen um Weihnachten herum«, meinte Kornelius Vanderwelt, und auch seine Hände suchten ein paar Tasten und brachten sie zum leisen Weiterklingen, »erscheinen auch oft in törichtem Gewande. Wissen Sie auch, weshalb? Weil sie nur für die Törichten erfunden sind und nicht für die Tüftler und Neunmalweisen. Und Jugend muß wohl eine besonders süße Torheit sein, sonst würden sich die Erleuchteten unter den Menschen nicht so schrecklich ihrer schämen.«
»Nein, das haben Sie nie getan und werden es auch niemals tun.«
»Mein Wort darauf: nein. Und wenn Sie es wollen, will ich Ihrem dunklen Tasten immer Lehrmeister sein, so wie ich Ihr ernsthaftester Schüler wurde in der Erschließung unserer musikalischen Welt.«
[S. 116]
»Es geht wohl um das gleiche,« sagte Angela Freydag sinnend.
Und dann begannen sie ihr Zusammenspiel. —
Es war nicht die leichteste Aufgabe, die Angela Freydag im Hause Kornelius Vanderwelt zugefallen war. Der Unterricht der Kinder gestaltete sich selten zu Feierstunden und es gab mürrische Mienen, trotzige Worte oder stumme Widerstände fast täglich zu überwinden. Angela Freydag überwand sie. Sie überwand sie mit dem Ernst ihrer Augen, in deren Tiefe urplötzlich ein Funke aufspringen konnte wie eine drohende Lohe. Und sie überwand sie mit einem jähen Streicheln ihrer Hand, das die Kinder überraschte und benommen machte. Dann hatte Angela Freydag gedacht: es sind Kornelius Vanderwelts Kinder.
Es war auch nicht die leichteste Aufgabe, ihre Stellung neben der langjährigen Vertreterin des Hauses zu wahren und zu festigen. Hatte auch das alternde Fräulein niemals ihren Wünschen so weiten Lauf gelassen, dem Hausherrn im Arbeitszimmer oder im Musikzimmer abendliche Gesellschaft leisten zu dürfen, so erregte doch die Gewährung solcher Vorrechte an die Fremde einen Kampf in ihrem Innern, der sich nur bis zur wortkargen Duldung des Eindringlings beschwichtigen ließ.
Kornelius Vanderwelt gewahrte es bald.
»Weshalb schließen Sie sich aus, Fräulein Bilsenbach?« fragte er freundlich. »Sie sollten Unterricht bei Fräulein Freydag nehmen.«
Das Fräulein wies die Zumutung, eine Schülerin abzugeben, mit Entrüstung zurück.
»Ich bin zu alt dazu, um noch in die Lehre zu gehen, Herr Vanderwelt.«
»Ich würde, wenn ich wüßte, es gäbe irgendwo eine[S. 117] Schönheit des Lebens zu erlernen, tausend Meilen zu Fuß pilgern. Und wenn ich das Asthma hätte.«
Mit diesem Versuch war die Angelegenheit endgültig für ihn abgetan.
»Fräulein Freydag,« bat er, als sie am späten Abend in der Stille des Arbeitszimmers über ein Dichterwerk gebeugt saßen, »vergessen Sie unter keinerlei Umständen, daß Sie mir zuliebe in diesem Hause sind.«
Sie hob den Kopf und sah ihm stumm in die Augen.
Und dann blätterten sie weiter, und Kornelius Vanderwelt deutete ihr an dem einen Abend die Dichter und an dem anderen Abend die Maler und Bildhauer der Zeiten. Er wies ihr die Baustile und ihre größten Meister und brachte alles, was er von den Meistern wußte und in ihnen lieben gelernt hatte, in ein Gleichnis von musikalischen Formeln, damit die Musikerin in ihr leichter die Wege fände. Da war es oft, daß sie mit Ausdrücken um sich warfen, als behandelten sie statt eines Wortgemäldes, eines farbigen Bildes oder steinerner Bauformen eine Beethovensche Symphonie, und die Tasten des Flügels erklingen ließen, um sich leichter Rede und Antwort zu stehen und die Fragen der Schülerin zu klären. Oft auch, daß sie auserwählte Gedichte lasen und das Ergebnis ihrer Empfindungen auf dem Flügel mit dem Stimmungsgehalt der Tonschöpfungen verglichen, die das Gedicht als Lied neu geboren hatten, und Brahms und Schubert, Schumann und Mendelssohn sangen durch den Abend, und Hugo Wolf und Richard Strauß antworteten in ihren Weisen.
Wie zwei junge Menschen gleichen Alters saßen sie an solchen Abenden Schulter an Schulter, und die Schülerin tat hastige, frohe Atemzüge der Erkenntnis, und der Lehrer steigerte sein Wissen, um dem Erwachen der Schülerin Schritt zu halten. Während sie aber lehrten und lernten,[S. 118] lernten und lehrten, fühlte das Mädchen, wie die schweren Nebel der Vergangenheit sanken, wie die verschlossen gebliebenen Türen und Fenster ihrer Wesenheit sich öffneten und Licht und Wärme nie geahnter Art hineinwogten, die das Bewußtsein ihres Lebens aufwühlten, mit Schauern der Freude füllten und es aufschnellen ließen wie zitterndes Reis nach der Sonne; fühlte der Mann, wie Hasten und Lasten der Gegenwart gleich Fremdkörpern aus dem Blute wichen und die Vergangenheit, dort, wo sie am schönsten gewesen war, die Augen aufschlug und sprach: Nein, ich bin noch nicht tot.
Da war es, daß Angela Freydag ihre wundgelaufenen Füße nicht mehr spürte und Kornelius Vanderwelt nicht mehr sein wundgehetztes Hirn. Als sie sich beide auf dem Wege zur Jugend trafen und der eine Weggenoß den anderen staunend bei der Hand nahm.
Wie verklärt sie aussieht, dachte Kornelius Vanderwelt. Die Erkenntnis ihrer Jugend hat ihre Jungfräulichkeit gereift. Und er sagte laut: »Angela! Angela bedeutet Engel.«
Sie lachte ihn an und schüttelte heftig den Kopf.
»Ich bin kein Engel. Engel hängt man in den Weihnachtsbaum, und ich habe Hunger und Durst nach der Erde.«
»Was für ein Geschöpf möchten Sie lieber sein, Engel?«
»Fragen Sie doch nicht. Sie wissen es ja, was ich bin. Sie formen ja das Geschöpf aus Ihren Händen heraus.«
»Engel,« sagte er und forschte in ihren Augen, »ich sehe kluge, ernste, graue Augen. Mädchenaugen. Und doch sehe ich zuweilen darin jäh über den Horizont springende Blitze, als sprängen Panther an.«
Sie hielt die Augen weit auf vor seinem forschenden Blick.
»Ich glaube nicht, daß es so vornehme Tiere sind, Herr Vanderwelt. Es werden wohl arme, hungrige Wölfe sein.«
[S. 119]
»Setzen Sie mir nicht den Wolf herunter, Engel. Der Wolf war den Alten heilig und stand den Göttern nahe. Nicht nur dem kriegerischen Wodan der Germanen. Auch Apollo, der Gott der Künste, wählte den starken Wolf zu seinem Begleiter. Und eine Wölfin säugte die Erbauer Roms.«
Sie lehnte die Ehrungen mit einem Kopfschütteln ab.
»Das klingt gewiß sehr schön, aber die alten Göttersagen liegen mir zu weit. Ich weiß von der Wölfin nur, daß sie mit dem Wolf gemeinsam jagt, in allen Stücken ihm gleicht, daß der Hunger sie stark und furchtlos macht und daß sie Geschöpfe der eigenen wie der fremden Art abwürgt, wenn sie sich als Schwächlinge erweisen. Den Romulus und Remus wird die Wölfin nur aufgesäugt haben, weil sie das Starke in ihnen witterte.«
»Ach, Engel, man müßte die Naturgeschichte nur von Frauen lehren lassen.«
»Warum —?«
»Weil ihr Naturtrieb immer auf das Einfachste stößt.« —
Zu Weihnachten standen die Tische gedeckt. Im Arbeitszimmer des Vaters drängten sich erwartungsvoll die Kinder, und nun rief ein Klingelzeichen nach Fräulein Bilsenbach, die sich mit ihrer Festgewandung verspätet hatte, und nach den Angestellten in Haus und Küche. »Fräulein Freydag fehlt,« bemerkte der unruhige Thomas, stürmte die Treppe hinauf und holte sie aus ihrem Zimmer.
Vom Flügel her erklangen schlicht und kindergläubig die Weihnachtslieder von Cornelius. Der Hausherr spielte. Und als er geendet hatte, öffnete Fräulein Bilsenbach die Tür, die zum Eßzimmer führte, und der Weihnachtsbaum stand in stiller Lichterpracht, und sie öffnete die Tür, die zum Musikzimmer führte, und Kornelius Vanderwelt griff in die Tasten und ließ zum gemeinsamen Gesang die Weise[S. 120] von »Stille Nacht — heilige Nacht« ertönen. Scheu und fremd kauerte Angela Freydag auf ihrem Stuhle hinter den festfrohen Reihen.
Die Weihnachtsanbetung verklang. Das Schweigen der Erwartung lastete. Da erhob sich der Hausherr von seinem Sitz und schritt unter die Harrenden.
»Fröhliche, selige Weihnachten euch allen,« rief er und schüttelte herzlich aller Hände. Eine Sekunde nur stutzte er vor dem glanzlosen Ausdruck in Angela Freydags Gesicht. Und mit der Hand, die er ihr hingestreckt hatte, zog er sie hoch.
»Vorwärts!« rief er Kindern und Angestellten zu. »Wer läßt den Gabentisch warten? Sturm! So ist es recht.« Und mit dem Strudel wurde Angela Freydag fortgezogen und war doch in der Woge allein.
Voll von kleinen Tischen stand das geräumige Eßzimmer, und auf jedem Tische hielt ein Lebkuchenmann ein Namensschild. Ein kurzer Wirrwarr, und ein jeder hatte seinen Namen herausgefunden. Gellender Aufschrei der Kinder, ein staunendes Aufseufzen der älteren, und ein jeder betastete, hob empor, legte nieder, griff nach einem anderen Gegenstand, einem dritten, probte, untersuchte, lachte, schwatzte und drehte sich blitzschnell im Kreis.
Kornelius Vanderwelt ging von einem zum andern. Er bewunderte Juliane in der goldenen Halskette, die einen Skarabäus schaukelte, und ließ sich von dem erregten Mädchenmund die unzähligen Köstlichkeiten an Leibwäsche und Kleidern erklären, als hätte er das alles nie vordem gesehen. Er trat zu Justus und Thomas, die das kleine Abbild einer Segeljacht in Händen hielten, wies geheimnisvoll lächelnd mit dem Zeigefinger nach dem Bootshaus da draußen irgendwo und ließ die stürmischen Umarmungen der jungen Jachtinhaber über sich ergehen. Er nahm dem verwirrten Fräulein Bilsenbach den Pelzmantel aus den[S. 121] Händen und half der beschämt Widerstrebenden, hineinzuschlüpfen, damit die Versammlung das königliche Bild besser entgegennehme. Er redete mit dem Fahrer über Tabaksorten, Juchtenleder und Aachener Tuch, mit den Hausmädchen über Aussteuerleinen, Brautlaken und Bräutigam und wandte sich um und stand vor Angela Freydag.
»Darf ich nachfragen, Engel, ob der Weihnachtsmann zu Ihrer Zufriedenheit gewirkt hat?«
Er hatte den Scherznamen, einmal angewandt, nicht mehr aufgegeben.
»Zu meiner Zufriedenheit?« wiederholte sie nur. »Zu meiner Zufriedenheit?«
»Ich glaube gar,« sagte Kornelius Vanderwelt und trat dichter an sie heran, »Sie haben dem Weihnachtsmann noch nicht einmal einen freundlichen Blick geschenkt.«
»Doch, doch,« stieß sie hervor und wies auf ihren Platz. »Vielen, vielen Dank für Ihre Güte. Es ist nur schon so lange her, daß ich Weihnachten gefeiert habe — und es war nie schön — ich weiß mich gar nicht mehr zu benehmen.«
»Dies ist ein Koffer,« erklärte Kornelius Vanderwelt, und der Klang seiner Stimme ließ sie sofort zur Ruhe kommen. »Und dies ist auch ein Koffer. Der größere ist als Reisegepäck gedacht, der kleinere als Handgepäck. Denn aus der lieben Reisetasche sind Sie mittlerweile herausgewachsen wie aus den lieben Kinderschuhen. Hilft nichts. Und nun müssen Sie öffnen und weiterforschen.«
»Öffnen und — weiterforschen?«
Er bastelte für sie die Schlüssel los und ließ die Schlösser aufschnappen. Den Handkoffer öffnete er zuerst. Er bot in einer seitlichen Einrichtung silberverkapselte Flaschen und Kristalldosen, Bürsten und Kämme und Spiegel dar. Die Mädchenaugen starrten darauf hin. Und dann wurde das[S. 122] Mädchengesicht weiß. Kornelius Vanderwelt hatte den größeren Koffer geöffnet.
»Jetzt müssen Sie urteilen, Engel. Der Weihnachtsmann konnte nur seinem Männergeschmack nachgehen.«
Es kam keine Antwort, und er blickte auf und sah in das verkrampfte Gesicht.
»Engel,« sagte er leise, »Fassung, mir zuliebe.«
Da riß ein wilder Freudenausbruch den Krampf auseinander, und sie beugte sich vor und wühlte mit ihren Händen in den Schätzen von feiner Leibwäsche.
»Nun müssen Sie den Einsatz herausheben, Engel.«
»Immer noch mehr? Gut, immer noch mehr! Nur immer zu! Freude! Freude! Und wenn sie sich wie eine Flut über mich wirft, ich tauch' auf, ich halt' stand, ich — ich —«
Sie stutzte. Ihre Augen waren ganz weit und dunkel. Ihre Lippen bewegten sich weiter. Und Kornelius Vanderwelt mußte an sich halten, um sich nicht in den Mädchentaumel hineinreißen zu lassen.
»Das ist eine ganze Ausrüstung,« sagte Angela Freydag atemlos. »Die Ausrüstung einer Dame. Reisekleid und Gesellschaftskleid. Jacke, Pelz, Muff. Eine Pelzmütze sogar. Es fehlt nichts — nichts von dem Bilde, was ich mir gemacht hatte.«
»Von was hatten Sie sich ein Bild gemacht?«
Sie stand vor ihm und hielt ihre Hände über den Brüsten.
»Und ich habe nichts für Sie. Gar nichts, gar nichts.«
»Schenken Sie mir Ihre alte Reisetasche, Engel. Sie haben sie immer so innig an sich gedrückt, daß ein wenig von der Innigkeit wohl noch auf mich übergeht.«
Da lachte sie ihn lautlos an.
Das war Kornelius Vanderwelts liebstes Weihnachtsgeschenk,[S. 123] dies lautlose Lachen des Verstehens. Für die Gaben von Kinderhand, für die sorglichen Arbeiten seines Hausfräuleins hatte er sich laut und herzlich bedanken können. Hier fehlte ihm das Wort. »Engel,« sagte er nur ganz leise.
Ihre Hände glitten über die Schätze und plätteten sie. Sie schloß die Kofferdeckel, zog die kleinen Schlüssel ab und senkte sie in den Halsausschnitt. Alles mit einer streichelnden Zärtlichkeit. Der Zärtlichkeit der Besitzerin.
»Wollen Sie denn nicht anproben? Das Putzen und Proben gehört doch zur Weihnachtsfreude.«
»Bitte,« bat sie, »bitte, nicht vor den andern. Wenn ich allein bin, brauche ich nicht an mich zu halten.«
Und wieder war Kornelius Vanderwelt von den Kindern umringt und von den Angestellten und mußte bestaunen und sein Urteil abgeben. Und Fräulein Bilsenbach brachte den weihnachtlichen Südwein, und jeder erhielt sein Glas, und während unter der leuchtenden Christtanne ein neues Weihnachtslied angestimmt wurde, ging Kornelius Vanderwelt von einem zum andern, ließ an jedem Glas das seine erklingen und sprach seinen Gruß: »Fröhliche Weihnacht.«
Spät am Abend erst wurde das Mahl aufgetragen. Des weihnachtlichen Gedränges wegen in des Hausherrn Zimmer. Langsam ebbte die Flut zurück. Mit schlafmüden Augen verabschiedete sich das alternde Hausfräulein zuerst, um noch in ihrem Stübchen ein paar Gesangbuchverse zu lesen. Noch schmiedeten die Kinder Pläne für die Feiertage. Dann kam auch ihnen die Ermüdung, und sie traten an den Vater heran, bedankten sich und küßten ihn. Hinter ihnen war Angela Freydag an Kornelius Vanderwelt herangetreten. Sie reichte ihm die Hand und sah zu ihm auf.
»Darf ich Ihnen heute auch einen Kuß geben?«
[S. 124]
Kornelius Vanderwelt nahm sie in die Arme, wie er seine Kinder in die Arme genommen hatte. Einen Herzschlag länger. Und während des einen Herzschlags freute er sich an der roten Linie ihres Mundes. Er beugte sich nieder und empfing ihren Kuß. Ruhig verließ sie das Zimmer.
Er ging in das Musikzimmer hinüber und setzte sich vor den Flügel, ohne zu spielen. Irgend etwas machte ihn lächeln, und er wußte nicht, was? Ja, doch, das war es. Der Mädchenkuß von Angela Freydag war es. Der echte und rechte Mädchenkuß. Geküßt von einem Munde, der es nie gelernt hatte. Mit geschlossenen Lippen. Ernsthaft wie eine feierliche Handlung. Ein wenig herb — und ein ganz klein wenig zitternd.
Und plötzlich stieg eine warme Freude in ihm hoch, daß es so gewesen war und nicht anders.
Das Mädchen hatte ihm gegeben, was es noch keinem gegeben hatte. Er war der reicher Beschenkte. —
Als Kornelius Vanderwelt in der Nacht sein Schlafzimmer aufsuchte, fand er an das Bett gelehnt Angela Freydags Reisetasche. — —
Seit dem Weihnachtsfest machte sich die Wandlung in Angela Freydags Wesen von Tag zu Tag bemerkbarer. Es war wohl weniger eine Wandlung, als eine rascher einsetzende Entwicklung. Als ob ein Stauwehr überwunden wäre, und die Wasser ihres Lebens strömten befreiter dem Ziele zu.
Daß Kornelius Vanderwelts ritterliche Weise das Stauwehr in ihr beiseite geräumt hatte, das erkannte allein die Dankbarkeit der Wenigverwöhnten. Aber die Dankbarkeit erschien ihr als ein zu geringer Ersatz, ein Trieb war in ihr erwacht, in seine Gedankenwelt hineinzuwachsen, sich formen zu lassen nach seinem Bilde und nach einer Spanne, sie[S. 125] sei kurz oder lang, seiner Schöpferfreude zeigen zu dürfen, daß sie sich nicht an ihr vergeudet hätte.
Bis zu dieser Spanne griff sie die Arbeit an Kornelius Vanderwelts Kindern mit neuer, zäher, Willenskraft, als einen Beweis ihres Wollens und Könnens an und ließ sich nicht durch die Unbotmäßigkeit der Schüler noch durch die eigene Ungeduld abschrecken, den steinigen Acker immer wieder zu durchpflügen.
Am steinigsten war er bei Juliane. In der Entfaltung des Mädchens stritten Selbstbewußtsein und Gefallsucht um die Oberstimme, aber das Selbstbewußtsein hatte leider nichts von der sicheren Vanderweltschen Note, sondern gründete sich auf dem Bewußtsein, ein augenfällig schönes und frühreifes Geschöpf zu sein, und diente der Gefallsucht nur als leichte Maske. Das hatte Angela Freydag vom ersten Tage an durchschaut, und nun mühte sie sich mehr als je, eine andere Unterlage zu schaffen und damit dem jungen Selbstbewußtsein eine stärkere Berechtigung. Und es begann der Kampf zwischen den Sonaten und den Tagestänzen.
»In meinem Leben spiele ich das Zeug nicht,« versicherte die erzürnte Kleine. »Wer Sonaten hören will, mag ins Konzert laufen. Ich will einmal glänzende Bälle geben können und am Flügel sitzen und aufspielen.«
»Das ist für leere Stunden, Juliane. In den schweren Stunden, die bei keinem ausbleiben, wirst du Gott danken, in den Werken der Meister die eigene Erlösung zu finden.«
»Ach nein, Fräulein Freydag,« spottete das Mädchen, »die schweren Stunden sind für die Dummen, die alle Sachen schwer nehmen. Die Klugen schlagen einen Bogen, wie wir's in der Schule machen.«
»Es sind Flachköpfe, Juliane, und du bist Kornelius Vanderwelts Tochter. Wenn du es vergessen solltest, so vergeß ich es nicht. Und nun üben wir ernsthaft.«
[S. 126]
Es waren weniger die Tanzweisen, die Angela Freydag auszurotten trachtete, als der leichtfertige, kühl abwägende Sinn, der in Angela Freydags Stirn die Furche kerbte. Eine Leichtfertigkeit aus Geblüt wäre ihrem Grübeln noch verständlich erschienen. Hier aber sah sie eine Leichtfertigkeit aufwachsen, die von der Berechnung auf Wirkung und überrumpelnden Erfolg eingegeben war, und ihre Natur wehrte sie wie eine Unreinlichkeit ab.
Mit aller Beherrschung nahm sie den Kampf auf, und wenn sie nichts anderes gewann als die Stunden der Ablenkung vom übrigen Tag, diese wollte sie auf ihr Guthaben buchen.
Anders, wenn auch nicht weniger schwierig, gestaltete sich die Unterweisung des ältesten Sohnes Justus, der wenige Wochen vor Ostern zum Primaner aufgerückt war. Sein schnelles Erfassen der Schulwissenschaften verliehen ihm die Berufung, Höhenwege einzuschlagen, aber er verwechselte die Anwartschaft auf Höhenwege mit einem hochfahrenden Sinn, der in jedermann einen Untergebenen oder doch ein seinen Lebensforderungen untergeordnetes Wesen und in Angela Freydag niemals mehr als eine wenig beachtenswerte Klavierlehrerin sah.
»O je, Justus, nicht die Meister vergewaltigen! Bitte diesen Satz noch einmal.«
»Ich bin schon über ihn hinweg und möchte mich nicht wiederholen.«
»Man ist nur über eine Sache hinweg, wenn man sie restlos erledigt hat. Sonst steht sie als Feind hinter einem auf.«
»Ich pflege mich nicht um das zu bekümmern, was hinter mir herdroht. Damit macht man meine Pferde nicht scheu.«
»Erst muß man Pferde besitzen! Sie reiten vorläufig noch auf einem Mietgaul.«
[S. 127]
»Wenn es Ihnen recht ist, Fräulein Freydag, wollen wir uns über Lebensanschauungen nicht unterhalten.«
Sie sah ihm ruhig in die Augen, bis ihm das Blut in die flaumbärtigen Wangen stieg.
»Gewiß ist es mir recht. Und der so starkgeprägte Sinn für Ritterlichkeit in Ihnen wird Ihnen selber sagen, worüber Sie sich mit Ihrer Klavierlehrerin zu unterhalten haben. Und auf welche Weise, Justus.«
Der Jüngling schlug das Notenblatt um und jagte den beanstandeten Satz in Windeseile herunter.
»Ich danke Ihnen,« sagte sie, ohne mit dem Auge zu zucken. »Sie sind reich begabt und werden es bei fester Selbstzucht zu hohen Graden bringen.«
Am leichtesten fand sie sich mit Thomas, dem zweiten Sohne. Und doch wurde gerade dieser je länger, je mehr ihr Sorgenschüler. Die Überlegenheit, die er als jugendlicher Schöngeist jungen und auch älteren Menschen gegenüber so gern auszuspielen pflegte, sonderlich aber jungen Mädchen gegenüber, die er als »ergötzlich durch ihre Minderwertigkeit« bezeichnete, behielt er im Verkehr mit Angela Freydag nicht bei. Sobald ihre Hände aus den Tasten Leben schlugen, wurde jeder Spottgedanke in ihm abwegig, wurde er der feine, liebenswürdige Junge, der am stärksten an den Vater erinnerte. Und doch war es nächst der Spottsucht gerade diese weiche Feinheit, die Angela Freydags Gedanken zu schaffen machte.
»Bitte, bitte, Fräulein Freydag, spielen Sie weiter.«
»Jetzt ist Unterrichtsstunde, Thomas. Die Reihe ist an Ihnen.«
»Nein, nein. Es wäre Barbarei, mitten in der wunderbarsten Stimmungsmalerei abzubrechen. Ich verspreche Ihnen dafür, heute eine Stunde länger zu üben.«
»Thomas,« warnte sie ihn und spielte weiter, »es ist[S. 128] nicht gut, sich von jeder Stimmungsmalerei besiegen zu lassen. Das macht weich und schlaff. Wie Kranke, die sich nach dem Fieber sehnen, weil es ihnen so angenehm das Bewußtsein für das Wirkliche verschleiert.«
»Fräulein Freydag, Sie sprechen bereits wie der Vater.«
»Tu ich das?« fragte sie zurück und beugte sich über ihr Spiel. »Wenn ich das schon als Fremde tue, ist es Ihre Schuldigkeit als Sohn, so wie der Vater zu werden.«
»Ach, Fräulein Freydag, der Vater ist ja auch der Musik untertan. Sehen Sie denn nicht, daß ich ihm nacheifere?«
»Lieber Thomas, der Vater ist der Musik nicht untertan, sie ist für ihn nur der Nährboden für neue Kräfte. Und für Sie wird die Musik die Verleiterin zur Einlullung und Schwächung Ihrer Kräfte werden, wenn Sie sich aus der Zuhörerrolle nicht aufraffen und selber in die Tasten hineinhauen, daß sie den Befehlshaber spüren.«
»Gibt es das? In der Musik?«
»Das gibt es in der Musik wie in der Lebensmusik. Der Befehlshaber ist kein rücksichtsloser Mensch, der durch sein Brüllen alle Welt erschreckt. Der wirkliche Befehlshaber ist der Freund und Bruder und — der Meister der Menschen. Und wenn seine Kraft es befiehlt und er hineinhaut in die Tasten, so müssen sie aufjauchzen und jubeln vor Begeisterung, hingerissen in den Tod wie hingerissen in das Leben.«
Thomas Vanderwelt horchte noch immer auf ihr Spiel.
»Fräulein Freydag — wenn man aber das Leben nur als ein belustigendes Zwischenspiel ansieht, das es in Wirklichkeit ist? —«
»Dann würde ich Ihnen raten: spielen Sie mit, Thomas, damit es ernsthaft wird und den Einsatz lohnt.«
Sie brach ab und machte ihm Platz.
»Nur Zaungäste drücken sich, wenn Zahlung verlangt[S. 129] wird. Sie, Thomas Vanderwelt, werden sich nicht lumpen lassen.«
Und der junge Mensch begann. Mit einer müden Weltüberwundenheit, die seinem Spiel die Marke der Ungewöhnlichkeit aufdrücken sollte, mit leichtspöttischen Betonungen der Gefühlswelt, bis ihm Angela Freydags stählerner Zuruf wie eine Klinge in die selbstgefällige Auslage fuhr und ihn zum Kampfe mit sich selber zwang. Ihre Hände packten seine Handgelenke, spielten mit ihm einen Satz, einen Lauf nach ihrem Willen, bis der Wille auf ihn übersprang und ihn das Ende selber finden ließ in aufgerüttelter Selbstbesinnung.
»Thomas, sich nicht selber aufgeben! Spott ist die Waffe der Schlachtenbummler. Nur ganz große Vorbilder dürfen sich den Spott erlauben, und sie tun es nur bei geistigen Müßiggängern, wenn die Güte versagt. Finden Sie sich selber, Thomas.«
Dann kam es wohl, daß ihr der junge Mensch beschämt die Hand küßte.
Im fortschreitenden Frühling nahm Kornelius Vanderwelt sie des öfteren mit auf seine Hafenfahrten. Zusammengerafft hielt sie sich neben ihm im Boot, in gesteigertem Bemühen, jedes seiner Worte zu verstehen, jedes Bild sofort mit seinen Augen zu erfassen. Dort kreischten die Krane unter ihren Lasten, und es war Musik. Dort donnerten die Kipper stäubende Wagenladungen in die Kähne, und es war wieder Musik. Dort wanden sich die Schiffszüge aus den Hafenbecken, dort rauschten sie in ununterbrochenen Reihen gen Holland zu Tal oder gen Mannheim zu Berg, und alles, alles wurde zur Musik; und zur geheimnisvollsten und darum feierlichsten Musik das Gewerbe der Menschen, der winzigen, schwarzen, durch ihre Beseeltheit ruhelosen Blutkörper der Erde. Und hingerissen starrte sie auf die[S. 130] Riesenleistungen dieser Zwergenmenschen, auf die keuchenden Schlote der Stahlwerke, auf die Höllengluten ausspeiender Hochöfen, die selbst dem Himmel ihre Farben aufzwangen.
Und Kornelius Vanderwelt sprach zu ihr, wenn seine heißen Augen über die erregten Bilder glitten: »Es kann Musik sein, wenn es mehr wird als Erregung. Aber in sich selber haben muß man die Musik, sonst bleibt das alles Tagesmühen und Hinüberfristen von einem Tag in den anderen.«
»Nein, das lohnte nicht das Leben,« stieß sie heraus. »Irgendwo muß ein Preis sein.«
»Die meisten Mitmenschen glauben, ihr steigendes Bankguthaben sei der Preis. Ich meine, es müsse das steigende Guthaben am Leben sein. Hei, du Leben, du bist mir einen Ehrenbecher schuldig, weil mich mein Schöpferwerk durstiger gemacht hat als die Zuschauer! Oder dies Leben ist ein Schwindelunternehmen.«
»Nein,« hastete sie hervor, »das ist es nicht! Ich habe den Mut, daran zu glauben.«
Er legte den Arm um ihre Schulter, und seine Blicke entspannten sich. —
Oft und öfter sprach er mit ihr über seine Planungen und Unternehmungen, und wenn sie ihm auch nicht zu antworten wußte, so wußte sie doch aufzuhorchen und mit jeder Welle ihres Daseins in ihn hineinzugleiten, daß er es wie einen belebenden Strom empfand.
»Engel,« sagte er, »ich spüre Sie als Anspannung und Entspannung in eins. In Ihnen ist die echte Mischung der Frau.«
Schon lange legte er den Arm um ihre Schulter, wenn sie bei Sonne oder Wind im Boote standen und die Antriebmaschine die Bootsstirn pfeilschnell durch das Wasser[S. 131] drückte. Es war keine Verwunderung in ihr hochgekommen, nicht beim erstenmal und nicht, als die Wiederholung Gewöhnung wurde. Der Arm um ihre Schulter gehörte zu ihr, wie das Atmen zu ihr gehörte und alles Werden und Wachsen.
»Wissen Sie auch, Engel, daß Sie sich nicht nur geistig staunenswert entwickeln, sondern auch körperlich? Das sind die festen Schultern einer Frau geworden, und die Schmächtigkeit hat sich besonnen und blüht auf wie ein kraftvoller Lilienstengel.«
Sie sah an sich hinab, ohne Scheu vor seinen Worten und ohne Beschämung, daß er ihre Körperlichkeit gewahrte. Nur eine Freude stieg in ihr hoch, daß auch hierin ihre Armut sich gewandelt hatte, und sie streckte sich heimlich und prüfend in seiner Armumschlingung, ob ihre Schulter die seine bald erreiche.
Sie fuhren auf dem Rhein, und eine Segeljacht holte vor ihnen auf, legte die Segel um und gehorchte im Bogen dem Steuer. Zwei weiße Mützen schwenkten im Winde, zwei wetterbraune Gesichter schrien ihnen Begrüßungen zu. Rauschend schoß die Segeljacht im Kreise um ihr Boot herum, gewann den Wind zurück und entfloh.
»Justus! Thomas!« schrie Angela Freydag aus vollem Halse, riß ihre Mütze von den Flechten und winkte hinter ihnen drein. »Hei, Herr Vanderwelt, Ihre Jungens! In jeder Wendung Schiffer von Geblüt!«
Aufmerksam hatte Kornelius Vanderwelt jede Bewegung der Segeljacht verfolgt. In den scharf zusammengekniffenen Augen lauerte der Vater und der Seemann.
»Wir hätten sie rammen können, wenn unsere Maschine nicht beizeiten abgestoppt hätte. Der Bootsmann hatte meine Jungen erkannt. Ihre Waghalsigkeit verläßt sich viel zu sehr darauf, daß sie Vanderweltjungen sind. Übrigens[S. 132] verlange ich von meinen Söhnen die Schifferprüfung auf dem Rhein, sobald sie die Schule verlassen haben.«
»Die Schifferprüfung auf dem Rhein?« fragte sie verwundert. »Auch wenn sie einen anderen Beruf wählen?«
»Ein jeder Mensch muß ein Handwerk verstehen. Versagt einmal das Brustschwimmen, so muß man sich mit dem Rückenschwimmen helfen können. Mein Gott, wie oft habe ich auf dem Rücken schwimmen müssen.«
In der Klammer seines Armes sah sie ihn von unten herauf an.
»Lachen Sie nicht, Engel. Helden, die immer siegen, gibt es so wenig, wie Väter, die in der Schule immer oben gesessen haben.«
Da lachte sie, daß seine Schulter gerüttelt und geschüttelt wurde.
»Das Lachen haben Sie mittlerweile auch gelernt, Engel.«
»Ja, ja, ja!« schrie sie in den Wind. »Das Lachen und alles, alles, was uns das Lachen schenkt!«
Seine Hand glitt von ihren Schultern über ihren Arm. Hin und her. Her und hin.
»Ich freue mich, Engel.« —
Jedesmal, wenn sie von gemeinsamer Fahrt heimgekehrt waren, empfand es Kornelius Vanderwelt, daß Angela Freydags Spiel in die Tiefe wuchs, um den Höhenweg zu nehmen. Dann war ein Ringen in ihr um die letzte Befreiung, um den letzten sieghaften Ansprung ins Licht. Jeden Morgen hindurch, wenn die Schüler das Haus verlassen hatten, saß sie am Flügel, stundenlangen, nimmermüden Fingerübungen hingegeben, in einer Selbstbeobachtung bis ins Schmerzhafte, in einer Selbstzucht, die das geringste zum bedeutungsvollen erhob.
[S. 133]
»Sie übertreiben, Engel,« verwarnte sie Kornelius Vanderwelt, als er an einem Mittag vor der Zeit heimgekehrt war und lauschend in der Tür gestanden hatte. »Das halten die Nerven keines Menschen aus. Weshalb also?«
»Ich muß mein eigner Lehrer sein. Wenn der Schüler Pause machen will, greift der Lehrer ein und läßt wiederholen.«
Kornelius Vanderwelt ließ lange seinen Blick auf der zähen Kämpferin am Flügel ruhen.
»Ich weiß Sie ungern draußen allein, Engel. Es ist ganz gewiß ein gut Teil Selbstsucht dabei. Ein Mann meiner Anschauungsart ist nun einmal selbstsüchtiger, als die vielen, die sich nur von der Abwechslung Wunder versprechen. Na, schon gut. Keine rührsame Tünche darüber gestrichen. Sie werden von heute an jede Woche einmal nach Köln fahren und Ihrem Professor vorspielen. Zur letzten Überfeilung. Denn eine Künstlerin sind Sie heute schon.«
Ihr Spiel brach ab. Ihr Gesicht wandte sich, schneeweiß geworden, ihm zu. Ihre Augen leuchteten bis in die Tiefe.
»So sehr erfreut Sie die Aussicht, aus dem Käfig heraus und nach Köln zu kommen?«
»Ihretwegen — Ihretwegen!« stieß sie heraus. »Dann ist es kein Käfig mehr, in dem Sie mich sitzen sehen. Dann werde ich vor Ihren Augen fliegen können, ach, überall hin, wo Sie mich sehen wollen, und brauche nicht mehr hinterdreinzulaufen und Sie mit mir aufzuhalten, wenn Sie große Schritte machen möchten.«
»Ist das nun alles Unbewußtheit?« fragte er zögernd und strich über ihr Haar.
Sie aber verstand den Sinn der Frage nicht und blickte ihm, wie eine Schülerin dem Lehrer, nach den Augen. Und seine Brust, durch die der Zweifel gerieselt war, tat[S. 134] plötzlich so tiefe Atemzüge, als müßte bis in die Fugen reingefegt werden, was etwa sich einzunisten willens gewesen wäre.
»Geben Sie mir den Namen Ihres Professors. Ich werde den Herrn an den Fernsprecher rufen lassen und mit ihm die Stunden verabreden. Sie können dann, wenn alles nach Wunsch geht, schon morgen fahren.«
Wohl verstand es das leidenschaftliche Wesen Kornelius Vanderwelts wie überall, so auch hier, seinen Wünschen Geltung und Erfüllung zu verschaffen. Und doch dehnte sich ihm der nächste Tag, an dem Angela Freydag zur Musikhochschule nach Köln gefahren war, zu einer schier unerträglichen Länge, und eine verschwommene Leere in ihm hinderte so stark seine Arbeitslust, daß er zum ersten Male sein befehlshaberisches Wünschen mit einer Verwünschung bedachte. Um die Mittagstunde ging er nicht heim. Weit hinaus auf die Landstraße zwischen der silbrigen Ruhr und den frühlingssaftigen Wäldern mußte ihn der Wagen entführen, und als er zum Abend sein Geschäftshaus verließ und es immer noch eine Stunde währte, bis die Eisenbahn Angela Freydag von ihrem Ausflug zurückbringen konnte, fand er sich alter und lange nicht geübter Gewohnheit gemäß durch das Gassengewirr des Hafenviertels schlendern und das Wirtshausschild ›Zu den fünf Erdteilen‹ buchstabieren.
Er lachte dröhnend, als er unverzüglich den Matthes hervorstürzen sah wie den Sperber auf die Beute.
»Gute Brise, was, alter Seeräuber?«
»Einen Augenblick nur. Bitte sich nur für einen kleinen Augenblick hereinzubemühen, Herr Vanderwelt.«
»Ne, mein braver Matthes, kapern ist nicht. Ich danke Gott, daß ich das Gift aus Ihrer Bude wieder ausgeschwitzt habe.«
[S. 135]
»Es handelt sich nicht um das Gift, Herr Vanderwelt, es handelt sich um die Bude selbst.«
»Rauscht der Pleitegeier?« fragte Kornelius Vanderwelt und folgte dem Bittsteller ein paar Schritte in den Hausgang.
»Herr Vanderwelt,« begann der Matthes und verschleppte seinen hohen Gastfreund in den stillsten Winkel, »daß die ›Fünf Erdteile‹ im Begriff sind, sich bis auf die Ratten zu entvölkern, ist nicht meine Schuld, denn Küche und Keller sind nach wie vor prima. Tut mir leid, es geraderaus sagen zu müssen, daß es alleinig die Schuld des Herrn Vanderwelt ist.«
»Matthes, Sie haben wohl einen Rausch? Seit länger als einem halben Jahr habe ich keinen Schritt in Ihren Feenpalast getan.«
»Dat is et ja eben,« folgerte der Mann. »Dat is et, wat ich zur Entschuldigung meiner Wirtschaft hören wollt'. Als hätten Sie dat Haus durch Ihr plötzlich Wegbleiben in den Verruf getan, genau so is et. Da haben sich die Leute gesagt, der Herr Vanderwelt bevorzugt jetzt gewiß en noch viel doller Wirtshaus, un haben rund herum gesucht, un der eine is hier und der andere da auf eine Sandbank geraten oder in der Kreide hängen geblieben, un die Mehrzahl im ›König von Portugal‹, der flottere Betriebsgelder hat. Daher, mein ich, wär et nich mehr als recht un billig, Herr Vanderwelt —«
»— daß ich als stiller Teilhaber an den ›Fünf Erdteilen‹ einträte? Ne, verehrter Freund, das liegt mir nun doch nicht.«
»Herr Vanderwelt, lumpige fünfundzwanzigtausend Mark auf Grundverschreibung. Ich lass' dafür dat Besitzerrecht an den Kasten auf Ihren Namen schreiben.«
»Sie haben doch irgendwo eine Tochter mit einem kleinen Mädchen wohnen, Matthes. Denken Sie daran.«
[S. 136]
»Nix da. Sie is mir aus dem Haus gelaufen, weil et ihr in den ›Fünf Erdteilen‹ nich anständig genug schien, viel anständiger aber, im feinen Düsseldorf ein Kind ohne Vatersnamen zu kriegen. Reden wir von unseren Geschäften, Herr Vanderwelt.«
Und plötzlich sah Kornelius Vanderwelt eine regendurchwühlte Herbstnacht vor sich und sah ein anderes herumgehetztes Mädchen dasselbe Haus verlassen, das ihr nicht anständig genug erschien, und in ihm schrie eine Stimme auf: »Angela! Angela Freydag!« als müßte er sie heute noch vor dem Hause hüten.
Des Wirtes Augen hatten die jähe Veränderung in des Gastes Minen sofort erspäht. Blitzschnell setzte er seinen Trumpf aufs Geratewohl. »Herr Vanderwelt, ich habe auch nach dem letztenmal, wo ich die Ehre hatte, et Maul gehalten, selbst vor meiner Frau, und hätt' mich aus alter Seekameradschaft eher totschlagen lassen, als —«
Kornelius Vanderwelt winkte gelassen ab. Aber er spürte dabei, daß er den rascher werdenden Atem bändigen mußte.
»Mit solchen Albernheiten erreichen Sie bei mir nichts, Matthes. Wenn ich Ihnen aus Ihrer verdammten Patsche helfe, so geschieht es, weil Sie die alte Seekameradschaft anrufen und die Schiffsjungen vom Rhein sich über den trockengelegten Seebären nicht halbtot lachen sollen. Nur deshalb will ich auf den Handel eingehen und meinen Namen auf Ihr Haus eintragen lassen. Kommen Sie morgen mit Ihren Papieren ins Kontor. Die Bude ist knapp die Hälfte wert, und der Teufel täte ein gutes Werk, wenn er sie heute statt morgen holte.«
Er zog hastig die Uhr.
»Ich habe keine Zeit mehr. Na, nun legen Sie wohl auf Fortsetzung unserer stillen Zwiesprache selber keinen Wert.«
[S. 137]
»Herr Vanderwelt,« schwor der Matthes, »Herr Vanderwelt, dat kann nu kommen wie et will, zart oder rauh oder aus det Deubels Kochgeschirr: Der Mann hier gehört Ihnen.«
Kornelius Vanderwelt schritt schnellsten Schrittes durch die Gassen, querte den Hafendamm und erreichte sein Haus, wo er den Wagen hatte halten lassen. »Los, Wilm. Zum Bahnhof Duisburg.« Der Wagenschlag klappte zu. Der Wagen wand sich durch die Straßen, brauste über die Brücken, gewann die Duisburger Innenstadt und erreichte den Hauptbahnhof, als der Kölner Zug einlief und die Reisenden durch die Sperre auf den Platz hinaustraten.
Kornelius Vanderwelt saß im Wagen, ohne sich zu regen, und spähte durch die Scheiben in den Abend. Da war sie. So aufgereckt und mit dem Blick in die Weite ging nur Angela Freydag. Würde sie — würde sie insgeheim hoffen, ihn hier vorzufinden? Jetzt schweifte ihr Blick für Sekundenlänge ab. Über den Platz hin. Über die harrenden Wagen. Und schon hatte er den Schlag geöffnet, und sie huschte zu ihm hinein und saß an seiner Seite.
»Los, Wilm. Nach Hause.«
Sie drückte fröhlich seine Hand, und er entzog sie ihr.
»Lassen Sie mal fühlen, Engel, ob Sie auch heil geblieben sind. Ein Unfug, so ein Ding allein reisen zu lassen.«
Und seine Hand glitt über ihr Haar und über ihre Wangen, glitt über Schultern, Arme und Rücken und blieb unter ihrem Herzen liegen. Sie schloß die Augen, öffnete sie und lachte ihn an.
»Es war so schön — es war so schön ... Der Professor hat gestaunt, und ich wollt', Sie wären dabei gewesen!«
»So, das haben Sie gewollt? Und gewußt haben Sie auch, daß ich Sie vom Bahnhof holte?«
[S. 138]
Sie lehnte mit der Zutraulichkeit eines Kindes in seinem Arm. So hingegeben und so sicher.
»Gewußt nicht. Aber — aber — jetzt werden Sie mich gleich auslachen — aber — heimlich gewünscht.«
»Weshalb denn nur, Engel? In zehn Minuten wären Sie auch ohne mich zu Hause gewesen.«
»Weil ich besser aus mir heraus sprechen kann, wenn ich mit Ihnen allein bin. Weil die anderen glauben könnten, ich lobte mich selber, wenn ich erzählen sollte. Und doch muß ich Ihnen — Ihnen alles, alles hersagen, was der Professor gesagt, nein, was für Augen er gemacht hat. So große Augen — so! Und daß ich zu einer überraschenden Höhe herangereift wäre und bei Nichtnachlassen eine Künstlerlaufbahn vor mir haben würde wie wenige nur. Ach, und Sie allein, Sie allein sind schuld daran.«
Und Kornelius Vanderwelt dachte: Soeben sollte ich die Schuld tragen am Zusammenbruch des Matthes, und jetzt soll mein die Schuld sein an der Auferstehung dieses Mädchengeistes.
»Weiter, Engel, erzählen Sie weiter. Ich freue mich ja, als sollte ich selber auf die Bühne.«
Und sie erzählte und erzählte, wie aus einem Rausch heraus, ihr Wiedersehen mit dem Professor, sein Staunen über ihr gereiftes Aussehen, sein größeres Staunen über ihr gereiftes Spiel, und was sie gespielt und wie sie es aufgefaßt hätte und wo und wie der Professor eingegriffen und die Feile angelegt hätte. In immer neuen Abwandlungen.
Kornelius Vanderwelt horchte nur noch auf den tanzenden Herzschlag dicht über seiner Hand. Er brauchte den Laut der begleitenden Worte nicht. Diesen tanzenden und jagenden Herzschlag verstand er aus seinem eigenen Blut heraus.
[S. 139]
Woche um Woche fuhr Angela Freydag zur Musikhochschule nach Köln, holte sie Kornelius Vanderwelt vom Duisburger Bahnhof, und er fühlte ihr Herz immer leidenschaftlicher und stärker schlagen.
In der Nacht wachte er auf, als weckte ihn dieser ungestüme Herzschlag aus einem Traum. Und der Gedanke quälte ihn: Ist es das Erwachen der Künstlerin oder das Erwachen des Weibes?
Nein! Nur jetzt nicht mit selbstsüchtiger Hand in die Entwicklung eingreifen. Keine Sünde gegen den heiligen Geist. Aber mehr als je nahm er sie mit sich auf seinen Erholungsfahrten, und der Sommer kochte über den Ruhrwiesen und die Wälder zitterten im Spiel der grüngoldenen Lichter und der violetten Schatten. Dann stiegen sie aus und gingen den Lichtern nach und hörten im Walde den Sommer so hoch und leise singen wie eine junge Frau, die ihre Mutterstunde nahen fühlt. Und sie nannten es das Lied des Sommers.
Woche um Woche gingen sie durch den Wald und durch den Sommer, und nie ging sie anders als in seinem Arm, und seine Hand streichelte über sie hin, als formte sie den neuen Menschen, wie seine Worte den neuen Menschen wachgestreichelt hatten. Wenn seine Hand auf ihrer Hüfte ruhte, war ihm bei jedem ihrer Schritte, als ginge sie aus seiner Hand hervor, als seine Schöpfung, als Teil seiner selbst, und die Schöpferfreude wurde so übermächtig in ihm, daß sie ihm das Wort verschlug und sie stundenlang wortlos wanderten und doch einer vom anderen durchpulst und durchblutet.
Wie kommt es, fragte sich Kornelius Vanderwelt in solchen Stunden, daß man die eigenen Kinder nicht so zu formen vermag wie diese Blutsfremde? Weil sie schon das Blut des Vaters in sich tragen und diese nicht? Weil[S. 140] sich dies Blut schon von dem Blute der Mutter verwirren und von den Blutsbahnen des Vaters abzweigen läßt in lockende Nebenpfade, und diese hier nichts von mir hat als den Glauben? Kann Blut allein Kindschaft bedeuten, oder muß erst die Wesenseinheit von hüben und drüben durchblutet sein?
Und wieder streichelte er über sie hin, als müßte jede Form seiner, nur seiner Hand entspringen und ins Leben hineinblühen wie beseligte Sommermärchen.
»Engel, sprechen Sie ein Wort. Ich möchte an Ihrer Stimme hören, ob wir wachen oder träumen.«
Sie schüttelte den Kopf und schmiegte sich nur fester in die Form.
So schritten sie durch den Sommer, und das Werk wurde wie der Meister, und der Meister wurde sein Werk. —
Kein Herbst wollte kommen, so glühte die Sonne dieses Jahres in den September, in den Oktober hinein. Der Wasserstand des Rheines senkte sich bis auf die Riffe und Bänke im Strombett, und die Schiffer schauten so sehnsüchtig nach dem westlichen Himmel, als wollten sie die Wolken mit den Augen heranziehen und zur Entladung bringen. Auf den Menschen des Ruhrorter Hafengebietes lagerte ein Druck. Die geschäftlichen Sorgen sprangen über Nacht in den Tag und zerrten an den Nerven der eisenfesten Männer.
Öfter als bisher mußte Kornelius Vanderwelt auf seine mittäglichen Entspannungsfahrten Verzicht leisten, um die Stunden zu nützen, das Rad im Schwung zu halten, um Frachtenkähne ausfindig zu machen, die durch leichtere Bauart und geringeren Tiefgang die Flachwasser zu überwinden vermochten, um in langwierigen Darlegungen die Verfrachter zu bestimmen, dem drängenden Bedarf bei[S. 141] dem geringen Angebot und der erhöhten Verlustgefahr der Schiffer durch emporschnellende Frachtsätze Abfluß zu schaffen. Die großen Kahneigner fluchten, denn die Kleinschiffer, die ›Partikuliers‹, schöpften den Rahm von der Milch, wurden breitspurig im Gefühl ihrer Unersetzlichkeit und bereiteten durch ihre hochgeschraubten Forderungen selbst ihrem Freund und Gönner Vanderwelt Stunden des heiligen Zornes.
»Dat geht reihum, Herr Vanderwelt. Un wer den Breilöffel glücklich in die Finger kriegt, muß sorgen, dat er sich den Bauch gründlich vollschlägt.«
Das war eine Beweisführung, die in Kornelius Vanderwelts Anschauungsart ein lachendes Echo fand, und er half den Blinden und Lahmen zum Hochzeitsmahl.
Der heißeste Tag des Oktobers kam, und die Sonne brannte wie im August. Die Schulen hatten Spätherbstferien angetreten, und die Vanderweltskinder nutzten sie aus bei Freundesfamilien in Rotterdam. Fräulein Bilsenbach war im herbstlichen Hausputz unsichtbar geworden und Angela Freydag übrig geblieben, schlaff und schwerblütig durch die Ungewöhnlichkeit der Witterung.
»Heute hol' ich sie. Es mag biegen oder brechen,« sagte Kornelius Vanderwelt. Und in der Mittagsstunde holte er sie. Auf die Landstraße hinaus, auf der sie vor Jahr und Tag den Fahrer angerufen und den Führer gefunden hatte. In den Wald, in dem die grüngoldenen Märchenwunder purpurrote Gewänder übergestreift hatten.
Sie gingen wie sonst, einer in den anderen versenkt. Doch Angela Freydags Gang war heute schwerer und langsamer.
»Was ist Ihnen, Engel?«
[S. 142]
»Ich weiß es nicht.«
»Zeigen Sie mal Ihre Augen her. Darin wetterleuchtet es ja. Sitzt die Wölfin wieder drin und möchte anspringen? Weshalb?«
»Weil Sie mich so hungrig machen.«
»Ich — Sie? Auf was denn, Mädchen?«
»Auf was —? Ach — auf was — —?«
Brausend bogen sich die Wipfel. Ein Sturmstoß pfiff gellend hindurch, daß sich die Wanderer gegen ihn stemmen und sich aneinander halten mußten. Am Himmel trieb eine Wolke heran, lastete ungefüge über dem Wald, erdrückte das Licht und verdunkelte Weg und Steg.
Der wetterkundige Mann schreckte auf. Seine Augen waren auf Wind und Wolke gerichtet.
»Ein Unwetter, Engel! Das ist Sommers Ende! Aber herrlich wird er Abschied nehmen. Geben Sie acht.«
Grell fuhr ihnen ein Blitz in die Augen. Sein Widerschein tauchte den tiefschwarzen Himmel in aufschreiende Lohe. Krachend fuhr der Donnerschlag hinterdrein. Und die Wolke zerbarst wie ein zerschmettertes Glas, und Wasserwogen rauschten nieder, überstürzten sich, rissen das Geäst in Fetzen, zerpeitschten, was ihnen im Wege war.
»Engel! Arme um meinen Hals! Festhalten! Ist das nicht schön?«
»Schön! schön! schön!«
»Engel! was ist mit Ihnen? Sie zerfließen mir unter den Händen!«
»Wohl ist mir! Ach, so wohl!«
Er sprach kein Wort mehr. Er fühlte ihre Haut unter seinen Händen, ihre kühle, nackte, regenzerpeitschte Haut. Von Wolkenbruchgewalten hinweggefegt wie Spinngeweb war das schleierdünne Oberkleid, und ein wilder Jubel von[S. 143] Urvätern her sprang in sein Blut und lachte in seinen Augen über die schlohweiße Seemannsbeute.
Und jäh wie das Wetter gekommen war, vertobte es und schwieg.
Angela Freydags wirre Augen starrten auf die Nacktheit der Schultern, der Mädchenbrust. Sie suchten das Kleid und fanden nur Fetzen. Ihre Hände lösten sich von seinem Halse, hoben sich nach dem Haupte, griffen in die Flechten und rissen das regennasse Haar herunter, um es über die Brüste zu schlagen.
»Laß das! Laß das! Ich rühr' dich nicht an!«
»Oh — — —!«
Ganz hell und hoch kam der Ton. Wie ein aufseufzender Geigenstrich von fernher.
»Ich rühr dich nicht an ... Aber in mich hineintrinken will ich das, in mich hineintrinken, daß es mir für Zeit und Ewigkeit gehört. — — — Jetzt kannst du mir in dieser und jener Welt nicht mehr verloren gehen.«
Ganz aufrecht hielt sie sich, den Kopf im Nacken. Und schloß erst die Augen, als sie das aufsteigende Blut in den Schläfen fühlte.
»Ich danke dir,« sagte er. Und hastig zog er seinen Rock aus, warf ihn über ihre Schultern und knöpfte ihn über ihrer Brust und unter ihrem Halse zusammen.
»Und wenn's nur ein Waldmensch wäre, der nach deiner weißen Schönheit schielte. Mit einem Ziegelstein schlüge ich den Menschen tot, und wenn ich bis Australien ihm nach müßte.«
Da hob sie die Arme hoch, und wieder kam der ganz hohe und helle Ton aus ihrer Kehle wie ein aufseufzender Geigenstrich von fernher, und sie warf die Arme um seinen Nacken, riß seinen Kopf an sich und preßte ihre Lippen auf seinen Mund, atemlos.
[S. 144]
»Du — du — du —! Ach, du — — —!«
Und er wußte nichts zu erwidern, als das gleiche: »Du — du —! Ach, deine Lippen — — —!«
Ihre Wangen brannten, und ihr Leib schreckte vor Frost. Er umfing sie fester und lief mit ihr, um sie zu erwärmen, vor dem Winde durch den Wald, bis sie den Wagen erreichten. Und während der Wagen die Landstraße dahinbrauste, lag ihr Kopf an seiner Brust, und das Auge des einen suchte im Antlitz des anderen.
»Dein Mund, dein Mund, Engel ... wie der rote Spalt eines Granatapfels.«
»Deine Augen, deine Augen, du ... so glühend sind sie und so zärtlich sind sie, und ich muß sie lieben.«
»Dein Leib, Engel, und deine Seele, Engel ... Marmorschale und Myrrhenduft, und ich muß beides lieben.«
Und der eine langte nach dem anderen, daß die Lippen sich küßten — sich küßten — —
So aufrecht wie immer war sie aus dem Wagen gestiegen, hatte sie ihr Zimmer aufgesucht. Als Kornelius Vanderwelt am Abend nach Fräulein Freydag fragte, hörte er, daß sie sich frühzeitig zu Bett begeben habe. Er schritt die Treppen hinauf, pochte leise an ihre Zimmertür und rief: »Gute Nacht!« — Und wie ein Echo kam ihm »Gute Nacht!« zurück.
Früher als sonst suchte er am Morgen sein Geschäftshaus auf. Er wollte den Nachmittag für sich gewinnen. Und kehrte heim und fand Angela Freydag nicht mehr in seinem Hause.
»Haben Sie vergessen, Herr Vanderwelt, daß Fräulein Freydag abreisen mußte? Fräulein Freydag sagte, Sie wüßten es schon.«
Er nickte dem alten Fräulein zu, ging in sein Zimmer und nahm vom Arbeitstisch ihren Abschiedsbrief.
[S. 145]
»Lieber, liebster Mann, ich gehe. Bliebe ich, so würde ich in wilder Hingabe zerbrechen, denn so liebe ich Dich. Und Du würdest ärmer an mir werden statt reicher. Ich aber will an Deiner Seite schreiten können im gleichen Schritt und Tritt, ebenbürtig Dir als Genossin Deiner Liebe und Deiner Kämpfe. Laß mich draußen durch meine Kunst ich selbst werden, und dann laß mich wiederkommen als Starke zum Starken. Deine Angela.«
Eine Stunde darauf senkte Kornelius Vanderwelt den Brief in Angela Freydags Reisetasche und verschloß beides.
[S. 146]
Die Jahre, die da kamen, änderten sich in nichts. Im Frühling woben die Wälder grüne Schleier von Wipfel zu Wipfel und Blumenranken in die Teppiche der Wiesen. Im Sommer tanzten die Sonnengluten auf feurigen Schuhen über den Ährenfeldern. Im Herbst lief der Wind durch die Stoppeln, kletterte von Baumgeäst zu Baumgeäst und fegte das welke Laub. Und im Winter fiel Tage und Nächte der Schnee, klirrte der Frost in Luft und Gewässer, wandelte sich Eis und Schnee in Schmutz und Wüstenei, bis wieder die Reihe an den Frühling kam und das ewige Spiel von neuem begann.
Die Jahre, die da kamen, änderten sich in nichts. Und wenn die Menschen wähnten, den Lenzwind wie ein seliges Lächeln deuten zu müssen und die Winterstürme der Tag- und Nachtgleiche wie ein drohendes Fratzengesicht, Kornelius Vanderwelt hatte weder Deutung für das eine noch für das andere und ließ die Sonne scheinen wie sie wollte und mußte und die Stürme über die Wasser brausen wie sie sollten und mochten. Der Wechsel der Jahreszeiten war für ihn zum Einerlei geworden, ihre Zauberkünstlerüberraschungen nicht wert, den Puls des Blutes um einen Schlag zu steigern, und selbst die großen Lebensfragen der Arbeit schieden mit ihren Spannungen allmählich für ihn aus, weil es für ihn eine Selbstverständlichkeit wurde, daß[S. 147] der Rhein zu Zeiten hohes und zu anderen Zeiten niederes Wasser führte.
Nicht, daß Kornelius Vanderwelt in Arbeitskraft und Arbeitsleistung nachgelassen hätte. Er griff an, kämpfte im zähen Kampfe und siegte wie bisher. Aber er tat es aus der Gewohnheit heraus, seiner Kämpfernatur zum alten Rechte zu verhelfen, nicht, weil ihm die Siegerfreude die Adern zum Springen bringen wollte. Die Freude war aus Kornelius Vanderwelts Leben und Streben hinausgewichen.
War sie an dem Tage gegangen, an dem Angela Freydag ging?
Oft grübelte er dem Gedanken nach, oft mitten in der Arbeit, wenn es sich um einen großen Schlag und um schnelle Entschlüsse handelte, oft in der lastenden Feierabendstille, wenn er in seinem Musikzimmer saß, den Kopf auf die Hände gestützt und die Arme auf den Deckel des verstummten Flügels.
War sie die einzige in seinem Leben gewesen oder eine Ziffer in einer Zahl?
Dann gebot er den Gesichten und lud die Frauen vor seinen geschlossenen Blick, die er geliebt hatte für die Dauer heißer Stunden oder die Dauer noch heißerer Jahre. Schemen flatterten vor ihm auf und zerflatterten. Körperlichkeiten, die sich in nichts anderem zu erfüllen gehabt hatten, als den heißen Stunden Fleisch und Blut zu geben und mit ihnen zu vergehen. Die eigene, leidenschaftlich bewegte und erregte Frau wuchs vor seinen Augen auf, die ihm die Kinder geboren hatte und doch nur ihn beschenken wollte bei Tag und bei Nacht. Aufstöhnend wühlten seine Gedanken in ihrer Schönheit und griffen in nichts.
Weshalb? Weshalb? War die Vergänglichkeit schneller oder die Liebe —?
[S. 148]
Kornelius Vanderwelt hob den Kopf. Er öffnete weit und starr die geschlossenen Augen.
Liebe ...?
Hatte ihn ein Ton gerufen, ein ganz hoher und heller, irgendwoher —?
Er erhob sich und ging dem Tone nach, bis seine Stirn gegen das Fenster stieß. Er merkte es nicht. Seine Augen suchten in der Ferne, sein Gehör verfeinerte sich, alle seine Sinne waren angespannt.
Liebe ...? Ist Liebe ein Wühlen in der Schönheit und Leidenschaft, ein Jauchzen im Besitz, ein Verschenken und Wiederverschenken von einem zum anderen? Narrheit, Knabennarrheit! Was ist es denn? Was denn? Die Liebe — ach, ich bin es selbst! Ich selbst bin die Liebe! Und was Du mir bringst, Geliebte, ist ein Teil von mir, gehört zu mir, wie das eine Auge zum anderen, die eine Hand zur anderen gehört. Wie kann ich mir schenken lassen, was mein ist, wie kann ich dir schenken wollen, was dein ist? Ich bin das eine Auge und du bist das andere. Ich bin der eine Blutstropfen und du bist der andere, und zusammen sind wir der eine und einzige Blutstrom unseres Lebens. Verbluten muß, wer dem anderen nicht gibt, was ihm zum Atmen und Leben gebührt. Denn du bist ein Teil meiner Kraft, wie ich ein Teil der deinen bin. Zwillingsblütler sind wir am Zweigeschlechterbaum und müßten verdorren, wenn wir nicht mehr aus derselben Wurzel trinken. Angela! Angela Freydag! Du wie ich! Denn nur vereint sind wir ein Mann oder ein Weib. Sind wir wir selbst — durch den Drang unserer Liebe, die den einen gleich dem anderen befruchtet.
Angela. Angela Freydag. Du warst nicht die einzige Frau in meinem Leben und doch keine Ziffer in der Zahl. Du warst ich, der Teil von mir, den ich lieben muß wie[S. 149] das göttlichste Geheimnis. Wie ich dich sprechen höre, aus Fernen heraus: »Und du bist ich, seit Gott den Menschen schuf und Mann und Frau aus einem Gebilde. Du, Geliebtester, bist Angela Freydag, und ich, deine Geliebteste, bin Kornelius Vanderwelt.«
Angela! So schreit mein Blut nach meinem eigenen Blute, wenn es nach dir schreit. — —
Nur noch ein Einerlei waren für Kornelius Vanderwelt die Jahre, die auf und nieder tauchten. Geschäft, Schifferbörse, Erziehung der Kinder wurde von ihm nach des Tages Gebot und Bedarf geregelt und gemeistert. Die Söhne durchliefen die Schule, bestanden die Reifeprüfung leichthin. Im Korpsleben Bonns fühlte sich der stolze Justus Vanderwelt, der Student der Rechte, wohler als in den geschäftlich abgesteckten Grenzen Ruhrorts. Auf der Handelshochschule zu Köln wurden dem zu früh gereiften Thomas Vanderwelt genug der Einblicke ins Leben, um seiner Zweifelsucht den Schein der Weltweisheit zu verleihen.
Und nun war auch Juliane Vanderwelt, sechzehnjährig, in eine Erziehungsanstalt der französischen Schweiz abgereist, mit der festen Vorberechnung, dort Dame und nichts als Dame zu werden.
Es war einsam geworden in dem lebhaften Vanderwelthaus, und alles Laute hatte sich in Stille verkehrt.
Das alte Fräulein Bilsenbach ging wie ein Geist durch die Räume, immer bemüht, jedes Geräusch, selbst das Geräusch ihres eigenen Schrittes von dem ernstgewordenen Hausherrn fernzuhalten und nicht den geringsten Grund zu einer Rüge aufkommen zu lassen. So lieb diese Vorsorge Kornelius Vanderwelt im Anfang war, so stark rissen die altjüngferlichen Übertreibungen auf die Dauer an seinen Nerven. Wenn er, aufschauend, ihren schwarzen Schatten[S. 150] durch das Zimmer huschen sah, die Hand bittend erhoben, sie nicht zu bemerken, wenn er im Nebenzimmer das Wispern und Flüstern vernahm, mit dem sie den Hausangestellten ihre Anordnungen erteilte, so mußte er krampfhaft an sich halten, um nicht mit einem Matrosenfluche hineinzuwettern, nur um diese lawendelduftende Krankenhausluft zu säubern und aufzufrischen.
»Himmel und Hölle, Fräulein Bilsenbach, ist ein Totes im Hause?«
»Gott möge uns vor dem Unglück bewahren, Herr Vanderwelt. Wie kommen Sie nur auf so Schreckliches?«
»Oder halten Sie mich für einen Geisteskranken oder einen Kindischgewordenen?«
»Weshalb — weshalb denn nur, Herr Vanderwelt? —«
»Weshalb? Weil Sie alles Leben um mich herum zum Schweigen bringen, weil Sie jedem Ding um mich herum einen Trauerflor anhängen, weil — ja, das soll doch der leibhaftige Teufel holen — weil Sie zittern und beben, wenn ich Sie anspreche.«
»Sie sprechen mich ja nicht an, Herr Vanderwelt, Sie schreien mich ja an —«
»Oh! Oh! das nennen Sie schreien? Ich wollt', Sie schrien ebenso, damit diese gottverdammte Filzsohlengeräuschlosigkeit endlich mal wieder einem herzhaften Krach Platz machte. Ach du liebes Elend, nun schwimmen wir mal wieder in Tränen.«
Das alte Fräulein schluchzte in ihr Taschentuch.
»Ich — ich tu hier mein Bestes und ich will ja gar keinen Dank, wenn — wenn Sie nur das Fluchen unterlassen wollten, Herr Vanderwelt.«
»Das Fluchen?« Kornelius Vanderwelt lachte auf wie in seinen frohesten Tagen. »Ach, Sie liebe Unschuld glauben, ich wollte den lieben Gott damit ärgern? Wie ein kleiner[S. 151] Junge hinter dem Herrn Lehrer, der ihm die Hosen vollgehauen hat, ›Fottenhäuer‹ herruft?«
»Herr Vanderwelt — ich bin eine Dame!«
»Entschuldigen Sie, mein verehrtes Fräulein Bilsenbach, aber auf Hochdeutsch können selbst Sie das nicht sagen. Na, nun lachen Sie schon. Doch, doch, ich hab's gesehen. Und um auf das Fluchen zurückzukommen — ja wie soll ich das Ihrem zarten Hausfrauensinn beschreiben? Das ist wie ein großes Reinemachen. All der Dreck des Lebens, der sich in einem eingenistet hat und nicht durch Gebet und gute Worte herauszubringen ist, der wird durch ein paar Kraftflüche hinausgeschleudert wie der Lavadreck aus einem Vulkan, und das geläuterte Feuer hat wieder die Oberhand und bereitet den schönsten Gottesgedanken die Wohnung.«
Dann ging das alte Fräulein leise mit dem Kopfe schüttelnd und lautlos wie ein Geist aus dem Zimmer.
In diesem Dunstkreise atme ich, dachte Kornelius Vanderwelt, und er ging wie ein gefangenes Tier im Zwinger ruhelos im Raume auf und ab, auf und ab.
Es war keine Mißachtung der ängstlichen Sorgerin, die in ihm aufkam, es war nur die Abwehr ihrer kleinen Welt, die ihn vorzeitig in Schlafrock und Pantoffeln einlullen wollte, und aus der Abwehr ihrer kleinen Welt wurde eine Abneigung gegen die lautlose Persönlichkeit, die demütig zum Gesangbuch griff, statt einmal, einmal nur zornwütig die Arme gen Himmel zu strecken und hineinzurufen: Auch ich bin ein Gotteskind, ein Erbe, und kein hündischer Sklave!
Und allmählich empfand er die Abneigung fast körperlich.
Das machte ihm den Aufenthalt im Hause mehr und mehr zur Qual, und wenn er die spärlichen Briefe der heranwachsenden Kinder gelesen hatte, wenn die Antworten,[S. 152] streng nach der Eigenart des Einzelnen, verfaßt und abgesandt waren, nahm er Hut und Mantel und durchwanderte das immer mächtiger um sich greifende Hafengebiet, bis er in später Nacht in die Gasse einbog, in der wie ein Eckpfeiler die Gastwirtschaft ›Zu den fünf Erdteilen‹ heraussprang.
Das erste Mal wartete er, bis sich der letzte Gast getrollt hatte und der Matthes den Riegel vorschieben wollte.
»Gut Freund,« murmelte er und ging an dem Erstaunten vorüber in die Kneipstube.
Der Wirt kam eilig hinter ihm hergelaufen, wischte mit der Mütze den Tisch sauber, stemmte sich mit den Fäusten auf die Tischkante und starrte ungläubig auf den Gast.
»Der Herr Kornelius Vanderwelt? Wahr un wahrhaftig der Herr Kornelius Vanderwelt?«
»Soll ich Ihnen vielleicht meine Handschrift über das Maul schreiben, Matthes? Dies Haus gehört bis zum letzten Sparren mir, und ich darf wohl auch des Nachts eine Besichtigung vornehmen.«
Der Matthes, immer noch von der Überraschung bewältigt, schielte ihn in aufkommender Unruhe an.
»Geht es um die Zinsen, Herr Vanderwelt? Sie kriegen sie. Sie kriegen sie auf Ehr' un Gewissen.«
»Ihr ›Ehr' und Gewissen‹ will ich nicht geschenkt haben. Grog will ich, und morgen am Tage laß ich Sie durch den Gerichtsvollzieher auspfänden, wenn es nicht unverschnittener Rum von Jamaika ist.«
Der Matthes stand stramm wie ein berichterstattender Matrose.
»Frisch geschmuggelt vom holländischen Kahn ›Ora et labora‹. Gott soll mich verdammen, wenn Sie den unverfälschten Jamaika nich beim ersten Schluck herausschmecken.«
[S. 153]
»Lieber Matthes, machen Sie doch nicht die langen Redensarten.«
Da holte Matthes die kurzbauchige und langhalsige Flasche, wies den unverletzten Siegellack vor und entkorkte sie mit einem schnalzenden Knall. Fragend blickte er auf seinen Gast.
»Ne, mein Junge, ans Schnapssaufen bin ich doch noch nicht gekommen. Kochendes Wasser her. Meinetwegen zwei Gläser statt einem. Wäre ja möglich, daß Sie mittrinken möchten. Schon gut.«
Der kupferne Wasserkessel summelte und surrte auf dem Tisch und stieß den Dampf aus dem gebogenen Hals. Die Groggläser warteten neben der geschmuggelten Flasche aus Jamaika. Und der Matthes schob seine Vierschrötigkeit geräuschlos zwischen den Stühlen und Tischen einher, schloß die Türen, dichtete die Fensterläden und kehrte zu seinem Gast zurück, um den Grog zu mischen.
»Lassen Sie das meine Sorge sein, Matthes. Ich bin der Gastgeber und messe nicht nach Fingerhüten.«
Es wurde ein steifer Grog, den Kornelius Vanderwelt mischte, und der Matthes saß breitbeinig am Tische und tat Bescheid. Ein einsames Licht leuchtete über dem Ecktisch, an dem die Männer hockten.
»Wie geht es Ihrer Frau? Liegt sie schon in den Federn?«
»Der Frau geht's gut. Einer Frau geht's beim Matthes immer gut, wenn sie Order pariert.«
»Begierig, Mann, was Sie darunter verstehen.«
»Nix mehr un nix weniger, als wat ich gesagt hab'. Wenn ich der Herr bin, hat sich die Frau danach zu richten.«
»Verdammt bequem für den Mann. Meinen Sie nicht auch?«
»Frauensleut haben immer Raupen im Kopp. Die müssen 'raus. Reinweg.«
[S. 154]
Kornelius Vanderwelt tat einen langen, durstigen Zug. Und sprach weiter, um das Gespräch im Gang zu halten.
»Was sind denn das für Raupen, Matthes? Ihre Frau ist doch die Unterwürfigkeit in Person.«
»Unterwürfig? Eine Frauensperson un unterwürfig? Die möcht' ich sehen. Alles Anstellerei, solange sie spürt, dat sie sich unterm Daumen befindet. Aber lockern Sie den nur mal für ein paar Sekunden, un sie sind hinten un vorne betrogen. Et hat noch kein Frauenzimmer mit Moral im Leib gegeben, solang die Welt steht.«
»Drehen Sie bei, Matthes. Ihre Frau ist die Tugend selbst.«
»En alt Weib hat leicht tugendhaft sein. Dat heißt, ich hätt' ihr auch in jüngeren Jahren nix anderes anraten mögen. So sind wir nu doch nich. Aber ich brauch' nur mal, wat selten vorkommt, en Mittagsschlaf zu halten, un schon schickt sie der verloren gegangenen Tochter un — un deren Krott die Postpakete nach Düsseldorf.«
»Wenn Sie doch wissen, Matthes, daß Ihre Tochter in Düsseldorf wohnt, ist sie doch nicht verloren gegangen.«
»Dat is gut, Herr Vanderwelt. Nich verloren gegangen? Wo sie doch dat Kind ohne Vatersnamen hat?«
»Matthes, soweit mir erinnerlich, war Ihr Mädel auch schon auf der Welt, bevor Sie Hochzeit hielten.«
»Aber sie wurde gehalten, die Hochzeit!« ereiferte sich der Mann. »Un wenn sie nich pünktlicher gehalten wurde, so trifft mich daran keine Schuld, denn ich konnt' doch in den südamerikanischen Gewässern nich wissen, dat et mit der Annemarie in Ruhrort so eilig geworden war. Anständiger Kerl, der man is.«
»Matthes, Ihre Tochter hat auch geglaubt, daß der andere ein anständiger Kerl wär'. Das ist gehauen wie gestochen, und wenn der Liebhaber ein Lump war und das Mädel mit dem Kind im Unglück sitzen ließ, so gibt Ihnen[S. 155] das weiß Gott nicht die Berechtigung, den Tugendengel vorzuspielen.«
»Dat is meine Sache, Herr Vanderwelt. Ich kehr' vor meiner eigenen Tür.«
»Prost, Matthes. Vergessen Sie nicht, daß ich Ihnen schon öfters kehren geholfen hab'. Lassen Sie mich doch, zum Kuckuck, meinen Satz aussprechen. Es ist gewiß nicht schön, daß Ihr Mädel in die Patsche geraten ist. Aber die Eltern vergessen so gern, wie es war, als sie selber drin saßen und jeden für einen Engel Gottes hielten, der ihnen nur den kleinen Finger hinstreckte. Matthes, wenn wir für alles zur Verantwortung gezogen würden, was wir im Leben angestellt haben! Vielleicht kriegt jeder mal die Rechnung. Vielleicht. Jedenfalls können wir sie erst als ›bezahlt‹ beiseite legen, wenn ein Guthaben als Deckung vorhanden war.«
»Ein Guthaben ...« knurrte der Mann. »Is wohl zu hoch für meinen Verstand.«
»Sie verstehen mich ganz gut. Wenn alle Gerechten, die auf Stelzen gehen, Farbe bekennen müßten, gäb' es auf der Welt kaum eine einzige klare Farbe mehr. Also beizeiten heran an das Klärungsverfahren. Und nicht die Nase gerümpft über die, die Unglück hatten, wo die anderen Glück hatten, sondern aufgeholfen. Natürlich bleibt ein Unterschied zwischen einem Unglück und einer Ferkelei.«
Der Matthes erhob sich und guckte in den Wasserkessel.
»Befehlen der Herr Vanderwelt noch eine neue Auflage?«
Kornelius Vanderwelt mischte den zweiten Grog. Er hob sein Glas prüfend gegen das Licht.
»Wir wollen einmal auf Ihre Enkelin anstoßen, Matthes. Wird jetzt schon ein Schulmädel sein. Na, dies Wurm wenigstens kann doch nichts und wieder nichts zu seiner Notlage. Also: auf Großvaterfreuden.«
[S. 156]
Der Mann trank widerwillig. Das Glas klappte hart auf die Tischplatte zurück.
»Wenn et Ihnen genehm is, Herr Vanderwelt, sprechen wir jetzt mal von anderen Sachen. Et gibt soviel schönere auf der Welt, sogar in Ruhrort. Da wär' zum Beispiel der Hafen.«
»Matthes, der Hafen wird eine Pracht. Und der neue Kanal wird bis zum Nordseehafen Emden geführt. Der Warenumschlag ist ohnegleichen auf der Welt und noch unbeschränkt in der Entwicklungsmöglichkeit.«
»Herr Vanderwelt, dat et jetzt mit Siebenmeilenstiefeln geht, daran tragen Sie die Schuld.«
»Eine Schuld, die entlastet, Matthes. Jeder Mensch muß sein Guthaben besitzen.«
»Sie haben Ihr Guthaben! Sie haben et in Ruhrort un bei allen Schiffern zwischen Mannheim un Rotterdam!«
»Hunderttausend Fahrzeuge dies Jahr in den Duisburg-Ruhrorter Häfen angelaufen, Matthes! Achtundzwanzig Millionen Tonnen Umschlag! Der gewaltige Seehafen Hamburg hatte nur neunzehn Millionen!«
»Herr Vanderwelt! Himmelherrgottdonnerwetter, Herr Vanderwelt.« — —
Die Nachtstunden beim Matthes hatten Kornelius Vanderwelt gut getan. Das Kreisen seiner Gedanken war unterbrochen worden. Andere Bilderreihen hatten sich eingefügt. Nach kurzer Zeit wiederholte er den Ausflug. Und wieder nach kurzer Zeit kehrte er auch schon zu Stunden ein, zu denen die Gäste noch das Wirtszimmer bevölkerten, die Schiffer ihre Gläser auf die Tischplatte stießen und die Harmonika schluchzte. Über eine Weile, und die Gastwirtschaft ›Zu den fünf Erdteilen‹ begann, sich in Schifferkreisen wieder wachsender Beliebtheit zu erfreuen.
[S. 157]
Ein Seltsames nur bewegte Kornelius Vanderwelts Gedanken, die um Angela Freydag kreisten. Als bedürfte er einer Entschuldigung, daß er wieder in der Wirtsstube ›Zu den fünf Erdteilen‹ säße. Er wollte auch hier bei Angela Freydag weilen, selbst hier sollte der Geist der Verschollenen über ihm sein. Und er ging hin und ließ das Grundstück, das das gesamte Anwesen des Matthes umschloß, auf Angela Freydags Namen überschreiben.
Und ein Seltsames nicht minder war die große Ruhe, die von Stund' an über ihn gekommen war.
Der alte Beckenried hatte mit Kopfschütteln die Rückkehr seines Herrn zu den alten Gewohnheiten beobachtet. Aber der Herr war nicht mehr gewillt, Anspielungen seines knöchernen Mitarbeiters entgegenzunehmen, und schnitt sie ihm im Munde ab.
»Lieber Freund, ich möchte in der Arbeit nicht mit Privatgesprächen behelligt werden. Nach Feierabend soll es mich freuen.«
Der lebergelbe Beckenried aber hütete sich, seine Haut nach Feierabend zu Markte zu tragen, denn die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß das Gelb seiner Haut im außergeschäftlichen Umgang mit Kornelius Vanderwelt nur verstärkt zunähme. Und da der Geschäftsherr in der Tat schärfer arbeitete als je zuvor, so spielte er den Beobachter nur noch wortlos und in der Heimlichkeit.
Aber es war nicht nur Beckenried, dem die Rückverwandlung Kornelius Vanderwelts bemerkbar wurde. Auch die Herren, die in der ›Erholung‹ zusammenzukommen pflegten, wurden aufmerksam, wenn an manchen Abenden und immer öfter der aufsprühende Geist Kornelius Vanderwelts in ihrer Runde fehlte, und sie besprachen die Angelegenheit ernsthaft.
»Ein Extratanz in den ›Fünf Erdteilen‹ kann ihm wohl[S. 158] vergönnt werden. Von einer gelegentlichen Mitwirkung sprechen wir uns selbst nicht frei. Aber es muß ein Spaß bleiben und darf nicht zur Gewohnheit ausarten. Stadt und Hafen verdanken der Vanderweltschen Tatkraft zu viel, und es muß uns daran gelegen sein, dem Manne das Ansehen zu erhalten.«
Der Vorsitzende übernahm es, ihm freundschaftlich ins Gewissen zu reden.
Ein Weilchen hörte Kornelius Vanderwelt den gütigen Auseinandersetzungen des greisen Großindustriellen zu. Dann richtete er den Blick auf ihn, und der Blick aus den stolzen, hellen Augen ließ den Warner mitten im Satze abbrechen und einen neuen Gesprächsstoff suchen.
»Herr Vanderwelt, ich bitte mich als Ihren Freund zu betrachten. Ich bin nicht von kleinen Gesichtsmaßen. Wenn einer, so weiß ich, was Sie für die Entwicklung des Platzes Ruhrort getan haben und rastlos weiter tun. Aber eine solche hochgesteigerte Rastlosigkeit bedarf eines Ausgleiches, wenn sie auf lange hinaus wirksam bleiben soll. Sie sind ein Mann in der Reife der Jahre. Mehr als das: in der Reife der Kraft. Frauenliebe, hochverehrter Freund, Frauenliebe allein erhält uns Männern der Arbeit diese Kraft, deren wir viel, viel länger bedürfen, als unsere Neider und Bewunderer ahnen. Denn mit uns steht und fällt nicht nur ein ganzes Geschlecht, sondern ein Zeitalter. Das des ungeheuerlichsten Aufschwunges, der auf dem Scheitelpunkt seiner Entwicklungsmöglichkeiten nicht unterbrochen werden darf. Was die Jungen können, haben sie noch zu beweisen. Ich schweife ab, weil ich mit meinem Freundesrat nicht aufdringlich erscheinen möchte. Und doch, lassen Sie es mich aussprechen, was ich für Sie fühle: Sie müssen sich wieder verheiraten, Herr Vanderwelt.«
Die Blicke der beiden Männer waren nicht voneinander[S. 159] gewichen, und der alte Geschäftsherr freute sich der stolzen und hellen Augen seines Gegenübers.
»Verzeihen Sie mir meine Eindringlichkeit, Herr Vanderwelt, die keine Zudringlichkeit sein sollte.«
»Ich fühle aus jedem Worte Ihre Freundschaft, die mich hoch ehrt, Herr Kommerzienrat. Aber gerade meine Reife verbietet mir, die Rolle des schmachtenden Liebhabers zu spielen.«
»Kornelius Vanderwelt würde nie einen schmachtenden Liebhaber abgeben.«
»Ich freue mich herzlich, daß auch Sie diese Vorstellung von mir haben.«
»Es gibt in unserem Kreise auch andere Frauen, Herr Vanderwelt. Frauen, die einen geruhigen Lebensabend verbürgen.«
»Für diese Frauen — ich bitte mir meine Aufrichtigkeit zu verzeihen — fühle ich mich wieder zu jung.«
Wieder lagen die Blicke der beiden Männer ineinander, und der Altgewordene freute sich gegen seinen Willen.
»Sie setzen mich schachmatt, Herr Vanderwelt. Die Jungen sind Ihnen zu jung und die Älteren zu alt. Ich glaube, Sie müssen einen neuen Schöpfungstag einlegen und sich die Gefährtin, die zu Ihnen paßt, eigenwillig schaffen.«
»Fast glaube ich es auch,« entgegnete Kornelius Vanderwelt, und ein eigentümliches Grübeln war in seinen Augen, als er dem freundlichen Mahner mit herzlichem Dank die Hand schüttelte.
An diesem Abend ging Kornelius Vanderwelt auf kürzestem Wege nach Hause.
Er betrat das Musikzimmer, ließ das Deckenlicht aufflammen und schritt auf den Flügel zu. Aber er öffnete ihn nicht. Nur über den glänzenden Deckel strich er ein paarmal mit den Händen hin.
[S. 160]
Einen feinen, singenden Ton gab das Holz von sich. Und Kornelius Vanderwelt horchte auf.
»Engel,« sagte er, »hast du alles vernommen, was der gute alte Mann zu mir sprach? Das Alter hat die Gabe des zweiten Gesichts. Eine Gefährtin wünscht er mir, damit ich stark bleibe im Schaffen und mich am Leben nicht schmutzig mache. Und einen Schöpfungstag wünscht er mir, damit ich mir die Gefährtin selber forme aus meinem eigenwilligen Fleisch und Blut und der noch eigenwilligeren Seele. Das sah sein zweites Gesicht. Was es aber nicht sah, Engel, und was es nicht erkannte, war, daß ich diesen neuen Schöpfungstag schon mit allen Fibern genossen hatte, daß ich dich mir schaffen und formen durfte als mein bestes Teil, ›als wär's‹, wie's im alten Liede heißt, ›als wär's ein Stück von mir.‹
»Engel, es ist überflüssig, dir alles wiederzusagen, denn du hast alles vernommen.«
»Weil du und ich untrennbar sind, Engel, im Fleisch und im Geist.«
Mit übersichtigen Augen saß er am verstummten Flügel und sah ihr Bild. Ihre klaren grauen Mädchenaugen wurden zu Frauenaugen, und tief aus ihrem Grunde sprang das geheime Funkeln auf, das wie ein Blitz ihr Wesen erleuchtete, die Urnatur ihrer Liebe: Hingabe an den Gefährten, Verteidigung ihres Besitzes.
»Ich habe dir nicht nachgespürt,« sagte Kornelius Vanderwelt. »Es hätte uns nicht zu Gesicht gestanden. Seit sechs Jahren warte ich auf dich, und ich weiß, an einem Tage kommst du und gibst mir ein Zeichen. Das wird an dem Tage sein, an dem du die Größe erreicht zu haben glaubst, die du für mich suchst. Für mich. Wie stolz mich das Warten macht, Engel.«
Und er horchte hinaus und hörte ihre Antwort. —
[S. 161]
Die Nacht ging über in den Morgen. — —
Und es kam ein Morgen über die Welt, der für Millionen die Nacht brachte. Die alte Erde sprengte die dünne Kruste der Gesittung und spie Feuer und Verderben. Engel und Teufel rangen, die Hand am Halse des anderen, und da Himmel und Hölle sich verwirrten, wucherten die Erdentriebe geil durch die Lande.
Der Weltkrieg war über das Geschlecht der Menschen gekommen.
Die Lava kochte über. Mochte sie. Hinter ihr mußte das heilige Feuer den Platz ergreifen.
Schon war Justus Vanderwelt mit den blauen Bonner Husaren, denen er als Leutnant angehörte, ins Feld gerückt. Schon hatte sich Thomas Vanderwelt bei den grünen Krefelder Husaren als Freiwilliger gemeldet und sofort seine Ausbildungszeit angetreten. Schon war Juliane Vanderwelt, achtzehnjährig, aus der Erziehungsanstalt der französischen Schweiz heimgeflattert und hatte einen Begleiter ins Haus gebracht.
»Papa, es ist der Klaus Beckenried. Erkennst du ihn denn nicht? Der Sohn deines alten, grämlichen Freundes. Aber der Klaus ist nicht grämlich. Sieh ihn dir an. Frisch aus dem Ausland, aus bedeutender Bankstellung heraus. Wir trafen uns auf dem Genfer Bahnhof. Er hat mich unter seinen starken Schutz genommen, Papa, sonst lebte ich wohl nicht mehr. Es war so köstlich unter seinem Schutz in all den Soldatenzügen. Er ist Artillerieoffizier, muß sich morgen in Köln bei seinem Regiment stellen, und übermorgen soll unsere Kriegstrauung stattfinden. Papa! Papa!«
Da war es, daß Kornelius Vanderwelt zum erstenmal vor der Oberflächlichkeit seiner Tochter erschrak.
»Du schwärmst wohl ein wenig, Juliane. Eine Ehe ist[S. 162] kein Tänzchen, zu dem man einen Partner auffordert. Diese Zeit verlangt nach ernsten Frauen und Müttern.«
»Lieber Papa, es ist mir sehr ernst damit, eine Frau und Mutter zu werden. So frage doch Klaus.«
Kornelius Vanderwelt wandte sich nach dem jungen Manne um. Lange blickte er auf die straffe Gestalt, in die begeisterten Augen. Seine Stimme wurde milder.
»Was haben Sie mir zu sagen, Klaus Beckenried? Sie sehen nicht aus wie ein Windspiel und beteiligen sich doch an den Luftsprüngen?«
»Herr Vanderwelt — es mag eine große Kühnheit bedeuten, so vor Ihnen zu stehen. Aber ich glaube an mich. Und ich bitte Sie, auch an mich zu glauben und an meinen Ernst. Wir haben von Genf bis hierher acht Tage gebraucht, Juliane und ich, und ich mußte Juliane als meine Braut ausgeben, um überhaupt Unterkunft für sie zu beschaffen. Für Juliane und mich. Denn allein konnte sie als junge Dame in dem Gewoge der Menschen, der Umsteigestellen und der überfüllten Herbergen unmöglich gelassen werden. So kam es, daß Juliane mich kennen und — ich darf es heute freudig sagen — lieben lernte und mich nicht mehr lassen will. Ich bin der einzige Sohn Ihres getreuen Mitarbeiters, Herr Vanderwelt, und habe mir schon eine Stellung geschaffen. Komme ich lebend aus dem Feldzug heim, so ist an meiner Seite für Juliane gesorgt. Bleib ich vor dem Feind, so ist Juliane einzige Erbin des Vermögens, das sich mein Vater erwerben durfte. Ich habe schon seit meiner Knabenzeit immer in tiefer Verehrung zu Ihnen aufgeschaut, Herr Vanderwelt. Ich enttäusche Sie nicht.«
Kornelius Vanderwelts Blicke wanderten von dem begeisterungsvollen Jünglingsantlitz zu den gespannten Mienen der Tochter. Wie schön das Mädchen geworden war. Blendend schön. Ja, blendend ... Denn der Zug der Berechnung,[S. 163] den schon das Kindergesicht aufgewiesen hatte, war für das geschärfte Vaterauge geblieben.
»Gut, Klaus Beckenried, Sie werden mich nicht enttäuschen. Aber wissen Sie denn nach einer wilden Reise von acht Tagen, daß Juliane Sie nicht enttäuschen wird? Warten Sie das Ende des Feldzuges ab. Ich rate es Ihnen.«
Heftig drängte sich das schöne Geschöpf in des Verlobten Arm.
»Nein — nein — nein! Ich will nicht in Angst und Bangen warten, ob er wiederkommt oder nicht. Ich will seine Frau sein und nicht eine Übriggebliebene. Kein Mensch weiß, was kommen mag. Was ich habe, besitze ich.«
Kornelius Vanderwelt sah seine Tochter lange an.
»Ich will nicht fragen, Juliane, was dich zu dieser Sprache treibt. Liebe hat verschiedene Gesichter, und ihr habt euch mit dem Gesicht eurer Liebe zu befreunden. Sei's drum, und mögt ihr die Hast nie bereuen.« —
Wenige Tage später wurde Juliane Vanderwelt mit Klaus Beckenried kriegsgetraut. Eine Woche später, und Klaus Beckenried war mit seiner Ersatzbatterie ins Feld gerückt und Juliane ins väterliche Haus heimgekehrt. —
Wenn Kornelius Vanderwelt des Glaubens gewesen war, seine Tochter in seiner Obhut zu wissen, so sollte er schnell von seinem Irrtum bekehrt werden. Mit dem Tage der Eheschließung hatte Juliane die Rechte ihres selbständigen Frauentums ergriffen und gab sie nicht um eines Zolles Breite preis. Ob sie zu Hause war oder nicht, was sie tat oder ließ, es war ihre Sache. Ihre Sache, mit wem sie verkehrte und mit wem sie ausflog. Rechenschaft darüber zu erteilen, lehnte sie mit einer Kühle ab, als sei sie Alleingebieterin ihres Lebens geworden, und dieses Leben sollte ein vergnügtes sein.
»Es läuten so viel Trauerglocken,« belehrten sie ihre[S. 164] Freundinnen, die sich in Bewunderung um sie scharten, »daß wir uns wirklich nicht daran zu beteiligen brauchen.« Und unter den Freundinnen war es vor allem Antonie Ausdemwerth, die sich begierig zu ihr hielt, die leichtentzündete Antonie, deren fröhliche Mutter vor Jahren einmal den Ausspruch getan hatte: Nur einen Mann gäbe es in Ruhrort, und er heiße Kornelius Vanderwelt, und alle anderen seien nur Kohlentrimmer.
»Weißt du es noch, Antonie?«
»Ob ich es noch weiß! Noch heute läuft es mir ganz heiß und kalt den Rücken hinunter, wenn ich deinen Vater sehe. Geht es dir bei deinem Manne gerade so, Juliane?«
»Ich glaube, es ist umgekehrt. Ich lasse ihn gern ein bißchen zappeln. Die Vanderwelts führen immer die Regierung.«
»Sind alle Vanderwelts so? Sag doch: ist der Justus heißblütiger oder der Thomas?«
»Der Justus schlägt sich im Felde herum. Aber der Thomas übt noch in Krefeld bei den Husaren und ist erreichbar.«
Die tiefschwarzen Augen der Antonie Ausdemwerth funkelten auf. Sie hatte begriffen.
»Wollen wir den Thomas überfallen, Juliane? Bitte! Bitte! Ich vergeß es dir nicht!«
»Das will ich hoffen, du verliebtes Mädel.« Und am Nachmittag waren sie bei Thomas Vanderwelt in Krefeld.
Wie sah er aus, der feine Genießer! Wohin war seine überlegene Weltmüdigkeit? Ohne Rücksicht zusammengeknufft war sie unter den derben Fäusten des Wachtmeisters und des Reitunteroffiziers, die Genießerfeinheit im zerbeulten Kochgeschirr untergegangen, und die verschossene Husarenmütze war trübselig und wütend zugleich in den Nacken gezerrt.
Mit einem Jubelschrei begrüßte der einst so zurückhaltende[S. 165] Thomas Vanderwelt die beiden feinen Frauengestalten aus seiner früheren Welt.
»Thomas, die Antonie ließ nicht nach. Sie hat eine Schwäche für die grünen Husaren und wollte dich als Reitersmann bewundern.«
Da riß er sich zusammen, schlug sporenklirrend die Hacken zusammen und verbeugte sich vor der Jugendbekannten.
Sie reichte ihm mit einer hingebenden Bewegung die Hand hin und bog sich doch, als fürchtete sie sich, in den Schultern zurück. Aber sie wußte, daß es ihrem schönen Wuchse vorteilhaft war. Und Thomas Vanderwelt ergriff die Hand und sog mit geblähten Nüstern den Duft ein, der von ihrer elfenbeinfarbenen Haut ausströmte, und seine entwöhnten Augen tranken das Bild ihres biegsamen Leibes in sich ein, und die Sinne erwachten aus der Abgestumpftheit und sahen nur Schönheit, Schönheit.
»Ich mußte doch Abschied von Ihnen nehmen, Thomas,« sagte verwirrt Antonie Ausdemwerth. »Wer weiß, ob es ein Wiedersehen gibt.«
Sie hätte noch eine größere Alltäglichkeit aussprechen können, der einst so feinfühlige Thomas hätte es überhört. Er spürte nur einen warmen Hauch, liebkosende Worte, leise, zarte Töne. Nicht das Geschnaube der Gäule im Stall, das Gebrüll auf dem Reitplatz, die Gräßlichkeiten der Rekrutenstube.
»Nein, nein, Antonie. Noch keinen Abschied nehmen. Es kann noch Wochen dauern, bis wir verladen werden.«
»Verladen ...« wiederholte sie und schauerte in den Schultern.
»Antonie ... Weshalb hab' ich Sie früher nur so selten gesehen? Ein wie feiner Mensch sind Sie geworden ...«
»Darf ich noch einmal wiederkommen, Thomas? Ich komme gern, wenn Sie es mögen ...«
[S. 166]
Ein Trompetenruf fuhr aufscheuchend über den Kasernenhof.
»Verdammt,« zischte der Husar, »Stalldienst. Ihr müßt wiederkommen, wenn ich dienstfrei bin. Morgen. Übermorgen. Am liebsten jeden Tag.«
»So gebt euch doch einen Kuß,« sagte Juliane kaltblütig und wandte den Abschiednehmenden den Rücken.
Einen Augenblick stutzte Thomas Vanderwelt. Dann riß er den heißen, duftigen Mädchenleib in seine Arme, wie ein Raubtier sich auf seine Beute wirft, und wühlte seinen Mund in ihre blutwarmen Lippen. — —
Tag um Tag fuhr die junge Frau Juliane Beckenried mit ihrer Freundin Antonie Ausdemwerth nach Krefeld, Thomas Vanderwelt zu treffen. Tag um Tag wartete der abgehetzte Husar fiebernd auf die Grüße, auf die Düfte, auf die Klänge aus der anderen Welt. Unter den Freundinnen zu Ruhrort fielen die Ausflüge, fiel die Abwesenheit der jungen Damen immer unliebsamer auf. Es galt für die Frauen und Mädchen, ein dringenderes Gebot der Stunde zu erfüllen, als auf heimlichen Liebeswegen zu wandeln. Gerade sie, die den Gatten, Bruder oder Bräutigam draußen im blutigen Felde wußten, zogen sich ernsthafter als je auf ihre Frauenpflicht zurück, und die erste Bewunderung für die so köstlich erblühte Vanderwelttochter machte bald einer stillen Beschämung Platz über die Selbstsüchtigkeiten Julianes und ihrer mannstollen Freundin.
Die Absonderung der Ernstschaffenden kümmerte die beiden Freundinnen kaum. Sie waren eine lästige Verantwortung los und lebten nur sich zu Gefallen. —
Dann geschah es, daß Kornelius Vanderwelt vor seinem Sohne Thomas stand.
»Was soll das, mein Junge? Ich habe dich für zu klug[S. 167] und zu eigen geartet gehalten, als daß du den Unfug deiner Schwester nachahmtest.«
»Es ist kein Unfug, Vater.«
»Was ist es denn? Vielleicht um ein paar Schwingungen verschieden beim einen und beim anderen. Ein bißchen mehr Brunst, ein bißchen mehr Schwärmerei. Und die Partnerschaft bleibt dem Zufall überlassen.«
»Es ist die Liebe, Vater,« sagte der Junge mit weißen Lippen.
Sie waren zum Krefelder Stadtwald hinausgewandert und hatten nicht acht auf Sonne, Wald und Wasser.
»Die Liebe?« wiederholte Kornelius Vanderwelt und atmete schwer. »Die Liebe, mein Junge, ist wie der Name Gottes. Du sollst ihn nicht ungestraft im Munde führen. Junge Menschen mögen verliebt sein. Um den Begriff ›Liebe‹ zu verstehen, dazu gehört die Reife der Erkenntnis. Geh und hol' sie dir. Sie liegt wie die Rose im Dornbusch.«
»Vater, ich bin seit wenigen Monaten mündig.«
»Damit würde ich nicht protzen, Thomas, so lang ein Mädchenmund dich noch um den Verstand bringen kann.«
Thomas Vanderwelt bebte die Stimme, bebten die Hände vor Erregung.
»Willst du uns, die wir dem Tode entgegengeschickt werden, nicht das bißchen Seligkeit auf den Weg gönnen?«
»Besteht die Seligkeit nur im Beilager, Thomas?«
»Wie soll ich es wissen? Ich kenne das alles ja nicht. Auf Ehre, nein, Vater. Aber im Besitz besteht sie, das habe ich gefühlt, und ich will wissen, daß der Besitz mein und keines andern ist, bevor ich ins Dunkle marschiere.«
In dieser Stunde lernte Kornelius Vanderwelt zum unwiderruflichen Male, daß Kinder nicht durch die Geburt die Kinder des Erzeugers sind, sondern es erst zu werden[S. 168] vermögen — vielleicht nie, vielleicht nach Jahren der Erfahrungen erst — durch eine seelische Wiedergeburt.
Kornelius Vanderwelt spürte seinen Sohn aus seinen Händen gleiten. Der Vater hatte zu warten.
»Du verlangst nach der Kriegstrauung mit Antonie Ausdemwerth. Ich kann es nicht hindern. Glaube nicht, daß ich die Bedeutung der Kriegstrauung unterschätze. Sie ist für Menschen, die aufeinander gewartet haben, die kurz vor dem ersehnten Ziel voneinandergerissen werden sollen, die Erfüllung ihres Lebens und ein Segensspruch, dem selbst der Tod nicht gewachsen ist. Anderen verstattet sie nur eine Menschlichkeit mehr: die Hemmungslosigkeit. Du hast zu wählen, Thomas.«
»Ich wähle«, sagte Thomas Vanderwelt mit vor Erregung klirrenden Zähnen, »die Menschlichkeit und die Göttlichkeit in eins. Ich will nicht ohne das große Geheimnis gehen, das das Leben über die Erde hebt.«
»Ich liebe dich, Thomas, und wünsche dir, daß eure Liebe nie über die Erde schleift.«
Und Thomas Vanderwelt schritt mit Antonie Ausdemwerth zur Kriegstrauung und zog mit den grünen Husaren ins blutige Feld, während die jugendliche Frau zur Mutter ins warme Nest zurückschlüpfte. —
Die altgewordene Hausdame im Vanderweltschen Hause kränkelte und lief doch noch wie ein treues Arbeitspferd in den Sielen. Kornelius Vanderwelt bemerkte es wohl, und er überwand sich und setzte sich oft am Abend mit der Zeitung zu ihr. Denn Juliane huschte zu jeder Stunde zur Schwägerin Antonie hinüber, und die jungen Schwägerinnen führten endlose Gespräche, weil sie sich beide Mutter fühlten, wie die Schönheit des Körpers zu wahren und zu steigern wäre.
Im ersten Kriegsjahre fand Kornelius Vanderwelt eine[S. 169] Mitteilung in der Zeitung über die durch den Krieg im Ausland zurückgehaltenen Künstler. Eine Meldung aus Neuyork nannte unter anderen Namen den Namen der Pianistin Angela Freydag.
Er hielt die Zeitung auf den Knien und las nichts anderes mehr als die beiden Worte. —
Er ging zu Bett und nahm die Zeitung mit in sein Schlafzimmer. Und mitten in der Nacht stand er auf, zündete das Licht an und holte sich das Blatt aufs neue.
»Angela Freydag ...«
Und diesmal las er weiter und las das Ruhmeslob, das ihr gezollt wurde als einer der stärksten und urtümlichsten Eigenarten auf nachschaffendem Gebiet.
Er warf sich zurück und blickte mit weit offenen Augen in das funkelnde Licht. Und merkte es nicht, daß er vor sich hinlachte, mit den stolzen, hellen Augen, die sie so geliebt hatte, mit dem frohen und herrischen Klang seiner Stimme. »Angela. Engel. Stärkste und urtümlichste Eigenart. Urtümlichste! Der Kerl hat dich begriffen.«
Er hätte auch wohl den Schöpfer und Erwecker ihrer Eigenart, er hätte wohl auch Kornelius Vanderwelt in seiner Urtümlichkeit begriffen, wie ihn die Männer des Hafengebiets begriffen und ihm nacheiferten. Doppelte Arbeit mußte geleistet werden, für die Tausende mit, die aus den Schiffsparks, aus den Hafenanlagen, aus den Industriebetrieben herausgezogen und in die Reihen der Kämpfenden eingereiht worden waren. Und Kornelius Vanderwelts anfeuerndes Wort, zupackender Griff war überall, wo die Erschlaffung drohte, und versagte die Peitsche des Wortes und der Tat, so wußte seine wilde Laune zu siegen.
»Heda, Jungens, wollen wir zwischendurch mal Fußball spielen? Die faulsten Fötte nach vorne! Und hinein mit[S. 170] dem Stiebel! Wer über Bord geht, soll mit den gefallenen Brüdern in die Zeitung!«
Und die Leute stießen sich wiehernd in die Rippen, dachten an die Kameraden, die mit dem Tode Brüderschaft machten und spuckten in die Hände. Die Frauen halfen mit, und das Rüstzeug für das Heer konnte bald in unversiegbarem Flusse verladen werden. —
Im Mai des folgenden Jahres fanden in den verschwägerten Häusern die frohen Familienereignisse statt. In den ersten Tagen des Monats schenkte die junge Frau Juliane, in den letzten Tagen des Monats die junge Frau Antonie einem Sohne das Leben. Der Draht trug die Nachricht hinaus ins Feld. Klaus Beckenried und Thomas Vanderwelt vermochten einen gemeinsamen Urlaub zu verabreden, kehrten auf die Dauer knapper Tage heim und hielten die Taufe ab.
Todernsten Gesichtes, aber die Augen voll Glück erschien der Leutnant Beckenried, mit einer verlegenen Lässigkeit in Wort und Gebärde der Unteroffizier Vanderwelt. Das erste Wiedersehen mit ihren Frauen blieb ohne Zeugen. Dann hatte die Welt das Wort. Mit der Miene leiser Selbstverspottung ließ sich Thomas Vanderwelt von seiner Frau ins Schlepptau nehmen. Seiner Jugend wollte die Rolle als Vater ein wenig lächerlich erscheinen, und seine Hagerkeit im verblichenen Waffenrock stach ihm allzusehr ab von der körperlich so wohlgepflegten und in Kleidung und Gebaren das Aufsehen herausfordernden jungen Dame, die an seiner Seite weniger die Frau des Mannes als die Zugehörige zu einer der bekanntesten Familien der Stadt hervorzukehren wußte. Lieber als er gekommen, kehrte er ins Feld zurück, während der Schwager Klaus Beckenried, in Unruhe aus seiner männlichen Sammlung herausgerissen, eine Verlängerung seines Urlaubs beantragte,[S. 171] um die Übersiedlung von Frau und Kind in das väterliche Haus zu bewerkstelligen und die Fülle der Rechnungen zu prüfen, die er auf dem Tische seiner Frau Juliane vorgefunden hatte.
»Wenn dein Sinn nach einem Dienstmädchen stand, hättest du deine Augen nicht zu den Vanderwelts erheben sollen, mein lieber Klaus.«
»Wir dienen alle, Juliane. Mach' mir die Dienstmädchen nicht verächtlich, wenn du ihnen die Arbeit nur deswegen aufbürdest, um im Nichtstun feiern zu können. Wer eine Ehe schließt, muß erwerben wollen und nicht verschleudern.«
»Lieber Klaus, du bist fast zehn Jahre älter als ich, hast dich zur Genüge in der Welt herumgetrieben und des Schönen so viel erlebt, daß du satt bist. Ich aber spüre jetzt erst den rechten Hunger. Und das Verlangen, ihn an allem, was ich schön finde, zu stillen, lasse ich mir von meinem Manne wirklich nicht nehmen.«
»Ich bin weder satt, noch habe ich in meinem Arbeitsleben genug an Schönem erlebt. Ich will es an dir und mit dir erleben. Die Gemeinsamkeit ist die tiefste Erfüllung der Ehe.«
»Leg' den ererbten Krämer ab, und du wirst die bezauberndste Frau haben.«
»Juliane,« fragte der ernste Mensch mit ruhelos forschenden Augen, »weshalb hast du mich eigentlich zum Manne gewollt?«
Sie hielt ihm neckend die Augen zu.
»Weil du ein stattlicher Mann bist und wir beide das schönste Paar abgeben.«
»Deshalb — — —?«
Und auch Klaus Beckenried kehrte zu seiner Truppe zurück, in die Einsamkeit und in die Entbehrung.
Aus einem heißen Hoffnungsjahr in das andere sprang[S. 172] der Weltkrieg, und nur wenige Male kehrten die jungen Väter auf Urlaub bei ihren Frauen ein, um ihre Enttäuschungen spöttisch oder erregt in ein neues Hoffnungsjahr des Krieges hineinzutragen. Es wurde kein frohes Familienfest mehr in den verschwägerten Häusern begangen. —
Im letzten Kriegsjahre ging es auch mit den Kräften des vorzeitig gealterten und gänzlich ermatteten Fräulein Bilsenbach zu Ende. Die Füße trugen sie nicht mehr aus ihrer Stube heraus. Ein kleines noch, und die Füße konnten aus dem Bette nicht mehr den Boden gewinnen. Da gab sie nach.
Nie war Kornelius Vanderwelt im Geschäft, im Hafengetriebe, in den Versammlungen notwendiger gewesen als in diesen Tagen. Aber er brach seine Arbeiten ohne zu zögern ab, ließ den alten Beckenried die laufenden Geschäfte betreiben, lud die Sorgen um das Gemeinwohl auf andere kräftige Schultern und saß bei der Sterbenden. In ihrem altjüngferlichen Stübchen saß er und an ihrem Altjungfernbette und hielt ihre dürre Hand.
»Liebe, alte Freundin ...« sagte er. »Liebe alte Freundin — mit dem Krieg geht es zu Ende. Anders, als wir es vor vier Jahren in der Aufwallung der Gemüter ahnen konnten. Wir wollen nicht darüber sprechen. Wir wollen unsere Toten begraben und so nahe zusammenrücken, daß sich die Reihen wieder schließen. Ich bin immer ein Mann des Zukunftsglaubens gewesen und durfte es, weil ich in Ihnen die beste Hüterin meines Hauses wußte.«
Sie lehnte mit einer matten Kopfbewegung ab und sprach leise und angestrengt aus den Kissen heraus.
»Das liegt dahinten, Herr Vanderwelt. Es ist das alte Haus nicht mehr. Die Kinder haben es verlassen, und der Hausherr braucht für die Einsamkeit eine andere Hüterin.«
[S. 173]
Er schüttelte lächelnd den Kopf und streichelte so lange ihre Hand, bis sie ruhig in der seinen lag.
»Nein, der Hausherr braucht keine andere Hüterin. Die Hüterin sind und bleiben Sie. Nicht aufbegehren. Hätte ich Sie nicht gehabt, die den Hausfrieden hütete, woher hätte ich die Ruhe und die Spannkraft zu allen meinen Arbeiten da draußen nehmen sollen. Wenn man mir einmal einen Denkstein setzt, Fräulein Bilsenbach, muß Ihr Name mit darauf. ›Hier ruht im Tode sanft Kornelius Vanderwelt, weil seinem Leben Auguste Bilsenbach die nötige Ruhe schuf!‹«
Sie zog, wie erschrocken, die Augenlider hoch, als er ihren Vornamen nannte. Und dann griff ihre Hand in die seine.
In den wenigen Tagen, die noch folgten, sprach er mit ihr von nichts als den heiteren Tagen der Vergangenheit. Er erzählte von Justus, dem ältesten, der im Kriege ein so draufgängerischer Offizier geworden war, wie er sich schon als Knabe der Schulmeister erwehrt hatte. Er erzählte von Thomas, dem frühbegabten, der so zierlich den Weltmüden zu spielen wußte, bis jählings die Urnatur über den Weichling zu siegen strebte. Er erzählte von Juliane und ihren Zickzacksprüngen, den Schularbeiten und Klavierstunden aus dem Wege zu gehen und doch die erste Geige zu spielen. Nicht immer leicht wurden ihm die Erinnerungen, da die Gegenwart verschärftere Bilder vor seine Augen stellte. Aber er erzählte, weil es der Erschöpften wohl tat, den Geschichten aus fröhlicheren Tagen zu lauschen, und sie den Abgesang ihrer Jugend im verklärten Schein darin wiederfand.
Es war in der Nacht, und der Puls der Sterbenden flatterte noch einmal auf.
»Herr Vanderwelt — ich bin ganz klar. Es war doch[S. 174] schön — bei Ihnen zu leben — bei Kornelius Vanderwelt. — Aber das schönste von allem — ist doch — bei Ihnen zu sterben. — Ganz allein — bei Ihnen — —«
Er drückte ihr die Augen zu, legte ihre Hände zusammen und in die gefalteten Hände ihr geliebtes Gesangbuch. Und während er sie betrachtete, wurde ihm zum Wissen, was er der eingeengten Welt dieses gealterten und in ihrem Pflichtleben geräuschlos gewordenen Menschenkindes bedeutet hatte, daß eine Liebe aus seinem Leben fortgegangen war und daß er die Einsamkeit spürte wie eine würgende Hand.
Er beugte sich tief über die Tote hinab und streichelte ihr erkaltetes Gesicht. — —
Mit dem Ausgang des Krieges hatte das erschöpfte Fräulein Bilsenbach ihren Ausgang gehalten. Millionen von Männern fluteten zurück aus allen Heerlagern der Welt. Kornelius Vanderwelts Haus wurde nicht voller davon. Justus, der älteste, war heimgekehrt, zornbebend über die deutsche Schmach, und hatte nach Tagen schon in jagender Unrast das Vaterhaus und die Vaterstadt wieder verlassen. Zu neuem Soldatendienst irgendwo. Zu neuem Handeln, neuem Sicheinsetzen und Sichausleben, statt der Unerträglichkeit dieser faulig stinkenden Ruhe.
Und Thomas war heimgekehrt, hohnvoll bis in die Mundwinkel, und hatte sich im Hause der kränkelnden Frau Ausdemwerth, in den duftenden Zimmern ihrer lebenslustigen Tochter, seiner, ja seiner Frau, niedergelassen wie ein angeketteter blinzelnder Sperber.
Und auch Klaus Beckenried war heimgekehrt in sein väterliches Haus, zu der Schönheit seiner Juliane und ihrer kühlrechnenden Vergnügungssucht, und aus dem begeisterten Verehrer war ein stiller und in sich gekehrter Ehegatte geworden. Keiner von ihnen allen dachte anders[S. 175] an Kornelius Vanderwelt, als wenn die leibliche oder geistige Not ihn trieb.
Kornelius Vanderwelt fror in der Einsamkeit seines Hauses, und die von Tagedieben und Großmäulern überfüllten Kneipen ekelten ihn an. In den ›Fünf Erdteilen‹ saß er wohl an seinem Ecktisch und trank, aber er tat es Nacht für Nacht ohne Gesellschaft, und die Zudringlichkeit der platten Burschen wagte sich an die Kälte seiner Augen nicht heran.
Oft saß er und las die Zeitungen, die er zur Ausfüllung der leeren Stunden von daheim mitgebracht hatte, und es wurde Frühlingsbeginn, und er las in der Zeitung ihren Namen.
Angela Freydag ...
Angela Freydag war in Deutschland gelandet und zeigte im Kölner Gürzenichsaal ihr erstes Konzert an. Angela Freydag war in Rufnähe, und sie rief ihn: Komm und sieh, ob mein Maß ausreicht.
Und wieder merkte Kornelius Vanderwelt, daß er in kurzen Stößen vor sich hin lachte. »Engel, du findest mich beim Matthes. Beim Matthes, Engel, und doch so gut wie auf deinem Grund und Boden.«
Und dann verließ er augenblicks die Wirtsstube und stand barhäuptig am Hafen, und der nächtliche Frühlingswind ratterte und knatterte in den Zeitungsblättern, die er in der Hand trug.
Angela Freydag ... Angela Freydag ist heimgekehrt aus Amerika ... Angela Freydag spielt morgen für Kornelius Vanderwelt im Gürzenichsaal zu Köln. — —
Diesmal mußte er es zweimal sagen: »Los, Wilm. Wir fahren nach Köln.« Dann hatte der Fahrer begriffen, und er steuerte stumm in den weichen, regenwolkenverhangenen Märzabend hinein, der den Geruch von junggewordener[S. 176] Erde trug. Über Düsseldorf ging die Fahrt, und bevor zwei Stunden vorüber waren, hielt der Wagen vor einem Gasthof der turmreichen Domstadt, und der Fahrer wandte sich fragend um.
»Gut, Wilm. Hier oder anderswo. Wir bleiben über Nacht.«
Er ließ seinen schmalen Reisekoffer auf sein Zimmer bringen, folgte ihm nach und kleidete sich um. Kurz vor acht Uhr schritt er zu Fuß dem Gürzenich zu und suchte in dem dichtgefüllten Saale seinen Platz. Die Künstlerin, so besagten die Ankündigungszettel, spielte mit der auserlesenen Schar des städtischen Orchesters.
Schon harrten die Musiker auf der Empore, die zuvorderst den mächtigen Konzertflügel trug. Ein paar prüfende Geigenstriche, ein paar verklingende Flötentöne, und im Saale erlosch das Licht, und nur die Empore lag wie eine Insel der Verheißung in strahlender Beleuchtung.
Das Raunen und Rauschen im Saale machte feiertäglicher Stille Platz.
Durch die Gasse der Musiker schritt der große Kapellmeister. Am Arme führte er eine hochaufgerichtete, kraftvolle und biegsame Frauengestalt, und wie sie an den Flügel trat und vom Begrüßungssturm umwogt den Kopf neigte, sprang Kornelius Vanderwelt ein Schrei auf die Lippen, den er nur mit verhaltenem Atem zu bändigen vermochte, und er murmelte in sich hinein: »Die Angela. Die Angela. Guten Abend, Engel.«
Sie saß am Flügel, den strenggeschnittenen Kopf lauschend vorgeneigt, fast als ob sie schliefe. Von den nackten Armen waren die Ärmel zurückgeworfen. Der seidene Kleiderrock ließ das Bein mit der schmalen Fußfessel frei. Und plötzlich zuckte die Frau auf, und Kornelius Vanderwelt gewahrte ihre Hände, die Hände, die er unter tausenden[S. 177] und im Dunkel der Nacht erkannt haben würde, weil sie für ihn Gottes auserlesenstes Kunstwerk waren. Ein Anschlag auf den Flügeltasten, ein hinströmender Laut, der die Seelen aufschreckte und sie aus dem Erdendunst aufwärts riß in die Bezirke der Riesen und Gottmenschen.
Von diesem Augenblicke an hörte Kornelius Vanderwelt nichts mehr. Nicht ob Beethoven sprach oder Brahms, nicht ob Mozart oder Händel. Daß es die alten, heißgeliebten Klänge aus dem Musikzimmer zu Ruhrort waren, was ging es ihn an? Er hörte nicht mehr mit dem Gehör, er hörte nur noch mit den Augen. Ihre Hände, die sich sprungbereit bäumten und klingende Quellen aus den Felsquadern der Meisterwerke schlugen. Ihre zärtlichen Finger, die den Odem Gottes über die Tasten fächeln lassen konnten. Ihre schlankgerundeten Arme, die in Pausen niederhingen, als sögen sie die Kraft aus geheimnisvollen Tiefen, und sich jählings streckten und hoben und wie im jubelnden Mitklang die Höhen meisterten. Und er hörte mit den Augen die Dehnung der schlanken Fessel, wenn die Fußspitze das Pedal suchte und ließ, die Kraft der weißen Schultern, die Schmiegsamkeit des Frauenleibes, den Drang der Brüste, die ihr Herz umschlossen. Und auch dies Hören verlor er, denn seine Augen waren sehend geworden.
Denn seine Augen hatten Angela Freydags große graue Augen gesehen, wolkenverhangenes Liebesland, jetzt von Sonne durchzittert, jetzt von Funken erfüllt wie von jäh über den Himmel springender Blitze Triumph. Die Pantherkatze, lachte es in Kornelius Vanderwelts Seele. Nein, fort mit dem Bild. Es ist die Wölfin, die vor den Augen des Gefährten jagt. Die Wölfin im Engel der Liebe. Hussa, Horrido!
Aus — —!
[S. 178]
Sie saß mit schlaff herniederhängenden Armen, ein unerklärliches Lächeln um den festgeschlossenen Mund. —
Hatte die Menschen um ihn her der Irrsinn gepackt? Was tobte die Meute wie beim Halali der Jagd? War er nicht allein im Saal, er, Kornelius Vanderwelt, für den die Naturgewalten gejauchzt und gejubelt, gestürmt und geschrien hatten, um die Lüfte zu klären und das Herz zur Ruhe der Seligen zu bringen? Was wollten die Menschen um ihn her, die aufgesprungen waren, während er saß und in den wiedererleuchteten Saal hinein erwachte, daß sie im tobenden Beifall die Hände zusammenschlugen? Ach, es galt der Künstlerin, die so meisterhaft gespielt hatte und sich jetzt vor der Vielheit der Menschen erhob und sich verbeugen mußte, wieder und wieder, als dankte sie der tobenden Vielheit.
Nein, Herrgott, nein! Es war nicht die Künstlerin, die er vor der blendenden Rampe der Empore sah. Es war ja Angela! Angela war es, die die Vielheit nicht gewahrte, weil sie für den einen gespielt hatte. Sie schüttelt den Kopf. Sie kann nicht mehr zugeben. Sie mag die billigen Zugaben nicht. Sie verbeugt sich und geht, kehrt wieder unter den begeisterten Zurufen und verbeugt sich aufs neue. Wieder und wieder. Das Spiel ist an die Menge übergegangen, die sich jubelfroh ihrer Macht bewußt wird und Hervorruf über Hervorruf erzwingt. Um ein Ende zu machen, wird der Saal abgedunkelt. Die beifallerregte Menge bleibt bei ihrem Willen. Und plötzlich eilt ein Mann auf die Empore zu, schwingt sich hinauf, bietet der todblassen Künstlerin den Arm, führt sie durch die Gasse der Musiker in ihr Ankleidezimmer.
»Da bist du, Engel, und da bin ich.«
Kornelius Vanderwelts Arme bebten, als er sie um Angela Freydags Nacken schlang.
[S. 179]
Und dann fühlten sie beide, wie das Beben durch ihre Körper rann, als wären sie Äste und Gezweig desselben Baumes, und wie es hinüberrann in die Ruhe der Vereinigung, während sie, Brust an Brust, sich umschlungen hielten.
»Komm,« sagte er, »jetzt bring' ich dich heim.«
»Ja,« wiederholte sie, löste sich aus seinem Arm und hielt doch die flachen Hände gegen seine Brust gepreßt, »jetzt bringst du mich heim.«
»Angela!«
»Kornelius!«
»Engel, so hat mich seit Menschengedenken kein Mädchenmund mehr genannt.«
»Es ist auch kein Mädchenmund,« murmelte sie, »es ist der Mund einer Frau,« und sie hob die Hände, zog seinen Kopf herab und drückte ihre Wange gegen die seine.
»Nun wollen wir gehen, Kornelius. Das Haus hat sich geleert. Auch der Kapellmeister wird aus schöner Rücksichtnahme vorausgegangen sein.«
»Vorausgegangen? Mußt du noch mit ihm zusammensein?«
»Ich muß nur mit dir zusammensein, Kornelius. Alles andere ist nur wesenloser Schein.«
Sie schritten durch die leeren Hallen, und es huschte wie Geisterschritte neben ihnen her.
»Als ob Kehraus wäre, Kornelius, aus einem vergangenen Leben.«
»Es regnet, Angela. Wo wohnst du hier?«
Sie nannte ihren Gasthof. Und lachte an seiner Schulter.
»Auch als du mich aus den ›Fünf Erdteilen‹ holtest, regnete es in Strömen. Und es regnete im Walde.«
»Im Walde war es ein Wolkenbruch, Angela. Nie — nie warst du schöner.«
[S. 180]
Und einer spürte den festen Schulterdruck des anderen, als sie durch den nächtlichen Regen schritten und sich dem Gasthof näherten.
»Morgen, in aller Frühe, steht mein Wagen am Bahnhof, Engel. Dort übernimmt er dein Gepäck, du steigst zu mir ein, und wir fahren heim. Weltflüchtige, die das Leben suchen.«
»Weshalb suchtest du, wo du mich bei dir wußtest — —?«
»Weil ich, seit du gingst, in der Welt keine Farben mehr sehe. Frage nicht. Jetzt ist ja alles gut.«
Ihre Finger verstrickten sich mit den seinen zu einem schmerzhaften Druck.
Er stand und blickte ihr nach, wie sie in ruhigem Gange die Straße überschritt und die Türe des Gasthofes sich hinter ihr schloß.
[S. 181]
Durch die Morgendämmerung kämpften sich die ersten Strahlen der Märzsonne, als Kornelius Vanderwelts Wagen vor dem Kölner Hauptbahnhof vorfuhr. Es war noch schlummerstill in der großen Rheinstadt. Der Dom reckte seine ernste Pracht gegen den Himmel, und als Kornelius Vanderwelts scharfer Blick ihn streifte, gewahrte er, daß es tausend feine und verborgene Schönheiten, Frohheiten und Lieblichkeiten waren, die durch ihr edles Maß den Zusammenklang bewirkten und zum Ernste des Himmelssuchers emporwuchsen.
Wie schön und eindringlich dies Gotteshaus predigt, dachte der morgenfrühe Beschauer. Alle Schönheit, Frohheit und Lieblichkeit des Erdenlebens zu edlen Maßen gestalten, und aus der Fülle wird die weihevolle Einheit.
Seine Gedanken sprangen über auf Angela Freydag, und während sie an ihrem Bilde formten, guckte das Bild zum Fenster des Wagenschlags herein, und er wußte für die Länge eines Augenblicks nicht, ist es das Traumbild oder ist es das Leben? Aber es war das Leben, das an die Scheibe pochte und ihm zunickte, und er sprang aus dem Wagen und ergriff es bei den Händen.
»Angela ... Du schon zur Stelle?«
»Kornelius! Guten Morgen! Ich wollte dich nicht warten lassen, und als ich erwacht war, hatte ich nichts anderes mehr zu tun.«
Als wäre eine Erwartete nach nächtlicher Reise angelangt,[S. 182] half er ihr in den Wagen, gebot er dem Fahrer, das Gepäck aufzunehmen und die Koffer auf den Wagen zu schnallen. Und während er die Hantierung des Mannes zu überwachen schien, klangen ihm ihre kurzen Sätze im Ohr: »Ich wollte dich nicht warten lassen. Als ich erwachte, hatte ich nichts anderes mehr zu tun.« Elf Jahre hatte er warten müssen, sechs Jahre durch ihr Wachstum, ihren Werdegang, fünf Jahre fast durch den Krieg, und plötzlich waren es ein paar winzige Minuten, die das Warten nicht mehr ertrugen und nichts mehr mit sich anzufangen wußten. Es gab nichts anderes mehr zu tun, als beieinander zu sein.
»Nach Hause, Wilm.«
Ein verschlafener Gepäckträger lugte aus der Bahnhofstür hinter ihnen her und wunderte sich, daß ein Zug angekommen sein sollte. Er rieb sich die Augen, und der Morgenspuk war verschwunden. Stehend schlief er weiter.
Über die gewaltige Rheinbrücke glitt der Wagen, vor der hüben und drüben die vier Preußenkönige auf ihren Gäulen trabten, und er wand sich schnell durch die morgenöden Straßen des alten Deutz und des rheinischen Mülheims und gewann an Schloten und Fabriken vorbei rasch die freie Bahn.
»Sag' mir, Engel, weshalb du vor dich hinlachst?«
»Weil wir immer das umgekehrte tun, wie andere Leute. Weil wir uns in den hellerwerdenden Morgen hinein entführen, statt in den dunklerwerdenden Abend. Deshalb, Kornelius.«
»Tun wir das umgekehrte wie andere Leute — gut, Engel, dann wird es das richtige sein.«
»Kornelius,« sagte sie leiser und nahm seine Hand in die ihre, »glaube nicht, daß ich dich nicht verstehe. Ich erkenne die alte Ritterlichkeit wieder, und sie gibt uns Frauen mehr als glühende Liebesbeteuerungen.«
[S. 183]
»Nun —?«
»Den Ruf wolltest du mir wahren in der Musikstadt Köln und vor den Augen der Neugierigen, und da die Klugheit Kornelius Vanderwelts so groß ist wie seine Ritterlichkeit, wählte sie den harmlosen frühen Morgen, weil —«
»Nun? Weil?«
»Weil in der Nacht das halbe lebenslustige Köln auf den Beinen ist und in dieser Morgenstunde kaum ein verschlafener Gepäckträger.«
»Hast du ihn auch bemerkt?«
»Jetzt schläft er schon wieder wie das ganze heilige und unheilige Köln. Guten Morgen Kornelius. Du hast meinen Gutenmorgengruß vorhin überhört.«
»Mein Gott,« sagte Kornelius Vanderwelt und zog sie an sich. »Guten Morgen, Angela. Guten Morgen, Engel. Gib mir deinen Mund, damit ich fühle, daß ich wach bin.«
Eine Weile fiel kein Wort. Der Wagen brauste über die Landstraße gen Benrath. Zur Rechten türmten sich die Hügelketten des Bergischen Landes, und die Sonne blitzte und funkelte auf den Zinnen der hohen fernen Städte.
»Nein,« sagte Kornelius Vanderwelt, »nun fühle ich die Wachheit noch weniger. Jetzt, da ich deinen lebendigen Mund spüre, komme ich nicht aus dem Traumzustand heraus. Ach, du hast recht, Engel, wir beide leben eine umgekehrte Welt.«
Sie antwortete nicht mehr. Ihr Kopf lehnte an seiner Schulter und ihre Augen blickten in die Sonne.
In Düsseldorf trafen sie auf das erste Leben. Malerjünglinge zogen zum Hofgarten aus, das Kommen des Frühlings zu belauschen. Arbeiter gingen im Gleichschritt ihren Werkstätten zu, um die Frühschicht zu stellen.
[S. 184]
Nahe dem verwunschenen Städtlein Kaiserswerth blinkte, pappelumsäumt, eine weite, breite Wasserstraße auf. Der Niederrhein. Ein Schlepper stampfte zu Berg. Seine Schlote qualmten, und der Rheinwind riß die Rauchsäulen zu hundertmeterlangen Fahnen über die Reihe der angefüllten, bis an den Wasserrand beladenen Schleppkähne hin.
»Meine Kähne,« sagte Kornelius Vanderwelt. »Meine Kähne.«
Sie setzte sich aufrecht, wischte mit der Hand das Fensterglas klar und schaute über den Strom, über die Schleppzüge, die sich rastlos folgten, über seine Arbeitswelt. Kohle, Kohle, immer das gleiche Bild, und die Kähne glichen sich. Aber der Mann an ihrer Seite glich nicht den anderen und suchte die glühenden und blühenden Farben in das Einerlei zu mischen. Und als ob er ihre Gedanken wie aus einem offenen Buche läse, sagte er: »Du mußt mit deiner Hand ganz fest um die meine herumfassen. Erst dann ist es Kornelius Vanderwelts Welt.«
So fuhren sie in das erwachte Duisburg ein und über die Brücke des Innenhafens, die Brücken der Ruhr und der Kanäle und Hafenbecken, hinein nach Ruhrort. Die Krane kreischten, die Kipper donnerten, die Kähne ächzten und die Dampfer stöhnten vor Ungestüm. Wildes Eisengeklirr der Werkstätten in der Luft, rote Flammen der Hochöfen, weiße Kesselschwaden und schwarzer Rauch der Schlote. Und die junge, warme Frühlingssonne arbeitete sich nur mühsam durch die kohlengeschwängerte Luft.
In gewaltigen Bogen schwang sich die Rheinbrücke von einem Ufer zum anderen, riß das Drüben zum Hüben und kettete Arbeit an Arbeit.
»Zu Hause,« sagte Kornelius Vanderwelt, und der Wagen glitt durch die Toreinfahrt und stand.
[S. 185]
Wie mit geschlossenen Augen, so schritt Angela Freydag an Kornelius Vanderwelts Arm ins Haus, über die Diele, in des Hausherrn Arbeitszimmer. Anders war ihr Eingang wie einst, als sie gejagt und regennaß aus des Matthes ›Fünf Erdteilen‹ bei der Nacht in dies Haus eingetreten war. Aber es war derselbe Arm, der sie führte. Nein, es war alles wie einst.
Sie stand ganz still und öffnete die Augen ganz weit.
Ihre Brust hob sich unter einem drängenden Atemzug, die Lippen mühten sich voneinander los, und ganz hell und hoch rang sich ein einzelner Ton hindurch. Wie ein Weinen und Lachen.
Mit behutsamen Händen nahm Kornelius Vanderwelt ihr den Mantel von den Schultern, den Reisehut vom flechtenumschlungenen Haupt. Ging hinaus, gab den Mädchen Aufträge, das Fremdenzimmer zu richten, kehrte zurück. Hinter sich schloß er die Tür und sah mit einem seltsamen Wehmutsempfinden, das ihn bis zum Augenblicke nie zu überrumpeln vermocht hatte, zu, wie Angela Freydag, die Heimgekehrte, Wiedersehen feierte.
Mit unhörbaren Schritten ging sie von einem der alten Möbelstücke zum anderen, verharrte ein paar Herzschläge lang, ließ ihre Hände darüber gleiten und ging unhörbar weiter, von den Möbeln zu den Bildern an den Wänden, von einem zum anderen, verharrte, hob die Hände und streichelte darüber hin.
Jetzt wandte sie sich nach ihm um. Ein Lächeln kehrte aus weiter Ferne auf ihre Lippen zurück.
»Es hat sich nichts verändert, während ich fort war, Kornelius. Nichts.«
»Nur ich habe graue Haare bekommen, Angela.«
»Ich glaub' es nicht.«
»Und die Gicht vom Saufen.«
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»Nun brauchst du es nicht mehr zu tun.«
Er stand vor ihr, und unter seinem Blick reckte sie sich langsam und unwillkürlich in den Schultern.
»Jetzt ist die Reihe an mir, Ausschau und Einschau zu halten, Angela-Engel. In Köln tat ich es nur blindlings, auf der Fahrt halb träumend. Das also — das ist die Wirklichkeit.«
Er trat näher, und sie rührte sich nicht. Ihr Blick lag in dem seinen. Nur ihre Brust atmete schneller.
»Es sind dieselben Augen,« murmelte er, »dieselbe Tiefe und Furchtlosigkeit, nur das Grau ist stählerner geworden, und Stahl blitzt am stärksten, wenn er tötet.«
»Nur was dir feind ist, Kornelius.«
»Deine Stirn ist wie eine Kuppel der Klugheit geworden, die schöne gerade Nase wie ein Ausrufungszeichen deines Willens, dein blutroter Mund spricht von Liebe und Verachtung.«
»Er verachtet die Schwächlinge, die es dir gleichtun möchten.«
»Wie wunderbar stolz die Liebe spricht. Laß mich weiter sehen. Es ist noch so vieles. Ich sehe deinen lieben, schlanken Leib, und starkes Frauentum schwellt königlich, was einmal scheues Mädchentum war. Ich sehe deine liebe, geliebte Brust, und ich bebe vor Freude. Und ich sehe deine schlanken Füße und deine noch schlankeren Hände, die ich über alles liebe, weil sie Leidenschaften entflammen und seligkühlende Ruhe ausströmen lassen können. Aus den Saiten des Flügels und den unsichtbaren der Seele. Ich sehe Angela Freydag, wie sie war und wie sie ist, und nichts hat sich verändert, als daß die Gewißheit des Weibes das Versprechen des Mädchens übertrifft.«
»Und — meine Seele — —?«
»Ich halte Angela Freydags Seele seit einem Dutzend[S. 187] Jahren in den Händen und habe sie keinen Atemzug lang losgelassen. Es ist eine Seele, die keine Veränderungen kennt. Ein Zweifel wäre ein Frevel. Sieh selber nach.«
Und er breitete die Arme aus, und sie warf sich hinein.
»Engel, mein Engel. Ich weiß es, du wirst immer wieder kommen.«
»Ich habe dich nicht eine Sekunde lang verlassen,« stieß sie hervor, hob ihr Gesicht und zog das seine hernieder.
In die lange Stille schlug eine Uhr. Sie horchte in seinen Armen auf, und er gewahrte es.
»Sie schlägt nicht für dich und nicht für mich. Heute ist Feiertag.«
»Sie schlug,« sagte sie nachsinnend, »als du mich zum erstenmal in deinem Hause zur Ruhe brachtest. Hier an diesem Tische gabst du dem ausgehungerten Mädel zu essen und zu trinken.«
Er stutzte, ließ sie aus seinen Armen los und lachte sie an wie ein ertappter Junge.
»Angela! Engel! Und heute laß ich dich verhungern und verdürsten. Das ist Mannesart. Um vier Uhr wirst du aufgestanden sein. Ohne Frühstück? Ah, einen Apfel. Am Bahnhof in der Morgenkühle eine halbe Stunde auf den herrlichsten der Liebhaber gewartet. Gut. Weniger gut, daß dich der herrlichste der Liebhaber zwei Stunden in wilder Wagenfahrt durch die Lande führt und dir am Ziele ein Schock Küsse anbietet statt eines festlichen Mahles. Setz' dich nieder und denk nach Frauenart: ›es ist nur die erste Enttäuschung‹. In zwei Minuten soll im Speisezimmer das Frühstück aufmarschiert stehen.«
»Kornelius — bitte hier, bei dir, wie damals — —«
»Dein Wunsch ist mein Wunsch, Engel,« und er ging zur Tür.
»Kornelius!«
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Er wandte sich um, und sie winkte ihm mit den Augen, noch einmal zu ihr zurückzukommen.
»Ich möchte doch lieber noch einen Kuß von dir haben, Kornelius.«
Und die feierliche Getragenheit der Liebesbekenntnisse ernster Menschen ging unter im lebendigen Leben.
Das Hausmädchen kam auf Kornelius Vanderwelts Anruf, grüßte freundlich und deckte den Tisch im Arbeitszimmer.
»Unsere liebe Verwandte, Fräulein Freydag, wird längere Zeit bei uns bleiben, Martha. Sorgen Sie nach besten Kräften, daß sie sich wohl fühlt.«
Das Mädchen knixte vor dem Gast, der ihr die Hand entgegenstreckte, und ging.
»Kein Mensch auf der Erde ist mir so nahe verwandt wie du. Es war keine Unwahrheit, Angela.«
Sie saßen hungrig und durstig am Frühstückstisch und langten zu. Wie gesunde Menschen, die dem Tage geben, was des Tages ist. Nur daß der eine den anderen zu bedienen suchte und ein Wettstreit entstand, den anderen nicht hungern zu lassen. Dann nannte Angela Freydag den Namen Fräulein Bilsenbachs, die Namen der Kinder.
»Später, später. Wenn es dir recht ist, kann das Mädchen abräumen.«
»Ich fragte nur jetzt schon, weil ich glaubte, du müßtest zum Hafen hinaus.«
»Sagte ich dir nicht, du liebe Sorgerin, daß heute Festtag ist? Wir werden noch genug vom Alltag mitbekommen. Aber ich will deine Sorge beschwichtigen.«
Er nahm den Hörer des Fernsprechers auf, nannte dem Amt die Nummer.
»Schon zur Stelle, Beckenried? Ach, Sie alter Prahlhans, diesmal war ich früher auf den Beinen, wenn darin[S. 189] die geistige Überlegenheit steckt. Was liegt vor? So, so. Aber ich habe heute Wichtigeres, und an der Schifferbörse können sich heute einmal unsere jungen Leute die Sporen verdienen. Ja, ja, ich meine die Herren Klaus und Thomas, die viellieben Schwäger. Was? Wenn sie's nicht können, sollen sie's lernen. Deshalb schicke ich sie ja hin. Und den Rest werden Sie mit gewohnter Umsicht erledigen. Auf morgen, Beckenried.«
»Klaus und Thomas? Die viellieben Schwäger?« fragte Angela Freydag.
»Später, später.« Und Kornelius Vanderwelt öffnete die Tür zum Musikzimmer. »Tritt in dein Reich, Angela.«
Wie mit gefesselten Füßen trat sie ein. Und dann eilte sie auf den Flügel zu, legte beide Hände auf den Deckel, preßte das Kinn auf den Notenhalter und starrte geradeaus.
Von der Wand grüßte in unvergänglicher Schöne Hans Deiters' Meisterbild »Der Reigen«, aus edlen Frauenkörpern gewoben. Leise zog Kornelius Vanderwelt hinter ihrem Alleinsein die Tür ins Schloß.
Jetzt wandte sie über die Schulter den Kopf nach ihm. »Komm,« baten ihre Augen.
Er trat hinter sie und legte den Arm um sie. Die Hände auf den Flügeldeckel gestemmt, drückte sie sich tief in den Arm hinein.
»Hier habe ich dich mir erobert, Kornelius. Und konnte nichts gegen jetzt.«
»Wir sind beide gereift, Angela. Vielleicht auch in den Ansprüchen aufeinander. Nenn' du mir dein Wachstum.«
»In der Liebe zu dir! Darin liegt es, darin! In der Liebe zu dir! Damit ist alles gesagt.«
»Wenn ich mir,« sagte Kornelius Vanderwelt ernst, »nach Ansicht meiner Mitbürger ein paar Verdienste erworben haben sollte, so habe ich heute den Lohn erhalten.«
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Sie schüttelte heftig den Kopf. In ihre Stirn grub sich, wie in Mädchentagen, die steile Furche.
»Nein, nein. Was dir die Allgemeinheit schuldet, ist ihre Sache und geht mich nichts an. Es ist dein Stolz, der dich bescheiden macht. Und er macht mich mit dir stolz. Aber was ich dir schulde, Kornelius — ach, mir ist die Seele zum Überlaufen voll, und die Frau sucht vergebens nach Worten, die es dir rückhaltlos aussprechen könnten und sie doch nicht beschämen, und die Künstlerin kommt sich neben der Frau ganz armselig vor, daß sie auch ein Wort sagen möchte und das doch in dieser Stunde so nebensächlich ist, wie draußen das Wetter.«
»Wie stark und leidenschaftlich du geworden bist, Angela?«
»Geworden? Bin ich es geworden? Ich bin das geworden, wozu du mich geformt hast. Und nun bin ich nichts als der Dank.«
»Meine alte, junge, ewig gleiche Angela. Das ist das Frauenwunder, das wir anstaunen und doch nichts anderes ist, als die Wahrhaftigkeit der Seltenen.«
»Heb' mich nicht zu hoch, Kornelius. Meine Füße stehen so fest auf der Erde, daß ich die Erde treten kann, wenn ich es will. Und ich will es, wenn du es willst. Wenn sie uns von unseren Höhen herunterholen wollen, Kornelius.«
Er strich ihr leise und glättend über das strenggewordene Gesicht, und sie erhaschte die Hand und drückte sie gegen ihren Mund.
»Setz' dich nieder, Engel. Hier auf die alte Kirchenbank, auf der wir so oft aneinandergerückt saßen, wenn wir vierhändig ein Werk der Meister spielten. Heute brauchen die Tasten nicht zu tönen. Heute ist so viel Gesang in uns selber, daß wir das Handwerkszeug ruhen lassen können. Sitzt du gut? Lehn' dich nur fest mit der Schulter an. Heute[S. 191] brauchen wir keine Geheimnisse mehr voreinander zu bewahren.«
In die alte Kirchenbank geschmiegt, saßen sie Schulter an Schulter und ließen die Minuten rinnen, als wäre der gemeinsame Quell ihrer Stunden unversieglich. Weil ihr Blut ineinanderrann.
»Wachst du noch, Kornelius?« fragte Angelas Stimme mit einem schlummermüden Ton.
»Ich höre dir ununterbrochen zu. Erzähle nur weiter, Engel.«
»Ich habe ja gar nicht gesprochen, du. Du hast zu mir gesprochen, und ich habe kein Wort überhört.«
»Dann, Engel, ist jetzt die Reihe an dir. Und ich will schweigen wie ein Stummer.«
Eine Weile besann sie sich. Dann war sie wieder in der Welt.
»Ich werde kein Wörtchen überschlagen, wenn du es für wert genug hältst. Aber vorher sprich mir von deinen Kindern, von Fräulein Bilsenbach, von deiner Umwelt hier, damit ich weiß, wo ich gehe und stehe, wenn sie kommen werden.«
»Fräulein Bilsenbach wird nicht mehr kommen, Angela. Sie ist immer geräuschloser geworden in den langen, heftigen Jahren, und ich habe sie bei der Hand gehalten, als sie im letzten Sommer starb.«
Angela Freydag saß, ohne sich zu regen, Schulter an Schulter mit dem berichterstattenden Manne. Hinter ihrer Stirn arbeiteten die Gedanken und woben das Bild des einsam gealterten Fräuleins aus den Erinnerungen.
»Sie hatte einen Lohn zu beanspruchen für so viel Unausgesprochenes, Kornelius. Du hast ihn ihr ohne Zögern ausbezahlt. Als du sie vor der schwarzen Pforte bei der Hand nahmst und ihr die letzten Schritte so leicht machtest, daß sie ein Leben aufwogen.«
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»Woher weißt du das, Angela?« fragte er erstaunt. »Wie kannst du das wissen?«
»Ich weiß es, weil ich eine Frau bin und weil ich mich nicht fürchte, es auszusprechen. Auch ich würde dich lieben, wenn ich alt geworden wäre und hätte dich jahraus, jahrein vor Augen gehabt. Wie du mich in deinem Alter noch lieben wirst, wenn du keinen Makel an mir gefunden hast. So hat dich die einsame Seele des gealterten Fräuleins geliebt, und es ist nicht lächerlich.«
»Nein,« sagte Kornelius Vanderwelt, »es ist nicht lächerlich. Liebe ist mehr, als Jugend weiß.«
»Nun sprich mir von der Jugend,« bat Angela Freydag freundlich, »von deinen Kindern, Kornelius.«
Kornelius Vanderwelt legte die Hand um die Stirn. Unbewußt preßte er sie zwischen den Fingern, daß sie schmerzte.
»Von meinen Kindern, Angela ... Ganz recht, von meinen Kindern. Ja, wo soll ich da beginnen und wo enden ... Es sind keine Kinder mehr, Engel, und es gibt Zeiten, in denen ich mich wundere, daß sie einmal meine Kinder gewesen sein sollen. Nicht, als ob ich meine Liebe von ihnen abgezogen hätte. Liebe ist vielleicht ein falsches Wort und müßte mit Naturtrieb übersetzt werden. Es ist der natürliche Trieb, der das eigene Blut wittert und sich dagegen aufbäumt, es vor die Hunde gehen zu lassen.«
Ihre Hand tastete sich in die seine, zog sie von der Stirn, legte sie auf ihr Knie und hielt sie fest.
»Liebe ...« wiederholte er, und die Wallung seiner Pulse wurde ruhig unter ihren kühlenden Händen. »Ich habe so viel Liebe in mir, daß ich meine Kinder lebenslang reich damit machen könnte. Aber Liebe will erwidert, gewünscht und gewartet sein. Wir sind nicht alle so anspruchslos[S. 193] wie ein Fräulein Bilsenbach. Nun wohl, Angela, meine Kinder hatten recht frühzeitig schon das, was sie für Liebe hielten, für sich selber nötig und ihren mehr oder weniger ergötzlichen Zeitvertreib. Juliane und Thomas, dein besonderer Freund, wurden hintereinander kriegsgetraut. Juliane mit achtzehn Lenzen. Thomas in der stolzen Mündigkeit seiner einundzwanzig Jahre. Nach neun Monaten pünktlich waren sie Mutter und Vater. Jeder von einem munteren Jungen. Jetzt sind die Jungen fünf Jahre alt.«
»Wie meinst du, Angela? Ja so, ich habe die Partner vergessen. Julianes glücklicher Ehegatte ist Klaus Beckenried. Der Sohn meines knochentrockenen Geschäftsführers. Geschäftstüchtig wie sein Vater. Infolge des Altersunterschiedes natürlich noch mit einigen Sehnsuchtsbildern behaftet, die der alte Beckenried längst zum alten Eisen geworfen hat und die, wie ich fürchte, der junge in nicht allzu langer Zeit auf denselben Kehrichthaufen werfen wird. Bleibt der Thomas. Des Thomas glückliche Ehegattin ist Antonie Ausdemwerth, die Schulfreundin der Juliane. Ich weiß Schönheit zu schätzen, und ich sehe mit Männeraugen, daß das Frauenzimmer schön ist wie ein lockender Apfel, fallreif. Aber sie ist immer fallreif, und es lungern viele unterm Apfelbaum.«
Er schwieg, und dann lachte er hart vor sich hin.
»Meine zornmütige Angela wird denken, die Schwiegerkinder wären die schwarzen und meine eigenen Kinder die weißen Schafe. Ach, Engel, es ist nicht so, und wenn ich eine Mohrenwäsche vornähme. Möglich, daß der junge Beckenried, übrigens ein Mann von einigen dreißig Jahren, zu früh die leuchtende Hochzeitsweste ausgezogen und sich vom sparsamen Blut der Beckenrieds erwiesen hat. Zu früh für eine Frau von der Großdamenhaftigkeit einer[S. 194] Juliane. Sie braucht das Geld, wie andere die Luft zum Atmen brauchen, und wenn man es ihrer eitlen Putzsucht vorenthält, so verschafft sie es sich, ohne wählerisch zu sein. Und ich weiß wirklich nicht, was ich mehr verabscheuen soll: die kühle Berechnung, aus der sie es tut, oder das geile Sündenblut der Antonie.«
»Damit wären wir beim Thomas, Engel, den du mir immer am ähnlichsten fandest. Darin, daß er das heimliche Allerweltsdirnchen nicht auf die Straße warf, nach der sie doch verlangt, darin ähnelt er mir wohl am wenigsten. Und ebensowenig, daß er aus seiner Schlaffheit eine Art Sportbelustigung macht, jeden Schritt vom Wege bei seiner Frau vorhersieht, ihn mit der Gründlichkeit und Ausdauer eines Forschers verfolgt, zergliedert und zerlegt und sich höchlichst ergötzt fühlt, wie ein Sieger und Triumphator über die in der eigenen Falle Gefangene frohlocken zu können.«
»Du siehst, Angela, die Beichte war aufrichtig und vollkommen, und nun ist mir der Mund trocken.«
»Der Thomas«, sagte Angela Freydag, »weiß nicht ein und aus. Weil er noch als Junge in die Ehe gegangen ist und sich vom Zeitgeist hat vorpredigen lassen, die Freizügigkeit von Mann und Frau gehörte zum guten Ton und wäre ein Erkennungsmerkmal der Freigewordenen. Laß ihn aus dieser Zeit und ihrem billigen Geist hinauswachsen, und er wird den Abscheu empfinden wie du und der Sohn des Vaters werden.«
»Wie schön ist meine Angela in ihrer Milde.«
»Weshalb verspottest du mich, Kornelius? Ich kenne doch die Quelle des Vanderweltschen Blutes, ich kenne doch dich. Und da soll ich glauben, das Wasser der Bäche tauge nichts? Wind und Wetter können es getrübt, können es sogar verschlammt haben, aber das klärt sich, wenn die warme Sonne[S. 195] wieder scheint. Es war viel Wind und Wetter in Deutschland.«
»Ich verspotte dich nicht. Ich muß nur immer wiederholen: wie schön ist meine Angela in ihrer Milde.«
Ihre Augen färbten sich dunkel. Über den tiefen Grund liefen leuchtende Funken.
»Ich hatte es als Spott empfunden. Du bist erfahrener als ich in allen Dingen, und der Spott wird bei dir zum Lächeln und Belächeln. Ich bin noch nicht so weit wie du, und es ist gewiß Frauenart, daß wir hassen, was ihr mit einem Lächeln abtut. Kornelius, du sagtest mir einmal, mit einem Ziegelstein schlügst du den Menschen tot, der nach mir schielte, und wenn du ihm nach bis Australien müßtest. Und da hältst du mich für kleiner, obwohl ich inzwischen um einen Fuß gewachsen sein soll? Ich bin so milde, Kornelius, daß ich jeden, der dich oder deinen Namen beleidigen möchte, mit diesen Händen zerreißen würde.«
Er griff nach ihren Händen, die sie in Erregung schüttelte, und zog sie an seine Lippen.
»Glücklicher Kornelius Vanderwelt.«
Sie sah ihn an. Und als sie sah, daß der Ernst aus ihm sprach, legte sie den Kopf ruhig an seine Brust.
»Wohnt Thomas nicht mehr im Hause? Und Juliane?«
»Thomas haust in der Wohnung seiner Frau, die bei ihrer törichten Mutter lebt. Und Juliane ist von ihrem zürnenden Mann in das Haus des Vaters Beckenried verbracht worden, damit ihre Geldangelegenheiten unter doppelter Aufsicht stehen. Mögen sie sich zurechtfinden. Wie man sich bettet, so muß man liegen.«
»Welchen Beruf haben die Männer? Können sie ihre Frauen mit ihrer Arbeit ernähren?«
»Ach, Engel, sie haben den Beruf, meine Geschäftsnachfolger zu werden. Das ist vielleicht nicht der schlechteste Beruf.[S. 196] Sie arbeiten auf meinem Kontor und gehen heute zum erstenmal auf die Schifferbörse, um die Flagge des Hauses Vanderwelt zu zeigen. Ob aber ihre Arbeit ausreicht, um ihre Frauen zu ernähren, das glaube ich nie und nimmer.«
»Und wenn du ihr Gehalt steigertest, Kornelius?«
»So würden ihre Frauen ihre Forderungen an die Männer um das Dreifache steigern. Ausprobiert, Angela.«
Sie ließ den Gesprächsstoff fallen. Sie fühlte, daß sein Stolz mehr litt, als er zeigte. Nur eine Frage wagte sie noch.
»Und Justus? Du sprachst mir noch nicht von deinem Ältesten, Kornelius.«
»Ja, Justus — —. Es wär' mir lieb, ich erführe selber mehr von ihm. Du weißt es, er hatte einen hochfahrenden Sinn. Aber in guten Zeiten wäre bei seinen raschen Aufnahmefähigkeiten wohl ein Großer aus ihm geworden, wenn auch ein herrischer. Für die schlechten Zeiten aber war seine Anschauungswelt nicht gewappnet, und der Ausgang des Krieges hat ihn zu einem Zerrissenen gemacht, der bald hier, bald dort, wo in den Ostländern um Rußland herum eine Flamme auflodert, dabei sein muß, um zu versuchen, sich und die Welt wieder zusammenzuflicken.«
»Er schreibt dir wenig?«
»Zuweilen wie ein Held, zuweilen wie ein Verzweifelter. Das ist heute die marktgängige Mischung unter den Entwurzelten, die so leicht das, was dem Vaterland frommt, mit dem, was ihnen selber frommen würde, verwechseln und darum keine Geduld und keinen Blick für den ›Wechsel auf Sicht‹ haben.«
»Hilfst du ihm, wenn er ruft?«
»Fragt das meine Angela?«
»Verzeih mir,« bettelte sie, »es war nur ein Vergreifen im Wort. Ich wollte fragen, ob er dich zur Hilfe ruft.«
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»Der Held nie. Der Verzweifelte immer. Dann fragt der Vater nicht lange, ob es zu vaterländischen Zwecken oder zu eigenen geschieht, und er hilft. Ich sagte dir schon, es ist der Naturtrieb, der das eigene Blut wittert.«
Sie strich ihm mit den Fingern durch das Haar. Hin und her, her und hin.
»Nicht böse sein, Kornelius, daß ich dir diesmal nicht glaube. Nein, nicht böse sein. Dein Naturtrieb ist ja die Güte. Das hab' ich ja an mir selbst verspürt, als ich hageres und mageres Menschlein durch den Straßenschmutz zu dir kam. Alle starken Menschen sind gütige Menschen, sonst gäb's ja keinen Weg zu ihrer Welt. Und dein Sohn Justus brauchte nicht dein Sohn und könnte ein Niemandssohn sein, und du würdest ihm helfen, wenn er dich beim rechten Namen rief.«
»Ich habe ihn mehr geliebt, als ich es aussprechen kann,« sagte Kornelius Vanderwelt leise. »Denn wie du in Thomas, so habe ich in ihm mein Ebenbild erhofft. Und nun wird meine Eitelkeit mit einem arbeitsunlustigen Landfahrer gestraft.«
»Es ist noch nicht aller Tage Abend, Kornelius.« Und sie wiederholte es: »Es ist noch nicht aller Tage Abend,« bis das Streicheln ihrer Finger alle Schwere aus seinem Haupte hinweggenommen hatte.
»Darf ich mir eine Zigarre anzünden, Engel? Du siehst, ich streiche die Jahre aus und behandle dich nicht als feierlichen Gast.«
»Das erst macht mir den Festtag, daß du mich nicht feierlich nimmst.«
»Wollen wir wieder in mein Arbeitszimmer? Komm, Engel. Feierlich, sagst du? Feierlichkeit ist der Tod der Natürlichkeit und damit aller Menschenfreude. Das hat mir als Kind den Sonntag so zuwider gemacht, daß ich im[S. 198] feierlichen Zuge mit zur Kirche schreiten, mit feierlichem Gesichte bei Tische sitzen, in feierlicher Haltung am Spaziergang der Erwachsenen teilnehmen mußte und was sonst noch alles. Als ob der liebe Gott gestorben wäre und nicht auf seinem Sonntagsthron aus Sonne, Mond und Sternen säße und Ausschau hielte, ob sich auch seine Menschen aus Leibeskräften über ihre Erde freuten! Rauchst du?«
Sie waren in sein Arbeitszimmer hinübergegangen, und er wies auf die Zigarrenkisten und Zigarettenschachteln. »Nun?« fragte er.
»Ich muß dir ja doch«, erwiderte sie mit rotem Kopf, »mein Laster eingestehen. Als ich durch den Ausbruch des Weltkrieges in Amerika zurückgehalten wurde, ganz besonders aber, als auch Amerika in den Krieg eintrat und wir, die ihr Deutschtum nicht verraten wollten, als Gefangene behandelt wurden, da hab' ich mir das Rauchen angewöhnt, um über das endlose Warten und das noch endlosere Wandern der Gedanken hinwegzukommen. Wenn ich rauchte, wurde es ruhiger in mir. Aber wenn du es bei einer Frau nicht gern siehst, kann ich es unterdrücken.«
»Wozu die Entschuldigungen, Engel? Wer weiß, ob du nicht mal wieder in Gefangenschaft gerätst und das Rauchen brauchst.«
Sie wählte eine Havannazigarette mit einem Tabakdeckblatt.
»Erschrick nicht zu sehr, Kornelius. Die Papierzigaretten sind mir zu verschwommen.«
Er reichte ihr Feuer und lachte ihr in die Augen.
»Ich hab's mir fast gedacht. ›Entweder — oder!‹ lautet die Losung bei Angela Freydag. Wie schön du erröten kannst.«
Sie ließ sich in einen der tiefen Ledersessel nieder und rauchte in ruhigen Zügen. Und Kornelius Vanderwelt saß[S. 199] ihr gegenüber und sah durch den feinen Rauchschleier seiner Zigarre ihr Bild wie aus Nebelfernen zu ihm hinüberlangen.
»Nun bist du für deine Erzählung aus fernen Weiten in die rechte Beleuchtung gerückt. Nun erzähle du, Angela.«
»Muß ich vom Tage meines Abschieds an beginnen, Kornelius?«
Er nickte. »Seitdem du von mir gingst, Engel.«
»Ich hinterließ dir einen Brief, als ich ging. Darin schrieb dir das Mädchen sein Weshalb.«
»Der Brief des Mädchens ruht in des Mädchens alter Reisetasche, die sie mir einmal als Weihnachtsangebinde auf mein Zimmer stellte.«
Eine Weile blieb es still im Sessel Angela Freydags, und der Lauscher hörte nur einen tiefen Atemzug.
»Ich kehrte nach Köln zurück,« begann die Stimme aus der Nebelferne der Erinnerungen heraus. »Ich nahm die Stunden mit verdoppelten, mit verdreifachten Kräften auf. Ich war von dir gegangen, nein, vor mir selber davongelaufen, weil ich so stolz auf dich und deine Hinneigung zu mir war, daß ich nicht nur dein kleines Liebchen werden wollte. Denn so wäre es geworden, Kornelius.«
Diesmal war es die Lauscherin, die aus dem Sessel Kornelius Vanderwelts nur einen tiefen Atemzug vernahm.
»Der Professor nahm mich mit Freuden als seine Meisterschülerin. Das Geld, das ich mir in deinem Hause erworben hatte, reichte bei richtiger Verwendung für zwei Jahre aus. Anschaffungen zu machen, hatte ich nicht nötig. Du hattest mich zu Weihnachten und zum Geburtstag für den Alltag und die ersten Konzertreisen überreich ausgestattet. So konnte ich mich ohne Hemmungen meiner Arbeit hingeben.«
»Es war nicht ganz so leicht, wie es heute scheint. Aber[S. 200] du halfst mir, Kornelius. Auch wenn der Lehrer liebenswürdiger werden wollte, als der Unterricht verlangte. ›Nicht,‹ sagte ich, ›ich bin heimlich getraut. Der Mann, der mich in seinen Händen hält, kann Hufeisen zerbrechen.‹ Da beließ er es beim Unterricht.«
Kornelius Vanderwelt sprach kein Wort. Ihm fielen die Verse ein vom Reiter auf dem Bodensee. Mit keinem Gedanken hatte sein sicherer Sinn an eine Gefahr gedacht.
»Nach einem Jahre«, fuhr die Erzählerin fort, »durfte ich zum erstenmal öffentlich spielen. In einem Kurkonzert der verträumten Badestadt Honnef am Rhein. Es gelang über Erwarten. Der kunstverständige Arzt des Städtchens schrieb in seiner Besprechung von einem Licht auf einem hohen Berge. Dieses Licht wollte ich nun in die Täler der Menschen tragen. So spielte ich im folgenden Winter zum zweitenmal in Koblenz, und der verstärkte Erfolg führte mich bald nach Mainz und nach Mannheim, nach Karlsruhe und nach Basel. Damit war ich im Auslande.
»Gewiß, es war die kleine Schweiz. Aber in Zürich schon spürte ich, daß sich hier alle Völker ein Stelldichein geben, und in Lausanne und Genf vernahm ich die Stimme Frankreichs, und ich folgte ihr nach Paris.
»Nach Paris. Wie habe ich die Augen, wie habe ich die Ohren, wie habe ich alle Sinne geöffnet, um alles in mich hineinzutrinken, was die Stadt an Kunst mir bot. Alle die ungezählten Möglichkeiten, die sie dem Lernbegierigen hinhält zum Wachsen und Werden, und die mit jedem neuen Tage wechseln und neue Weiten bieten.
»Und wieder standst du neben mir, Kornelius, und hieltst mich bei der Hand. Und ich wußte Tag und Nacht, warum ich hier sei.
»In Paris spielte ich zuerst in einem Konzert der Meisterschülerinnen, dann zu mehreren Malen in der größeren[S. 201] Öffentlichkeit, und wurde nach London eingeladen zu einem großen Konzert in der ›Albert Hall‹. Von hier aus ging die Fahrt geradeswegs nach Amerika.«
»Als hättest du dir auch meine Weltfahrten zu eigen machen wollen, Angela.«
»Als du mich auf der Landstraße sahst und mich in deinen Wagen packtest, Kornelius, sprachst du so übermütig von deinen Seeräubervorfahren, daß ich dir ebenso übermütig antwortete: ›Die Meinen vielleicht nicht weit davon.‹ Wer will wissen, was in der Vorzeit war!«
Und Kornelius Vanderwelt dachte an den sagenhaften Zweigeschlechterbaum der Menschheit, der ihm schon einmal in seinen Gedanken erschienen war, als er inbrünstig nach Angela rief.
»Erzähle weiter. Ich lebe mit dir, als lebte ich mein eigenes Leben.«
»Es ist so. Die Seelen harfen die Musik, nicht die Hände. Und so ist meine Seele auf deinen Wegen gefahren.«
»Erzähle von Amerika, Angela. Es ist der zweite Teil deiner Lebensreife und meiner Wartezeit.«
»So war ich mit dir in Amerika, Kornelius,« vernahm er ihre Stimme, »und es war gut, daß wir beieinander waren. Erst schwoll mir die Brust in der unbekannten und verstärkten Lebensluft. Die Menschen erschienen mir aufrechter im Wuchs, großzügiger im Denken, freier im Verkehr und jeder Handlung. Die Haltung der Männer der Frauenwelt gegenüber erfüllte mich mit Bewunderung für die Männer, die Stellung der Frauenwelt erschien mir so göttlich, daß ich mich meiner Erdhaftigkeit fast schämte und mich bekümmert fragte, ob ich mit meinen besten Sonntagsgedanken wohl je einer solchen himmlischen Höhe würdig werden würde. Ach, mein Erwachen aus Traumland war eine starke Erschütterung. Es lebte da drüben eben ein jeder[S. 202] sein eigenes Leben, Männlein wie Weiblein, und sie waren bei Licht betrachtet nicht größer als im alten Europa und nur so frei, als einer dem anderen die Freiheit ließ. Die so Aufrechten gingen unterm Joch der Arbeit wie bei uns, die so Großzügigen kämpften vorher um jeden Dollar, die göttliche Verehrung der Frau war ein Sport wie hundert andere, und manche der Engel Gottes schleiften insgeheim die Flügel durch den Staub wie in aller Welt. Es war nichts mit der ungekannten und verstärkten Lebensluft, wenn man sie erst genügend eingeatmet hatte, und wenn man in Slawien die Frauen prügelt und in Amerika mit Weihrauch umwedelt, so ist es nichts als ein anderer Landesbrauch und beileibe keine seelische Vervollkommnung.
»Ach, meine arme Seele. Wie hat sie frieren müssen, als sie erwacht war. Wie hat sie nach den warmen Tiefen gesucht und die abgekühlten Oberflächen gefunden. Wie hat sie nach einem zusammenklingenden Zweiklang gelauscht, wo jeder mit sich und sich allein beschäftigt war. Nein, die Menschheit unterscheidet sich nirgendwo. Nur ihre Gepflogenheiten.«
»Sprich weiter, Angela. Es hört sich dir gut zu.«
»Es mag eine gute Gepflogenheit der Yankees sein, daß sie die Konzertsäle bevölkern. Es gehört zum guten Landeston. Und so spielte ich vor vollen Sälen in Neuyork und den großen Städten des Ostens, in Boston, Philadelphia, Baltimore, und der Erfolg verstärkte sich immer mehr, je weiter ich und die ruhmredigen Ankündigungen über Chikago nach dem fernen Westen kamen, nach Los Angeles, San Franzisko und nach Portland und Seattle im Norden. Und wieder ging es den Mississippi entlang bis Saint Louis und in den grellen Süden hinein bis zu den spanisch gefärbten Yankees von Neuorleans. Gott habe ich gedankt, als ich wieder nach dem Osten kam und den Hafen Neuyorks begrüßte,[S. 203] denn außer den vielfarbigen Wunderbildern der Natur hatte meine Seele nichts gewonnen als eine immer größere Leere.
»Da stand ich im Hafen. Heimatselig. Und meine Seligkeit hieß Kornelius Vanderwelt. Und da war der Weltkrieg, und da war das Ausfahrtverbot.
»Ach, du, das kann ich dir nicht schildern.
»Hundert Wege bin ich gelaufen, hundert geheime Besprechungen habe ich abgehalten und Überfahrtspreise in jeder Höhe geboten. Ich mußte bleiben. Und dann begann die Zeitungspresse ihre Tätigkeit, und in den Volksmengen fing es an zu quirlen wie in einem gelockerten Moorgrund, und die Vermittler und Leiter der Konzerte wurden unverschämt, und die von uns, die sich beugten, wurden gnädig bevorzugt. Nur bei einer Absage der anderen wurde ich noch zugelassen, und ich spielte in den Jahren nur noch so oft, daß ich meine Ersparnisse nicht anzugreifen brauchte, und das war gut so, denn das verhetzte und sich selbst nicht mehr kennende Amerika sprang in den Weltkrieg hinein.
»Erlaß mir die Schilderung des letzten Jahres. Wir Deutsche wurden als Gefangene behandelt, und ich gewöhnte mir das Rauchen an. Tagelang hab' ich geraucht, um über die sehnsuchtswunden Gedanken hinwegzukommen, die bei jeder Berührung wie Tiere im Käfig schrien, und über die sehnsuchtswunden Gedanken hinweg zu dir.«
Sie warf den Rest des Tabaks in einen Behälter, wischte sich mit ihrem Tuch über Fingerspitzen und Lippen.
»Ich bin zu Ende. Von der Heimfahrt weiß ich nichts mehr, als daß die Wellen schäumten und die Wolken jagten. Das einzige Bild, an dem ich Gefallen fand. Und daß mich in Hamburg ein Brief meines greisgewordenen Musikprofessors erwartete, der mir ein Konzert in Köln anbot. Ich drahtete zurück: ›Angenommen.‹ Plötzlich war mir,[S. 204] als müßte ich einmal, ein einziges Mal in der großen Öffentlichkeit vor dir, für dich spielen. Als würdest du kommen. Als würdest du sehen, ob das entwichene kleine Mädchen Wort gehalten und eine reife Künstlerin geworden wäre. Und —«
»Und —« wiederholte Kornelius Vanderwelt mit angehaltenem Atem.
»Und ferner wollte ich,« sagte Angela Freydag, ohne zu stocken, »daß du aus der Menge heraus auch die reifgewordene Frau sehen solltest und dich fragen könntest: Hat mein Herz noch so schnell geschlagen wie im Walde?«
»So sicher wußtest du, daß ich kommen würde?«
»So sicher wußte ich es.«
»Und wenn ich nicht daheim gewesen wäre oder krank gelegen hätte?«
»Ich glaube, auch das hätte ich gewußt, und ich wäre zu dir an dein Bett gekommen. So aber war es schöner.«
Sie atmete tief und wohlig, und ihre Augen lachten ihn an.
»Wie der Seeräuber aus dem Blut deiner Vorfahren kamst du mit dem Enterbeil auf mein Deck gestürmt, überranntest die Musikanten, kapertest mich und verschwandest mit der Beute, ohne eine Kielspur zu hinterlassen.«
»Hat das denn nie ein anderer außer mir gewagt? Hatten denn die Männer da draußen keine Augen im Kopf?«
»Es hatten da draußen mehr Männer Augen im Kopf, als mir lieb war. Aber ich hatte auch Augen im Kopf.«
»Und es fand keiner Gnade vor diesen klugen, grauen Augen?«
Sie schüttelte den Kopf. Das Lachen war verflogen.
»Nicht scherzen, Kornelius. Bitte nicht mit diesem einen Ding. Andere Männer! Gut, ich will es dir erklären, wenn du so blind oder so vergeßlich geworden bist. Selbst auf die[S. 205] Gefahr hin, daß du es gern aus meinem Munde hören möchtest. Andere Männer! Ich kannte keinen, ehe ich zu dir kam, oder doch nur solche, vor denen ich das Beben hatte. Du erst hast das Weib in mir geweckt. So zart und sacht, daß es nicht erschrecken konnte. Du hast das Störrige weich und das Eckige rund geformt und der Seele ein Haus gebaut, daß sie zum erstenmal wagte, die Flügel auszubreiten. Jeden Gang meiner Füße hast du richtig gesetzt, jeden Gang meiner Gedanken höher geleitet. Und das Herz zum Schlagen gebracht. Wenn deine Hand über mein Haar glitt, wenn deine Hand über meinen Rücken streichelte, mußte ich die Augen schließen, so rieselten alle deine Kräfte durch meinen Körper. Und als ich im Walde sehend wurde und ich den ganzen Reichtum des neuen Lebens gewahrte: du warst der Schöpfer.
»Andere Männer, Kornelius. Damals in meinem Mädchenüberschwang magst du mir wie der Ritter Sankt Georg vorgekommen sein. Nun darfst du lachen. Das erwachte Weib in mir hat es auch getan. Du warst für die Erwachte der Mann, der einzige, der Mann.
»So konnte mich keiner da draußen in der Welt überrumpeln, denn meine Augen hatten von dir das Sehen gelernt. Ungeblendet schaute ich in jeden hinein, durch jeden hindurch, wie durch ein leeres Glas. Weil das Mädchen durch dich zum Weibe geworden war und sein Stolz auf deine Schöpferliebe kein Hinuntersteigen zuließ. Auch nicht zum Scherze.
»Nun hab' ich dir alles gesagt.«
»Und bist zu mir zurückgekehrt, Angela-Engel, ohne Angst?«
»Ich kann kein kleines Liebchen mehr werden, weil ich eine zu starke Frau geworden bin, Kornelius.«
»So sage mir noch eines, und ich weiß genug für Zeit und Ewigkeit: Wie lange darf ich dich im Neste halten?«
[S. 206]
Angela Freydag legte die Hände im Schoße zusammen. Ihre Augen wanderten die bildgeschmückten Wände entlang, streichelten im Raum jedes Gerät, kehrten zurück und lagen voll auf dem Manne.
»Du hast das rechte Wort gewählt, Kornelius. Das Nest. Dies ist das meine und kein anderes. Die Künstlerin wird zum Winter wieder ausfliegen müssen, die Angela kehrt immer wieder mit den Schwalben ins Nest zurück.«
»Es genügt mir,« sagte Kornelius Vanderwelt, »und ich danke dir.«
An die Tür des Arbeitszimmers pochte das Mädchen und fragte an, ob es das Mittagessen auftragen dürfe.
»Das ist gescheit, Martha. Wir haben Hunger wie die Wölfe.«
Am Arm führte er Angela Freydag ins Eßzimmer hinüber und freute sich auch hier an ihrer Wiedersehensfreude.
»Dort stand Weihnachten der große Koffer und der kleine Koffer,« flüsterte sie ihm zu. »Sie sind meine treusten Begleiter geworden.«
»Und in meinem Schlafzimmer steht die alte Reisetasche, die du nicht von den Knien tatst. Greif zu, Wölfin.«
Da warf sie alle Frauenhoheit ab und aß mit dem Heißhunger des Mädchens von einst.
»Weil Festtag ist,« sagte er, entkorkte eine edle Flasche und schenkte die Gläser voll. »Ich trinke dein Wohl in diesem und in jenem Leben, Angela-Engel.«
»In diesem und in jenem Leben trinke ich das deine, Kornelius.«
Draußen fuhr der Wagen vor. Unbeweglich wartete der Fahrer auf seinem Sitz.
»Es ist wieder der Wilm von damals, Engel. Aber er kennt dich nicht, und wenn ich ihn totschlüge.«
[S. 207]
»Darf ich mit dir?« fragte sie hastig.
»Wo wäre denn sonst der Festtag, Engel?«
Und sie gingen hinaus und stiegen ein, und Kornelius Vanderwelt gebot dem Fahrer die Richtung.
Angela Freydag sah das Stadtbild kaum. Sie wartete auf die Landstraße. Zusammengekauert saß sie in ihrer Ecke, und erst als Städte und Dörfer hinter ihnen geblieben waren, wurde sie unruhig und rieb die blanken Scheiben, als wäre es blindes Glas. Keinen Zug verlor er aus ihrem erregten Gesicht.
»Da ist sie — die Landstraße! Aussteigen möcht' ich und mit bloßen Füßen darüber hin und her laufen. Da ist die Ruhr! So silbrig und rein, als läge kein Ruhrort am Ende ihres Weges. Und da —«
»Da liegt der Wald,« sagte Kornelius Vanderwelt, und seine Stimme bebte vor Freude.
»Ja, der Wald — —« sprach sie ihm nach. »Und der Wolkenbruch riß mir die Kleider vom Leib und das Herz auf die Zunge.«
Ohne sich anzurühren, fuhren sie weiter und fuhren bis Kettwig vor der Brücke, wo sie wie geruhige Bürgersleute den Kaffee in der blinzelnden Frühlingssonne eines Gärtchens tranken. Und fuhren am Spätnachmittag heim und kamen in der Dämmerung an den Hafen.
»Halt, Wilm. Wir steigen aus. Abendessen unnötig. Alles wie immer.«
Der Fahrer grüßte stumm, wendete und fuhr den Wagen nach Hause.
Kornelius Vanderwelt schritt über den Laufsteg zu einem Boot, das in den Tauen knirschte, und sie folgte ihm. Es war eine zierliche weiße Motorjacht mit einem Kajütenaufbau, der sich gegen das Steuerrad hin öffnete und mit Wandschrank, Tisch und Rundpolster ausgestattet war.
[S. 208]
»Mein Eigentum,« sagte Kornelius Vanderwelt und wies ihr das Triebwerk und die Führung.
Der Vorfrühlingsabend hatte seine junge Wärme dem scheidenden Tage hingegeben, und es wehte frisch über die Rheinwasser.
»Tut nichts. Ich mach' einen Matrosen aus dir, der Wind und Wetter gewachsen ist.« Und er nahm einen Ölmantel aus dem Schrank, half ihr hinein und knöpfte ihn ihr bis zum Kinn hinauf zu. Ganz still stand sie unter seinen Händen. Und die Schirmmütze ließ sie so verwegen auf dem Kopfe sitzen, wie er sie ihr über die Flechten gezogen hatte. Er trat einen Schritt zurück und begutachtete sie.
»Wie ein echter und rechter Leichtmatrose schaust du aus. Wie ein ganz gefährlicher Bursche.«
Sie hob den Kopf und streckte steif die Arme an das Ölzeug.
»Leichtmatrose Engel,« meldete sie. »Zum persönlichen Dienst angemustert auf Boot ›Kornelius‹!«
»Junge,« sagte er, »wenn dir vielleicht um einen Vorschuß auf die Heuer zu tun ist —«
»Ich möchte den Baas nicht vorzeitig in Unkosten stürzen.«
»Schlauberger, du willst nur die Zinsen anlaufen lassen.«
»Hat der Baas noch andere Wünsche? Ich kann auch Klavierspielen, wenn's verlangt wird.«
»Wart's ab, bis wir an Land kommen, du Tausendkünstler. Hier klaviert der Wind auf den Wellen.«
Er löste die Taue, warf die Maschine an und packte das Steuerrad. Das Boot trieb vom Steg, stand zitternd unterm Steuerdruck und glitt wie ein Pfeil von der Sehne. Im schimmernden Rheinwasser arbeitete es gegen den Strom auf und verschwand in Wasser und Dunst.
»Mach' dich nützlich, Junge! Drück' auf den Knopf links!«[S. 209] Und Angela Freydag freute sich wie ein kleiner Schiffsjunge, als unter ihrem Fingerdruck die elektrischen Fahrtenlichter über die Wasserbahn blitzten. Mit gehöhlten Händen rief sie einem vorüberkeuchenden Schleppdampfer ihr »Hoiho!« zu und war stolz, als der fremde Steuermann mit Nachdruck entgegnete.
»Ich hab' ihn zwar nicht verstanden, Kornelius, aber schön war's auf alle Fälle!«
»Es war eine der landesüblichen Höflichkeiten,« erwiderte Kornelius Vanderwelt, und der Wind riß ihm die Worte vom Munde. »Die Bedeutung ist Nebensache. Auf die Gesinnung kommt's an!«
Unter dem breiten Mützenschirm lachten ihre Augen. Ihr Gesicht war vom Wasserwind gerötet wie das einer Indianerin auf dem Amazonenstrom, und das geschmeidige Ölzeug schmiegte sich prall um die Linien ihres Leibes.
»Hei, du mein lieber Schiffsjunge!«
»Hei, du mein lieber Schiffersmann!«
»Ich muß meinem Mund zu tun geben, sonst springt er zu dir hinüber!«
»Steck' dir eine Pfeife an! Rauchen ist das beste Heilmittel! Rauchen bringt über alles hinweg!«
Er hielt das Steuerrad des brausenden Bootes mit der Linken und nestelte mit der Rechten die gestopfte Schagpfeife aus der Seitentasche. Aber wie kunstreich er sich auch mühte, einhändig blieb er unbehilflich, und der Wind blies ihm wieder und wieder die Flamme des Streichholzes aus.
»Du pfuschest mir in den persönlichen Dienst, Baas. Gib die Pfeife her. Ich werde sie dir anzünden.«
Und Angela Freydag nahm ihm die Pfeife aus dem Munde, steckte die geradgerichtete Spitze zwischen ihre Lippen, wandte sich gegen die Kajüte und brachte den Tabak zum Glühen.
[S. 210]
»Willst du mir wohl die Pfeife nicht ausrauchen, du Unband?«
»Zwei Züge noch. Nein, drei. Ich muß meinem Munde auch zu tun geben.«
Sie trat an ihn heran und steckte ihm die lustig brennende Pfeife zwischen die Lippen. Und wieder ließ er mit der Rechten das Steuerruder los und erhaschte ihre Hand und legte sie flach gegen seine wetterbraune Wange.
»Mein liebes, frohes, frohmachendes Mädchen du — —«
»Wenn ich das bin, bin ich soviel wie eine Königin.«
»Und ich dein geliebter Untertan.«
»O du geliebter Untertan, wie weise du bist. Ein Untertan, der mein Geliebter ist, ist mein Herr!«
»Beides sein, Angela-Engel, beides sein! Herr des anderen und Untertan seiner Liebe! Und das Königreich schließt um uns her alle Tore zu.«
Er gab mit einem kräftigen Druck ihre Hand frei, beugte suchend sich vor und packte das Steuerrad mit beiden Fäusten, um einen vor Anker liegenden Schlepperzug zu umfahren. Kreuzend glitt das Boot über den dunklen Wasserspiegel, und die Stunden rannen.
»Es wird Nacht,« sagte der Steuermann, »und es ist Zeit, umzukehren. Wende noch nicht den Kopf, Engel. Laß dich überraschen. Das schwarze Ruhrort ist eine Zauberin und läßt den, der es liebt, das traumhafte Venedig erblicken.«
Das Boot legte sich schräg gegen das Wasser und beschrieb aufrauschend einen Bogen. Angela Freydag öffnete den Mund. Sie wollte einen Schrei ausstoßen und vermochte es nicht. Sie streckte die Arme aus und starrte mit weitgeöffneten Augen. Ruhrort war versunken. Versunken mit allem, was im Werktagslicht zu ihm gehörte. Versunken mit den geschwärzten Giebeln und Schloten und den Kohlenhäfen und den ächzenden, breitbäuchigen Booten.[S. 211] Und ein Vineta war an seiner Statt erstanden, aus den geheimnisvoll glitzernden Wassern des Rheins und der Ruhr, der Hafenbecken und Kanäle aufgetaucht. Tausende von weißen, Tausende von farbigen Lampen schlangen sich in leuchtenden Gewinden durch die Luft, überströmten mit Märchenlicht die Mauern, daß sie wie Paläste schimmerten, schufen aus Schloten ferne Glockentürme, aus flachen Fabriken morgenländische Festungswerke, rankten sich um die schlummernden Lastkähne und verzauberten sie in Prunkgondeln des Dogen, die aufgellenden Harmonikaklänge in sehnsuchtsheißes Gitarrengetön und die nächtigen Brückenbogen allüberall in licht-erzitternde Seufzerbrücken der Seligkeit. Und in loderndem Kranze ringsum, Feuerberge der Sage, spien die Hochöfen ihre Flammen gegen den purpurgefärbten Himmel.
»Fürstenempfang,« sagte der Mann am Steuer. »Ruhrort begrüßt eine Fürstin der Kunst.«
»Nein, die Geliebte Kornelius Vanderwelts ...«
Das Boot glitt in den Lichtkreis hinein. Hinter ihm blieb eine leuchtende Spur. Und es glitt an die Quadermauer des Hafendammes, stoppte ab und legte am Laufsteg an. Ein Nacherbeben lief durch seine Glieder.
Kornelius Vanderwelt hatte das Boot am Pflock vertaut und schlang den Schifferknoten. Er bot der Gefährtin die Hand und half ihr an Land. »Ach, Engel, du hast noch das Ölzeug an.« Und er öffnete Knopf für Knopf bis unter das Kinn, und wieder stand sie ganz still unter seinen Händen.
Als sie durch das Nachtdunkel dem Hause zuschritten, spürten sie beide, daß ihre Schultern sich suchten.
Das Haus lag dunkel und still. Tiefe Ruhe umfing sie, als sie eintraten und Kornelius Vanderwelt das Licht aufflammen ließ. Im Ablegeraum reinigten sie ihre Hände vom Öl und Staub des Schiffes und betraten das Arbeitszimmer.[S. 212] Im Licht der Lampen stand der Imbiß auf dem Tisch und wartete der Heimkommenden.
Angela Freydag war es, als hätte sich in dem Dutzend Jahre ihres Fernseins nichts geändert. Nein — nichts, nichts.
»Greif zu, Engel, du wirst Hunger haben.«
Sie schüttelte den Kopf. »Iß du —«
Er schenkte zwei Gläser voll Rheinwein. »Mehr kann ich auch nicht. Und auch das nur, wenn du mir Bescheid tust.«
Sie nahm das Glas aus seiner Hand und ließ es leise gegen das seine klingen. Und während sie hinter dem schwingenden Klange herhorchten, der wie ein Gewisper das Zimmer erfüllte, trank ein jeder sein Glas in langen Zügen leer.
Als sie die Gläser auf den Tisch zurückstellten, berührten sich ihre Hände. Und so stark schlug die leise Berührung in ihr Blut, daß sie aufschraken und sich wortlos ansahen, als sähen sie sich so zum ersten Male. In einem Schrecken, der die Überfülle der Freude war.
Kornelius Vanderwelt sprach zuerst. Er hörte die eigene Stimme wie aus weiter Ferne.
»Ich muß dir etwas sagen, Angela. Es ist gewiß überflüssig, daß ich es dir sage, aber es tut dir vielleicht wohl. Als ich dich zum ersten Male sah, als Glücksritterin auf der Landstraße, gefielst du mir. Als ich dich zum zweiten Male sah, auf deiner Flucht aus den ›Fünf Erdteilen‹, horchte etwas in mir auf. Als ich dich zum dritten Male sah, im Walde dich selbst, war eine atemlose Freude in mir. Der Volksmund sagt: Vor Freud' drückt's mir das Herz ab. Nun sprich du.«
»Ich, Kornelius?«
»Ja du, Angela. Es muß jeder seine Beichte tun.«
[S. 213]
»Leg' den Arm um mich, Kornelius, und zieh mich so fest an deine Brust, daß ich nicht mehr weiß, wo mein Atem endet und wo dein Atem beginnt, und du hast alle Beichte meines Lebens. In Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Kornelius.«
Auge in Auge standen sie, Knie an Knie. Und er umschlang sie so fest, daß ihr Gesicht weiß wurde und aus dem weißen Gesicht ihr Mund ihm scharlachrot entgegenleuchtete.
»Dein Herz,« sagte er, und seine Hand lag auf ihrer linken Brust.
»Du drückst mir das Herz ab, du —«
»Wer ist ›Du‹ —?«
»Meine Freude!«
»Und meine Hand hält meine Freude.« — —
Es war eine große Feiertagsstille in den beiden Menschen, und die Feiertagsstille ging durch das ganze Haus. Wunsch und Wille strömten zusammen zu einer Lebenswelle. — — —
[S. 214]
Keiner von den vielen, mit denen Kornelius Vanderwelt in geschäftlichem oder geselligem Verkehr stand, die mit ihm arbeiteten oder mit ihm auf ihre Weise den Feierabend hielten, hatten ihn seit Jahren so jung und tatendurstig gesehen wie in diesen Frühlingsmonaten. Sein Auge hatte das alte Feuer zurückgewonnen, sein Mund die frohe, schlagkräftige Rede, und wenn er um die Mittagsstunde durch das Gewühl vor der Schifferbörse schritt, aufrecht in den Schultern und biegsam wie ein Junger, lachte es ihn aus den verwitterten Gesichtern in vertraulichem Stolze an, und ein Vorlauter raunte wohl: Kornelius Vanderwelt ist in seine zweite Jugend gekommen.
Der aber, dem das Raunen galt, wußte es besser. Er fühlte es täglich und stündlich, daß keine zweite, keine Scheinjugend zu ihm gekommen war und er nicht zu ihr, daß er wieder auf dem Wege seiner ersten und einzigen Jugend schritt und ihn nicht mehr verlassen würde, bevor die ewige Nacht es wollte.
Nein, er dachte nicht an die ewige Nacht. Er dachte überhaupt nicht an Tag oder Nacht. Er dachte nur an das starke Leben, das ihn umfing und das sich aus dem edlen Ebenmaß der Tage und Nächte zusammensetzte wie der Körper aus Haupt und Gliedern. Und daß es Angela Freydag war, die das edle Ebenmaß bewirkte, durch nichts anderes als durch ihr Dasein.
Daß sie da war. Daß sie im Morgen seines Tages stand[S. 215] und im Mittag und im Abend. Daß sie so sicher und verläßlich da war, wie Morgen, Mittag und Abend wechselten. Über alle Liebe hinaus war es diese starke Verläßlichkeit ihres Wesens, die ihm die federnden Kräfte schenkte. Weil sie ihn des Rückwärtsschauens überhob.
Wenn Kornelius Vanderwelt im Getriebe des Geschäftes der Gefährtin gedachte — und er trug ihr Bild im Drang der Kontorarbeit bei sich und im Getöse des Hafenverkehrs — so leuchtete sein Inneres wie von geheimen Lichtern, und eine Wärme floß durch sein Blut, daß er mitten in Arbeit und Verhandlung die Arme dehnte ...
In den ersten Tagen ihrer Wiederkehr hatte sich Angela Freydag ihr kleines Reich gerichtet. Kornelius Vanderwelt hatte es lächelnd in Augenschein genommen.
»Hübsch schaut dein Stübchen aus, Engel. Alles so blank und säuberlich geordnet, wie die weißen und schwarzen Tasten auf deinem Konzertflügel. Doch, doch, es ist der deine, der da drüben. Und wenn du dein Reich nun doch schon mit dem Musikzimmer vergrößern mußt, um zu dem deinen zu gelangen, so tue ruhig einen Schritt weiter in mein Arbeitszimmer und nimm die andere Seite des Schreibtisches für dich.«
»Gern, Kornelius, und du sollst nichts von mir merken.«
»Das ist ja eben das Wunderschöne, Engel, daß ich es an der Leere des Zimmers merken würde, wenn du nicht da wärst.«
»Weißt du auch, daß du mich verwöhnst?«
»Ich weiß nur, daß ich mich verwöhne und daß mir wohl ist, wie nie im Leben.«
»Wenn es an mir liegt,« erwiderte sie nur und sonst nichts, »sollst du froh bleiben.«
Und er blieb froh, und sie blieb es mit ihm über alle Maßen. Tief im Brunnen ihrer Kindheit verschüttete Gaben[S. 216] und Begabungen tauchten auf, aus den Zeiten, da sie als halbflügges Mädchen für den kleinen, elterlichen Haushalt einstehen mußte. Wenn der Vater eine Opernvorstellung leitete und die Mutter, jählings den Nerven folgend, Haus und Herd im Stiche ließ und dem Manne an der Theaterpforte auflauerte. Oder aus den Tagen, da der Vater in einer Winkelkneipe sein Eheelend niedertrank und die Mutter durch die Gassen irrte, um ihn zu finden und wieder an sich zu ketten. Damals war sie Kind und Köchin, Hausversorgerin und Helferin in eins gewesen, und während ihres armseligen, körperlichen Dahinlebens auf der Musikhochschule waren ihr die bitteren Errungenschaften zum Heil und Segen ausgeschlagen.
Auf starken Füßen stand sie heute im Leben. Und schon schmückte das Grün des Lorbeers ihr Haar und wies ihr die weitgeöffneten Tore der Welt. Und dennoch. Als wären es Schätze, die sie für den Geliebten, den Toresprenger, aufbewahrt hätte, stieg sie in den Brunnen ihrer Kindheit hinab und wählte und wog und förderte zutage. Weib war sie geworden, und weil sie fühlte, daß sie es durch die Liebe zu dem einen geworden war, gab es kein Ding für sie und kein Tun, das sie hätte verkleinern können.
Wenn er morgens das Frühstückszimmer betrat, harrte sie schon im weißen Kleide am weißgedeckten Tisch, und alles wehte ihn wie weiße Frische an und ließ ihn frische Atemzüge tun. Ihre Hände, die jedem Gegenstand Ausdruck verleihen konnten, als wären es die singenden Tasten des Flügels, maßen den Tee in die Kanne, ließen das aufkochende Wasser über die Teeblätter sprudeln, füllten die Tassen und schnitten die Brote. Wenn er zum Mittag heimkehrte, fand er sein Arbeitszimmer blitzblank in der Ordnung, und keine Hand als die ihre war über den Schreibtisch gewandert, keine Hand als die ihre hatte[S. 217] gesorgt und gesichtet, zurechtgerückt und doch alles in der alten Stellung belassen. In schlichtem, kleidsamem Gewande, immer ein paar Blumen an der Brust, saß sie mit ihm zu Tisch, und während er ihr sein Erlebtes berichtete und sie kein Wörtlein davon verlor, schoben ihre schmiegsamen Hände ihm in der Stille zu, was seine Augen suchten, das Brot, den Wein, eine Frucht. Betrat er aber in der Feierabendstunde sein Haus, ein wenig müde vom Tag und doch erwartungsvoll vor dem, was er finden würde, so fand er sein Haus erleuchtet und den Abendtisch geschmückt und inmitten von Licht und Farben das schöne Geschöpf Gottes in der starken und gebändigten Freude, dem Manne eine Freudenbringerin sein zu dürfen und sein bestes Teil. Nie erwartete sie ihn zu dieser Stunde anders als in einem frohen und frohmachenden Abendgewande, und der festliche Grundton ihres Beisammenseins war angeschlagen, bevor sie sich zu Tische setzten, und hallte in verstärkten Schwingungen fort, wenn sie, ihren Arm in dem seinen, das Musikzimmer betraten zum ineinanderklingenden Zusammenspiel. Oder, was er immer heißer liebte, zum Einzelspiel und zur Offenbarung ihrer machtvoll gesteigerten Natur.
Solcher Gestalt waren die Tage und Nächte, die das edle Ebenmaß hielten und doch in Farbe und Gestaltung vom Heute zum Morgen wechselten, wie die Rose dem Flieder folgt und der glühende Herbststrauß den Rosen und Syringen.
Solcher Gestalt und immer in sich verschieden.
Denn der schnelle Wagen blieb nicht im Gewahrsam und führte sie auf weiten Fahrten landein und landaus in still träumende Landschaften und lautwogende Städte. Und die weiße Motorjacht zerrte nicht vergebens im Getaue und wußte Einblicke und Ausblicke auf den ungezählten[S. 218] Meilen der Wasserbahn, die mit den Pferdekräften der Maschine spielend zu gewinnen waren. Oft rötete sich im Osten der Morgenhimmel, und die schlanken Uferpappeln streckten ihre Spitzen in das Purpurgold, wenn sie heimkamen und mit verschlungenen Armen das Haus betraten.
Noch war kein Auge in die Verschmolzenheit ihres Lebens, in das Geheimnis ihrer Kraft und Schönheit eingedrungen.
»Es wird Zeit,« sagte Angela an einem Morgen und strich ganz zart über seine glücklichen Augen, »es wird Zeit, Kornelius, daß ich deine Kinder sehe.«
»Meine Kinder sind erwachsene Menschen, wie du bist und ich bin, und gehen ihre eigenen Wege.«
»Sie sollen nicht glauben, wir versteckten uns im Garten Eden, Kornelius.«
Seine Augen flammten herrisch auf, und sie bedeckte sie rasch mit beiden Händen.
»Ruhig, ruhig bleiben,« bat ihre Stimme.
»Wenn ich deine lieben Hände spüre, bin ich es, Engel. Und nun will ich ganz ruhig sprechen. Meine Kinder haben zeit ihres Lebens nur von ihren Rechten Gebrauch gemacht und nie an ihre Pflichten gedacht. Sie haben sich aufs Geratewohl ihr Leben gezimmert, wie es sie am angenehmsten dünkte, und meine Wünsche in den Wind geschlagen. Kann ein Mensch oder eine höhere Gewalt von mir verlangen, daß ich die Gleichstellung, die sie so früh erzwungen haben, noch unterbiete und mich freiwillig unter ihre Vormundschaft begebe? Nein und nie, Angela.«
Er nahm ihre Hände von seinen Augen, legte sie eine Sekunde lang gegen seinen Mund und schritt zum Schreibtisch, um die Aufschriften der eingelaufenen Morgenpost anzusehen.
Sie folgte ihm mit den Blicken, bis er das Briefpaketlein[S. 219] wieder auf die Tischplatte gleiten ließ und sich nach ihr umwandte. Ihre Blicke ruhten ineinander.
»Konntest du mich wirklich mißverstehen, Kornelius? Nicht wahr, diese Frage klingt schon ganz unmöglich? Es war nur dein rascher Zorn, der den Unbilligkeiten anderer galt und mich dabei streifte. Nein, nein,« wehrte sie in seiner schnellen Umarmung. »Es tut nicht weh. Wie könnte mir die Liebe wehe tun? Und den Garten Eden habe ich ja gar nicht ihrer Bevormundung unterstellen wollen. Eher brennte ich ihn mit eigenen Händen nieder. Ja, du, ich wäre imstande dazu. Umgekehrt habe ich es gemeint. Unser Garten Eden steht mir so hoch und unantastbar, daß nicht einmal der Glaube an ein Versteckenspielen in anderen Köpfen auftauchen darf, ohne eine Beleidigung zu sein. Unsere Stammeltern sind nicht aus dem Paradiese vertrieben worden, weil sie vom Baum des Lebens aßen, sondern weil sie feige waren und sich vor Gott versteckt hielten, als er sie rief.«
»Und du? Und du?« rief er, hielt ihren Kopf von sich und sah ihr groß in die Augen.
»Ich?« fragte sie zurück. »Ich oder du, es ist das gleiche. Wenn dieser Baum unseres Lebens gefällt werden sollte, so würden wir mitgefällt. Denn er ist nicht im Paradiese, sondern aus Dornen und Disteln gewachsen und aus allem Unglauben unseres Lebens, so hoch, daß wir lebensgläubig werden sollten.«
»Wie stark und furchtlos dein Glaube ist, Angela-Engel.«
»Wenn ich einem Menschen das Erdenglück bringen und tief empfinden darf, wie es im Wechsel in mich zurückflutet, so weiß ich, daß ich auf dem rechten Wege zum Himmel bin, soweit es Menschenkinder wissen können.«
»Mit deinen reinen Händen, Angela. An deinen reinen Händen liegt es.« — —
[S. 220]
Selten war Kornelius Vanderwelt so hochgemut über die Straßen geschritten wie an diesem Morgen. Noch lag der Widerschein des Erlebnisses auf seiner Stirn, als er das Geschäftshaus betrat und durch die Pultreihen hindurch sein Sondergelaß aufsuchte.
Durch den Fernsprecher rief er zum Hauptkontor hinüber.
»Ich bitte Herrn Beckenried mit den Eingängen zu mir.«
Die Verbindungstür öffnete sich und schloß sich. Schritte kamen näher und hielten an. Kornelius Vanderwelt wandte den Kopf.
»Ah, ihr seid es? Guten Morgen, Klaus. Guten Morgen, Thomas. Weshalb kommt Vater Beckenried nicht?«
»Mein Vater,« hob Klaus Beckenried an, »läßt sich entschuldigen. Er liegt krank zu Bett.«
»Oh — das bedaure ich. Wieder einmal ein Anfall seines alten Leberleidens?«
»Diesmal ist es die Galle.«
Kornelius Vanderwelt hob die Augen von den Briefschaften. Er sah dem jungen Manne auf den zusammengekniffenen Mund.
»Du betonst das Wörtchen ›diesmal‹ so eigentümlich, Klaus? Hat es einen Grund?«
»Ich wollte damit sagen, daß es einmal ein Leberleiden und einmal ein Gallenleiden ist, was der Vater als Belohnung von dannen trägt. Diesmal ist es die Galle.«
»Entspricht es deinem besonderen Wunsche, Klaus, daß Thomas unserer Unterhaltung beiwohnt? Ich pflege sonst den Kreis der Zuhörer selber zu bestimmen.«
Der junge Beckenried blickte in die Zimmerecke.
»Es entspricht meinem besonderen Wunsch. Er kann nur daraus lernen, wie ein Mitglied der Familie Vanderwelt sich nicht zu benehmen hat. Jawohl, das behaupte ich.«
[S. 221]
»Darf ich fragen, um welches Mitglied der Familie Vanderwelt es sich handelt.«
»Um Juliane handelt es sich.«
»Da bedauere ich recht herzlich. Juliane ist auf dein leidenschaftliches Begehren vor sechs Jahren aus der Familie Vanderwelt ausgeschieden, um ohne Aufschub zu einem Mitglied der Familie Beckenried zu werden. In diesem Falle müßte sich also ein Mitglied der Familie Beckenried schlecht benommen haben.«
»Es handelt sich hier nicht um Spitzfindigkeiten,« brauste der Erbitterte auf.
»Nein, es handelt sich in meiner Gegenwart um Ruhe und guten Ton. Wenn deine Angelegenheit wieder einmal keinen Aufschub verträgt, wie vor sechs Jahren bei der Kriegstrauung, so nimm Platz und erzähle mir, durch welche Umstände sich dein Vater ein Gallenleiden zugezogen hat.«
Er wies höflich auf einen Stuhl, und der junge Beckenried setzte sich widerwillig auf die Kante.
»Darf ich mich jetzt beurlauben,« fragte Thomas Vanderwelt, und über sein verblaßtes Gesicht lief der Spott.
»Da dein Schwager Klaus dich bestimmt hat, mit einzutreten, so mag er weiter bestimmen.«
»Ich weiß ja nicht einmal mehr, was ich selber hier soll,« murmelte der junge Beckenried und hob die Achseln, »nach der geschickten Wendung, die du dem Gespräch gegeben hast.«
Kornelius Vanderwelt strich sich über die Stirn. Und es war ihm, als ob er Angelas kühlende Hand fühlte.
»Es freut mich, Klaus, daß du meine Geschicklichkeit, ein Gespräch ohne Umschweife in die rechte Bahn zu lenken, anerkennst. Du tust es ein bißchen grimmig. Aber verärgerte Leute haben das Recht des Grimmes voraus.[S. 222] Also deine Frau hat dir Grund zur Unzufriedenheit gegeben, und du möchtest meine Erfahrenheit um Rat fragen. Ich bin ganz Ohr.«
»Die schlechte Mädchenerziehung Julianes«, stieß der Erzürnte hervor, »trägt in der Ehe von Jahr zu Jahr herrlichere Früchte. Ach, was sage ich! Von Tag zu Tag! Von Tag zu Tag wird ihr Betragen unerträglicher. Erst hat sie mir das Geld aus der Tasche genommen. Jetzt, da ich mich vorsehe, nimmt sie es dem Vater. Und gestern —«
»Halt einmal,« ersuchte Kornelius Vanderwelt und winkte mit der Hand kurz ab. »Die schlechte Erziehung meiner Tochter steht hier nicht zur Untersuchung, sondern das schlechte Benehmen deiner Ehefrau. Bitte, ich habe das Wort, du hast das unfertig erzogene Kind gewollt, wie es ging und stand und aus der Schweizer Erziehungsanstalt weggelaufen war. Acht Tage eines ziemlich ungebundenen Zusammenseins schienen dir vollauf zu genügen, um ihr liebenswertes Gemüt so schwärmerisch zu ergründen, daß es eine Kriegstrauung auf Knall und Fall geben mußte. Ich habe dich ernst gefragt und dich ernst gewarnt, und du hast dich verantwortungsfroh vor mich hingestellt und mir deine und ihre Vorzüge aufgezählt. Noch höre ich dein Wort im Ohr: ›Herr Vanderwelt, ich enttäusche Sie nicht‹ und meine Antwortfrage: ›Wissen Sie denn nach einer wilden Reise von acht Tagen, daß Juliane Sie nicht enttäuschen wird?‹ Aber mein Rat, das Ende des Feldzuges abzuwarten, wurde rückhaltlos zur Seite geschoben. Nun suchst du Rückhalt.«
»Ich suche keinen Rückhalt! Ich ersuche dich um dein väterliches Eingreifen!«
»Lieber Klaus, das wäre! Eheangelegenheiten liegen immer nur zwischen zweien. Die seligen Tage wie die weniger beseligenden. Wenn du einer Frau noch nicht[S. 223] gewachsen warst, so hättest du das Heiraten unterlassen sollen. Aber keinen Dritten hineinziehen. Keinen Dritten, wenn dir an Glück und Ehre gelegen ist.«
»Predige es doch deinem Sohn Thomas! Seine Ehre kann es weit mehr noch gebrauchen als die meine!«
Thomas Vanderwelt zog die Lippen von den Zähnen.
»Ich beklage mich ja auch nicht. Ich belustige mich höchstens. Auch an dir, teurer Schwager Klaus.«
Kornelius Vanderwelt lehnte sich mit kühler Stirn im Stuhle zurück.
»Die persönlichen Unterhaltungen sind hiermit beendet. Was habt ihr mir Geschäftliches vorzutragen?.«
Der jüngere Beckenried erhob sich straff von seinem Stuhl, und auch Thomas Vanderwelt ließ seine Lässigkeit fahren und stand in aufrechter Haltung vor dem Geschäftsherrn. Das Geschäft regierte die Stunde.
Der junge Beckenried trug die eingegangenen Aufträge vor. Nach jeder einzelnen Nennung wartete er die Bemerkungen des Geschäftsherrn ab und machte sich seine Aufzeichnungen. Thomas Vanderwelt berichtete über das Angebot des Schiffsraumes, nannte die Eigentümer der Kähne und ihre Forderungen. Dann waren sie entlassen, und Kornelius Vanderwelt arbeitete für sich, prüfte die Verteilungspläne, Lade- und Löschzeiten und die Möglichkeiten der Rückfrachten. Oft hob die Hand den Fernsprecher ab, verhandelte er kurz mit den Werken, Zechen und Reedereien, rief er die Auftraggeber am Oberrhein, in Holland, an den Kanalplätzen an und schrieb und rechnete aufs neue. Jeder Gedanke war scharf auf die Schiffsverfrachtungen gerichtet. Nicht einer sprang ab und suchte einen Haken auf das persönliche Gebiet zu schlagen. Die Willenskraft des Mannes hielt sie ans Stichwort gebannt.
Um die elfte Morgenstunde überschritt er den Hafendamm[S. 224] und stand eine Weile eingekeilt zwischen den angesammelten Schiffern. Hände legten sich auf seine Schultern, Zurufe wirrten in seinem Ohr.
»Wir finden bei dem Geschäft keine Rechnung mehr, Herr Vanderwelt! Wenn wir glücklich im Bestimmungshafen anlegen, is et Geld entwertet! Wat tun wir mit den steigenden Frachtlöhnen, wenn der Geldwert noch schneller fällt. Dat is Beutelschneiderei! Da soll der Deubel fahren, aber nich wir!«
»Vernunft behalten!« rief ihnen Kornelius Vanderwelt entgegen, »wenn der Deubel fährt, könnt ihr die Asche kratzen. Es ist die verfluchte Zeit, die Beutelschneiderei betreibt, nicht der Handel. Aber es muß ein Ausweg geschaffen werden.«
»Herr Vanderwelt, Sie haben so oft unsere Sache in Ihre Hände genommen, helfen Sie uns aus dem Dreck!«
»Wenn ihr Zutrauen zu mir habt —«
»Haben wir alle!«
»Ein weiser Mann hat einmal gesagt: Getretener Quark wird breit, nicht stark. Und nun laßt mich hineingehen.«
Ein paar Hochrufe erschallten. Und Kornelius Vanderwelt wußte nicht, ob sie dem Weisen von Weimar galten oder seiner Mittlerperson.
Er betrat die Halle der Schifferbörse und suchte den Vorstand auf.
»Wollen wir keine Stockungen im Handels- und Schiffsverkehr, so schlage ich die Gutschrift der Löhne in Gulden vor, meine Herren, bis sich die deutsche Reichsmark wieder sehen lassen kann. Wir stehen erst am Beginn der Wertsenkung und es wird im Vaterlande ein wüstes Durcheinander werden. Erhalten wir uns die Kahnführer arbeitsfreudig, mit einigen Opfern am Kursgewinn kann es geschehen, und die Schiffahrt wird oben schwimmen, wenn[S. 225] es mit den meisten anderen Unternehmungen in den dicken Nebel oder jäh in die Tiefe geht.«
Der Vorstand beschloß, sofort die in den Ruhrhäfen verladenden Firmen und die in den Ruhrhäfen verkehrenden Einzelschiffer, die ›Partikuliers‹, zu einer Börsenversammlung einzuberufen und dem drohenden Unwetter vorzubeugen.
Die Masse der Schiffer hatte sich noch nicht vom Platze bewegt, als Kornelius Vanderwelt wieder aus der Halle trat. Die Leute schauten ihn schweigend, aber mit gekniffenen Augen an.
»Börsenversammlung! Mit abgekürzter Einladefrist!« rief er den Nächststehenden zu. »Kerle, die in Wind und Wetter ihren Mann stehen, werden es wohl auch bei dem bißchen Geblase an Land. Also ruhig und würdig, Leute. Mit dem Koller fährt man auf und mit der Kaltblütigkeit wirft man das Schiff ins Fahrwasser herum. Wollen mal sehen, was mit dem holländischen Gulden zu machen ist, he? Die Einzelschiffer stimmen gleichberechtigt mit den Firmen.«
Die Nächststehenden hatten Satz für Satz weitergegeben. Es wurde still, und die gekniffenen Augen weiteten sich friedlich. Ein Alter, der den Bart als Schifferkrause von Ohr zu Ohr trug und baumelnde Ringe in den Ohren, trat vor und streckte Kornelius Vanderwelt die rissige Hand entgegen.
»Schönen Dank auch, Herr Vanderwelt. Wir vergessen nix.«
Allein wie er gekommen war, schritt Kornelius Vanderwelt seinem Geschäftshause zu. Zu Erholungsfahrten war in diesen unruhigen Tagen nicht die Zeit. Und der Sommer näherte sich schon dem Herbst, bevor sie wieder hinaus konnten in die Nähe und Weite, die Gefährtin eng an des Mannes Seite.
[S. 226]
Angela Freydag aber hatte längst ihre einstige Schülerin aufgesucht, und Kornelius Vanderwelt hatte nichts mehr dawider gehabt.
»Du giltst in der Stadt als eine Verwandte, die nach Fräulein Bilsenbachs Tod mein Hauswesen leitet. Soweit man bei unserer Abgeschlossenheit überhaupt Vermerk von dir zu nehmen geruht hat. Die Kinder haben mich noch nicht ein einziges Mal befragt, so sehr sind sie mit der Fülle ihrer eigenen Angelegenheiten beschäftigt.«
»Ich denke, die Stadt nimmt auch weiter keinen Vermerk von mir. Mein Tag ist mit dir ausgefüllt.«
»Es liegt im Wesen einer Hafenstadt, Engel, daß man sich die übliche Neugier ein wenig abgewöhnt, richtiger, daß sie einem abgewöhnt wird. Jeder Tag bringt hundert neue Schiffe und mit den Schiffen hundert neue Gesichter. Keiner weiß: Sah ich dies Gesicht schon oder wann sah ich es zuletzt? Sind es Gäste, Durchreisende, Geschäftsfreunde oder Angestellte? Und so schwindet die Achtsamkeit schnell.«
Zu einer Vormittagsstunde wurde Juliane Beckenried der Besuch eines Fräulein Freydag gemeldet.
»Wie sieht sie aus?« fragte sie leichthin und vertraulich das Mädchen. »Wie eine Dame oder nur wie eine Geschäftsdame?«
»Rechnungen hat sie nicht bei sich, gnädige Frau.«
»Liebes Kind, antworten Sie nächstens genauer auf meine Frage. Ihre Dummheit in Ehren. Ich lasse das Fräulein bitten.«
Angela Freydag trat über die Schwelle, im schlichten, ruhigen Straßenkleid. Sie sah nicht das weiße Rokokozimmer mit den farbigen Bildflecken an den Wänden. Ihre Augen waren verwundert auf die überschlanke Gestalt im kniefreien, buntseidenen Morgengewand gerichtet, auf das jungenhaft verschnittene, mit wenigen Strichen zurechtgekämmte[S. 227] Haar, auf die forschenden Augen mit den fein nachgezogenen Schattenrändern.
»Sind Sie es, Juliane?«
Juliane Beckenried warf einen flüchtigen Blick auf die Besuchskarte und trat einen Schritt näher.
»Sie reden mich bei meinem Vornamen an? Haben wir uns denn einmal gekannt, gnädiges Fräulein?«
»Also ganz in Ihrem Gedächtnis erloschen? Freilich, es sind wohl ein Dutzend Jahre, und Sie waren noch ein kleines Schulmädchen und sind heute eine Frau, die wohl selber schon einen kleinen Schuljungen ausschickt. Ich hieß aber damals, wie ich heute heiße, Angela Freydag, und erteilte Ihnen ein Jahr lang Klavierunterricht.«
»Ach, Sie sind das? Ich habe vielerlei Klavierlehrerinnen gehabt. Aber Ihrer entsinne ich mich jetzt. Natürlich, Sie wohnten doch eine Zeitlang in unserem Hause, wenn ich mich recht erinnere? Ja, doch! Papa beschenkte Sie zu Weihnachten mit einem ganzen Aussteuerkoffer. Und ich war furchtbar neidisch.«
»Also das wissen Sie doch noch ...?«
Juliane Beckenried legte den Kopf zurück. Ihre Augen schlossen sich zu einem Spalt.
»Und nun wollen Sie nachfragen, mein Fräulein, ob ich meinem Sohn Klavierunterricht erteilen lassen will? Er ist wirklich noch ein wenig unbedeutend, und die Musik, die Sie lehrten, dürfte auch überholt sein.«
»Gestatten Sie, daß ich für die kurze Dauer meines Besuches Platz nehme?« fragte Angela Freydag freundlich.
»Oh — ganz nach Belieben. Ich erwarte nämlich meine Schneiderin. Das ist heute eine wichtige Angelegenheit.«
»Nicht wahr? Wichtig und verwunderlich bei den paar Handbreit Stoffen.«
[S. 228]
Sie saß bequem in einem Halbsessel zurückgelehnt und plauderte.
»Nein, Juliane, auf welche Gedanken Sie kommen. Ihr kleiner Junge hat nichts von meiner Klavierkunst zu befürchten. Ich betreibe sie sozusagen nur zu meiner und weniger anderer Freude. Beethoven, wissen Sie, nicht Jazz. Aber das wollen wir ruhig als persönliche Liebhabereien gelten lassen.«
Juliane Beckenried hatte sich in aufquellender Neugier einen zweiten Halbsessel herangezogen.
»Oh — ich habe sehr um Entschuldigung zu bitten. Durch die Kleidung wird es einem heute so schwer gemacht, eine Dame von einem berufstätigen Fräulein zu unterscheiden. Denken Sie, ich wurde kürzlich für ein niedliches Ladenmädchen gehalten und von einem Ladenjüngling zum Tanz aufgefordert.«
»Hoffentlich haben Sie ihn gebührend in seine Schranken gewiesen.«
»Ach, wieso denn? Der Junge war so belustigend und übernimmt einmal das Damenkleidergeschäft seines Vaters.«
»Ja, wenn er das tut — dann ist es freilich eine andere Sache.«
Juliane lachte. Sie wurde nicht recht warm mit der Besucherin, die selbst beim Scherzen den ernsten Mund behielt.
»Sie befinden sich auf der Durchreise in Ruhrort, Fräulein Freydag?«
»Das wohl nicht. Sowenig wie vor zwölf Jahren. Ihr Herr Vater behauptet, ein Recht aus einer Verwandtschaft herzuleiten, die uns von früher verbindet, und hat mich nach Fräulein Bilsenbachs Tod noch einmal in sein Haus gerufen.«
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»Papa sollte uns sein Haus übergeben und eine nette Junggesellenwohnung beziehen. Dann wäre ihm und uns geholfen und er brauchte keine Verwandte zu behelligen. Übrigens — Verwandte? Ich kenne wirklich keine mehr.«
Angela Freydag sah die Befragerin lächelnd an.
»Die Verwandtschaft liegt wohl schon um ein paar Ecken und Winkel herum. Aber Ihrem Herrn Vater genügt sie.«
»Der Papa wird alt,« seufzte Juliane, »er täte gut, das Geschäft langsam in die Hände meines Mannes übergehen zu lassen. Auch Thomas würde sich freuen.«
»Ich habe Thomas noch nicht wiedergesehen«, sagte Angela Freydag, »und vermag mir daher ein Urteil über seine Anschauungen noch nicht zu bilden. Aber ich will gern das Meine tun, in Ihrem Herrn Vater den Glauben an die Jugend zu erhalten.«
Juliane verstand nicht recht.
»Meinen Sie damit, den Glauben an uns? Dann reden Sie ihm doch zu, ihn etwas stärker zu beweisen und — und — in die Wirklichkeit umzusetzen. Liebes Fräulein Freydag, wenn Sie meine Freundin werden wollen — Sie sehen, ich falle mit der Tür gleich ins Haus — so überreden Sie Papa, daß er mir in diesem schrecklich teuren Leben ein wenig Luft schafft. Ich bin für jede Summe dankbar, die er mir zuwendet. Am liebsten für ein festes Monatsgeld, damit ich weiß, wie weit ich springen kann. Und wenn Ihr Sinn einmal aus der alltäglichen Langweiligkeit hinaus in die Fröhlichkeit reizender junger Menschen steht, so rufen Sie es mir durch den Fernsprecher zu und ich nehme Sie mit und führe Sie ein. Es braucht ja nicht gerade Ruhrort zu sein.«
»Bei meinem hohen Alter, Juliane? Wollen Sie mich etwa als Ihre ehemalige Lehrerin vorstellen?«
[S. 230]
»Ach, das wird schon gemacht. Es tun noch Ältere mit, und Sie wirken ganz jugendlich. Das ist doch heute kein Kunststück.«
»Sehr schmeichelhaft, Juliane. Trotzdem fürchte ich, Sie werden wenig Ehre mit mir einlegen.«
»Hauptsache ist: bringen Sie recht viel Geld mit. Sie werden es dem alten Herrn schon abschmeicheln können.«
Angela Freydag erhob sich. Soviel Oberflächlichkeit des Wesens, soviel einfältige Selbstsucht hatte sie nicht einmal nach Kornelius Vanderwelts Erzählungen zu vermuten gewagt. Eine Bitterkeit stieg ihr auf die Lippen, die, stieg sie noch um ein geringes, den ersten Keim der Feindschaft in sich trug.
»Ihr Herr Vater ist jünger als Sie und ich. Von dem reizenden Kreis junger Menschen ganz zu schweigen, die nur durch das väterliche Geld zu ihrem Reiz gelangen. Und er ist auch klüger und wertvoller als dieser ganze Kreis, denn sonst hielte er nicht mit seinem Gelde und seinen Gesinnungen zurück. Gehen Sie zu Ihrem Vater, Juliane, und ergeben Sie sich ihm.«
Auch Juliane hatte sich heftig erhoben. Ein gereiztes Rot stieg ihr in das hübsche Gesicht.
»Darf ich vielleicht fragen — was mir denn eigentlich — die Ehre Ihres Besuches verschafft?«
»Dazu haben Sie gewiß das Recht,« sagte Angela Freydag und knöpfte ruhig ihren Handschuh zu. »Ich vermochte nicht zu glauben, daß eine Tochter so sehr von ihrem Vater verschieden sein könnte, und wollte versuchen, der Tochter den Weg zur Rückkehr anzubahnen. Ich wiederhole darum: Gehen Sie zu Ihrem Vater, Juliane, und ergeben Sie sich ihm.«
»Ja, meine hochverehrte Lehrerin, dann hätten wir uns wohl weiter nichts mitzuteilen.«
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»Mögen Sie Ihre Abweisung nie bereuen.«
»Wenn Sie damit sagen wollen, daß Sie im warmen Nest sitzen und Papa dazu bewegen könnten, sein Testament zu meinen Ungunsten abzuändern —«
»Lassen Sie das!«
Juliane tat einen Schritt zurück. Die blitzenden Augen standen dicht vor ihr. Sie duckte den Kopf, wie aus einer feigen Furcht, die Fremde möchte sie anspringen und niederreißen.
Draußen ging die Flurtür. Ein schneller Schritt, und die Tür zum Empfangszimmer wurde aufgestoßen.
»Ah, Klaus! Zu so ungewöhnlicher Zeit?«
»Wer ist die Dame?« fragte eine schroffe Stimme. »Willst du mich nicht vorstellen?«
»Meine ehemalige Klavierlehrerin, Fräulein Freydag. Mein Mann. Ein andermal, Klaus. Du siehst, daß ich Besuch habe.«
»Ich bin im Begriff zu gehen, Herr Beckenried.«
»Ein andermal?« wiederholte Klaus Beckenried ohne die geringste Rücksicht auf die fremde Dame. »Besuch? Soll ich das vielleicht auch der Menschensorte sagen, bei der du das Geld schuldig bleibst und die mich vor den Geschäftsangestellten lächerlich macht? Die sogenannte Klavierlehrerin kann zuhören, denn was mit dir verkehrt, kann's vertragen! Eine unerhörte Rechnung über Wagenfahrten wird mir überreicht. Hab' ich denn eine Verrückte zur Frau? Ich habe die Tochter Kornelius Vanderwelts geheiratet, und dieser Geizhals — dieser Geizhals —«
»Sie sind ein Lügner,« sagte Angela Freydag und ging hinaus. —
Das also war die Frauenblüte Julianes. Das also war ihr Gatte Klaus Beckenried. Und ein wildes und schmerzhaftes Mitleid mit dem Manne überfiel sie, der soviel Unwürde[S. 232] und Unritterlichkeit aus seinem Hause auskehren mußte, um — ein Einsamer zu werden. Nein! schrie es in ihr. Nie ein Einsamer! Nie, nie, solange ich lebe.
Zu Hause warf sie sich an Kornelius Vanderwelts Brust und umschlang ihn mit beiden Armen.
»Was hast du, Engel?«
»Was ich habe? Ich habe dich bisher noch lange nicht lieb genug gehabt und dachte doch schon, weiter ginge keine Liebe.«
Er strich ihr ein Strähnchen des hellen Haares aus der Stirn, wickelte es um seinen Finger wie einen Ring, strich es wieder glatt.
»Liebe erkennt keine Grenzen an. Das ist das einzige, was wir sicher wissen. Und ich will dich nicht weiter befragen.«
Sie warf den Kopf in den Nacken und sah ihm in die Augen. Seine Arme hielten sie.
»Frag' nur immer, Kornelius. Du wirst nie erleben, daß ich nicht antworten möchte. Ich war bei deiner Tochter Juliane, und ich habe auch ihren Gatten kennengelernt, und nun wollen wir nicht mehr darüber sprechen.«
Aber der Tag sollte nicht zur Neige gehen, ohne daß noch einmal der Name Beckenried fiel. Gegen den Abend hin stellte sich der junge Thomas Vanderwelt ein, mit einem Strauße auserwählt schöner Rosen, den er Angela Freydag feierlich überreichte.
»Meine verehrte Gönnerin aus Knabenzeiten,« hob er an, und es lief ein lustiger Schein über sein verblaßtes Jungmännergesicht, »muß mir aus dem trüben Schwagerhause Beckenried die Kunde Ihres Hierseins kommen? Meine geliebte Frau Antonie brachte sie zu Tisch mit heim. Sie war gleich nach Ihnen in das häusliche Ungewitter geraten und erhielt noch ihr wohlverdientes Teil. Aus der[S. 233] Berufung auf meine Frau wollen Sie freundlichst ersehen, daß ich verheiratet bin, etwas lautloser, aber darum nicht weniger glücklich. Und aus dem Munde meines Vaters wurde mir heute nachmittag die Bestätigung, daß Sie schon seit Monaten, schon seit einem halben Jahre fast, bei uns weilen. Und ich darf Ihnen erst heute diese Willkommrosen zu Füßen legen.«
»Ich danke Ihnen, Thomas. Sie haben sehr schön gesprochen.«
»Das klang wie das ›Wundervoll, wundervoll!‹, wenn ich im Klavierspiel schrecklich danebengriff.«
»Kommen Sie, Thomas. Setzen Sie sich zu mir. Wollen Sie rauchen? Natürlich ist es gestattet.«
»Sie sind eine Frau nach dem Herzen Gottes. Mein Gaumen verhungert geradezu nach einer Zigarette.«
Sie reichte ihm Zigarette und Feuer und rauchte selber nicht.
»Hören Sie, Thomas. Wir wollen diesen Verkehrston gar nicht erst zwischen uns aufkommen lassen. Wie ich weiß, spricht man so oder ähnlich mit den Bardamen. Nicht wahr, Sie schätzen mich ein wenig höher ein. Geben Sie mir Ihre Hand, Thomas. Darf ich Sie als gestrengen Eheherrn überhaupt noch Thomas nennen?«
Er beugte sich, wie er als Knabe nach einem Verweis getan hatte, über ihre Hand und küßte sie.
»Sie verstehen es noch immer, eine Verlegenheit in eine Freudigkeit umzuwandeln, Fräulein Angela. Gelt, so darf ich Sie doch anreden? Von der fernen Verwandtschaft, die mein Vater endlich anzudeuten beliebte, gänzlich abzusehen.«
Sie nickte ihm zu und schüttelte ihm die Hand.
»Weshalb machen Sie sich im Hause Ihres Vaters so selten, Thomas? Die Wiedersehensfreude hätten wir schon eher genießen können.«
[S. 234]
»Ich mache mich doch nicht selten, Fräulein Angela? Ich war doch erst zum Neujahrstage in meines Vaters Hause und habe als guter Sohn meinen Spruch aufgesagt. Und jetzt schreiben wir kaum Herbstanfang.«
»Thomas,« bat sie und hielt immer noch seine Hand, »wollen wir nicht auch von Ihrem Herrn Vater miteinander in einem ehrerbietigen Tone sprechen? Er hat Sie sehr liebgehabt, Thomas.«
Seine hagere Hand zuckte in der ihren. Sie gab sie frei und wartete.
»Donnerwetter, Fräulein Angela. Sie machen nicht viel Federlesen und greifen gleich die ganze Front an.«
»Sie mögen daraus ersehen, Thomas, daß ich Sie keineswegs geringschätze. Was haben Sie gegen Ihren Vater?«
Er starrte auf seine Stiefelspitzen und zog die Lippen von den Zähnen.
»Liegt Ihnen wirklich daran, meine Beichte zu hören?« und der Hohn klang mit.
»Nein, daran liegt mir nichts. Ich fragte nur das eine, was mich am tiefsten bewegt: was haben Sie gegen Ihren Vater?«
»Die Scham, ihm die neue Tochter ins Haus gebracht zu haben.«
Da wurde es totenstill zwischen ihnen. Wie erschlagene Leiber lagen die Worte im Raum.
Thomas Vanderwelt prüfte als erster seinen Atem. Er sog ihn tief ein und stieß ihn heftig aus.
»Was ich doch wissen wollte, Fräulein Freydag: was macht Ihre göttliche Kunst? Ich hoffe, Sie erfreuen meinen Vater recht oft mit ihr. Es ist die starke Welle, die ihn über die wildesten Meere trägt.«
»Weil Sie für Ihren Herrn Vater bitten, will ich es gern und zu jeder Stunde tun.«
[S. 235]
Die Gespanntheit seines Gesichtes ließ nach. Er lachte sie echt jungenhaft an.
»Ich bin durchaus nicht schwerhörig, Fräulein Angela, und ein Lob pick' ich mir immer noch aus den Vermahnungen heraus wie früher die schönen braunen Rosinen aus dem Kuchen. Aber nun möchte ich Sie auch belobigen. Sie waren als junges Fräulein trotz Ihrer Hagerkeit ein eigenartig rassiges Geschöpf. Ein Dutzend Lebensjahre dazu, und die schönste Rassigkeit wird zu einer — na, sagen wir: herben —«
»Hexenhaftigkeit,« half sie ihm aus.
»Nun, das klingt ein wenig hart. Aber da es bei Ihnen nicht zutrifft, mag es bestehen bleiben. Das Dutzend Lebensjahre dazu hat Ihre Rassigkeit nur zur antiken Schönheit veredeln können.«
Angela Freydag neigte tief den Oberkörper gegen ihn.
»Meine weibliche Eitelkeit will das Wort ›antik‹ nicht gehört haben. Es ist ein Fremdwort und läßt sich mit alten Jahren und mit alt im Geiste des Altertums übersetzen. Für einen geistvollen Mann wie Sie kommt natürlich nur die letzte Andeutung in Betracht, und ich nehme die Huldigung mit Vergnügen entgegen.«
Thomas Vanderwelt verneigte sich mit derselben Feierlichkeit. Aber sein Gesicht behielt den Ernst auch weiter bei.
»Wie wohl muß dem Vater Ihre Gegenwart tun,« sagte er, und seine Stimme hatte den spottenden Beiklang verloren. »Nicht nur, weil seine Augen ihn belehren. Es gibt Schönheiten übergenug, die nach der ersten Neugier nicht mehr das Ansehen lohnen. Weil er Sie geistig empfinden darf und immer neu und doch immer gleich. Das ist Schönheitsgenießen.«
»Glauben Sie, Thomas, uns Frauen erginge es anders mit euch Männern?«
[S. 236]
»O ja, das glaube ich. Und es ist sogar im Laufe der Zeit zur Gewißheit in mir geworden.«
»Sollte das nicht an der Zusammensetzung Ihrer Umwelt liegen, Thomas? Mich selbst bitte ich aus Ihrer Gewißheit zu entlassen, und ich überhebe mich mit dieser Bitte nicht. Es ist eine glückliche Beigabe der Natur, wenn der Mann als eine schöne und männliche Erscheinung wirken darf. Aber was uns immer wieder zu ihm hinzieht, und was uns dauernd an ihn fesselt, was uns ihm im schönsten Sinne des Wortes untertan macht, das ist die Leuchtkraft seines Wesens, die uns heute diesen und morgen jenen dunklen Pfad erhellt, wechselnd durch den Geist und unwandelbar durch die Gesinnung. Die uns bei der Hand nimmt und so sicher über die Abgründe führt, wie über die Blumenwiesen. Die keine Sünde kennt, weil sie alles in ihrem Scheine adelt, und die doch in unsagbarer Dankbarkeit ihr Licht zum Erlöschen bringt, wenn das unsere aufleuchtet und ihn umfluten will.«
Sie richtete sich aus ihrer Gedankenwelt auf und strich sich über die Stirn.
»Verzeihen Sie die Getragenheit meiner Rede. Es gibt Dinge, für die der Sprachgebrauch des Alltags keine Worte besitzt, und man muß schon zu den gefühlsfeierlichen greifen. Aber mit Überschwang haben sie nichts zu tun.«
Noch eine Weile horchte Thomas Vanderwelt hinaus, als müsse er mehr hören. Dann ließ er den blassen Kopf auf die Brust sinken.
»Ich trage meinen Namen schon mit Recht. Ich bin der ungläubige Thomas. Ich müßte das alles schon am eigenen Leib erleben und mit Fingern greifen können. Was ich«, und seine Stimme wurde heftiger und heiserer, »bisher am eigenen Leibe erleben und mit Fingern greifen durfte, hatte so wenig mit Gefühlsfeierlichkeit und Überschwang[S. 237] zu tun, wie das Messer in der Hand des Wundarztes.«
»So legen Sie doch das Messer nieder und greifen Sie zu den ritterlichen Waffen.«
Da lachte Thomas Vanderwelt, daß es ihn schüttelte. Und er schüttelte mit dem Lachen ab, was an empfindsamen Regungen über ihn gekommen war.
»Ritterlichere Waffen als das Messer? Ach, liebes Fräulein Angela, Sie kennen das Gesetzbuch der Straße nicht. Da heißt es, sich mit jeder Waffe bekämpfen, die Erfolg verspricht, und auf der Straße sind die silberbeschlagenen Degen nicht zu Hause. Was wissen Sie, die Sie über beleuchtete Berggipfel laufen, wie schmutzig die Straße ist!«
Angela Freydag rührte sich nicht auf ihrem Sitz. Ihre Augen wichen nicht von dem nervenzerrütteten Manne, und seine Ausbrüche warfen ihre Seele nicht aus dem Gleichgewicht.
»Lassen Sie uns an dieser Stelle abbrechen, Thomas. Wir treiben hinaus und verlieren die Ufer aus den Augen. Erzählen Sie mir jetzt einmal etwas recht Sonniges.«
Er stutzte. Kam zu sich. Und schon gewann der Spott wieder die Oberhand.
»Ja, ja. Im Dunkeln fürchten sich die verwöhnten Kinder und verlangen nach der Lampe.«
»Gut, Thomas, da Sie zu den verwöhnten Kindern zählen, und nicht ich, so will ich Ihnen die Lampe halten, sooft Sie danach Verlangen tragen. Nach der Beleuchtung, nicht nach der Beschönigung. Und jetzt suchen Sie einmal Ihre Sonnenstrahlen zusammen. So arm ist kein Mensch, daß er nicht in die Sonne blicken könnte.«
»Sie belieben in Rätseln zu sprechen, gütige Gönnerin.«
»Wie geht es Ihrem kleinen Sohn? Nikolaus heißt er wohl?«
[S. 238]
»Ja — er heißt Nikolaus. Das ist wahr. Und der Vater bedankt sich für die freundliche Nachfrage.«
»Sieht er Ihnen ähnlich? Besucht er schon die Schule?«
»Da sei Gott vor, daß er mir ähnlich sähe! Die Natur hat ihren üblichen Sprung gemacht und ihn dem Großvater angeähnelt. So schadenfroh bin ich noch nie gewesen, als wie ich das entdeckte. Denn vor einem Kornelius Vanderwelt hegen die Damen des Hauses Ausdemwerth eine höllische Scheu.«
»Besucht der kleine Nikolaus schon die Schule?« wiederholte sie, ohne seine Schärfe zu beachten.
»Gewiß besucht er schon die Schule. Er ist seit Ostern wohlbestellter Abcschütze und zählt nicht zu den Dümmsten.«
»Das muß Sie doch in Ihrem Vaterstolze glücklich machen, Thomas. Und da haben Sie ja Ihre Sonne.«
Thomas Vanderwelt lächelte zerstreut vor sich hin.
»Eigentümlich ist, daß auch der Sohn Julianes, daß auch der kleine Martin Beckenried in allen Stücken seinem Großvater Vanderwelt gleicht. Als wären uns oder unseren Frauen die Jungen wie eine tägliche Vermahnung vor die Nase gesetzt worden. Die beiden Jungen hocken in derselben Klasse und wetteifern um die Palme des Menschenruhms. Was von den beiderseitigen Eltern beim besten Willen nicht gesagt werden kann.«
»Ich möchte die beiden Jungen wohl einmal bei mir haben, Thomas.«
Er zog heimlich die Uhr und stellte die fortgeschrittene Zeit fest.
»Die Herren Jungen werden es sich zur höchsten Ehre rechnen, von Ihnen empfangen zu werden, wie es mir zur höchsten Betrübnis gereicht, mich jetzt empfehlen zu müssen.«
»Wollen Sie denn nicht die Rückkehr Ihres Vaters abwarten, Thomas, und den Abend mit uns verbringen?«
[S. 239]
»Mein Vater und ich haben uns schon tagsüber im Geschäft herzlich wenig zu sagen gehabt, und ich möchte den Abend auf der Straße zubringen, da mir meine Frau abhanden gekommen zu sein scheint.«
»Haben Sie denn eine Verabredung getroffen?«
»Wir haben immer eine Verabredung getroffen, aber sie wird ebenso häufig mißverstanden. Frau Antonie wünschte, sich mit mir bei Ihnen zu treffen, da sie darauf brannte, die schöne Unbekannte kennenzulernen. Sie muß wohl so lichterloh gebrannt haben, daß sie sich in der Verwirrung verlaufen hat.«
»Guten Abend, Thomas. Vergessen Sie nicht, mir den kleinen Nikolaus zu schicken und den kleinen Martin.«
»Guten Abend, mütterliche Freundin.«
Er beugte sich über ihre Hand und ging mit seinem federnden Schritt, wie er ihn schon als Knabe gehabt hatte, aus dem Zimmer und aus dem Hause. Ein paar Sekunden noch horchte sie dem Schritte nach. Dann wandte sie sich um.
»Kornelius —!«
Er war durch die Tür seines Arbeitszimmers eingetreten und reichte ihr die Hand.
»Guten Abend, Engel. Thomas war bei dir, als ich kam. Ich wollte die erste Aussprache nicht stören und hielt mich zurück.«
»Es war vielleicht richtiger so, und du hast, wie immer, das Rechte getroffen.«
»Meinst du, Engel? Müssen Vater und Sohn sich in Gefühlsdingen aus dem Wege gehen?«
»Bis sie die Scham voreinander überwunden haben, Kornelius. Ja, du lieber, ernster Mann, schau' mich nur so verwundert an. Ich habe wahrhaftig ›voreinander‹ gesagt. Der Sohn vor dem Vater, weil ihm in seiner Ehe das peinliche Ehrgefühl zeitweilig abhanden gekommen ist, und der[S. 240] Vater vor dem Sohne, weil sein Vaterstolz sich bitter enttäuscht sieht.«
»Genügt das nicht?«
»Kornelius. Zuweilen ist mir, als wollten wir alles zu hastig in Besitz nehmen. Und dann würden wir es als eine Selbstverständlichkeit einschätzen und nicht als einen Gewinn oder sogar als ein Verdienst. Komm, wandere nur dabei mit mir im Zimmer herum, liebster Mensch. Draußen heult der Herbstwind, und hier drinnen geht es sich an deiner Schulter wie auf einer Frühlingswanderung.«
»Ich fühle, daß du mir wohl tun willst, Engel. Mehr ist nicht vonnöten.«
»Ich verlange nichts anderes als die Hälfte dessen, was dich drückt.«
»Du hast dich durch den Augenschein überzeugt, Engel? Du hast einsehen lernen, daß Kinder die Freude des Lebens und daß Kinder die schwerste Belastung darstellen können? Nein, nein, ich will nicht klagen.«
»Ich bin bei dir, Kornelius. Und gemeinsam wird es uns schon gelingen, die Belastung zu vermindern. Weshalb schaust du mich denn so mitleidig an?«
»Weil meine Angela in meinem Hause schon an das Opferbringen denkt.«
»Würdest du«, fragt sie zurück, »es als ein Opfer ansehen, wenn du dich meinetwegen deines Besitzes, deines Geschäftes, deiner Lebensführung entäußern müßtest?«
Seine Hand fuhr zu und bog ihren Kopf zurück. Über ihren weitgeöffneten Augen standen die seinen. Und in ausbrechender Wildheit umhalste der eine den anderen, als müßte der eine vor den anderen hinspringen, um ihn zu schützen und zu verteidigen. — —
Antonie, die Gattin Thomas Vanderwelts, brauchte mehrere Tage, bis sie sich zu dem schwiegerväterlichen[S. 241] Hause zurechtgefunden hatte. Sie kam zu einer Stunde, zu der sie Kornelius Vanderwelt unabkömmlich im Geschäfte wußte.
Angela Freydag saß am Flügel und übte mit starkem Fleiß, als die Besucherin ins Zimmer geführt wurde.
»Entschuldigen Sie den Überfall, Fräulein Freydag, denn Sie sind es doch? Ich bin Antonie Vanderwelt und habe mir als Schwiegertochter des Hauses die Erlaubnis erteilt, ohne viel Förmlichkeiten einzutreten.«
Angela Freydag bot ihr einen Platz an.
»Herr Kornelius Vanderwelt wird sich ohne Zweifel herzlich über so viel Familiensinn freuen.«
Sie setzte sich und schüttelte sich in den Schultern.
»Wollen Sie mir eine große Gefälligkeit erweisen, Fräulein Freydag? Ja? Dann sprechen Sie den Namen meines Schwiegervaters bitte nur dann aus, wenn es gar nicht anders zu umgehen ist. Zum Beispiel: ›Gerade tritt Kornelius Vanderwelt ins Haus‹ oder so. Und fort bin ich.«
»Weshalb lieben Sie ihn nicht?« fragte Angela Freydag.
»Lieben —?« wiederholte Antonie Vanderwelt und starrte entsetzt auf die Fragerin. »Kann man ihn denn lieben? Ich bilde mir ein, er reißt einen in zwei Stücke, wenn man nach seinem Herzen greift, oder er stellt Anforderungen, die zu anstrengend für mein heiteres Gemüt sind und mich zu einem Ausgleich treiben würden.«
»Zu einem Ausgleich? Wie soll ich das verstehen?«
»Aber das ist doch nicht schwer. Man kann sehr stolz auf einen Mann sein, weil er die Männer aller anderen überragt, aber immer stolz sein, ermüdet, und das Herz legt sich ein ganz klein wenig auf die Lauer, um sich sozusagen in den Freiviertelstunden mit einem anderen vergnügten Herzen ordentlich auszutoben, bevor es wieder fein sittsam in die Schulstunden geht.«
[S. 242]
»Ja, wenn ich nur wüßte, Frau Vanderwelt, was Sie in diesem Zusammenhange unter Austoben verstehen?«
»Nein, was für eine glänzende Schauspielerin Sie sind? Und ich harmloses Geschöpf falle auf alle die Fragen hinein und ziehe mich in der ersten Viertelstunde bis auf das arme Seelchen vor Ihnen aus.«
Angela Freydag saß auf ihrem Klavierstuhl, und während sie der Besucherin das Antlitz zuwandte, spielten die Finger der Linken lautlose Läufe über die Tasten hin.
»Sie haben große Pflichten, Frau Vanderwelt.«
»Ach,« klagte sie, »nun beginnen Sie auch schon mit der Litanei. Der Drang, sittliche Betrachtungen anzustellen, muß wohl an diesem Hause liegen. Da hätte ich doch gleich ein Kloster wählen können, wenn es mir unbedingt, um den Heiligenschein ginge.«
»Sie haben große Pflichten, weil Sie ein so schöner Mensch sind, Frau Vanderwelt.«
»Ach so ist es gemeint. Das klingt gleich anders, wenn es mir auch immer noch unverständlich klingt.«
»Wer mit einem so schönen Körper bevorzugt ist, hat die Pflicht, ein so großes und seltenes Kunstwerk in seinem Wert zu erhalten und zu bewahren. Törichte Hände können den Farbenschmelz erblinden lassen oder andere nicht wieder gutzumachende Beschädigungen anrichten. Das meinte ich damit.«
Antonie Vanderwelt zog das seidenbestrumpfte linke Bein über das Knie des rechten. Eng in den hochlehnigen Kirchensessel geschmiegt, saß sie und freute sich mit schimmernden Augen an den feingeschwungenen Linien ihres Leibes, an dem sinnlichen Reiz ihrer elfenbeinfarbenen Haut.
»Wenn man so schön ist und müßte immer brav sein,« sagte sie mit einem lustigen Schmollen, »so wär's ja eine[S. 243] Strafe, schön zu sein. Und wirklichen Kennern darf man doch ein Kunstwerk nicht vorenthalten.«
»Ganz gewiß nicht. Sie dürfen es jederzeit bewundern, aber Sie dürfen nicht die Hand ausstrecken, um es zu stehlen.«
»Ach, Fräulein Freydag, lassen wir doch nicht drumherumlaufen wie um ein heißes Eisen. Ich fass' es an. Ich habe vielleicht mehr Blut in den Adern als Verstand hinter der Stirn. Das geb' ich zu. Aber sich von einem Manne küssen lassen, den man im Augenblicke nett findet, das braucht doch keine Todsünde zu sein.«
Angela Freydag faltete die Hände um ihre Knie und bog den Kopf zum Fenster. Die schimmernden Augen der schmiegsamen Frau waren ihr wie eine Berührung.
»Ich halte Sie für klug genug, sich die Frage selber zu beantworten, Frau Vanderwelt. Mit dem ersten Kusse, den ein Mädchen dem Manne gestattet, ergibt es sich ihm schon so weit, daß er sich zum zweiten Kusse das Recht nimmt, daß er sich beim dritten Herr ihres Körpers bis auf das arme Seelchen fühlt, von dem Sie vorhin sprachen.«
Antonie Vanderwelt schmiegte sich noch enger in den hochlehnigen Kirchensessel hinein, als schmiegte sie sich in einen Arm.
»Ist es nicht aller Frauengefühle allerköstlichstes, sich zu verschenken?«
»Ja. Das ist es. Dem einen und einzigen.«
»Man kann einer Irrung unterworfen gewesen sein, man kann verlassen worden sein oder selber die Pässe zugestellt haben — da wird eben der zweite oder der dritte oder der vierte der eine und einzige.«
»Auch das habe ich während meiner Laufbahn oft genug gesehen, Frau Vanderwelt. Mädchen, die sich so verschenken, ganz einerlei, ob aus Liebe, aus Mitleid oder aus[S. 244] Berechnung, werden später immer und ausnahmslos innerlich einsame Frauen. Natürlich auch äußerlich vereinsamte. Denn der Rückzug von einer vielverschenkenden Frau erfolgt mit einer so unerbittlichen Pünktlichkeit und Grausamkeit, als setzte plötzlich eine Massenflucht ein. Übrigens ist das wirklich kein Gesprächsstoff, Frau Vanderwelt, für zwei klaräugige und aufrechte Frauenspersonen, und wir wollen ihn schleunigst verabschieden.«
»Und mich dazu,« rief Antonie Vanderwelt nach einem erschrockenen Blick auf die Armbanduhr. »Ich wollte Ihnen nur einen Knicks machen und, wie es früher bei unseren Soldaten hieß, Tuchfühlung nehmen, denn ich hätte gar zu gerne eine resche und fesche Kameradin, die nicht ein jedes lustige Geheimnis auf der Zungenspitze trägt.«
Die Frauen standen sich, abschiednehmend, gegenüber. Antonie Vanderwelt lüftete lächelnd das Visier.
»Dazu haben Sie ja wohl,« entgegnete Angela Freydag mit Zurückhaltung, »Ihre Freundin und Schwägerin Juliane.«
»Juliane ist so berechnend, Fräulein Freydag. Das wirkt so bloßstellend. Was nicht als Rausch kommt, kühlt ab.«
Und Angela Freydag dachte, während sie sich wortlos zum Abschied verneigte: Also selbst in der Welt dieser Frauen gibt es noch Unterscheidungen, wo doch alles gleich und gemeinsam ist, und Bloßstellungen, wo keine Blöße mehr entblößt zu werden braucht. Und es schüttelte sie vor diesen Abwandlungen der größeren und geringeren Ehre, die denselben Schmutzstreifen hinter sich zogen. — —
Ach, die köstlichen Stunden der Glücksreinheit, wenn die beiden kleinen Schuljungen angestampft kamen.
»Tante Engel, was ist das?« Und sie sagten ihr ein Rätsel vor, das sie frisch aus der Hand des Lehrers erhalten hatten, oder ein Gedichtlein, deren sie viele und[S. 245] freiwillig über das Aufgabenmaß hinaus mit Begeisterung auswendig lernten. Angela Freydag aber hockte auf dem Teppich vor den kleinen glühheißen Männern und wußte bei jedem neuen Male nicht: ist dies der Nikolaus, oder ist dies der Martin? So sehr war der eine Kornelius Vanderwelt und der andere Kornelius Vanderwelt, und es war ihr eine selige und doch andächtige Freude, aus den knabenweichen Jungengesichtern das Antlitz Kornelius Vanderwelts Zug um Zug herauslesen zu dürfen.
Oft erzählte sie ihnen Geschichten aus all den Teilen der Erde, die sie auf ihren Fahrten besucht hatte: von den Indianern der Felsengebirge, den Goldsuchern Kaliforniens, den Wolkenbewohnern Neuyorks, und wieder von dem großen und reichen Leben der europäischen Hauptstädte, von London, Paris und Rom. Dann hockten die Buben auf dem Teppich und erforschten das Antlitz der Märchentante. Oder aber sie saß am Flügel und ließ ihre Kunst in launigen Übertragungen zu den jungen Hirnen sprechen, und Meister Beethovens Wut um den verlorenen Groschen brachte die erregten Gemüter zum hellen Jauchzen.
Seit die kleinen Schuljungen zum ersten Male in das Haus gestampft waren, der Martin Beckenried vom Nikolaus Vanderwelt an der Hand geführt, und zu ihrem Staunen in der schönen Tante einen Menschen gefunden hatten, der sich um sie und nur um sie bekümmerte, waren die kleinen Herzen diesem Wundermenschen leidenschaftlich ergeben geworden.
»Tante Engel, weshalb bist du nicht unsere Mama?«
»Ihr habt ja eure Mamas daheim, und sie haben wohl nur nicht immer Zeit für eure Plappermäulchen.«
»Bist du denn eine Großmama, daß du immer Zeit für uns hast?«
[S. 246]
»Ja, ich bin eine Großmama,« sagte sie mit tiefer Stimme, »die im Bette liegt, als Rotkäppchen kommt, und die eigentlich der wilde Wolf ist. Seht mich an: Mit solchen Augen!«
Aber die Jungen ließen sich von Angela Freydags funkelnden Augen nicht bange machen. Sie sprangen ihr an den Hals, kuschelten sich an ihr Herz, küßten sie, wohin die Lippen, der Liebkosungen ungewohnt, trafen.
»Großmutter Wolf!« jauchzten ihre Stimmchen. »Großmutter Wolf!«
Und wieder sah sie Kornelius Vanderwelt in den Jungen, Kornelius Vanderwelt, der sie in seinen frohesten Stunden seine Wölfin nannte. —
Im November fuhr Angela Freydag von dannen. Sie fuhr nach Spanien, und eine Konzertreise führte sie durch das ganze Land. Sie fuhr mit dem Schiff nach Holland und spielte in den großen Städten.
Wenn Kornelius Vanderwelt in der Morgenfrühe erwachte, spürte er in sich und um sich eine Leere, daß er nicht wußte, ob der neue Tag das Aufstehen lohne. Wenn Angela Freydag am späten Abend irgendwo ihr Lager aufsuchte, spürte sie ihre Heimwehgedanken nach des geliebten Mannes Brust so stark, daß sie nicht wußte, ob die neue Nacht das Einschlafen lohne.
Keiner aber ließ es den anderen in seinen Briefen wissen, um ihn nicht zu einem Opfer zu nötigen.
Es wurde April, als Angela Freydag heimkehrte und am frühen Morgen das Haus betrat. Gerade wollte Kornelius Vanderwelt sein Arbeitszimmer verlassen und sich zum Geschäft begeben, als sie vor ihm stand.
Er fuhr hoch und wurde vor Freude so bleich, daß sie sich blindlings an seine Brust warf.
»Du!« sagte sie immer wieder. »Du! Du!« und ihre[S. 247] Hände tasteten nach seinem Haar, nach seinen Schläfen, seinen Lippen. »Du! Du!«
Er aber schloß ganz fest die Augen, als wollte er durch nichts aus seinem Traume aufgescheucht werden, und trank und trank in sich hinein, was er in seinen Armen hielt.
»Du! Du! Engel! Engel — —«
Sie hatte feuchte Augenränder, und er meinte, als er endlich die Augen in die Wirklichkeit öffnete, die Wiedersehensfreude hätte sie gefeuchtet. Sie aber stand erschrocken vor seiner Hagerkeit und der blassen Farbe seines Gesichtes, die sich nicht verlieren wollte, als sein Herzschlag sich beruhigt hatte.
»Warst du denn krank, Kornelius?« Und die Angst bebte durch ihre Stimme.
»Gewiß war ich krank. Sechs lange Monate, du. Krank nach dir, Engel.«
Da weinte sie fassungslos an seinem Herzen ...
Und das Jahr lief hin, und als es sich wieder dem Herbstende näherte, reiste Angela Freydag nicht wieder aus und sprach kein Wort darüber, und Kornelius Vanderwelt gewahrte es mit dem tiefinneren Aufhorchen, als ob die Geliebte sein Herz ganz zart in ihre Hände nähme, und stellte keine Fragen, um das Wundersame nicht zu stören.
In diesem Winter aber reiste er viel mit ihr im Vaterlande und saß mit ihr in den Opernhäusern von Berlin und Wien und München und in den großen Konzertsälen der deutschen Städte.
Sie empfand es wohl, daß er ihr einen Dank sagen wollte, und ob er auch seine Geschäfte vernachlässigen mußte, sie freute sich nur seiner Ritterlichkeit, die ihr das alles und darüber hinaus zu Füßen legte.
Und wieder kam ein Herbst, und Angela Freydag lächelte nur und fuhr nicht allein auf fremden Meeren. Aber[S. 248] Nebel und Nässe des Niederrheins hatten ihr einen harten Husten geschaffen, und Kornelius Vanderwelt brachte die geliebte Frau auf einen Ostasiendampfer im Hafen von Rotterdam und schiffte sich mit ihr ein und fuhr mit ihr die Küsten Frankreichs, Portugals und Spaniens entlang durch die Straße von Gibraltar in das Mittelländische Meer, und der Atlas reckte sich aus der afrikanischen Bergwelt auf, als sie das Rätsel löste, daß ihr Ziel Ägypten sei.
Die Freude lief ihr zu Herzen wie ein Strom.
»Warum soviel für mich, Kornelius? Warum soviel für mich?«
»Es ist eine Abschlagszahlung, Engel.«
»Wenn ich am Leben hänge, so ist es nur für dich, Kornelius. Das ist das schönste Wort: Für dich!«
»Für dich!« wiederholte er. — —
Sie gesundete rasch, aber sie kehrten erst im späten Frühjahr zurück. Die Fülle der Mitteilungen, die ihn erwartete, brauchte er ihr nicht lange zu verhehlen. Die Sperlinge pfiffen die Irrungen und Wirrungen der Familien Klaus Beckenried und Thomas Vanderwelt von den Dächern.
In diesem Sommer und in dem Winter, der folgte, streute Kornelius Vanderwelt das Geld mit vollen Händen aus. Als wollte er Angela Freydag aller und jeder Dinge teilhaftig werden lassen, die das Leben zu bieten hätte.
»Es ist bei Licht betrachtet lächerlich wenig, aber es ist für dich, Engel, und ein Lump gibt mehr, als er hat. Vielleicht schafft es dir Erinnerungen.«
[S. 249]
Hatte die Zeit eine schnellere Gangart angeschlagen, oder jagten nur die Wolken schneller am niederrheinischen Himmel dahin? Kornelius Vanderwelt erhob sich oft aus dringendster Arbeit heraus, stand eine Weile grübelnd am Fenster und prüfte Wind und Wetter. Wenn er sich langsam wieder niederließ, wußte er nicht, was ihn zum Grübeln getrieben und worüber er nachgegrübelt hatte.
Es ist nicht nur die Zeit, dachte er, die mir durch die Finger läuft, bevor ich sie anhalten und nach allen Seiten wenden und auspressen kann. Das mag mit den Jahren zusammenhängen, die im fortschreitenden Lebensalter kürzer und gleitender werden, weil sie uns nicht mehr auf Schritt und Tritt mit Überraschungen überschütten. Es sind die Menschen und Dinge, die sich nach dem Völkerzusammenbrodeln eins am anderen gemessen und geändert haben und sich in der neuen Gestalt dem alten Maß entziehen.
Und sooft es ihn ans Fenster trieb, und sooft er sich wieder zur Arbeit niedersetzte, es blieb ein Gefühl auf ihm lasten, das sein Blut schwerflüssig machte und seine Gedanken aus den goldenen Weiten in den grauen Tag zog.
Angela Freydag hatte es längst bemerkt. Ihre grauen Augen sannen hinter ihm einher, wenn er auch daheim in die Ruhelosigkeit hineinglitt und vom Arbeitstisch zum Fenster, vom Fenster zum Flügel und vom Flügel wiederum[S. 250] zum Fenster hinüberwanderte, ohne einen sichtlichen Grund.
»Nimm mich mit,« sagte sie und hängte ihren Arm in den seinen.
»Du bist ja immer bei mir,« gab er zurück und versank doch wieder in sein Schweigen.
»Mir ist so, Kornelius, als ob du es jetzt zuweilen vergessen wolltest.«
»Daß du bei mir bist, Engel?« Er blieb bestürzt stehen, und dann preßte er ungestüm ihren festen Arm. »Sag' es nie wieder, Engel. Auch nicht im Scherze, Engel. Weil ich dich wie ein Geschenk bei mir fühle und es von Jahr zu Jahr nur wachsen sehe, statt sich mindern, möchte ich es lohnen und nicht geruhsam bis auf den letzten Groschen aufzehren.«
»Ist es das?« fragte sie und strich ihm das Haar aus der Stirn. »Erstens, Kornelius, ist es kein Geschenk, das du bei dir fühlst, sondern ein Stück von dir. Das braucht nach so langen Jahren nicht erst wiederholt zu werden. Und zweitens — ja, was bleibt denn zum zweiten, Kornelius? Wenn du ein Stück von dir belohnen willst, so verweichliche es nicht und laß es gerade am schwersten Tun teilnehmen, damit es von seinem Daseinszweck überzeugt und viel stolzer noch und selbstbewußter wird. Was belastet dich? Sind es geschäftliche oder persönliche Dinge?«
Er blickte in ihre Augen, die nichts von Lebensfurcht wußten, und zum erstenmal war es ihm, als sähe er nicht Angela Freydag in ihnen, sondern sich selbst, und jede Miene in ihrem Gesicht schien ihm ein Abbild seiner selbst zu sein.
»Engel,« sagte er und formte langsam an jedem Wort, »es gibt kein größeres Wunder als die Liebe.«
»Mit dem Wunder allein ist es nicht getan. Es muß auch Wunder verrichten können.«
[S. 251]
»Es verrichtet sie unaufhörlich, Engel. Und gerade jetzt hat es mir alles Dunkle aus der Seele genommen.«
»Wunder, die selbsttätig wirken? Ohne groß zu wissen, weshalb und wozu? Das wäre doch für Menschen unserer Art eine zu bequeme Auffassung des Seligwerdens. Zeig' mir zuerst das Dunkle vor, damit ich meine Kräfte daran setzen kann, es hell zu machen.«
»Du liebe, stolze Frau — — —«
»Laß das Geschlecht beiseite, Kornelius, und auch die Schmuckworte. Stolz werde ich erst am Ende aller Tage sein, wenn ich weiß, ich war auch in der Dunkelheit Kornelius Vanderwelts bestes Teil. Und dann vor allem, wenn er an das Weib in mir gar nicht dachte.«
Da umschlang er sie mit beiden Armen und hörte nichts als den ruhigen, gemeinsamen Herzschlag.
»Ich kenne keine Geheimnisse vor dir. Die geschäftlichen Dinge laufen vielleicht nicht so, wie sie sollten. Aber das liegt an den verwirrten Zeiten und läßt sich mit einigem Verstand und dem dazugehörigen festen Willen schon wieder klären. Nur will mir der Wille dazu oft überflüssig erscheinen.«
»Überflüssig? Der Wille? Das sagt ein Kornelius Vanderwelt?«
»Der Wille, für eine Welt zu arbeiten, die nichts mehr mit der meinen zu tun hat.«
»Was ist das für eine Welt, Kornelius?«
»Die Welt einer Juliane und einer Antonie. Auch die zersetzende Spötterwelt eines Thomas, und nicht weniger die bloße Geschäftswelt des geldanbetenden Klaus Beckenried. Von der Welt des Justus weiß ich nur, daß sie eine abenteuerliche Triebwelt mit lockeren Tageszielen bedeutet, aber sie gehört dazu, um das Bild zu runden, das mir des Anfassens sowenig wert erscheint.«
[S. 252]
»Bleibt die unsere, Kornelius. Und die ist noch nicht am Ende.«
»Und was bleibt, wenn sie zu Ende ist? Was bleibt von unserem Glühen und Blühen und In-den-Himmel-Langen?«
Ihre Arme hielten ihn ganz fest und ruhig an ihrem Herzen.
»Der Widerschein, Kornelius. Und wenn es nichts anderes ist als der Widerschein. Glaub' es mir, von der Glut, die unser Leben erst zum Blühen brachte und uns das reichste Glück der Menschenkinder bescherte, wird eines Tages schon ein Schimmer in die Seelen der nach uns Lebenden fallen und sie in ihrem Hasten stutzig machen und ihnen den Sehnsuchtsgedanken nach einem Leben eingeben, das in seiner unaussprechlichen Schönheit nur mit dem gesteigerten Gefühlsleben zu erlangen ist. Dann, Kornelius, dann ist unsere Erfüllungszeit gekommen.«
»Wer bist du?« fragte Kornelius Vanderwelt. »Bist du eine Schicksalsfrau oder eine Schwärmerin?«
»An deinem Herzen beides.«
»Ich liege ja an deinem, Engel.«
»Es ist dasselbe,« murmelte sie und hielt ihn noch fester. — — —
Es war in einer Nacht, und Mitternacht war längst vorüber, als Kornelius Vanderwelt durch das rasselnde Geläut des Fernsprechers aus dem Schlafe gescheucht wurde. Er warf einen Morgenmantel über den Nachtanzug und eilte die Treppe hinab in sein Arbeitszimmer.
Als er schweren Schrittes zurückkehrte, stand Angela Freydag vor der Tür ihres Zimmers und sah ihm entgegen.
»Justus,« sagte er.
»Justus? Ist er in Not? Hat er nach dir gerufen?«
[S. 253]
»Ich hoffe, daß er nur in Not ist. Die Kölner Polizei hat mich angerufen. Auf der Gasse verunglückt.«
»Schnell auf dein Zimmer, Kornelius. Ich reiche dir alles zu und wecke den Wilhelm.«
Er schüttelte den Schwächezustand ab und ging ihr schweigend voran. Und schweigend legte sie ihm zurecht, was er für die Fahrt brauchte. Keiner sah die Menschlichkeit des andern.
»Geh jetzt, Engel. Der Wilm soll geräuschlos vorfahren.«
»Gib mir meinen Anteil. Laß mich mit dir fahren.«
»Ich gebe dir sogar den größeren Anteil, indem ich dir das Warten aufbürde. Das Warten und die Vorbereitungen. Triff sie so, daß kein Mensch mit seinem Trost bei der Hand zu sein braucht, wenn es — wenn es ein Unglück sein sollte.«
Und plötzlich umfing er sie, als wollten seine Arme sie erdrücken.
»Drück' nur fester, wenn es dir gut tut ...«
»Der Justus, Engel!« brach es aus ihm heraus. Und er hatte sich wieder in der Gewalt und küßte sie auf die weitoffenen Augen.
»Geh jetzt, Engel. Laß den Wagen vor das Tor fahren.«
In ihrem Morgenrock huschte sie die Treppen hinab und weckte im Untergeschoß des Hauses den Fahrer und eilte in das Arbeitszimmer und bereitete auf dem elektrischen Kocher den Tee.
Jetzt hörte sie den gedämpften Schritt Kornelius Vanderwelts. Sie öffnete die Tür und bat ihn mit den Augen einzutreten. Er nahm das Teeglas aus ihren Händen und trank es leer.
»Vergiß dich selber nicht, Engel. Du wirst deine Kräfte so nötig haben wie ich. Und ich warte.«
[S. 254]
Da trank sie willig den Tee, strich mit den Händen über seine Schultern hin, ob er warm genug gekleidet sei für die nächtliche Fahrt, und ging mit ihm bis zur Haustür. Erst als das Rollen der Räder in der Ferne verklungen war, schloß sie die Tür und ging auf ihr Zimmer zurück.
Lange lehnte sie die Stirn gegen das Fensterglas. Ihre Gedanken begleiteten den Geliebten auf seinem einsamen Wege. So inbrünstig heiß, daß er ihre Gegenwart empfinden und der Einsamkeit enthoben sein mußte. »Lieber, du lieber Kornelius — — —«
Sie suchte ihr Lager nicht mehr auf. Sie kleidete sich an und tat, was er sie als erstes zu tun gebeten hatte: sie wartete. An seinem Schreibtisch saß sie, das Ohr gegen den Fernsprecher geneigt, die Augen auf das Fensterglas gerichtet, hinter dem mählich die Dämmerung brodelte. Und während sie wartete und den geliebten Mann in harter Seelennot wußte, überfielen die Erinnerungen sie bei jedem Schritt, den sie an seiner Seite getan hatte, und jeder Schritt führte über blühende Wiesen, durch rauschende Wälder, immer höher hinauf auf die Bergeshöhen, die den nahen Himmel als Wirklichkeit erscheinen lassen und die Welt da drunten als wesenlosen Traum. Und als sie nach den Erinnerungen griff, die in den Ländern diesseits und jenseits der Meere ohne ihn verstreut lagen, gewahrte sie, daß sie ins Leere griff, und daß es kein Opfer für sie bedeutet hatte, von den Kunstreisen abzulassen und dem Geliebten anzuhangen.
Nur was mit Kornelius Vanderwelt zusammenhing, war ihr Leben, von der Landstraße im Wirbelwind begonnen.
Wer kann es begreifen, grübelte sie mit weiten Augen, als eine Frau? Als eine Frau, die bettelarm war, über alle Maßen reich gemacht wurde durch das Beste und Allerbeste eines Mannes, und der die Scham geheimnisvoll in[S. 255] den Glauben verwandelt wurde, selber reich gemacht zu haben, selber, selber, ihn, ihn. Zum Allerreichsten ...
Wer kann es begreifen als eine Frau?
Sie saß an seinem Schreibtisch mit gekreuzten Füßen, die Hände um die Knie geschlungen, das Ohr gegen den Fernsprecher geneigt. Draußen tagte neblig und kühl der Wintermorgen. Die ersten Schritte klapperten über das Pflaster und ein Junge ließ einen Stock über die Eisenstäbe des Gartengitters rattern. Wagen rollten Lasten heran. Aus den Häfen schrillten die Arbeitspfeifen herüber, brüllten ein paar Sirenen. Menschen schritten aus und folgten einander. Und dann wurde es wie alle Tage.
Das Mädchen hatte im Nebenzimmer den Frühstückstisch gedeckt. Angela Freydag ging hinaus und teilte ihr mit, daß der Herr abgerufen sei, und wieder tat sie auf sein Geheiß und nahm etwas zu sich, um sich bei Kräften zu halten. Als sie in das Arbeitszimmer zurückkehrte, schlug die Dielenuhr neun.
Es war die Stunde, zu der Kornelius Vanderwelt sein Geschäftskontor aufzusuchen pflegte, und triebmäßig hob sie den Hörer vom Fernsprecher und rief das Kontor an.
»Sagen Sie, bitte, den Herren, daß Herr Kornelius Vanderwelt in der Frühe schon eine Reise hätte antreten müssen und nicht vor morgen mittag erwartet werden könnte.«
Und wieder saß sie in den Wintermorgen hinein, mit gekreuzten Füßen, die Hände um die Knie geschlungen, und horchte nach innen und außen.
»Jawohl! Hier Angela Freydag selbst!«
Urplötzlich hatte sie den Hörer des Fernsprechers am Ohr. Urplötzlich stand sie mit blassen Lippen und bändigte den Atem.
Die Stimme Kornelius Vanderwelts sprach zu ihr. Ihr[S. 256] Herz schlug ihr so hart bis ins Ohr, daß sie die ersten Worte wie ein Brausen vernahm und den Sinn erraten mußte. Da aber wurde sie mit Gewalt Herr ihrer selbst.
»Jawohl, Kornelius.«
»Am Nachmittag«, sprach die Stimme, »wird die Leiche freigegeben. Bis zum Abend überführe ich sie nach dort. Teile der Friedhofsverwaltung mit, daß sie noch am Abend in der Friedhofskapelle aufgebahrt werden soll. Anderen braucht vor meiner Rückkehr keine Mitteilung gemacht zu werden.«
»Ja, Kornelius.«
»Noch eine Bitte, Angela. Ruf das Geschäftskontor an und entschuldige mein Fernbleiben mit einer Reise.«
»Ich tat es schon, als es neun Uhr schlug, Kornelius.«
»Ich danke dir für deine Vorsorge. Auf Wiedersehen, Angela.«
»Bleib gesund ...«
Noch immer horchte sie, als müßte noch der letzte Hauch von ihm zu ihr herüberdrängen. Dann legte sie den Hörer hin, fühlte einen leichten Schwindel um ihre Stirn gleiten und grub beide Hände in ihr Haar.
Ein wildes Aufschluchzen löste den Krampf. »Kornelius!« Und noch einmal ein Schrei, als richte er sich gegen Gott im Himmel: »Kornelius!!«
Nur um den Vater des Toten schluchzte ihr Schmerz auf, nur um den geliebten Mann. —
Ruhig, sprach sie zu sich selber, ruhig jetzt, du hast ja Pflichten zu erfüllen. Und sie ging hin und tat alles, was er sie geheißen hatte. Und tat einen Schritt darüber hinaus und suchte den Friedhofsgärtner auf und ließ unter ihrer Obhut die noch leere Bahre von grünen Palmenbäumen umgeben.
Der Trostlosigkeit des Ortes war um ein klein wenig gesteuert.[S. 257] Kornelius Vanderwelt sollte mit seiner Bürde nicht in die Öde hinein. Und sie ging die Gräberwege, und ihr Herz war voll Leid um den Lebenden.
Es dunkelte, als Kornelius Vanderwelts Wagen vor dem Friedhoftore anfuhr und zur Seite bog. Der Wagen war leer. Wenige Minuten noch, und ein größerer und schwarzer Wagen fuhr vor und hielt vor dem Tor, das sich auftat und vier Träger hervortreten ließ. Der Fahrer war abgesprungen und hatte den rückwärtigen Schlag geöffnet. Die Träger traten zurück. Ein Lebender stieg aus dem schwarzen Raum und eine Frauenhand ergriff die Hand des Mannes und hielt sie weiterhin in der ihren, als müßte es so sein.
Der Eichensarg wurde aus dem Wagen gehoben. Die vier Träger trugen ihn schweren Schrittes an den Bronzeringen, und der Mann und die Frau folgten ihm in der Dunkelheit nach, und ihre Hände blieben fest verschlungen. So traten sie in die erleuchtete Kapelle und blickten regungslos auf das Tun der vier Männer, bis der Sarg aufgebahrt war und der grüne Hain ihn umzitterte.
Durch die Dunkelheit gingen sie, die Hände fest verschlungen, den Weg zurück, den sie gekommen waren. Und der große schwarze Wagen war verschwunden, und der Wilm war vorgefahren und hielt die Mütze feierlich in der Hand.
»Nach Hause, Wilm.«
Sie fuhren wortlos heim. Ganz dicht aneinander gedrängt, als müßten sie sich ihres Besitzes vergewissert halten.
Kornelius Vanderwelt schritt durch sein Arbeitszimmer zum Schreibtisch und ließ sich ermüdet nieder. Seine Augen ruhten auf Angela Freydag, und die Frau trat neben seinen Stuhl und legte die Hand über seine müden Augen.
»Sprich jetzt nicht. Alles das hat Zeit, Kornelius. Es ist gut, daß du zurück bist.«
[S. 258]
Er schloß die Augen unter ihrer kühlenden Hand. Er war geborgen.
Die Glocke des Fernsprechers läutete an. Der Ermüdete fuhr auf. Der Zorn zerrte über sein Gesicht.
»Noch mehr? Noch mehr? Mit dir allein will ich sein. Schaff' mir Ruhe, Engel.«
Sie hatte schon das Hörrohr am Ohr. »Es ist der Thomas,« sagte sie leise.
»Schaff' mir Ruhe. Mit dir allein will ich sein und nicht mit den Jammergesichtern.«
»Jawohl,« erwiderte sie in den Fernsprecher hinein. »Sie sprechen mit Angela Freydag. Ja, Thomas, wenn die Abendzeitung den Unglücksfall schon berichtet ... Ihr Vater ist in diesem Augenblick von Köln zurückgekehrt und im Begriffe, sich zurückzuziehen. Bitte, gönnen Sie ihm heute die Ruhe. Ja, kommen Sie morgen in der Frühe. Ihr Vater läßt Sie herzlich grüßen.«
»Der Thomas legt sich dir schweigend ans Herz, Kornelius. Dafür liebe ich ihn.«
Er antwortete nicht. Er suchte nach einem Anfang, und sie sah sein quälerisches Bemühen.
»Sprich jetzt nicht,« wiederholte sie mit ihrer tiefsten Zärtlichkeit. »Heute muß ich doch deine Sorgerin sein. Du bist so oft mein Sorger und darfst mir heute gehorchen.«
Sie beugte sich zu ihm nieder, und er strich ihr schwerfällig mit den Händen über Gesicht und Haar.
»Todmüde bin ich, Engel, und werde doch nicht schlafen können. Aber ich werde dir gehorsam sein.«
Sie ging neben ihm her bis zur Tür seines Schlafzimmers.
»Es klänge unsinnig, Kornelius, eine ›gute Nacht‹ zu wünschen. Wenn du mit der Nacht nicht fertig wirst, rufe mich. Nur ruhen sollst du. Ausruhen.«
[S. 259]
Er zog sie an sich und küßte sie aufs Haar.
»Geh auch du zur Ruhe. Hab' Dank für deine Gegenwart. Ich fühlte sie den ganzen Tag, wie ich dich jetzt fühle, und das allein hat mir über den Berg geholfen.«
Angela Freydag aber schritt noch einmal durch das Haus und traf ihre Anordnungen. Sie ging zu den Mädchen und teilte ihnen den Tod des ältesten Haussohnes mit, denn der Fahrer Wilhelm hatte finster geschwiegen. Und zu später Stunde erst suchte sie ihr Bett auf.
Lange hatte sie noch in die Nacht hineingewacht, mit den Gedanken, die jetzt wohl der Mann auf seinem einsamen Lager denken mochte, und mußte doch endlich wohl vor Übermüdung eingeschlafen sein, denn das Licht brannte in ihrem Zimmer, als sie die Augen aufschlug und sich nicht gleich zurechtzufinden wußte.
An ihrem Bette saß Kornelius Vanderwelt. Er war angekleidet und sah sie an.
»Ist es schon Morgen, Kornelius? Habe ich die Zeit verschlafen?«
Er schüttelte den Kopf und streichelte ihre Hände, die auf der Decke lagen.
»Es ist noch Nacht. Bleib ruhig liegen. Es wird nicht mehr als drei Uhr sein.«
»Weshalb bist du denn angekleidet? Hast du dich gar nicht zur Ruhe gelegt? Du versprachst es doch.«
»Wenn man in das Dunkle hineinsieht, Engel, sieht man die Dinge schärfer als im Licht. Mit einer grausamen Schärfe, Engel. Weil man die unerbittliche Kette der Folgerungen gestaltet und die Beweggründe nicht gelten läßt. Darum bin ich wieder aufgestanden und habe mich angekleidet und zu dir ans Bett gesetzt.«
»Sitzest du bequem, Kornelius? Nimm doch das Kissen von mir in den Rücken.«
[S. 260]
»Nein, nein. Ich danke dir. Seit ich bei dir sitze und dich ansehe, hat sich die Schärfe gemildert.«
Da lag sie ganz still und atmete fast unhörbar. Ihr hellfarbiges Haar glitzerte wie eine seidige Woge auf den Kissen und bettete den ernsten Frauenkopf mädchenweich. Es schmiegte sich über ihre Brust, und er sah die seide-gesponnenen Fäden leise erzittern. Ganz nahe jetzt, ganz nahe. Sein Kopf hatte sich an ihrer Brust eine Ruhestatt gesucht.
Und in ihren Herzschlag hinein begann er zu sprechen, sich von den Bildern des Tages zu lösen.
»Ich kam nach Köln, Engel. Ich wurde in den Raum geführt, in dem der Verunglückte lag. Ich erkannte ihn sofort als meinen Sohn, als den Justus. Er hatte noch im Tode den hochfahrenden Zug um den Mund. Denn ein Toter lag vor mir, kein nur Verwundeter, Engel. Ein Mensch mit rohen Messerstichen im Leib, aufgefunden in einer dunklen Gasse, in der sich das Gesindel herumtreibt.
»Erst habe ich den Körper angestaunt, der einmal so jugendschön gewesen war. Vergeudet, vertan in einem wilden Leben, das nur sich anerkannte und seinem Begehr keine Schranken setzte. Und dann habe ich mit Mühe meinen Mund geöffnet und meine Fragen gestellt.
»Er muß durch einen nächtlichen Lärm in die Gasse gelockt worden sein. Männer stritten sich um ein Frauenzimmer, und er hat sich ohne viel Fragen zum Beschützer aufgeworfen. Über sein herrisches Tun ist es unter den Angetrunkenen zu einem Hallo gekommen, und sie haben einen wilden Reigen um das Paar geschlungen. Der Justus aber hat mit seinem Stocke rücksichtslos hineingeschlagen und dem Gesindel die Messer gelockert. Das Dirnchen war herausgehauen, als er in seinem Blute auf der Gasse lag und die Polizeibeamten das Gesindel verscheuchten. Er lag mit gebrochenen Augen.«
[S. 261]
Er schwieg und preßte den Kopf fester auf Angela Freydags Brust. Und Angela Freydag hielt den Atem an, um sein Schweigen in die Ruhe hinüberführen zu können.
»Engel, Engel!« brach es aus ihm heraus. »Wegen einer Straßendirne! Ach, was sage ich. Und wenn es um eine Dame der Gesellschaft gegangen wäre! Aus herrischer Laune, die auf keinem anderen Verdienst fußt als auf dem ererbten Namen! Engel, Engel, ich habe ihn befragt, den Toten, und er behielt nur seinen hochfahrenden Zug um den Mund.«
Jetzt spürte er ihre Hand über seinen Rücken gleiten. So sacht und doch so beredt, wie nur Angela Freydags Hände waren. Und er besann sich auf Zeit und Raum und gewann seine Ruhe zurück.
»Die Ärzte hatten noch ihr traurig Handwerk auszuführen, um Herkunft und Beschaffenheit der Wunden festzustellen. Bis zur Freigabe der Leiche hatte ich überflüssige Zeit. Ich tat, was man bei solchen Todesfällen zu tun pflegt. Ich suchte Justus letzte Wohnung in Köln auf, wies mich als Vater aus und packte seine paar Habseligkeiten. Einige Schulden blieben noch zu zahlen, und ich zahlte sie. Sein mütterliches Vermögen war wohl bei seinen Abenteuern draufgegangen. Und dann las ich seine Briefschaften, die aus allen Frauenschichten stammten und in Anbetungen vergingen, und verbrannte sie. Mit der Asche war alles verloschen, was Justus Vanderwelts Leben hieß.«
Er hob den Kopf von Angela Freydags Brust und setzte sich aufrecht. Sie sprach noch immer nicht.
»Nun habe ich dir die Nachtruhe geraubt, Engel, aber ich wußte mir keinen anderen Rat. Vielleicht glückt es dir, noch einmal einzuschlafen, vielleicht glückt es auch mir jetzt. Es tut wohl, an deinem Bette zu sitzen, Engel.«
[S. 262]
»Bleib,« bat sie, und ihre Hände umklammerten die seinen.
»Ich bleibe gern noch, Engel, aber du mußt schlafen.«
»Sieh,« sagte sie, und aus ihren Händen strömte es wie warme Wellen in die seinen über, »es liegt für dich so nahe, dir Gedanken zu machen, ob deine Erziehungsart die rechte gewesen sei. Und du hast sie dir schon gemacht, und das hat dich zu mir getrieben. Es wäre für mich nicht nötig gewesen, ein Jahr lang während der Entwicklungszeit deiner Kinder die stille Zeugin gewesen zu sein. Ich kenne dich ja wie kein anderer Mensch in dem selbsterworbenen und gefestigten Reichtum deiner Wesensart. Deine Kinder brauchten nur zuzulangen, um überreich zu werden, aber sie wählten sich aus dem Dargebotenen nur das heraus, was ihrer eigenen Wesensart entsprach. Und davon wollte ich sprechen.«
Er hatte sich mit geschlossenen Augen im Stuhle zurückgelehnt. Nur über sein Gesicht zuckte es zuweilen hin, wenn ein Wort von ihr ihn tiefer aufhorchen machte.
»Ja, Kornelius, davon besonders wollte ich sprechen. Denn ich kann es aus Erfahrung. Eine Erziehung kann gut oder schlecht sein, auf die Wesensart des Kindes kommt es an, wie sie wirkt und wohin sie sich auswirkt. Ein schlechter Vater kann an einem gut gearteten Kinde nicht mehr verderben, als daß er ihm die Kindheit verdirbt. Und der beste Vater wird seinen Kindern nicht mehr geben können als eine glückliche Kinderzeit, wenn sie weniger gut geartete oder eigenwillige Persönlichkeiten sind. Daß der Mensch das Ergebnis seiner Erziehung wäre — ach, Kornelius, das ist die bequemste Lüge der Oberflächlichkeit. Die Erziehung kann ihm das Sprungbrett für seine Persönlichkeit werden, aber springen muß er selbst, das will heißen, Kornelius, daß ein jeder zu seiner Erziehung das Beste aus sich selbst hinzufügen muß, oder es bleibt beim schönen[S. 263] Schein. Wenige Kinder haben so sehr alle Möglichkeiten gehabt wie die deinen. Längst ist die Reihe an ihnen, und du und kein Vater kann etwas anderes tun, als den besorgten Zuschauer spielen. Sieh, Kornelius, das war es, was ich wahrheitsgemäß einmal aussprechen mußte.«
»Wie gut es sich dir zuhört, Engel —«
»Ich war selber ein Kind, Kornelius, das über wüste Wege mußte und doch zum Glück kam.«
»Zu einem heimlichen, Engel, und ich beließ es dabei.«
»Nein, ich beließ es dabei. Sollte ich dich wegen einer bloßen Form in Widerstreit zu deinen erwachsenen Kindern bringen, die schon selber Kinder in die Schule schicken? Ja, lächle nur, Kornelius, es ist so. Und heimlich? sagst du. Mein Glück wäre ein heimliches? Sieh dir all das Glück an, das sich offen zeigt, und dann vergleiche es mit dem meinen. Mit dem unsrigen, Kornelius. Das unsrige hat gelernt, daß Liebe ein Hauch ist, den man behüten muß.«
Er öffnete die Augen und blickte sie mit tiefer Innigkeit an.
»Bei dir — ach, bei dir ist gut ruhen ...«
Sie saß aufrecht in ihrem weißen Nachtkleid, warf das Haar in den Nacken und strich ihm die Augen zu. Ihr zärtlicher Atem wehte über ihn hin. Wie wohl das alles tat — wie wohl — —
Er nahm sich vor, diese Stunde auszugenießen, keine Minute dieser Stunde aus seinem Gedächtnis zu verlieren, — und war entschlummert. Ruhig und gleichmäßig gingen seine Atemzüge.
Auf bloßen Füßen stand sie neben seinem Stuhle, bettete sie seinen Kopf in ihr warmes Kissen, seine Füße in eine wollene Decke, drehte sie geräuschlos das Licht aus. Und aus ihrem Bette heraus horchte sie noch lange auf die stillen Atemzüge.
[S. 264]
Als er die Augen aufschlug, sah er sie in ihrem weißen Morgenrock, das Haar unter einem seidenen Strickmützchen, am Fenster stehen und in den Morgen hinausblicken. Sie wandte sich um und blickte mit einem Lächeln zu ihm hinüber.
»Wo bin ich, Engel? Wie komme ich hierher? Ist es schon Tag?«
»Du bist bei mir. Du kamst in der Nacht zu mir. Und nun ist es Morgen.«
Seine Gedanken kehrten nur langsam und wie aus weiter Ferne zurück. Das Erinnern an das gestrige Erleben drängte sich vor, zeigte seine Dirnenfratze und hatte seine Schrecken verloren. Da stand die starke, helle Frau und reichte ihm zum Tagesgruße die Hände. Und diese Hände, die er schon an dem herumgejagten hageren Mädchen liebgewonnen hatte, diese Hände hatten ihn in Schlummer gewiegt.
Er sprang aus dem Stuhle auf. Der tiefe Schlummer hatte ihm alle Kräfte zurückgebracht. Und Kornelius Vanderwelt beugte sich über Angela Freydags Frauenhände und küßte sie. —
Vor der Geschäftsstunde noch kam Thomas Vanderwelt in sein väterliches Haus. Mit krampfhaft angespannten Gesichtszügen begrüßte er Angela Freydag, die ihn in seines Vaters Zimmer eintreten ließ und hinter beiden die Türe schloß. Als Thomas Vanderwelt nach einer halben Stunde das Zimmer wieder verließ, war sein Gesicht fassungslos und verwüstet.
»Es war wohl weniger der Tod als die Roheit des Todes, die ihn so aufwühlte,« sagte Kornelius Vanderwelt.
»Ich weiß es nicht, Kornelius. Ich weiß nur, daß ihn noch etwas aufzuwühlen vermag. Das soll uns heute genügen.«
[S. 265]
Es kamen auch die Frauen ins Haus, Juliane und Antonie. Beide in erlesenen schwarzen Gewändern.
»Es ist gut, daß sie zusammen kommen,« sagte Kornelius Vanderwelt, als Angela Freydag sie ihm meldete. »Zu zweit bilden sie doch nur eine Unwahrheit. Laß sie zu mir, damit ich es schnell überstehe.«
Nach wenigen Minuten schon kehrten die jungen Frauen mit verstörten Gesichtern zu Angela Freydag zurück.
»Was ist mit ihm?« fragte Juliane hastig. »Er ist für Trost nicht zugänglich und wies mich barsch zurück, als ich ihn um ein Andenken an meinen armen Bruder bat.«
»Ist Justus wirklich bei einer Frau tot aufgefunden worden? Von dem zornigen Ehemann überrascht, getötet und auf die Gasse geworfen? Bitte,« bat Juliane mit schauernden Schultern, »erzählen Sie mir doch alle Einzelheiten.«
»Als Helfer starb er — aber die Tatsache seines unglücklichen Todes muß unserer Trauer wohl zunächst genügen,« erwiderte Angela Freydag und öffnete den verstörten jungen Frauen die Tür.
»Und die beiden Beckenrieds, Vater und Sohn, erschienen und gingen zu Kornelius Vanderwelt in das Arbeitszimmer. Der Schwiegersohn Klaus nagte vor Erregung an der Unterlippe und schaute so wild um sich, als erwarte er selbst ein Wort der Teilnahme, und der alte Beckenried fand das Wort, wenn auch auf Umwegen, und wies darauf hin, daß nicht nur die Angehörigen schwer unter den niederdrückenden Umständen des Todesfalles leiden würden, sondern auch das Geschäft, denn das Verfrachtungsgeschäft sei nun einmal eine Vertrauenssache.«
»Überlassen Sie auch diese Sorge einstweilen mir allein. Wenn ich sie zu den anderen lege, wiegt sie weniger.«
Und Kornelius Vanderwelt verabschiedete sich von den Herren und rief nach Angela.
[S. 266]
»Sperr' die Fenster auf, Engel. Die Totengräber haben sich in der Türe geirrt. Noch rieche ich nicht nach der Schippe.«
Am folgenden Tage wurden Justus' Überreste in aller Stille im Vanderweltschen Erbbegräbnis eingebettet. Keine Traueranzeige war verschickt worden, kein Teilnehmender hatte sich eingefunden. Die Herren Beckenried wurden durch die Vertretung der beiden Herren Vanderwelt im Geschäft zurückgehalten, die junge Frau Antonie war aus Furcht vor dem Schwiegervater von einem Nervenzittern befallen worden, und so stand Kornelius Vanderwelt mit seinen beiden Kindern allein an der Gruft, aber er fühlte Angela Freydags Schulter.
Leise fragte Juliane den Bruder nach dem Pastor. Doch Thomas wies die Frage durch ein Kopfschütteln zurück. Und der Sarg wurde von den vier Trägern an den Bronzeringen herangetragen und langsam an den Seilen in die Gruft hinabgelassen.
Kornelius Vanderwelt zog den Hut. Er erwies dem Tode die Ehrfurcht und schickte dem Sohne den letzten Vatergruß nach. Fahr wohl und hab' deine Ruhe, Justus.
Der Totengräber hielt den beiden Männern die Schippe mit den Erdschollen hin. Und als auch diese Formel erfüllt war und sie sich zum Gehen wandten, hörte Kornelius Vanderwelt noch einmal Erdschollen auf dem Sarge aufschlagen. Und er erkannte in dem Manne, der hinter den Leichensteinen hervorgetreten war und dem lebenden Vanderwelt mehr als dem toten die Ehre erwies, seinen alten Seegesellen, den Gastwirt Matthes aus den ›Fünf Erdteilen‹.
Da packte ihn das Würgen im Halse, und er wußte nicht, ob ihn das Lachen schüttelte oder das Leid.
Der Mann aber war wortlos hinter den Leichensteinen verschwunden.
[S. 267]
»Komm,« bat Angela Freydag leise und berührte seine Hand.
»Sahst du ihn?«
»Einer, der dir Freundschaft hält, Kornelius.«
»Und was für einer!«
»Besser ein treuer Kettenhund als ein wildernder Jagdhund. Mich hat es heute gefreut.«
»Du magst recht haben,« erwiderte er, »und nun können wir gehen.«
Sie fuhren die Kinder bis zu ihren Wohnungen und fuhren allein heim. Es war Abend geworden, als sie das Haus betraten. Und sie suchten ihre Zimmer auf, um sich umzukleiden.
An diesem Abend spielte Angela Freydag, wie sie noch nie vor den Tausenden gespielt hatte. Kein Lied vom Tode und Vergehen. Den gewaltigen Sang, der in der Herbstnacht sehnsüchtig beginnt und mit den Frühlingsstürmen sieghaft durch die Wälder braust. Das Menschheitslied vom ewigen Auferstehen spielte sie, und sie spielte es für Kornelius Vanderwelts Seele.
Nur für den Mann, der aufrecht in dem alten Kirchenstuhle saß und ihre Liebe an seinem Herzen hielt.
Ihre Arme sanken am Körper nieder. Ihre Brust hatte den Atem verloren. Und während sie ihn in schmerzhaften Zügen wiederzugewinnen trachtete, dachte sie: So und nicht anders ist meine Liebe. Bis mir die Arme vom Körper sinken. Bis mir der letzte Atem vergeht. Töten und vernichten könnte ich um seines geliebten Namens willen.
Und sie wandte den erblaßten Kopf nach ihm und lächelte ihm zu ...
Und wieder schritt Kornelius Vanderwelt durch das Gewühl vor der Schifferbörse wie in früheren Tagen, aber die launigen Zurufe blieben den Leuten im Munde stecken,[S. 268] die Knäuel öffneten sich und ließen ihn hindurch, und die Männer zogen die Mützen herunter und schwiegen in Verlegenheit. Ein wenig hatte er es sich anders gedacht, aber er ließ es sich nicht anfechten und erledigte im Börsensaal seine Geschäfte.
Und als er in das Gewühl der Wartenden zurückkehrte, bildeten die Leute aufs neue eine Gasse. Aber sie hatten eine Abordnung unter sich ausgemacht, aus ihren Ältesten, und die Ältesten traten an Kornelius Vanderwelt der Reihe nach heran und schüttelten ihm schweigend die Hand, während die Umgebung sich achtungsvoll räusperte.
Der Winter ging hin. Es war dies Jahr nicht nur für das von den Feindmächten besetzte Rhein- und Ruhrgebiet, es war für das ganze in Geldwirren gestürzte Deutschland das atemraubendste Geschäftsjahr geworden, und in der kaufmännischen Welt reihte sich Trümmerfeld an Trümmerfeld. Kornelius Vanderwelt schaffte vom Morgen bis zum Abend, er war überall, wo es not tat, mit der unwiderstehlichen Kraft seiner Persönlichkeit einzugreifen, und doch fühlte er, daß es rückwärts gehen wollte und nicht vorwärts. Nein, seine Kraft war die gleiche geblieben, aber seine Unwiderstehlichkeit hatte nachgelassen. Die Verlegenheit, die er vor Monaten, nach Justus' Tode, unter dem derb genug besaiteten Schiffervolk auf dem Börsenplatz beobachten konnte, äußerte sich bei den Kaufherren und Werksleitern wohl liebenswürdiger und zurückhaltender. Aber gerade diese Zurückhaltung war es, die ihm die raschen und frischfröhlichen Geschäftsabschlüsse erschwerte.
In der ersten Zeit sah er über das törichte Menschheitsverhalten hinweg, auch dann noch, als es sich vornehmlich unter den einstmaligen Zechgenossen mancher ›hohen Fahrt‹ breit und bemerkbar machte. »Es ist die alte Leier, Engel,« pflegte er zu sagen, »daß die schmutzigsten Hände immer die[S. 269] reinsten Handschuhe vorweisen möchten. Ich glaube, im Gleichnis vom Zöllner und Pharisäer hat der brave Pharisäer auch schon Handschuhe übergezogen.«
Als er aber in der Folge bei der Verteilung größerer Ladeaufträge mal auf mal übergangen wurde, geriet zwar seine Zuversicht nicht ins Schwanken, aber ein Lächeln der Verachtung erschien auf seinen Lippen und wollte hinfort nicht mehr weichen. Trug doch seine Zuversicht mehr als je den Namen Angela Freydag.
Was der hochgemute Mann nicht sah, das sahen ihre klaren Frauenaugen. Sie gewahrten die verstärkte Aufmerksamkeit der Vielheit, die dem zurückgezogenen Leben Kornelius Vanderwelts galt, und die tastenden Finger, die nach dem stillen Schleier griffen. Und sie beschränkte sich immer mehr in der äußeren Lebensführung und wuchs zu einer inneren Gesammeltheit auf, die bei anderen gefestigten Naturen wohl aus der Entsagung geboren zu werden pflegt, bei ihr aber nichts anderes hieß als die heiße Fürsorge für den Geliebten.
Wurde Kornelius Vanderwelt in seinem hohen Traumwandel hellsichtig, das sagte ihr das untrügliche Empfinden der liebenden und geliebten Frau, so vernichtete er mit seinen Widersachern sich selbst und sein Glück. Und immer enger noch an ihn geschmiegt, blieb sie die Gefährtin seines hohen Traumwandels auf Schritt und Tritt, und es war keine Wolke am Himmel, die sie nicht zu scheuchen wußte.
In diesen Tagen begann das Leben seine Probe auf die Berechtigung, Kornelius Vanderwelts Glück zu heißen und er das ihre. Sie dachte gar nicht darüber nach. An das Selbstverständliche verschwendete sie keine Gedanken. Nur, daß auch auf ihren Lippen das Lächeln der Menschenverachtung erschien und blieb.
Mehr als vordem stellte sich Thomas Vanderwelt ein.[S. 270] Er wußte die Stunden herauszufinden, an denen er Angela Freydag allein zu Hause traf, und hockte ihr im Sessel gegenüber, rauchend und die Regeln des Lebens in Widersinnigkeiten verkehrend. Der Tod des Bruders hatte sein zersetzendes Wesen bis zur Fahrigkeit gesteigert.
»Lieber Thomas,« sagte die geduldige Zuhörerin, »weshalb spielen Sie sich und mir eine Rolle vor? Das sind Sie ja gar nicht, in dessen überlegenem Faltenwurf Sie sich gefallen. Sie sind weder eitel noch unanständig. Weshalb also die Maskerade.«
»Was bin ich denn in Ihren klugen Augen, Frau Engel?«
Seit er den Namen einmal aus dem Munde seines Vaters vernommen hatte, hatte er ihn sich nicht wieder nehmen lassen.
»Sie sind ganz einfach ein unglücklicher Mensch. Nichts mehr und nichts weniger.«
»Ein unglücklicher Mensch kann sehr wohl ein Unflat sein. Schon der Umstand, daß er ein Unglück hinnimmt, spricht dafür.«
»So ändern Sie es doch, oder sind Sie ein Höriger Ihres Unglücks?«
»Sehen Sie,« sagte er bewundernd, »wie scharfsichtig Sie sind, wie Sie jedes Kindlein gleich beim rechten Namen zu nennen wissen. Ein Höriger .. Ein Höriger seines Unglücks. Das bedeutet soviel wie ein krankhaft veranlagter Liebhaber. Wahrhaftig, Sie haben ins Schwarze getroffen.«
»Wenn Sie in dieser Tonart fortzufahren belieben, muß ich Sie zu meinem größten Leidwesen nach Hause schicken, Thomas.«
Er lächelte sie ungläubig an. Wie ein verwöhnter Junge.
»Das würde nun wiederum Ihrem Namen keine Ehre machen, Frau Engel. Denn ich komme ja just zu[S. 271] Ihnen, um von Zeit zu Zeit festzustellen, was denn eigentlich von dem alten Thomas noch übriggeblieben ist. Gott, wenn Sie so gütige Augen machen, reizt es mich, meinen ganzen Musterkasten — die alten Griechen nannten ihn, glaube ich, die Büchse der Pandora — vor Ihnen auszupacken, wenn die Pandora auch nur Antonie gerufen wird und der Gatte so neugierig ist wie das Weib.«
»Thomas, Thomas, ich rief Sie schon vor Jahren bei Ihrer Ritterlichkeit auf. Es gibt nur ein Entweder — Oder!«
»Ein Entweder — Oder,« wiederholte er, »und ich habe das letztere gewählt. Das Entweder ist stets das Langweiligere, das Oder das Vergnüglichere und das Spannende. Der ›Hörige‹ kommt hinzu. Das Leben, das sich uns nach dem allgemeinen Weltendurcheinander und der ausnahmslosen Gleichmacherei darbietet, ist so reizlos geworden, daß man nach einem Strohhalm greift, wenn er eine Belustigung verspricht. Meine Antonie ist nun gewiß kein trockener Strohhalm, sondern ein ausbündig schönes und vollsaftiges Lebewesen der Mutter Erde, aber darin tut sie es dem Strohhalm gleich, daß sie in Brand gerät, ehe man sich umgeschaut hat, und das ist über alle Maßen belustigend. Weshalb? fragen ihre strengen Augen. Weil sie annimmt, daß man sich nicht umgeschaut hat.«
»Und das nehmen Sie,« fragte Angela Freydag verächtlich, »immer wieder hin, ohne es zu ändern?«
»Geduld, Geduld,« mahnte Thomas Vanderwelt geheimnisvoll. »Zuweilen ist es nur ein irrtümlich entstandener Brand, ein Brand aus Eifersucht, der mir die Glut ihres Herdfeuers bekunden soll. Mir, Frau Engel. Bei anderen Malen aber gedenke ich aller Ihrer guten Lehren und nehme den brennenden Strohhalm ungesehen in meine Hände, um ihm das Lebenslichtlein auszupusten. Ganz unvermutet und auf eine streng sittliche Weise.«
[S. 272]
»Lästern Sie nicht, Thomas, und reden Sie, wenn Sie schon reden müssen, ohne Beschönigung.«
»Es ist ein bißchen viel Nacktheit dabei, Frau Engel, wie bei den neuzeitlichen Tanzbelustigungen. Daher die Verbrämtheit meiner Rede vor Ihren Ohren. Aber urteilen Sie selber über die Tragbarkeit der sittlichen Grundlagen, auf denen ich meine Abänderungen vollziehe. Von den kleinen Kunstgriffen schweige ich. Von den Stelldicheins, von denen mir herumliegende Briefe oder herumfliegende Freundinnen Kunde taten und zu denen zufällig ich selber erschien, statt des Erwarteten. Von den nichtigen Techtelmechteln, die ich mit ihren ähnlich gearteten Freundinnen beginnen mußte, um allerlei Menschliches und Allzumenschliches meiner vergeßlichen Gefährtin aus Vergangenheit und Gegenwärtigem zu erfahren und ihre holden Lügen am Bindfädchen zu halten, wie der Knabe den Maikäfer. Höher hinauf, höher! Da war ein Fall, würdig, verzeichnet zu werden. Nicht der Strohhalm, die ganze Garbe brannte. Und der Herrlichste von allen wurde ins Haus geladen. Es ging nicht anders, es war der Hausfrau Geburtstag. Und sie saßen sich gegenüber und besprachen sich mit den Augen und sagten sich Wunderdinge über Wunderdinge. Sollte ich den Dritten im Bunde vor die Türe werfen? Sie nicken begeistert. Gemach, gemach. Ich erhob mich aus einem inneren Drange heraus und klopfte mit meinem Obstmesser ans Glas, denn wir waren beim Nachtisch angelangt, und hielt eine Geburtstagsrede. Das war es, Frau Engel. Das war die sittliche Grundlage. Ich verbeugte mich vor der Hausfrau, vor der Gattin, vor der Mutter meines Kindes. Ich sprach von der tiefen Gläubigkeit des einen zum anderen Teil in der heiligen Ehe. Von der Lebensgefährtin, die, abhold jeder Lüge und Verstellung, ihr Leben lasse für den reinen Schild des anderen.[S. 273] Von der Selbstlosigkeit und Aufopferungsfähigkeit der wahren und wahrhaftigen Frau, die so hohe Höhen zu erklimmen wisse, daß wir staubgeborenen Männer anbetend auf den Knien liegen müßten. Und der Ehrengast war so erschrecklich unruhig geworden und rutschte vor lauter Beschämung auf seinem Stuhl. Und der Trottel kriegte sogar feuchte Augen, als ich die Tugend des Weibes der unsterblichen Seele an die Seite stellte, und er sagte, er habe sich verschluckt und müsse leider noch vor dem Hoch hinaus, um, wie er wiederum sagte, rasch einen Arzt zu Rate zu ziehen. Ja, und dann haben wir den Geburtstag für uns gefeiert.«
Er rieb sich vergnügt die Hände und lachte noch in der Erinnerung über den gelungenen Streich.
»Weshalb lachen Sie nicht mit, Frau Engel? Sie sind doch eine Frau von Geist?«
»Weil mir die Sache zu belanglos erscheint.«
»Belanglos? Das ist ein herbes Urteil. Darf ich Ihre Beweggründe kennenlernen?«
Angela Freydag blickte ihrem Gast in die Augen. So lange, bis eine Röte über seine Wangen huschte.
»Muß ich sie Ihnen wirklich nennen? Einem Manne, der selber das Messer des Wundarztes zu führen vorgibt? Also offen heraus, Thomas: die handelnden Personen erscheinen mir in ihrem Tun und Lassen zu unwichtig. Was sie mit großartigem Gebaren hervorbringen, sind bestenfalls eine Kette von schillernden Seifenblasen, die genau so lange anhalten, wie die Einbildung anhält. Für Kindereien sind wir zu erwachsen geworden, Thomas.«
Er rauchte seine Zigarette zu Ende, erhob sich und verabschiedete sich kleinlauter, als er gekommen war.
»Sie messen alles mit einem überlebensgroßen Zollstock,[S. 274] Frau Engel. Da schneiden wir kleinen Leute schlecht ab. Trotzdem: Es war eine schöne und lehrreiche Erbauungsstunde.«
Er schritt still zur Tür, griff über seine Augen und kehrte zurück. Sie sah ihm, ohne den Blick von ihm zu lassen, entgegen. Und er nahm ihre herabhängende Hand, zog sie stumm an seine Lippen und ging hinaus. —
Eine schöne und lehrreiche Erbauungsstunde hatte der Spötter Thomas ihr Zusammensein genannt. Das Wort blieb in Angela Freydag hängen und fand den Weg zum abwägenden Verstand. Eine Erbauungsstunde? Das war mitsamt dem Schmuckwort ›schön‹ auf Rechnung der armen Selbstverspottung zu setzen. Aber lehrreich — lehrreich war sie auch für Angela Freydag gewesen, und ihre Menschenverachtung konnte nur dabei gewinnen. Da lebten zwei junge Menschen in der nackten Oberflächlichkeit einer Ehe, wie sie die neue Zeit zu Hunderten hatte ins Kraut schießen lassen, einer Ehe, die nur soweit Gemeinsamkeit war, als sich die beiderseitigen Naturtriebe in ihr berührten und im übrigen beiden Teilen Wege offen ließ, die weder hell noch staubfrei gehalten waren. Aber es war eine Ehe. Sie gab zu reden und offen und heimlich zu tuscheln, aber solange beide Teile mit ihr zufrieden waren, nahm auch die Umwelt keine Veranlassung, sie abzulehnen. Und es lebten da zwei reife Menschen, deren innerste Verbundenheit keine Lücke zuließ und die doch nicht zur Ehe gelangt waren aus einer selbstlosen und opferwilligen Rücksicht auf Kinder und Enkelkinder. Trotz ihrer adligen Gesinnung, trotz ihrer Verdienste um die Allgemeinheit — die Umwelt kam ungerufen und legte kopfschüttelnd ihr zusammengeflicktes Maßband an.
Ja, diese Erbauungsstunde war für die Gefährtin Kornelius Vanderwelts nicht weniger lehrreich gewesen. Ihre[S. 275] Mienen zogen sich zusammen. Sie schüttelte die Hände in der Luft.
»Du — du! Mein Kornelius!«
Und ihre Glieder spannten sich wie zur Verteidigung und zum Angriffssprung. —
Kornelius Vanderwelt aber ging seinen Geschäften nach, als hätten sich Zeiten und Menschen nicht verändert. Nur daß er Zeiten und Menschen als so geringfügig wertete, daß er vor den Ohren Angela Freydags nicht mehr darüber sprach.
Wenn sie ihn nach dem Stand seiner Aufgaben befragte und ob sie anzögen oder nachließen, glitt er mit seiner großen Hand über ihr Gesicht. »Wir haben uns wertvollere Fragen aufzugeben, Engel. Haben wir erreicht, was wir wollten? Haben wir uns glücklich gemacht? Und alles ist gefragt und alles ist beantwortet.«
Das waren die Augenblicke, in denen Angela Freydag ein jähes Aufweinen zurückhalten mußte, ein Aufweinen der Freude über den Mann vor ihr und mit ihr.
Immer weniger sprachen sie miteinander, wenn der Wagen sie in die Wälder führte oder die Jacht sie in die nebelnden Fernen trug, die an Leuchtkraft gewannen, je dunkler es auf der Wasserbahn wurde. Aber immer enger lehnten sich ihre Schultern aneinander an, und jeder wußte vom Wünschen und Begehren des anderen und offenbarte sich ihm in der Stille.
Wenn der Rheinwind über das weiße Boot fauchte und dem Manne die Flamme des Zündholzes ausschlug, nahm ihm die Frau lächelnd die kurze Pfeife aus den Lippen, steckte sie zwischen die eigenen und brachte im Kajütenschutz den Tabak zum Brennen. Und lächelnd sah sie zu, wie er zu Ende rauchte.
»Das ist eine falsche Einteilung,« sagte er an einem[S. 276] Abend auf dem Wasser. »Du hast die Anstrengung und ich den Genuß. Ich habe dir auch ein Pfeiflein mitgebracht, Engel, damit dir ein gerechterer Anteil wird.« Und von Stund' an rauchten sie ihre Pfeiflein gemeinsam, wenn sie neben seinem Steuer stand, und sie gewöhnten sich an, es auch zu Hause gemeinsam zu rauchen.
»Weißt du, wann du zuletzt die Tasten des Flügels angerührt hast, Engel?« fragte Kornelius Vanderwelt nach einem schweren Arbeitstage.
Sie nickte vor sich hin, hob den Kopf und sah ihn an.
»Möchtest du, daß ich spiele?«
»Es war an dem Tage, an dem wir Justus begraben haben, Engel. Das ist jetzt schon ein volles Jahr. Ich habe keine Note vergessen, die du damals spieltest, und was du spieltest und wie du es spieltest. Das kann nicht mehr überboten werden.«
»Deshalb, Kornelius, wollte ich den Nachklang nicht mehr stören.«
»Er klingt unablässig in mir,« sagte Kornelius Vanderwelt, »und bei Tag und bei Nacht höre ich dich spielen, auch wenn du keine Taste mehr anrührst. Gib mir einmal deine Hände.«
»Meine Finger sind steif geworden, Kornelius.«
Und sie ließ sie ihm, und er streichelte jeden einzelnen ihrer Finger und legte seine Lippen darauf. Aber er bat sie nicht.
Wieder war ein Sommer zu Ende, und die Nebeltage der Adventszeit drückten auf den Rhein und auf die Gemüter der Menschen. Kornelius Vanderwelt hatte ein Bücherpaket geöffnet und machte sich mit Angela Freydag daran, die Bände zu sichten und sie zum Vorlesen zu ordnen. Mit still leuchtenden Augen waren sie bei ihrem Tun, als die Haustürglocke anschlug und das Mädchen den Besuch der beiden Herren Beckenried meldete.
[S. 277]
»Schade, es versprach ein so anregender Abend zu werden. Nun wirst du die Schätze zunächst einmal ohne mich durchstöbern müssen, Engel.« Und er trug ihr die Bücher in das nebengelegene Musikzimmer, und sie folgte ihm.
Als er in sein Arbeitszimmer zurückkehrte, ließ er die Türe offenstehen. So konnte Angela hören, was ihm die beiden Herren vorzutragen hatten, und er brauchte es nicht zu wiederholen und den Abend noch weiter zu verkürzen.
»Lassen Sie die Herren bei mir eintreten,« gebot er dem Mädchen und sah den Besuchern entgegen.
»Guten Abend, lieber Beckenried. Guten Abend, Klaus. Ein Familienbesuch gehört mit zu den Seltenheiten in diesem Hause.«
»Wir hätten es gern bei den Seltenheiten belassen, Herr Vanderwelt,« begann der Ältere, und seine Stimme klang heiser vor Erregung, »und die Familienbeziehungen gestalten sich nachgerade zu einem — zu einem —«
»Klaus, du hilfst wohl deinem Vater.«
Der jüngere Beckenried zitterte vor Zorn.
»Diesen überlegenen Ton, diesen ganz unangebrachten überlegenen Ton bitte ich in Zukunft zu unterlassen.«
»Ein Glück, daß du bittest, Klaus. In diesem Hause wird nämlich der Ton nur von mir bestimmt. Aber die Herren scheinen erregt, und wir wollen uns darum nicht noch aufpeitschen, sondern uns mit der Ruhe gereifter Männer besprechen. Was also steht den Herren zu Diensten?«
»Zu Diensten?« eiferte der Alte und klopfte sich gegen die Stirn. »Ja, das wollen wir von Ihnen erfahren, inwieweit Sie zu Diensten zu stehen belieben. Was ich in Ihren Diensten ein Leben lang erworben habe, fort ist es, in den Dreck geschmissen, verjubelt und vergeudet. Mein guter Name schwimmt auf einer Pfütze. Und meine Frau Schwiegertochter, diese — diese —«
[S. 278]
»Klaus, bist du mit Juliane verheiratet oder dein Vater?«
Der Jüngere ließ ihn kaum zu Ende reden. Seine Hände öffneten und spreizten sich.
»Frag' doch erst einmal an, was deine Tochter getan hat? Mit was sie allem ihrem bisherigen Tun die Krone aufgesetzt hat? Frag' doch erst einmal an, bevor du für das unzurechnungsfähige Geschöpf Partei ergreifst!«
»Ich ergreife durchaus nicht Partei. Wenn meine Tochter sich als unzurechnungsfähig erweist, so ist mir das gewiß ein bitteres Vaterleid. Aber ich wiederhole, wie schon so oft: sie steht als deine Frau nicht unter meiner, sondern unter deiner Obhut.«
»Obhut!« rief der Alte mit einem gellenden Lachen. »Obhut! Über eine Irrsinnige, wie?«
»Ist das auch die Ansicht des Ehegatten?« fragte Kornelius Vanderwelt hart.
»Ja, ja, und sooft du willst, ja!« schrie ihm der Jüngere ins Gesicht. »Eine Größenwahnsinnige, die keinen Schritt hinter den Allerreichsten zurückbleiben will. O nein, die in allen Mode- und Narrenfragen die Führung haben muß, als liege das Geld zum Stehlen auf der Straße. Das Geld, das gute Geld. Das von mir und das vom Vater. Wo ist es geblieben? In die Luft geblasen hat es die Närrin!«
»Wenn sie eine Närrin ist,« sagte Kornelius Vanderwelt, »so überführe sie in eine Anstalt. Wenn sie dir aber über den Kopf gewachsen ist und du bist nicht Mannes genug, ihr den Meister zu zeigen, so reiche die Scheidung ein. Anderes vermag ich dir nicht zu raten.«
»Der Herr Vanderwelt scheint zu glauben, es handelte sich um eine Schneiderrechnung?« höhnte der Alte und hielt sich am Tischrand.
[S. 279]
»Es handelt sich um ein Vermögen, das wir überhaupt nicht besitzen! Um mehr! Um mehr!«
»Nenne mir die Summe.«
»Hunderttausend Mark, Herr Vanderwelt! Hunderttausend Mark, wenn das reicht!«
Als hätte die Ziffer eine schweigende Scheu hervorgerufen, so still wurde es im Zimmer.
»Hier muß ein Irrtum vorliegen,« sagte Kornelius Vanderwelt endlich. »Solche Summe schießt man einer Frau Juliane Beckenried nicht vor.«
»Wer spricht von einem Vorschuß? Bei Hinz und Kunz stand sie auf Borg, und um die lästigen Gläubiger los zu werden, hat sie an der Börse gespielt! Mit jedem ungewaschenen Lehrling und jedem überspannten Nähmädel hat sie sich in eine Reihe gestellt, um Geld im Schlafe zu verdienen. Nur, daß Frau Juliane Beckenried, geborene Vanderwelt, auf ihren Namen hin größere Summen wagen durfte. Und dann ist die Karte an einem schwarzen Börsentage falsch herumgeschlagen, und die Bank drängt auf die Regelung der Verbindlichkeiten. Das ist der Zusammenbruch.«
»Hunderttausend Mark,« wimmerte der Alte. »Ein Elendleben umsonst gelebt. Dieser Vampir — —«
»Nicht mehr sehen will ich sie!« stöhnte der Jüngere auf. »Aber das Geld will ich retten.«
Kornelius Vanderwelt kämpfte einen kurzen Kampf. »Wo sind die Belege?« fragte er.
»Hier, hier, hier!« und der jüngere Beckenried schlug die Papiere heftig auf den Tisch.
Kornelius Vanderwelt nahm sie auf und las sie aufmerksam durch. Eine feine Röte kreiste auf seinen Wangen.
»Die Abrechnungen stimmen,« sagte er so leise, als[S. 280] spräche er mit sich selbst. »Zwar wird es der Bank nicht möglich sein, die Zahlungen zu erzwingen, da sie ohne Befragen des Ehegatten gehandelt hat —«
»Klug wie ein Fuchs! Und die geschäftliche Stellung der Beckenrieds? Natürlich ist das ein Pappenstiel!«
»Ich habe nicht mit dir gesprochen, sondern mit mir, Klaus Beckenried. Und ich gestatte mir, weiter mit mir zu sprechen. Die Bank weiß sehr wohl, daß sie verschwiegen und zuvorkommend sein muß, wenn sie schadlos befriedigt sein will. Hunderttausend Mark schüttet in dieser schweren Geschäftszeit kein Mensch aus dem Ärmel.«
»Wer soll sie denn befriedigen? Wer, wer, mein Gott?«
»Ich,« sagte Kornelius Vanderwelt.
»Sie —?«
»Ich werde für die Befriedigung der Bank sorgen, in dem Augenblick, in dem Sie, Herr Klaus Beckenried — Sie gestatten, daß ich das irreführende Du unterlasse — in keiner Weise mehr als mein Schwiegersohn zu gelten wünschen. Dann.«
»Soll das heißen: wenn ich die Scheidung von Ihrer Tochter Juliane vollzogen habe —?«
»Von meiner Tochter Juliane und von meinem Enkel Martin. Das soll es heißen.«
»Der Junge kommt hier überhaupt nicht in Betracht. Er steht ganz außerhalb unserer Verhandlungen.«
»Sie dürfen es sich überlegen, ob Sie die Verhandlungen scheitern lassen wollen.«
»Scheitern? Scheitern? Kein Mensch spricht davon. Aber ich frage Sie, was wollen Sie um Himmels willen mit dem Jungen?«
Kornelius Vanderwelt blickte über die ratlosen Männer hinweg in eine nebelhafte Ferne, die aufleuchtete, je stärker die Dunkelheit um ihn her wurde.
[S. 281]
»Ich weiß es nicht,« sagte er leise. »Ich weiß nur, daß es auch nicht einen vertraulichen Berührungspunkt zwischen uns mehr geben soll. Sie haben rücksichtslos genug gegen mich gekämpft. Nicht erst seit heute. Nehmen Sie an, der Geschäftsmann in mir regte sich und wollte bezahlt sein. Mit dem Jungen. Mir ist er ähnlich, und er hat mein Blut. Er soll nicht gegen den Namen Vanderwelt eingenommen werden.«
»Herr Vanderwelt —!«
»Es eilt mir nicht. Sie dürfen es sich in Ruhe überlegen. Ich stehe in jedem Punkte bei meinem Wort.«
Der alte Beckenried näherte sich ihm flüsternd.
»Wissen Sie denn, daß Ihr Bankguthaben diese Belastung gar nicht mehr verträgt?«
»Lassen Sie das meine Sorge sein, Beckenried. Aber damit Sie in dieser Nacht ruhiger schlafen können, als Sie es noch vor einer Stunde geglaubt haben, will ich Ihnen verraten, daß ich mein Haus zum Pfand setze mit allem, was darinnen ist.«
»Herr Vanderwelt!« stammelte der Alte erschrocken.
»Herr Vanderwelt!« stammelte der Sohn und trat staunend einen Schritt zurück. »Das ist — das ist Güte, statt Haß.«
»Werden Sie nicht weichlich. Güte! Güte kann unter Umständen ein schlimmeres Ding als Rache sein. Aber das verstehen Sie wohl nicht.«
»Sie wollen mich mit Ihrer Güte zur Verzweiflung treiben,« murmelte der Sohn. »Mir wächst die Unterhaltung über den Kopf. Ich sehe nicht mehr, was das Rechte und was das Falsche ist. Als Kaufmann muß ich den klaren Blick bewahren.«
»Den Martin,« gebot Kornelius Vanderwelt. »Er gilt Ihnen nicht genug, denn Sie haben sich nicht auf der Stelle[S. 282] entscheiden können. Die Antwort können Sie auf morgen verschieben.«
»Sie sollen sie morgen wissen.«
»Ich glaube nunmehr, meine Herren, daß wir uns zur Sache nichts mehr zu sagen haben. Gehen Sie getröstet heim und bereiten Sie für morgen alle Urkunden vor. Guten Abend.«
Vater und Sohn Beckenried verbeugten sich stumm und schritten zur Tür. Noch einmal wandte sich Klaus Beckenried auf der Zimmerschwelle um, und sein verwirrter Blick traf in das lächelnde Auge des Nachschauenden.
»Es war einmal ein begeisterungsvoller Jüngling, Klaus Beckenried, der von der Liebe bis zum Tode schwärmte. Es war in diesem Zimmer, und seine Jugend machte ihn zum Dichter. Suchen Sie ihn, bis Sie ihn wiederfinden, und wenn Sie ein alter Mann darüber werden sollten. Gute Nacht.«
Die Türe schloß sich.
Er dachte: Es ist gut, daß ich den ganzen Schmutz der Angela nicht noch einmal zu wiederholen brauche. Und er rief: »Komm nur herein, Engel. Ich bin ganz allein.«
Ein paar Atemzüge lang stand sie in der Verbindungstür. Ihre Augen flogen über ihn hin. Wie hager im Kampf sein Gesicht geworden war, wie grau seine Schläfe. Und wie hell und leuchtend seine Augen geblieben waren.
Sie warf sich an seine Brust und drückte den Kopf gegen sein Herz.
»Ja, Engel, es wird nun alles ein bißchen anders werden. Der Riemen schnallt sich enger um den Leib.«
Sie schüttelte mit einer wilden Bewegung den Kopf. Ihre Augen funkelten ihn an.
»Nie habe ich dich so geliebt. Nie, nie. Die Zwerge glaubten dich auf dem Boden zu haben. Auf ihrem platten[S. 283] Boden. Wegen eines Sackes Geld. Ach du! Ach, wie hast du sie gedemütigt. Wie hast du den Zaun zwischen dir und ihrer Angst und Gier aufgerichtet. Wie ein Riese recktest du dich auf, und ich wollte zu dir, an deinen Hals, und schreien: ›Ich gehöre zu ihm! Ich! Ich! Ich!‹«
»Mach' mich nicht stolz. Der eine des Namens hat seinen Körper, die andere das Geld, wieder der andere seine Seele vergeudet. Was bleibt von Kornelius Vanderwelt und seinem Werk?«
»Eine Seele«, sagte sie hastig, »ist so unermeßlich und unergründlich, daß kein Mensch sie vergeuden kann. Deine Seele wird noch die Augen aufschlagen, wenn wir längst nicht mehr sind. Aus hellen Augen wird sie um sich schauen, aus Augen, die so leuchtend und kühn sind wie die deinen. Nie, nie habe ich dich so sehr geliebt ...«
Kornelius Vanderwelt strich ihr das Haar aus der Stirn.
»Es wird allmählich Nacht, Engel, und wir werden schlafen gehen müssen. Aber wenn ich vorhin dich bat: ›Mach' mich nicht stolz,‹ so möchte ich diese Worte widerrufen. Doch, Engel, doch, mach' mich immer noch stolzer. Bald habe ich nichts mehr auf der Welt als diesen Stolz. Auf dich, Engel, auf dich. Und er reicht aus, um mein ganzes Leben aufzuwiegen.«
Sie aber streichelte unaufhörlich sein hager gewordenes Gesicht, seine grau gewordenen Schläfen. — —
[S. 284]
Es hatte in diesen Tagen Frau Ausdemwerth, die Mutter Antonies, das Zeitliche gesegnet. Die fröhliche Frau, die in Julianes Kinderzeit den überwältigenden Ausspruch getan hatte, es gäbe nur einen Mann in Ruhrort, und die anderen seien Kohlentrimmer. Ihr Nachlaß bestand aus der Wohnungseinrichtung, denn ihr einst reiches Vermögen hatte die Geldentwertung der Nachkriegszeit verschlungen; doch ehe Thomas und Antonie Vanderwelt daran denken konnten, sich in den herrenlos gewordenen Zimmern auszudehnen, war Juliane, ihren Sohn Martin an der Hand, als Heimatlose erschienen, um sich fürerst in Frau Ausdemwerths Räumen einzunisten.
»Ich lege dir meine Bewunderung zu Füßen,« gestand ihr der Bruder Thomas. »Du beutest nicht nur die Lebenden aus, du weißt sogar aus den Toten noch Vorteile zu ziehen. Geh ein in Frieden.«
Antonie Vanderwelt empfing die Schwägerin und Jugendfreundin mit dem ganzen Gefühlsüberschwang, der den Frauen gelockerter Art gemeinsam ist.
»Ach Liebste, Ärmste, bist du dem tobsüchtigen Menschen endlich entgangen? Gott verzeih' ihm seine Schlechtigkeit, ich bringe es nicht zuwege. Der wäre imstande gewesen und hätte dich verhungern lassen.«
»Wie ich aussehe, Antonie! Als wäre ich aus dem vorletzten Jahre übriggeblieben.«
[S. 285]
»Nun,« ermutigte die Freundin und drehte sie an den Armen prüfend im Kreis, »vielleicht aus dem letzten Pariser Jahre. Für Ruhrort und Umgebung bist du noch ein gutes Jahr vor.«
»Gottlob!« seufzte Juliane auf. »Dieser rasende Klaus hat mich ja so gut wie mittellos gemacht.«
»Aber er hat dir den Martin gelassen! Geschehen denn noch Wunder?«
»Er kann das Vanderweltsche Blut nicht mehr ertragen, sagt er. Und der Martin? Sieh dir den Jungen an! Ist er nicht Zug für Zug der Großvater, der Großvater Kornelius Vanderwelt, von dem deine Mutter einmal sagte — o mein Gott, Antonie, ich habe dir noch gar nicht meinen Schmerz zu ihrem frühen Heimgang ausdrücken können und tu' es hiermit von Herzen.«
»Innigen Dank, Juliane. Wir sind alle sterblich, und wer weiß, wann wir an der Reihe sind.«
»Wir haben noch große Pflichten an unseren Söhnen zu erfüllen, Antonie, vergiß das bitte nicht.«
»Ja, der kleine Nikolaus, Juliane. Es geht ihm wie deinem Martin: Zug um Zug der Großvater. Und klein sind die schlanken Bengel auch nicht mehr. Die Mädchen schauen sich schon nach ihnen um.«
Thomas Vanderwelt lag im Streckstuhl und freute sich über die Maßen an der Tiefe und Gründlichkeit der Unterhaltung.
»Könntest du dich nicht ein wenig zusammennehmen, Thomas? So kurz nach Mamas Tode!«
»Ich freute mich nur so herzlich, weil ich noch nicht gestorben bin und Zeuge eures furchtbaren Schmerzes sein darf. Wie muß er erst losbrechen, wenn er dem liebsten Gatten gilt! Verzeih, Herzensschwester, es sollte keine Unzartheit gegen deinen Klaus bedeuten, als ich von der[S. 286] Gattenliebe sprach. Aber wenn erst einmal das Bettzeug geteilt ist, habe ich mir sagen lassen, ist auch der Schmerz geteilt und die Freude umso größer.«
»In solchen und ähnlichen unziemlichen Redensarten gefällt sich dein Herr Bruder, solange ich seine Frau bin.«
»Meine Frau,« wiederholte Thomas Vanderwelt und verbeugte sich aus seinem Stuhle heraus.
»Ich finde auch,« entrüstete sich Juliane, »daß er unartig genug gegen wehrlose Frauen ist. Wir wollen in mein Zimmer gehen, damit wir ungestört und unter uns sind.«
Thomas Vanderwelt lachte belustigt in sich hinein.
»Fünf Minuten befindet sie sich in einem fremden Hause, und schon geht sie ›in ihr Zimmer‹ und lädt dahin ein. Sollte es bei jungen Vanderwelts noch lustiger werden können als bisher? Doppelt lustig?«
Juliane aber war klug genug, sich zurückzuhalten, solange das Auseinandersetzungsverfahren mit ihrem Gatten schwebte. Nur so erhoffte sie die Hilfe ihres Vaters. Und die beiden Frauen waren mehr miteinander zusammen, als es Thomas hätte lieb sein können, wäre er nicht Thomas gewesen.
»Ich bin gespannt,« murmelte er, »ich bin äußerst gespannt. Eine Mitspielerin mehr ändert jedes Bild und jede Berechnung. Über Langweiligkeit brauche ich mich nicht zu beklagen.«
Die Scheidungsangelegenheit wurde seitens des Hauses Beckenried mit Nachdruck betrieben, und da keine der beiden Parteien Schwierigkeiten machte, durch Entgegenkommen zur schnelleren Lösung beizutragen, so schritt das Verfahren rasch dem Ende zu. Juliane zählte die Tage. Zur Frühjahrsmodenschau wollte sie wieder zu den Mitwirkenden rechnen.
[S. 287]
Häufiger als sonst erschienen in dieser Zeit die Enkel bei Kornelius Vanderwelt. Es war, als ob sie es fühlten, daß dem Großvater Gewalt angetan wurde, und darüber hinaus, als ob sich ihre Jungengemüter von dem Verdachte reinigen wollten, selbstsüchtige Teilnehmer zu sein.
Das las Kornelius Vanderwelt hinter ihren heißen Stirnen, als sie nach wenigen Tagen zum zweiten Male vor ihm erschienen und ihm ihre Aufsatzhefte vorlegten. Die Note ›Sehr gut‹ kehrte in den Heften beider mit lückenloser Regelmäßigkeit wieder.
Kornelius Vanderwelt griff in die Westentasche und holte ein paar silberne Markstücke hervor. Die Jungen gewahrten es mit purpurroten Köpfen.
»Darum haben wir es nicht getan, Großvater,« versicherten sie erschrocken. »Wir hatten nur gedacht, es machte dir Freude.«
»Heule ich denn vielleicht, ihr blinden Hessen?«
»Wir sind ja gar keine Hessen, wir sind Rheinfranken, Großvater!«
»Wer sagt euch das? Auch Wikinger haben hier gesessen, aus Norwegen und von den dänischen Inseln. Echtes Germanenblut, Jungens. Und so sorgt, daß ihr über die Rheinfranken hinaus Deutsche werdet.«
»Das sind wir doch schon, Großvater?« fragten die Jungen verwundert.
»Man hat es euch vorgeredet,« sagte Kornelius Vanderwelt. »Das wahre Deutschland ist immer noch nicht aufzufinden. Seit eine Geschichte besteht, wird es gesucht. Und wenn man so nahe herangekommen ist, daß man es greifen könnte, stellt hurtig einer dem anderen ein Bein, daß er in den Dreck hinschlägt, und der andere reißt den einen am Rockzipfel schleunigst mit in die Pfütze.«
[S. 288]
»Weshalb sind sie denn so töricht, Großvater, wenn sie wissen, sie müssen mit hinein?«
»›Propter invidiam!‹ sagten schon die römischen Eroberer von den Deutschen. Aus gemeinem Neid. Aus Neid auf die Größe des Nachbarn ließen sie eher die Römer das Land erobern, als sich dem Nachbar als dem Führer zu unterstellen. Baute in den Städten ein Bürger einen hohen Giebel, so trieb ein Dutzend andere der fressende Neid, noch viel höhere zu bauen, und wenn ihr Haus schmal war wie ein Schwindsüchtiger. Und bringt es in deutschen Landen ein Mann zu Ehren, so ruht die Scheelsucht nicht, bis ein Trüpplein zusammengebracht ist, das mit Stricken und Stangen loszieht. Propter invidiam, ihr jungen Lateiner, vergeßt es nicht. Und geht dem deutschen Erbübel zu Leibe und bei euch selber zuerst. Eher bringen wir es nicht zu einem großen und stolzen Volk, als bis die Bausteine die Ecksteine gelten lassen und nicht jeder Neidhund ihn besudelt, weil er just nicht derselbe Eckstein geworden ist. Und was vom einzelnen gilt, gilt von der Vielheit, gilt vom deutschen Volk. Propter invidiam. Erwürgt den Drachen der deutschen Zwietracht, Jungens, wenn ihr Deutsche werden wollt!«
»Und — Dichter und Künstler möchten wir werden. Dürfen wir das?«
Kornelius Vanderwelt lachte, und seine Hand warf ihnen das dichte Haar durcheinander.
»Ich möcht's euch schon gönnen, Jungens. Aber dazu heißt's lernen und mitten im Leben stehen, den Bauernburschen begreifen und den Fürstensohn, das windige Mädchen und die große Frau, den Toren wie den Weisen. Alles Menschliche erfassen und doch abseits genug gehen, um vom allzu Menschlichen nicht erdrückt zu werden. Nicht aus Furcht vor dem Neid. Der findet euch, und wenn ihr[S. 289] beide auf zwei einsamen Spitzen des Himalaja säßet. Nur ihr selber sollt dem Neide nie Raum geben, denn der Neider und der Ehrabschneider hocken wie zwei Giftblüten in dem gleichen Gezweig.«
Als die Osterferien anbrachen, klingelten die Knaben am großväterlichen Haus, bevor sie ihre Schulzeugnisse daheim vorgezeigt hatten. Angela Freydag öffnete ihnen. »Versetzt?« fragte sie. Und als die Knaben nur hastig nickten, weil ihnen die Kinderfreude den Atem verschlug, breitete sie schnell die Arme aus und nahm die Beglückten an ihr warmes Herz.
»Geht zum Großvater hinein. Er kann viel Freude vertragen. Und keiner hat sie verdient wie er.«
Kornelius Vanderwelt war jetzt viel zu Hause. Die wenigen laufenden Geschäfte zu erledigen, hielt nicht schwer, und an den Wiederaufbau wollte er erst herangehen, wenn die Abrechnungen mit den Beckenrieds vollzogen und die Herren ausgeschieden wären. Die Anspannung seiner ganzen Willenskraft gehörte dazu, den Anblick der wehleidigen Geldanbeter zu ertragen, und seine vollblütige Natur litt stärker, als er selber es wußte, in den Geschäftsstunden, in denen er den Vortrag des älteren Beckenried entgegenzunehmen hatte.
Er wandte sich um, als Angela Freydag die Knaben ins Zimmer ließ. Die heißen Augen unter den graugewordenen Brauen funkelten sie an. Diese Augen waren der Enkel Erschauern und Stolz.
»Untertertianer, Großvater,« meldeten sie und standen stramm.
»Ihr macht wohl Witze? Quintaner, meint ihr! Also dann Quartaner! Ihr tut's nicht anders? Ihr bleibt dabei? Untertertianer? Mein Gott, seid ihr über Nacht eine Handbreit gewachsen oder beginne ich in die Grube zu sinken?«
[S. 290]
»Wir sind gewachsen, Großvater. Du sinkst noch lange nicht.«
»Nein, solange ihr wachst, kann ich nicht sinken. Enkel und Großvater in eins bilden erst das geheimnisvolle Ganze. Die eigenen Kinder stehen einem zeitlich zu nahe und bilden nur die Übergangsform.«
Er setzte sich in seinen Arbeitsstuhl und ließ die Beförderten antreten. Rechts und links seiner Knie hielt er einen Jungen im Arm, und seine Augen wanderten prüfend von einem zum anderen.
»Sag' mal deine Zeugnisnoten her, Martin.«
»Deutsch, Geschichte, Erdkunde sehr gut, fremde Sprachen gut, Mathematik mangelhaft.«
»Und du, Nikolaus.«
»Deutsch, Geschichte, Erdkunde sehr gut, fremde Sprachen gut, Mathematik mangelhaft.«
»Schreibt ihr voneinander ab?«
»Nur in der Mathematik, Großvater.«
»Null plus Null gibt wiederum Null. Also würde ich's lassen und die Zeit nutzbringender anwenden. Euer Lehrer kann wohl selber keine Mathematik?«
»Er kann schon, Großvater, aber er kann nicht begreifen, daß wir nicht geradesoviel können.«
Kornelius Vanderwelt lachte behaglich über sie hin.
»Freut euch, Jungens, denn wenn ihr geradesoviel könntet, würde er das wieder für unbegreiflich halten.«
So fand sie Angela Freydag. Die Jungen dicht an die Knie des Alternden gedrängt, und unter den drei Augenpaaren Kornelius Vanderwelts Augenpaar das leuchtendste.
»Komm her, Engel, und sag' mir, ohne nach der Jacke zu schielen: wer ist der Martin und wer ist der Nikolaus?«
»Ich will ihnen lieber allen beiden einen Kuß geben,[S. 291] weil sie die Enkel Kornelius Vanderwelts sind. Und nichts weiter.«
»Engel, kann ein Großvater nicht sein eigener Enkel sein? Ich möcht' es meinen.«
Und sie küßte sein geliebtes Gesicht mit den Augen.
»Habt ihr einen Ferienwunsch?« fragte er mit weicher Stimme. »Sagt ihn auf.«
»Im Düsseldorfer Theater werden die Klassiker gespielt, Großvater. Dürfen wir einmal hin?«
»Ich schenke jedem von euch zwanzig Reichsmark. Dafür dürft ihr das Theater besuchen, solang das Geld reicht. Wie ihr nach Düsseldorf kommt und nach Ruhrort zurück, ist eure Sache.«
»Wir laufen zu Fuß, Großvater, und nachts kriechen wir auf einen Ruhrorter Kahn, der eine Düsseldorfer Nacht macht, und kommen mit ihm zu Tal. Alle Schiffer kennen uns.«
»So habe ich mir's gedacht,« sagte Kornelius Vanderwelt, zog ihre Köpfe an seine Schläfen und schickte die Beglückten nach Hause. Er blickte ihnen nach, als blickte er seiner Jugend nach.
In den Osterfeiertagen rührte er sich nicht aus dem Hause. Besucher wurden abgewiesen, der Fernsprecher blieb abgestellt. »Erst wenn man älter wird,« meinte er zu Angela Freydag, »liebt man in den Sonn- und Festtagen die Ausruhetage. Als ich jung war, war mir der Sonntag verhaßt, weil spornstreichs der Montag folgte. Der Montag mit dem geängstigten Schülergewissen. Eigentlich fürchtet sich doch der Mensch vor irgend etwas von der Geburt bis zum Tode. Das ist sehr kläglich.«
»Du sprichst doch nicht von dir, Kornelius? Es gibt Menschen, die kein Alter besitzen. Sie sind da oder sie sind nicht da, und du gehörst zu ihnen. Und wissen möcht' ich,[S. 292] wann dein Wildlingsblut sich vor irgend etwas gefürchtet hätte.«
»Na, Engel, unangenehm war's mir doch, wenn der Lehrer sich vor der ganzen Klasse mühte, mich über die Bank zu ziehen. Ich hatte nun mal diese turnerischen Übungen nicht gern, und der Lehrer wußt' es und tat es doch. Da mußte er mitturnen.«
»Das war eine Abneigung, Kornelius, aber keine Furcht. Im Gegenteil: die Rauferei kam dir zuweilen gewiß nicht einmal ungelegen.«
»Wenn ich in den lateinischen Regeln nicht vorbereitet war oder in den französischen unregelmäßigen Verben. Dann ging die Zeit flotter hin.«
»Siehst du? So sah ich dich vor mir. Aber gefürchtet hat sich weder der kleine Kornelius noch der große.«
»Engel, du kannst einem den Übergang leicht machen. Ich habe verkaufen müssen, Engel.«
Sie nahm seine Hand von der Stuhllehne und legte sie zwischen ihre warmen Hände. Seine Hand war kalt, und er sollte es nicht wissen.
»Solange du mich nicht verkaufen mußt, Kornelius — und tust du es, wie ein Wolfshund bräch' ich aus und nähm deine Witterung auf und suchte dich wieder, und wenn du dich am Ende der Welt versteckt hieltest.«
»Gegen was sollte ich dich wohl verkaufen, Engel? Gegen meiner Seele Seligkeit, wie es in den Märchenbüchern heißt? Ach, Engel, du bist ja meiner Seele Seligkeit, und mein Verstand ist noch nicht aus den Fugen. Ich habe dies Haus verkauft, in dem wir heute zum letzten Male die bunten Ostereier auf den Schüsseln sehen, und da es lächerlich wäre, in Hemdärmeln im Wagen zu sitzen oder in Frackhosen am Steuer zu stehen, so habe ich auch den Wagen verkauft und auch die Jacht auf dem Rhein, Engel.«
[S. 293]
»Wann müssen wir unsere Siebensachen packen, Kornelius? Oder sind es keine Siebensachen mehr?«
»Ich hoffe, der künstlerische Teil der Einrichtung bleibt uns erhalten. Und wenn nicht, so bleibt mir doch das größte Kunstwerk Gottes: Du. Darum: laß fahren nur dahin. Ich habe drei Monate Zeit, um mir eine Wohnung zu suchen. Irgendwo wird sich schon ein stiller Unterschlupf für uns finden. Eine Art Flüchtlingslager, Engel, von dem aus wir den neuen Eroberungsmarsch vorbereiten.«
»Siehst du nun, daß du das Fürchten nicht kennst?«
»Vor wem sollte ich mich denn fürchten? Doch nicht vor dem lieben Wettbewerb? Es ist keiner darunter, der über meine sechs Fuß mißt. Ich bitte, meine Bescheidenheit zu beachten, mit der ich das reingeistige Gebiet außer Betracht lasse.«
Da lachte sie, und ihre Augen blitzten ihn an.
»Seit ich dich traf, Kornelius, und ich weiß heute nicht mehr, wartete ich auf der Landstraße auf dich oder kamst du dahergefahren, um mich zu holen — jedenfalls hast du seit jenen Tagen den Begriff der Furcht von mir genommen. Überhaupt — wir fürchten uns vielzuviel. Wir werden wahllos in der Furcht erzogen vor dem Guten und vor dem Schlechten. In der Furcht vor den Eltern. In der Furcht vor dem Herrn Lehrer. In der gleichen Furcht vor dem lieben Gott und dem bösen Teufel. Und in der ganz schrecklichen Furcht vor dem Polizeibeamten, und wenn er nur auffordert, den Schnee zu schippen.«
Seine Hand klopfte die ihre. Beifällig, wie man ein kluges Kind belohnt.
»Prachtvoll verstehst du es, unseren scharfkantigen Gesprächsgegenstand in philosophische Watte zu wickeln, Engel. Laß gut sein, Herzgeschöpf. Ob wir auch in warmer[S. 294] Weltweisheit baden, unter den kalten Kranen müssen wir zum Schluß doch zurück, und er heißt: Verkauf.«
»Kornelius,« sagte Angela Freydag und entblößte hohnvoll die starken Zähne, »glaubst du, die Wiederholung würde mich stärker erschüttern? Oder möchtest du, daß wir doch noch das Gruseln lernten und uns jammernd um den Hals fielen? Du willst mich auf die Probe stellen, ich merk' es wohl, und ich frage mich nur: durch welches Vergehen habe ich das verdient? Verkaufen? Wiedererobern wollen wir! Wiedererobern! Wir wollen jung bleiben und nicht altern. Das ist der Wille.«
Kornelius Vanderwelt legte ihr den Arm um die Schulter. Eine Weile saßen sie schweigend beieinander. Und dann sagte Kornelius Vanderwelt: »Es ist wie bei einem Zahnradgestänge. So sicher setzt es ein. An dem Punkte, an dem Männer ermüden, erwachen die Frauen.«
»Du bist ja so wach wie ich, Kornelius. Und unsere Wachheit wollen wir benutzen, den Dingen in die Augen zu sehen. Zähl' auf, was du verkaufen mußt oder verkaufen willst, und mit jedem ausgesprochenen Wort sackt das aufgeblasene Gespenst in sich zusammen.«
»Dann wäre es schon einfacher, Engel, ich zählte auf, was ich nicht verkaufen muß. Als Hauptbestand: zwei Frachtkähne, die ich vor Jahren von windigen Schiffern übernehmen mußte. Sie sind von Fahrt zu Fahrt vermietet. Verheuert, wie es in der Schiffersprache heißt. Wenn es mal ganz schlecht geht, stellen wir beide uns ans Steuer und gehen selber auf Fahrt.«
»Ja, Kornelius. Und was bleibt außer dem Hauptbestand?«
»Ich hätte es gar nicht ›Hauptbestand‹ nennen sollen. Aber das Vanderweltsche Blut hat leicht etwas Großartiges, und wenn es sich um Kohlenkähne handelt. Im[S. 295] Geiste sah ich uns schon an Bord schreiten und die Hausflagge setzen und majestätisch von dannen gleiten bis zum fernen Wunderland Orplid, wo man unsere Steinkohlen für pures Gold gelten läßt.«
»Und Kornelius Vanderwelt für den Kaiser der Welt.«
»Und Angela Freydag für die Amazonenkönigin, zu der der Kaiser der Welt spricht: Ich, dein geliebter Untertan.«
»Sprich nicht weiter,« murmelte sie. »Es ist zu schön.« Und sie wühlte ihren Kopf in seine Achsel.
Kornelius Vanderwelts Hand liebkoste ihren schimmernden Scheitel. Und während er fühlte, wie eine tiefe Wärme sein ganzes Wesen erfaßte und erfüllte, dachte er: nicht zu schön, über alles schön ist es, und so schön, daß man schon deshalb sein Hab und Gut verlieren möchte, um dafür diese Trösterin zu gewinnen. Wenn es am herbsten kommt, schlägt sie das Märchenbuch der Liebe auf und liest mitten hinein ein Kapitel daraus vor. Mit jedem Verluste, der mich trifft, werde ich reicher.
»Kornelius —?«
»Engel?«
»Wie heißt es doch in der Feldherrnsprache? Getrennt marschieren und zusammen schlagen. Soll ich nicht wieder auf Konzertreise gehen und auch für meinen Teil Geld, viel Geld zu verdienen suchen. Und —«
Sie kam nicht weiter. Seine Augen starrten sie wie entgeistert an.
»Ist es schon so weit? Steht es schon so erbarmungswürdig um mich, daß ich die Frau auf den Hausierhandel schicken muß?«
Sie preßte ihre Lippen auf seinen Mund. So fest, daß er nicht weitersprechen konnte.
»Nein, Kornelius, ich brauch' nicht wieder fort? Ich bin dir jetzt ja noch viel nötiger. Denn wir werden allein hausen,[S. 296] und ich werde deine Dienerin und du wirst mein Diener sein. Schau' dir nur meine Hände an, auf die du mich immer so eitel gemacht hast. Jahre werden dazu gehören, um sie wieder gelenkig zu machen und sie wieder zu schulen, daß sie gleichzeitig gehorchen und Befehle erteilen können. Nein, Kornelius, du mußt mich schon als Kugel am Bein mit dir schleppen.«
»Du,« grollte er, »das sind Scherze, die tödlich verlaufen können.«
»Wenn wir nur dabei der Liebe in die Augen sehen! Wer von den Narren der Welt kann das sagen ...«
»Her mit deinen Augen! Her mit ihnen! Nein, mein Angela-Engel, mit einer Trennung ist es vorbei.«
An diesem Tage sprachen sie nicht mehr von zeitlichen Geschäften. Sie blieben eng beieinander, und wenn sie durch das Zimmer schreiten mußten, berührte der eine den anderen heimlich mit der Hand.
Am zweiten Ostertage rief Kornelius Vanderwelt Angela Freydag an seinen Schreibtisch.
»Daß ich es nicht vergesse, Engel. Das Gasthaus zu den ›Fünf Erdteilen‹ ist dein Eigentum. Es war in der Zeit, als ich noch glaubte, das Trinken könnte mich dein Fernsein vergessen machen. Aber ich wollte nicht beim Matthes trinken, sondern nur auf des Engels Grund und Boden. So querköpfig hat mich das Alleinsein gemacht. Und als der Matthes Geld brauchte, kaufte ich ihm Haus und Grundstück ab und ließ es im Grundbuch auf deinen Namen schreiben. Morgen wollen wir aufs Amt und deine Unterschrift nachtragen.«
»Muß das sein, Kornelius?«
»Es ist bereits gewesen, Engel. Vor einem Dutzend Jahre, als du noch in Amerika weiltest. Der Wert der Giftmischerbude ist nur ein rein begrifflicher. Für uns beide, meine[S. 297] ich. Von dort aus holte ich dich unter meinem Regenmantel im Triumphe ein. Ach, diese gottgesegnete Regennacht! Freilich, wird die Eckschenke einmal zugunsten eines Geschäftsgebäudes niedergelegt, so ist der günstig gelegene Platz sein Vielfaches wert.«
»Ich brauche kein Geld, Kornelius, zum Klavierunterricht langt es auch mit steifen Fingern noch.«
»Hältst du es für richtig, Engel, daß Kornelius Vanderwelts geliebte, geliebteste Frau sich nach seinem Tode in fremden Häusern herumdrückt und den Rangen die Nasen putzt? Dann können wir natürlich die Sache fallen lassen.«
Sie stand an seinem Knie, reckte überlegen den Körper hoch und spannte die Hände um die Hüften.
»Jetzt versucht es der große Räuberhauptmann, sein Opfer bei der Ehre zu fassen. Ich habe zwar nicht die Großartigkeit des Vanderweltschen Blutes, aber ich habe es ungezählte Jahre an meinem Herzen gefühlt und bin dadurch für die übrige Welt in Grund und Boden verdorben. Für die Kleinen und für die Großen in den fremden Häusern, du! Hörst du wohl?« Und sie griff ihm mit beiden Händen in sein Haar. »Hörst du es wohl, Kornelius? Auch ohne daß du den Tod heraufbeschwörst, tue ich, was du von mir verlangst. Und wenn ich die Wirtin in den ›Fünf Erdteilen‹ spielen soll, so tue ich das auch für dich. Für dich. Und damit hört es auf.«
»Ich spiele nicht mit dem Todesgedanken,« erwiderte ihr Kornelius Vanderwelt. »Man bestellt sein Haus gegen Diebstahl, Brand und Sterben, nur darf vom Sterben nicht gesprochen werden. Denn das ist unzart und bringt das Gefühl des Hörers in Verlegenheiten. Zum Teufel mit der falschen Rücksichtnahme. Der Überlebende muß wissen, wie er aus den Verlegenheiten herauskommt, um im Geist mit dem Verstorbenen vereint zu bleiben. Und wenn auch[S. 298] die ›Fünf Erdteile‹ in ihrer augenblicklichen Verfassung nicht mehr als einen Erinnerungswert darstellen, niedergelegt und mitsamt dem Wirtschaftshof für ein hochherrschaftliches Kohlen- oder Eisenkontor freigelegt, und der Kaufschilling trägt eine Rente, die wenigstens vor dem Verhungern und dem Mitleid der Menschen schützt. Mehr verlange ich nicht.«
»Ach, großer Hexenmeister, ich bin dir ja schon zu Willen.«
Wie wenig Worte die beiden Menschen brauchten, um sich die veränderten Lebensverhältnisse nahezubringen. Es war — und war nicht anders. Darum lag an der Würde der Anpassung mehr als an jedem Wort.
Die weiße Motorjacht war in den Besitz eines Düsseldorfer Sportsmannes übergegangen und hatte bereits den Heimathafen gewechselt. Den Wagen hatte ein Kölner Autohaus übernommen und nun auch schon abgeholt. Der Fahrer Wilm stand vor seinem Herrn.
»Wilm,« sagte Kornelius Vanderwelt, »zuerst mal Ihre Hand. Keinem hab' ich so vertraut wie Ihnen. Keiner war es so wert. Mit Ihnen stirbt einmal ein ganzes Geschlecht aus. Das Geschlecht der Schweigenden. Und dann besteht das Leben nur noch aus dem Allgemeinheitsbrei. Haben Sie noch einen Wunsch, Wilm?«
»Jawohl, Herr Vanderwelt. Wieder bei Ihnen angestellt zu werden, wenn der Wind beidreht.«
»Und bis dahin —?«
»Bis dahin möchte ich Ihre beiden Frachtkähne heuern, Herr Vanderwelt, wenn's erschwinglich ist.«
»Haben Sie denn eine Schifferprüfung gemacht, Wilm? Man läßt nicht einen jeden auf dem Rheine gondeln.«
»Schon vor zwanzig Jahren, Herr Vanderwelt. Mein Vater war Partikülier. Sein Kahn liegt im Binger Loch. Es kann höchstenfalls eine Nachprüfung verlangt werden. Die erledige ich im Schlaf.«
[S. 299]
»Melden Sie sich morgen zur Nachprüfung. Die Kähne können Sie sofort übernehmen. Glückauf!«
»Glückauf, Herr Vanderwelt. Und ich dank' auch für all Ihr Vertrauen.«
Und nun wurde auch der stille schöne Vanderweltsche Besitz in der Rheinallee zugunsten des Bankhauses aufgelassen. Kornelius Vanderwelt war in den Räumen, die die Marke seines Lebens trugen, nur noch ein Geduldeter. Man hatte ihm die Wohnerlaubnis gelassen bis zur Ermittlung einer anderen, seinen Wünschen entsprechenden Wohnung. Aber er fühlte sich nicht mehr wohl in den Räumen, die einem fremden Herrn unterstanden, und die Dienstboten waren bis auf ein Mädchen entlassen. Weniger noch zog ihn das Geschäftskontor an. In zwei, drei Wochen sollte an Gerichtsstelle die Scheidung der Ehe Klaus Beckenrieds von Juliane, geborenen Vanderwelt, ausgesprochen werden. Mit diesem Tage würden Vater und Sohn Beckenried endgültig das Geschäft verlassen.
»Wo bist du, Engel? Was tust du jetzt den ganzen Tag in der Küche?«
»Ich koche.«
»Ich hätt' es mir eigentlich denken können. Nicht etwa, weil man in der Küche kein Klavier zu spielen pflegt, sondern weil sich unsere Mahlzeiten überraschend verbessert haben. Dein tiefer Knicks soll mich wohl ausspotten? Spotte du nur, aber koche so weiter.«
Es war ein Maientag voll Sonnengold und weicher, schmeichelnder Wärme. Über die Wasser des Rheins lief ein Glitzern, als hätte eine Frauenhand darüber hingestrichen und die Wasser erbebten vor ihrem eigenen Glanz. Kornelius Vanderwelt kam vom Hafen herauf und trat zu ungewohnter Stunde in sein Haus.
Er traf auf eine kräftige Frauengestalt im weißen[S. 300] Schürzenkleid, das Haupt zum Schutz der Flechtenkrone mit einem weißen Handtuch turbanartig umwunden. Auf einer Leiter stand sie in seinem Arbeitszimmer und stäubte hurtig die Bilderrahmen.
»Laß dich zu mir nieder, Engel. Auf der Wolke, die dich umschwebt. In vielerlei Gestalten erscheinst du dem Heimatsuchenden, wie Pallas Athene dem vielgewanderten Odysseus. Spring mir an den Hals.«
»Die Leiter könnte brechen ...«
»Spring!«
Da sprang sie, und er fing die Atemlose auf.
»Was ist heute für ein Tag, Engel?«
»Ein Sonntag. Weil du so früh heimkommst, weil du so fröhlich bist und weil die Sonne scheint.«
»Ein Sonntagskind ist nur der Mann allein, der ein gutes Weib besitzt. Ich besitze viel mehr. Ich muß also schon eine Art Maiensonntagskind sein. Und das wollen wir feiern.«
»Warte, ich streife nur Turban und Schürzenkleid ab und feiere mit.«
»Pack' deinen kleinen Koffer, Engel. Wir fahren nach Orplid.«
»Ich fahre mit, wohin du willst, und es sollte mich nicht wundern, wenn der liebe Gott selber den Himmel aufhielt.«
»Er tut's, Engel. Wie ich ihn kenne, tut er's. Und ein Gesangverein wird auch zur Stelle sein und ihn ansingen, so daß wir beide uns mäuschenstill halten dürfen. Kannst du in einer Stunde reisefertig sein?«
»In einer halben, in einer Viertelstunde! Ich bin immer reisefertig, wenn's mit dir geht!«
»Keine Kurkonzertgewänder, Engel. Der Wilm spielt nur die Harmonika, und wir tanzen auf den geteerten Planken. Pack' Wäsche, ein paar derbe Kleiderröcke und dein Ölzeug[S. 301] ein. Wir machen auf dem Frachtkahn eine Maienreise zum Oberrhein!«
Sie gurgelte einen Ton der Freude hervor und hing an seinem Hals.
»Kannst du denn abkommen in dieser Übergabezeit? Wird es dir nicht schaden?«
»Eine Woche Ferien? Ferien mit dem Engel? Mit dem Engel auf dem Rhein, Wasser unter sich, Himmel über sich, wandelnde Ufer um uns her? Und wir auf dem Rücken liegend, alle viere streckend, nichts, nichts als in Sonne blinzelnd? Das soll mir schaden, Engel? Und ob ich abkommen kann? Wann werde ich in absehbarer Zeit abkommen können, wenn die Beckenrieds mich erst verlassen haben? Denn wenn mir ihre Philistergesichter auch auf den Tod verhaßt sind, verläßliche Arbeiter waren sie jederzeit. Fort damit, fort, fort! Ferien, Engel, Ferien! Ja, willst du denn wirklich zu Hause bleiben?«
Sie rüttelte und schüttelte ihn an den Schultern, ließ ihn los und rannte die Treppen hinauf.
»Bleib unten,« rief sie über das Geländer zurück. »Ich packe deine Handkoffer mit!«
Und die nüchternen Worte klangen durch das Haus wie eine Liedstrophe.
Jetzt klingelte es an der Haustür. Der Schiffsjunge erschien und forderte die Gepäckstücke, die er sich an einem handbreiten Riemen um den Hals hängte. Er trottete vorauf, und Kornelius Vanderwelt folgte ihm mit Angela Freydag bis zum Hafendamm, wo sie ein Boot nahmen und zu dem harrenden Schlepperzug übersetzten.
»Welcher Kahn ist der unsere, Kornelius?« fragte sie, und ihre Wangen glühten wie Mädchenwangen.
»Der Schleppzug ist von mir zusammengestellt. Daraus folgt, du große Rechenkünstlerin, daß der letzte Kahn der[S. 302] unsere ist und wir von unserem Achterdeckplatz nichts als die schäumende Kielspur sehen. Wir sind dort sozusagen ganz allein auf der Welt.«
Der Wilm empfing sie. Seine ausgestreckte Hand half ihnen an Bord. Er trug die blaue Schiffermütze und hatte sich einen Silberring ins Ohr gekniffen, um nicht als Neuling genommen zu werden. Sein Mund schwieg, wie er immer geschwiegen hatte, aber seine Augen strahlten vor Freude, als Hauswirt auftreten zu dürfen.
Die Kajüte war durch einen Wandschirm in zwei Hälften geteilt. Die Lederbank links und rechts diente in der Nacht als Bettgestell. Der Wilm schlief mit dem Mann, mit dem er das Ruder teilte, und dem Jungen in den Hängematten des Matrosenverschlags. Aus der kleinen Küche quoll der Duft von frischer Suppe.
Die Leute mußten an ihre Plätze zurück. Der Schleppdampfer gab mit der Sirene ein Zeichen. Ein Zittern lief durch Rippen und Bohlen des tief beladenen Kahns. Ein Seufzen und Abschiedsstöhnen, und nun gab der Wilm das Ruder frei, die Stahltrossen zogen klirrend an, und der Kahn folgte als letzter in der Reihe und schwenkte in den Strom.
»Leg' dich nieder, Engel. Platt hin auf die dicken Decken. Halt, erst die alte Öljacke an. Eitelkeiten gibt's hier nicht, denn der Kaminruß und der Kohlenstaub machen selbst aus der allerzartesten Prinzessin hier eine Mulattin. Ach, Engel, es gibt auch sehr liebenswerte Mulattinnen. Doch darüber später, wenn erst die Mütze auf dem Kopf festgesteckt ist und dir der gerollte Mantel bequem im Nacken liegt. Hat die Prinzessin noch weitere Wünsche?«
»Ich hätte schon noch einen ... Aber ich weiß nicht, ob er sehr prinzessinnenhaft ist.«
»Vielleicht können wir uns einen Kuß geben, wenn wir uns die Pfeifen anzünden, Engel.«
[S. 303]
»Das ist wahr. Die Pfeifen stecken im Handkoffer. Ich werde sie holen.«
»Liegen bleiben! Nicht Hand und nicht Fuß rühren! Oder du kullerst über Bord!«
Er ging mit dem wiegenden Schritt, der das Gleichgewicht sucht, über das geschrägte Deck und tauchte in die Kajüte hinein. Wenige Minuten, und er kehrte mit den in Brand gesetzten Pfeifen zurück und kniete neben Angela hin. »Heb mal dein Mäulchen, Engel.« Und sie hob es ihm entgegen. Und als er sich über sie beugte, um ihr die Pfeife zwischen die Lippen zu schieben, blieb sein Mund auf ihren Lippen haften ...
»Es sind bald zwanzig Jahre, Engel, daß wir uns kennen,« überlegte er, als er neben ihr auf der Decke hingestreckt lag und den blauen Rauch gen Himmel blies. »Das wäre ja weiter nicht verwunderlich. Aber daß uns auch heute noch jede List und Tücke recht ist, um uns um den Hals zu fallen, das gibt zu denken.«
»Also denken wir nach, Kornelius,« sagte sie und blies wie er den blauen Rauch gegen den Himmel.
Sie dachten nach und sprachen nicht, und nur die Hände, die sich auf der Segeltuchdecke begegneten, hatten sich unermeßlich viel zu sagen.
Kaiserswerth mit der Burg Pippins — Düsseldorf mit dem Turm der heißblütigen Jakobe von Baden — Zons mit Mauern und Warten und mittelalterlichen Toren — es zog vorbei, wie Wandelbilder sich entrollen. Und wo eine Lücke war, wuchs ein hämmerndes, ratterndes, feuerfauchendes Werk, wuchsen die himmelhohen Kamine wie ein Mastenwald im Hafen.
Einmal erschien der Schiffsjunge und meldete, daß die Suppe fertig sei.
»Bring einen Napf voll her und zwei Teller. Halt, warte,[S. 304] ich werde dich das erstemal begleiten und dir zeigen, wie man einen Napf trägt, ohne mit dem Daumen hineinzufahren.«
Angela Freydags glückliches Lachen flog hinter ihm her.
Vor Köln machte der Schleppzug seine erste Nacht. Es war eine Maiennacht, in der das Märchen mit der Sage einen Reigen schlang, dicht über den Augen der Schauenden. Dort geisterte der Dom in den sternenhellen Himmel und stach mit seinen Spitzen in die Sternenkränze, daß es den Anschein erweckte, als glitten sie ihm wie Heiligenscheine um die Helmzier. Dort wuchtete der gewaltige Sankt Martin, und er sah eher wie ein Türke aus, denn wie ein Christ, denn er hatte sich den halben Mond zur Leuchte an den Helm gesteckt. Dort glitzerten die Kuppeln, Türme und Dachreiter der ungezählten Kirchen und Kapellen, und der Rathausturm mischte sich darunter und begann ein Gespräch über die alte und die neue Zeit und ihre Bürgermeister. In den Straßen aber kicherten die Legenden und trieben sich mit den Heinzelmännern gassenab zum Rhein, purzelten ins Wasser und wurden pfeilschnell von den jungen Nixen bei den Ohren genommen, die auf den Ankertauen turnten und Angela Freydags mondhelles Antlitz betrachteten.
Kornelius Vanderwelt lag auf Achterdeck neben ihr, die Ellbogen aufgestützt und den Kopf in den Händen. So lag er wohl schon eine Stunde und hatte des wunderbaren Städtebildes nicht acht vor dem wunderbaren Menschenbilde.
Was mag es sein, das sie so schön macht? dachte er. Es gibt sicherlich ebenso schöne Frauen und schönere, und doch gehst du achtlos an ihnen vorüber. Und als ihre Brust im Atmen auf und nieder stieg, daß er glaubte, den ruhigen und starken Schlag ihres Herzens zu hören, da kannte er[S. 305] den Kern des Geheimnisses und des Rätsels tiefste Lösung: es war die Ruhe und Kraft, die ihrer Schönheit den Glanz der Firnen verlieh, und alle Ruhe und Kraft der Erde war ihr gegeben, weil sie ihre Schönheit nur für einen trug.
In dieser Maiennacht erklangen in Kornelius Vanderwelts innerstem Menschen Worte, die wie Worte eines Dankgebetes waren, während die nächtliche Natur im Frühlingsrausche erzitterte.
Gegen Morgen erst, als mit dem ersten Licht die Kühle kam, gingen sie in die Kajüte, und Kornelius Vanderwelt half ihr aufs schmale Lager und versorgte sie nach Seemannsbrauch gegen Windzug und Feuchtigkeit, bevor er sich auf das andere Lager warf. Aber nach Stunden schon waren sie beide wieder wach, denn die Sirene des Schleppdampfers hatte zur Obacht gerufen, die Kähne holten ihre Anker ein und der Rudersmann packte das Steuerruder. Angela Freydag kniete auf ihrem Lager und lugte durch die runden Kajütenfenster. Und Kornelius Vanderwelt stand hinter ihr und hatte den Arm um ihren Leib gelegt, damit sie bei einer jähen Wendung der in Fahrtlinie einbiegenden Frachtkähne nicht das Gleichgewicht verliere. Und sie lehnte ihren Körper fest und sicher in seinen Arm.
Den Morgenkaffee tranken sie stehend vor der Küche, stritten, ob es zum Mittag Linsen mit Wurst oder Wurst mit Linsen geben sollte, und lagen ausgestreckt auf Sonnenseite, als der Kahn an Bonns Altem Zoll vorüberzog, vorüber an der winkenden Godesburg und mitten hinein in das Bannland der Sieben Berge.
Das Siebengebirge prangte im Grün des Maien und im Gold der Maiensonne. Wie ein selig Beben liefen die Höhen dahin und verloren sich im weiten Hügelmeer des weiten Westerwaldes. Und auf der linken Rheinseite das[S. 306] geschwisterliche Stück des Bildes. Dem Drachenfels des Siebengebirges gegenüber gelagert der Fels des Rolandsbogens, und über vulkanisches Land hinweg Wellenlinie auf Wellenlinie der zu Stein erstarrten Eifelmassen.
»Die Porta Rhenana,« sagte Kornelius Vanderwelt, als sie durch das Tor der Schönheit fuhren, und er wies ihr hüben und drüben die verträumten Städtlein, deren Antlitz in wechselndem Mienenspiel die schweigenden Parks der weltflüchtigen und die singenden und klingenden Gaststätten der Weltsuchenden aufblitzen ließ. Dann aber zog Strom und Kahn zwischen den Inseln Nonnenwerth und Grafenwerth dahin, feierlich, als wölbten sich die Baumkronen von rechts und links hoch über sie hin zum gotischen Kirchendach.
Angela Freydag wandte den Kopf und suchte den Blick ihres verstummten Begleiters. Der kam aus tiefen Augenhöhlen, und sie setzte sich mit einem Rucke auf und griff nach seiner Hand.
»Was ist dir, Kornelius?«
»Es lief mir so über die Seele,« sagte er, »und es ist nichts als ein Unsinn.«
»Was ist ein Unsinn?«
»Daß die uralte Natur alljährlich in den Frühling zurückkehren darf, während ihr jüngstes Geschöpf, der Mensch, in den Herbst seines Lebens hinein und nicht wieder hinausgeführt wird. Ach, du, Engel, alles das noch eine Spanne, noch eine Spanne erleben können! Die Sehnsucht steigert sich, und steigert sich doch nur in eine wilde Einsamkeit hinein.«
»Ich bin bei dir, Kornelius,« sagte sie und nahm seinen Kopf an ihre Brust.
Er hörte nicht hin und sprach in Erregung weiter.
»In eine wilde Einsamkeit, in eine Menschenverachtung[S. 307] hinein, die kaum ein Lichtpünktlein mehr findet. Wir leben in einer Menschenunverbundenheit dahin, kein Mensch kennt den anderen, und in Wahrheit kümmert sich auch keiner um den anderen.«
»Ich bin bei dir, Kornelius,« erklang ihre Stimme.
Da hob er die Arme wie ein Ertrinkender und schlang sie ihr um den Hals. — —
Er schlief an ihrem Herzen, und sie bewachte seinen Schlaf und war voll tiefer Freude, daß er ihr seine Schwäche gezeigt hatte. Denn ihr Frauengefühl ertastete mit nachtwandlerischer Sicherheit, daß diese Schwäche nichts anderes war als eine sich aufbäumende Lebenskraft, die sich ihres Lebens eroberten Inhalt, den Wert zu leben, das Weib seines Lebens und seiner Liebe zu sein, nicht nehmen lassen mochte durch eine Herbstlaune des Schicksals, und doch es mußte.
Vor Koblenz, nahe der Einmündung der Mosel in den Rhein, gingen zur Nacht die Anker nieder. Kornelius Vanderwelt schlug die Augen auf und rührte sich nicht an ihrem Herzen.
»Ist dir wohl?« sprach sie und strich ihm wieder und wieder das Haar aus der Stirn.
»Wie einem Kindlein an der Mutterbrust, Engel. So wohl. Ei, du, hatte ich vorhin nicht einen Schwermutsanfall? Das werden doch nicht die ersten Alterserscheinungen sein? Nein, nein, umgekehrt ist es, wie ich es dir vordichtete: die Welt wird alt, und ihre Jahre rinnen unablässig und unaufhaltsam. Wir aber bleiben Kinder trotz eines Greisenalters, und rückschauend zerfließen die Jahre in nichts. Was ist, das lebt, und wir beide sind, Engel.«
»Zuweilen meine ich, ich wäre gar nicht mehr, solange schon bin ich in dir aufgegangen.«
»Sprich kein Wort mehr, oder ich verschling' dich. Herrgott, hab' ich einen Hunger.«
[S. 308]
»Und ich! Und ich!«
Und einer half dem anderen auf, und das Gleichgewicht suchend schritten sie über das schräge Deck und gewannen die Küche und bedrängten den Wilm, den Rudersmann und den Jungen.
In heller Morgensonne stampfte der Schleppzug an Boppard vorbei. Und je weiter er sich vorwärts arbeitete gegen den Strom, umso reicher öffneten und offenbarten sich die Bilder der Berge und Burgen, der Städtchen, Kirchen, Klöster und Kapellen, die den Blick von der Wirklichkeit abwenden und traumhaft hinübergleiten lassen in die Flüchtlingsbezirke der Romantik.
Dicht aneinandergeschmiegt lagen die beiden Flüchtlinge aus Wirklichkeitslanden auf dem Hinterdeck des Frachtkahnes und sprachen nicht und ließen nur die Augen aufleuchten, wenn ein neuer Gruß von den Ufern sie traf. Jetzt Sankt Goar, jetzt der niederstürzende Fels der Lorelei, jetzt die wellenumschäumte Pfalz bei Caub, die türmereichen Städtlein Oberwesel und Bacharach, Aßmannshausen mit dem Dichter- und Künstlerheim, der ragenden Kronenwirtschaft, und durch das brausende Binger Loch hindurch, links Rüdesheim, rechts, vom Mäuseturm verkündet, Bingen, die uralte Stadt. Der Mond kam über Burg Klopp hervor und erzählte flüsternd vom vierten Kaiser Heinrich, den der eigene Sohn in den festen Mauern gefangenhielt, und von blutigen Jahrtausendkämpfen, geführt um das lachende Land des Rheingaus. Der Schleppzug lag vor Anker. Die beiden Menschen auf dem Hinterdeck des letzten Kahnes hatten einer dem anderen den Arm unter den Nacken geschoben und schliefen einen Kinderschlaf.
Als sie am nächsten Tage am goldenen Mainz vorüberfuhren, vorüber an der Nibelungenstadt Worms, waren ihre Lippen ganz verstummt. Wie eine unsagbar tiefe[S. 309] Dankbarkeit stieg es auf vom Grunde ihrer Seelen, und das Gefühl ihrer Zusammengehörigkeit brauchte keine Worte mehr.
So erreichten sie Mannheim, den Bestimmungshafen, und gingen schweigend an Land. — — —
Im Gebrause fuhr ein Schleppdampfer mit wenigen Leerkähnen als Gefolgschaft zu Tal. Die Dämmerung sank über ihn hin und über die beiden Menschen, die in die gespensternde Kielspur des letzten Kahnes starrten. Ein silbriges Licht kämpfte sich hindurch und erfüllte die Dämmerung mit Glanz und Leuchten. Der Mann reckte sich auf, als machte er seine Schultern stark für neue Arbeitsbürden. Und die Frau erfaßte fest seine Hand.
Ruhrort — — —
Hand in Hand gingen sie durch die Stille der Nacht in ihr Haus, wie sie so oft gegangen waren. — —
In den Tagen, die da folgten, sah Angela Freydag ihren Gefährten nicht anders als in den späten Abendstunden. Das Urteil im Scheidungsverfahren war gesprochen. Die Familien Vanderwelt und Beckenried hatten sich für immer voneinander gelöst. Juliane behielt den Sohn unter Verzichtleistung auf jeden geldlichen Anspruch an ein Beckenriedsches Erbe. Die Lebenssorge für Tochter und Enkel war auf Kornelius Vanderwelt übergegangen.
Kornelius Vanderwelt zog den Schlußstrich. Kein Mensch gewahrte eine Unruhe an ihm. In diesen Tagen, die ihm die Verkleinerung seines Geschäftsumfanges, die Belastung der gebliebenen Kräfte, den Verlust seines Wohnhauses brachten, wuchs er so still und stark über sich selbst empor, daß Angela Freydags Liebe mit ehrfürchtigen Augen ihm folgte. Aber ihre Augen sahen auch, daß er stumm die Kräfte bis zum letzten spannte, und es flackerte oft in ihnen auf wie wilder Brand.
[S. 310]
In später Nacht saß sie und wartete. Sie wartete auf Kornelius Vanderwelt, der noch nicht von der Wohnungssuche heimgekehrt war. Und sie wußte, daß er sich als letztes die ›Fünf Erdteile‹ aufgespart hatte, die Zimmer, die über der Gastwirtschaft lagen.
Wie sauer ihm der Gang sein wird, dachte sie finster, und sie hätte aufspringen und zu ihm laufen mögen, um die Arme um seinen Hals zu schlingen.
Sie schritt ans Fenster und horchte hinaus. Und von einer Unrast getrieben, durchmaß sie das Zimmer hin und her.
Du bist stärker geworden, Angela, glitt es ihr durch den Sinn. Deine Glieder schwellen an Kraft. Könntest du sie doch zum Lastentragen gebrauchen, um seine überbürdeten Schultern zu erleichtern.
Und wieder war sie am Fenster. Das eiserne Tor hatte geklirrt. Männerschritte kamen schlurfend durch den Garten.
Mit einem Sprunge war sie an der Haustür. Das elektrische Licht blitzte auf unter ihrer suchenden Hand. Sie öffnete die Tür und sprach leise hinaus.
Da stand die vierschrötige Gestalt des Matthes und an ihn gelehnt die hohe, jetzt vornübergebeugte Gestalt Kornelius Vanderwelts. Angela Freydag griff ohne zu zaudern zu. Von ihrem Arm umschlungen, tat Kornelius Vanderwelt die letzten Schritte ins Haus, die wenigen Schritte über die Diele in sein Arbeitszimmer.
»Tun Sie ihm nix,« sagte der Matthes grimmig. »Vom Trinken kommt dat nich.«
»Gehen Sie.«
Kornelius Vanderwelt saß in einem Sessel, das totenbleiche Antlitz hintenüber ins Polster gereckt, als suche er Luft. Mit fliegenden Fingern befreite ihn Angela Freydag von dem Druck des Kragens.
[S. 311]
»Sie tun schon besser, mich nich fortzuschicken,« knurrte der Matthes. »Allein werden Sie nich fertig, Madam.«
»Ziehen Sie ihm die Stiefel aus. Vorsichtig. Und nun wollen wir ihn in sein Schlafzimmer bringen. Stieren Sie mich nicht an. Ich habe Kräfte genug, ihn allein zu tragen. Aber da Sie einmal da sind — wir tragen ihn im Sessel hinauf.«
Alle Sehnen spannte sie an. Die Zähne gruben sich ihr in die blutenden Lippen, und es gelang. »Warten Sie unten auf mich.« Und als der Matthes auf Zehenspitzen hinaus war, entkleidete sie den Erschöpften und bettete ihn.
Wieder war sie unten, und der Matthes berichtete flüsternd: »Ich sah et schon, wie er in die Wirtschaft trat und mich in et Nebenzimmer rief. Fieberheiß. Un et Sprechen wurd' ihm nich nur schwer, weil et seinen Stolz so verdammt mitnahm. Ich sollt' ihm die Gastzimmer für eine Wohnung ausräumen, bis er Besseres hätt', un als wir mit Handschlag abgeschlossen hatten, fiel er gegen die Wand. Ich hab' ihn die paar Schritte hergebracht, damit et nich hieß, der Herr Kornelius Vanderwelt wär' in der Wirtschaft liegen geblieben.«
»Ich danke Ihnen. Und nun holen Sie den Arzt.«
»Alte Kameradschaft, Madam, und den Arzt bring' ich sofort.«
Wieder huschte sie die Treppen hinauf, und der Erschöpfte öffnete die Augen, als sie sich über ihn beugte.
»Hab' ich dir — einen argen Schrecken — eingeflößt, Engel?«
»Sprich jetzt nicht. Der Arzt wird gleich hier sein.«
»Der Arzt? Was soll denn der hier? Ich muß nur einmal ausschlafen.«
»Schlaf, Kornelius.«
[S. 312]
Er schloß die Augen unter ihrer kühlen Hand. Aber der Atem kämpfte schwer in der Brust. Und sie horchte auf den Atem und horchte hinaus auf die Straße. Bis der Matthes mit dem Arzte kam und die Haustür öffnete.
Sie ließ den Arzt in das Zimmer, und der Kranke redete aus seinen Fieberträumen heraus. Der Name Engel kehrte immer wieder. In immer neuen Bildern, in immer neuen Beteuerungen.
»Spricht er immer so viel?« fragte der Arzt und trat näher.
Der Kranke hob horchend den Kopf. Die fremde Stimme hatte ihn sofort geweckt.
»Waren Sie noch nie verliebt, Doktor? Nie verliebt? Goethesche Gedichte möchte man hersagen — und sie fallen einem nicht ein. Ach was! Sie wagen sich nicht hervor. Nicht hervor vor dem einen Namen. Dem einen — Namen ...!«
Der Arzt prüfte den Puls. Er behorchte das Herz und maß das Fieber. Der Kranke lächelte über ihn hinweg seine Pflegerin an. Als wären sie ganz allein.
»Sie müssen Ihre Kräfte schonen, Herr Vanderwelt,« gebot der Arzt. »Was Ihnen not tut, ist Ruhe. Nichts als Ruhe, damit sich die Erschöpfung der Nerven verliert. Das Fieber beruht auf einer Erkältung, die Sie sich wohl durch eine Unachtsamkeit zugezogen haben. Nehmen Sie heute und morgen ein Schlafmittel, und in zwei Tagen ist alles überstanden.«
Er ging, und der Matthes war auch gegangen, und das Schlafmittel war zurückgeblieben.
»Laß den Doktor — nicht mehr — zu mir herein, Engel. — Du bist mein Arzt — meine Ruhe — mein — alles.« —
Sie bettete sein Haupt in die Kissen, aber er verlangte wortlos nach ihrem Arm, und sie bettete sein Haupt in ihren[S. 313] Arm und wartete, bis er vor Erschöpfung entschlummert war.
Am Morgen erst schlug er die Augen auf. Sie glänzten fiebrig wie in der Nacht. Aber sein Bewußtsein war rege.
»Bist du nicht zu Bett gewesen, Engel?«
»Mein Kopf lag auf deinem Kissen, Kornelius. Wir schliefen beide fest.«
»Willst du mir zu trinken geben, Engel? Ich fühle mich viel wohler und danke dir.«
Sie hatte den Tee schon bereitet und gab ihm zu trinken. Er wunderte sich über nichts. Er lachte sie nur an.
»Wie schön das ist, müde zu sein und nichts zu spüren als dich. Ewig möchte ich so müde sein, Engel.«
Im Laufe des Vormittags fuhr er auf und blickte verwundert umher.
»Ich war wieder eingeschlafen, Engel. Und auf einmal rüttelte mich die Angst auf, ich hätte deine Anwesenheit verschlafen. Kannst du mir die Stirn abtrocknen, Engel? Ich ertrinke.«
Sie trocknete ihm die Stirn und trocknete ihm die Brust. Und unablässig sprach er.
»Wie kann das nur sein, Engel? Tausendmal hab' ich mir gesagt: tiefer hinein und höher hinauf geht die Liebe nicht. Und nun mein' ich: erst in dieser Stunde gehörtest du mir ganz.«
»Sollen wir einst sagen, Kornelius: vor zwanzig Jahren haben wir uns über alles geliebt, während wir uns heute nur noch — ›liebhaben‹? Wir, Kornelius? Wir folgen einer anderen Bahn als die Herzschwachen.«
»Die Herzschwachen,« wiederholte er. »Weißt du noch, wie ich dich meine Herzbrust taufte?«
»Ich weiß alles und jedes, Kornelius, und werde nie einen Laut vergessen.«
[S. 314]
Am Nachmittage wurde er unruhiger. Er hatte den Schritt des Arztes gehört und wehrte ab.
»Mir zuliebe, Kornelius,« bat sie.
»Dir zuliebe. Dann mag er jede Stunde kommen.«
»Es bleibt nichts als die Ruhe,« sagte der Arzt, als er die Untersuchung beendet hatte. »Er muß seine Kräfte aus dem Schlafe zurückgewinnen.«
»Weiß das Kontor, daß ich unpäßlich bin, Engel?« fragte Kornelius Vanderwelt, als der Arzt sich verabschiedet hatte. »Bitte, ruf den Thomas an. Aber ich will mit dir allein bleiben.«
»Ich habe ihm dein Fernbleiben heute morgen schon gemeldet, Kornelius. Und wir bleiben allein.«
»Dann ist alles gut.«
Er schloß die Augen. Aufs neue trug ihn die Erschöpfung in den Dämmerzustand hinüber und hielt ihn zwischen Schlaf und Traum die halbe Nacht hindurch. Angela Freydag saß an seinem Bette, den Blick fest auf seine Züge gerichtet, jede Sekunde bereit, zu helfen, zu lindern, Leib und Seele aufzurichten. So still war es, daß sich das Ticken der Taschenuhr schmerzhaft in ihr Hirn bohrte.
Plötzlich lachte der Kranke gellend aus der Wirrnis der Träume auf.
»Hahaha! Ich sterbe? Wahrhaftig? Das Leben ist aus? Soviel Sorge um die kurze Spanne? Ist das alles?«
Sie drückte hastig ihre Lippen auf seinen Mund, und er erwachte.
»Bin ich nicht tot, Engel? Ach, du, ich bäumte mich auf gegen den Wahnsinn: zu leben, um sterben zu müssen.«
Sie strich über seine Augen, über seine Wangen.
»Für uns gibt es keinen Tod, Kornelius. Für uns gibt es nur ein Beisammensein.«
[S. 315]
Er griff nach ihren Gelenken und zog sich in den Kissen hinauf.
»Tod, Engel ... Du läßt mich nicht, und ich lasse dich nicht. Nicht hier und nicht dort ...! Tod ... Denke dir, er käme und nähme den einen oder den anderen hinweg. Und dann wäre ein sonnenschöner Tag, oder ein Erfolg, ein Ruhm, und man möchte hinlaufen und ihn dem anderen bringen und stutzt und erstarrt: Der andere — der andere lebt ja nicht mehr! Engel!«
Sie wiegte ihn an ihrer Brust und hörte sein Herz dahinjagen, als hörte sie den Hufschlag hinjagender Pferde.
»Ich habe dich und ich halte dich und gebe dich nicht her, Kornelius. Und jetzt sprich von allen deinen Fröhlichkeiten.«
»Von meinen Fröhlichkeiten ...« murmelte er. »Dann muß ich von dir sprechen.«
»Erzähl' aus deiner Jugend, von deinen Meerfahrten, von schönen, fremden Frauen.«
»Du nennst sie richtig, Engel. Schön waren sie, aber fremd. Du kennst ihren Körper, wie du eine tickende Uhr kennst. Und sie tickt wirr in die deine hinein und läuft vor oder nach, und du bringst sie nicht mit der deinen auf den gleichen Schlag, weil dir das Uhrwerk fremd geblieben ist und du den Wert nicht prüfen kannst. Nein, ich will nicht schmähen. Es waren lustige Liebchen darunter, wie die Jugend sie sich wünscht oder der Mannesübermut. Ja, du, der Mannesübermut. Du hast ihn ja erfahren. Als er dich auf der Landstraße stellte. Sie waren mir lieb, die schönen, fremden Frauen. Waren! Waren!« Seine Erregtheit suchte nach einem wegwerfenden Wort. »Der Teufel hole sie.«
Und sie sprach in seine flackernden Augen hinein, um ihm das Lachen und die Beruhigung zu bringen: »Hör', du, Kornelius — mich auch?«
Und seine Erregung ging in ein wildes Lachen über.
[S. 316]
»Du, Engel! Ach, du! Du willst mich beleidigen. Und wenn der Vater im Himmel nach seinen Erzengeln riefe: ›Holt sie mir!‹ Vorspringen würd' ich, die Erzengel bei den Flügeln packen und gegeneinander klatschen.«
»Recht so, recht so!« rief sie ihm zu, fröhlich, ihn fröhlich zu sehen. »Daß der Kornelius sich im Himmel herumtreibt, ist eine Selbstverständlichkeit!«
»Also gut denn, Engel. Wenn der Urian in der Hölle seinen Teufeln zurufen sollte: ›Holt sie mir!‹ Vorspringen würd' ich, sie anschreien: ›Brennt mich zu Weißglut! Mich, mich! Aber noch ein Mal zu meiner Wölfin! Noch ein Mal zu meinem Engel!‹« Seine Gedanken verwirrten sich. Er rang nach dem Faden, der ihm entflattern wollte. »Noch ein Mal — ein — ein Mal — — Engel!«
Aus den Kissen hochgeworfen, den Brustkasten vorgereckt, preßte er den letzten Atem mit wilder Macht in dies eine Wort.
Mit beiden Armen hielt sie ihn. Seine Hände griffen, haltsuchend, in ihr Gewand. Ihre Brust drängte sich ihm entgegen.
»Kornelius! Kornelius! Ich dank' dir ...«
Seine Augen tranken sie in sich hinein. Und von einem jähen Blitz gefällt, stürzte er an sie, in ihre Arme, an ihre Brust.
Starr stand sie über ihn gebeugt, ungläubig, daß ihr heißer Blick nicht mehr imstande sein sollte, das Licht seiner Augen neu zu entfachen. Und dann warf sie sich über ihn und küßte ihn, als müßte der letzte Hauch seines Atems ihr Eigentum bleiben.
»Geliebter — Geliebter — — Geliebter — — —!«
[S. 317]
Mit übernächtigen Augen und wirrem Haar, wie er aus dem Schlafe aufgefahren und in die Kleider gehastet war, stand Thomas Vanderwelt vor Angela Freydag. Die erste, fahle Morgendämmerung war mit ihm ins Haus gekommen.
»Sie haben mich angerufen, Frau Engel. Was ist mit dem Vater?«
Seine Stimme kämpfte mit der Atemnot, und seine Augen waren voll Schrecken.
»Ihr Vater, Thomas — Ihr Vater — ist heimgegangen — —«
Er packte sie bei den Armen. Als ob er sie wachrütteln, als ob er selbst einen Halt suchen wollte. Sein Gesicht stand dicht vor dem ihren.
»Was heißt das — heimgegangen —?«
»In das Land seiner Vergangenheit — in das Land seiner Vorfahren, seiner Lieblingsträume. Thomas! Thomas! Er ist tot!«
Der Sohn fiel gegen ihre Schulter. Sie stemmte sich fest auf ihre Füße und trug die Last. Und dachte: es ist Kornelius Vanderwelts Erbe, und du mußt es in seinem Sinne zu wahren suchen.
»Tu die Augen auf, Thomas, du mußt deiner Herr werden. Kornelius Vanderwelt hat einen Sohn hinterlassen, und das bist du.«
[S. 318]
Ein Zittern durchlief seinen Körper. Wie ein krampfhaftes Weinen, das alle Tore verschlossen findet.
»Und das bist du,« wiederholte Angela Freydag und mühte sich in eine Ruhe hinein. »Laß den Vater nicht warten.«
»Ich?« fragte er zurück und wunderte sich nicht über das Du, das sie ihm geboten hatte. »Ich? Ein sauberer Erbe, Engel. Ein verwahrloster Abkömmling. Eine Drohne, wie alle seine Kinder, Engel, Drohnen, die ihm die Blüten leersogen, bevor sie Frucht ansetzen konnten. Und ich sein Erbe!«
»Es kommt nicht darauf an, Thomas, wie und was du warst, sondern ob du ein Erbe sein wirst!«
»Nein, ich bin kein Erbe. Nein, ich bin kein Erbe,« wiederholte er in gleichmäßigem Tone. »Ich war es einmal, als ich sein Kind war. Sein geliebtes Kind, wie wir alle. Das ist lange her. Das ist so lange her, wie ich Antoniens Mann wurde. Habe ich ›Mann‹ gesagt? Der Tote mög' es mir verzeihen. Ihr Aushängeschild, ihr durchlöchertes, ausgehöhltes, von meinem Spott überkleistertes. Und ich hatte doch auch den Namen geerbt, den Namen Vanderwelt, und ließ ihn von Affen- und Narrenhänden durchlöchern und aushöhlen. Ich, ich, der Erbe.«
»Wenn des Vaters Geist noch im Hause weilt,« sagte Angela Freydag und schloß die Augen, um den aufquellenden Schmerz um ihren Toten zu bändigen, »so wird ihm die Einkehr des Sohnes ein Trost im Ausgang sein.«
»Einkehr? Halte ich Einkehr, Engel? Ich bringe Schmutztapfen ins Haus, und in dieser Abschiedsstunde sehe ich sie mit einer Deutlichkeit, wie ich sie noch nie gesehen habe. Das ist alles.«
»Nein, das ist der Anfang.«
»Es ist das Ende. Auch das Ende hat einen Anfang. Und[S. 319] der Anfang liegt in den Schmutztapfen, die jetzt so sichtbar werden, weil der Schatten des Vaters sie nicht mehr verdeckt.«
»Es soll wahr sein, Thomas,« sagte die Frau. »Des Vaters Licht leuchtet nicht mehr und wirft auch keine verhüllenden Schatten mehr. Nimm die Erbschaft an dieser Stelle auf. Laß sein Licht das deine entzünden und zu einer Flamme anfachen, in deren Schatten das Vergangene verdunkelt wird, abstirbt und vergeht. Und nun komm zu ihm.«
»Es ist ja alles zu spät,« murmelte Thomas Vanderwelt und folgte ihr dennoch.
Droben aber, in Kornelius Vanderwelts Schlafgemach, warf er sich über des Vaters Bett und umklammerte ihn mit Armen und Händen. Und als er Angela Freydags schmerzstillende Hände über seinen Nacken gleiten fühlte, wurden ihm die Pforten aufgetan und ein wildes Sohnesweinen brach hervor, überstürzte die Dämme und gelangte in den ruhiger fließenden Strom allen Geschehens.
Unten schlug die Glocke der Haustür an. Angela Freydag richtete den stiller Schluchzenden auf.
»Es ist der Arzt, Thomas. Ich rief ihn an, als ich dich anrief. Vergiß nicht, daß unser Schmerz uns allein gehört.«
Und sie ging hinab, öffnete und kehrte mit dem Arzt zurück.
Thomas Vanderwelt empfing ihn mit einer stummen Verneigung. Und der Arzt trat ans Bett und neigte sich über den Toten. Als er sich wieder erhob, blickten seine Augen ernst.
»Es war ein Herzschlag,« sagte er so leise, als fürchte er, die Erhabenheit des Todes zu stören. »Eine Überspannung der Nerven. Ein Übermaß von Kräften dagegen angesetzt. Das Herz mußte es zahlen.«
[S. 320]
Mein Herz, hämmerte es hinter Angela Freydags Stirn, mein — mein Herz. Mit seinem Tode noch gab er es mir allein.
Sein Herz, schrie es in Thomas Vanderwelt auf. Er gab es mir, und ich ließ es wegen eines Zunders verkommen.
Der Arzt drückte ihnen die Hand. Er ging zur Tür und fragte flüsternd, wo er den Totenschein ausstellen dürfe. Und Angela Freydag geleitete ihn die Treppe hinab und verharrte schweigend hinter seinem Stuhl, während er an Kornelius Vanderwelts Schreibtisch saß und das Papier ausfüllte.
Wieder betrat sie das Sterbegemach, und Thomas Vanderwelt saß am Bette des Vaters und hielt mit seinen fiebrigen Händen die kalten umspannt. Als sie seine Schulter berührte, sah er kaum auf.
»Du mußt mich jetzt eine Weile mit ihm allein lassen, Thomas. Es ist Morgen geworden, und die anderen sollen ihn nur in der Verklärung sehen.«
»Die anderen. Ach ja, da gibt es noch die anderen. Darf ich nicht helfen, Engel?«
»Es ist Frauensache, Thomas. Und du wirst es verstehen.«
Er erhob sich schwerfällig, stand vor ihr und suchte in seinem Hirn nach einem Wort.
»Es ist Sache der Liebe, Engel,« und er ging mit müden Schritten hinaus, die Treppe hinab und in das Arbeitszimmer seines Vaters. Am Schreibtisch saß er nieder, horchte eine Zeitlang ins Leere und ließ den Kopf auf die Arme sinken, die kraftlos über der Tischplatte lagen.
Mit mühsam verhaltenem Atem hatte Angela Freydag den Schritten gelauscht, die sich weiter und weiter entfernten und verhallten. Jetzt wandte sie langsam den Kopf.[S. 321] Nach ihm. Ihre Füße bewegten sich. Ihre Knie stießen an das Bett. Und sie ließ sich in die Knie sinken und wühlte ihren Kopf in die Kissen, die sein Haupt trugen.
»Dank, Dank, Dank!« Und immer wieder dasselbe Wort, und kein anderes wußte sie.
Wange an Wange lag sie mit ihm, und die Zeit rann dahin, und die Sonnenstrahlen kamen und kränzten sie beide.
»Dank, Dank, Dank, Kornelius.« — — —
Die Sonnenstrahlen liefen über ihre Stirn und flirrten über ihre Augen. Es ist Tag, dachte sie wie aus einem Erwachen heraus, und es war bei ihm und mit ihm kein Tag, der leer war. Bis die anderen ihr Anrecht bewiesen haben, habe ich dein Erbe zu verwalten.
Beide Hände legte sie ihm um die Schläfen und starrte ihm in das stillgewordene Kämpferantlitz. Immer näher kam ihm ihr zuckendes Gesicht. Und dann preßte sich ihr heißer Mund auf seine kalten Lippen, als könnten sie sie erwärmen, als könnten sie sie mit glühendem Leben füllen, mit hinreißendem Lachen und dem Glücksjubel, den nur Kornelius Vanderwelt gekannt hatte.
»Du! Du! Ich bin nur hiergeblieben, weil du noch hier sein mußt. Weil das Tagewerk noch nicht zu Ende ist. Weil dein Name noch gesichert werden muß in deinem Fleisch und Blut. Nicht meinetwegen, Kornelius, nein, das weißt du besser. Ich bin nur dein ander Teil. Aber es wird ausreichen, dein Tagewerk zu Ende zu führen. Das schwör' ich dir.«
Sie löste sich von seinen Lippen und stand in der Sonne des Morgens. Einen gurgelnden Atemzug tat sie noch, und dann blickte sie mit weit sich öffnenden Augen in den Tag und schritt hinein.
Mit Frauenhänden, die voll starker Liebe waren, wusch[S. 322] sie des Toten Antlitz, Brust und Hände, strich sie ihm sorgsam das Haar, bettete sie ihn in frische Kissen. So lange war ich wie sein Kind und mehr, dachte sie. Nun ist er das meine — und mehr.
Durch die geöffneten Fenster flutete die Frühsommersonne wie eine Woge, und Kornelius Vanderwelt lag in der Woge mit lächelndem Mund. Denn er wußte, daß es die Liebe war. —
Als Angela Freydag in Ergriffenheit das Arbeitszimmer betrat, fand sie Thomas schlafend. Sie trat leise hinter ihn und betrachtete ihn lange und gewahrte, was ihr früher nie so sehr zum Bewußtsein gekommen war, daß er die Gestalt des Vaters hatte, etwas hagerer nur vom unzweckmäßigen Leben, und denselben schmalen Schädel mit der breitgelagerten Stirn. Sie preßte die Lippen, als die Bilder des Vergleichs sich drängten. Wie eine Bitterkeit kam es über sie. Denn der dort oben im ewigen Schlafe lag, schien ihr im Tode noch um ein Vielfaches größer und stärker als der Namenserbe, der sich hier unten zurückschlief in das Leben des Tages.
Sie rührte ihn an, und er erwachte.
»Nicht böse sein, Engel. Es warf mich hin. Das traurige Geschäft schon erledigt? Ich weiß es wohl, an dem Punkte, an dem die Männer ermüden, erwachen die Frauen. Nur daß es so wenig Frauen gibt wie Männer.«
»Es liegt in der Macht eines jeden einzelnen, es zu ändern, Thomas. Und du hast nun ein einzelner zu werden.«
»Ich — habe? Weshalb nennst du mich seit dieser Nacht ›Du‹, Engel?«
»Weshalb?« Ihre Stimme wurde so hart, daß er betroffen zu ihr aufschaute. »Weil ich das Vertrauen in dich setze, Kornelius Vanderwelts Nachfolger zu werden. Hüte es, Thomas.«
[S. 323]
Über den Grund ihrer Augen sprang ein Blitz. Für Sekunden legte sie die Hand darüber hin, als schmerze sie das Licht. Und mit ihrer ruhig schwingenden Stimme sprach sie weiter.
»Geh jetzt, Thomas, und hole Juliane her und deine Frau und die beiden Jungen. Präg' ihnen ein, sie sollten hier keinerlei Lärm erheben, denn der Lebende hätte ihn nie in seinem Hause geduldet, und sein Wille sollte heiliggehalten werden. Kommt gegen Mittag. Ich werde inzwischen den Sarg bestellen, und am Abend wollen wir den Vater in aller Stille in die Friedhofkapelle überführen.«
»In aller Stille, Engel? Soll auch die Beisetzung in aller Stille erfolgen?«
»Ich möchte dich bitten, deiner Schwester gegenüber, wenn es sich als nötig erweisen sollte, ein Machtwort zu sprechen. Dein Vater hat, wie alle überragenden Naturen, für seine Größe Zahlungen leisten müssen. Als er um Justus und Julianes wegen für den Bestand seines Hauses kämpfen und sich beschränken mußte, wurde ihm seine frühere Überlegenheit als Überheblichkeit und seine frühere Freigebigkeit als Verschwendungssucht angerechnet. Das ist nun einmal der kaufmännische Brauch, und er mag meisthin seine Berechtigung haben. Aber ich fürchte, dein Vater würde aus dem Sarge hinaus sein unfeierlichstes Lachen erschallen lassen, wenn er alle die Abwendigen als feierliches Trauergeleit verspürte.«
»Ja, Engel,« sagte Thomas Vanderwelt, nahm ihre Hand und beugte sich über sie. Und wie sie ihm durch die Fensterscheiben nachblickte, sah sie, daß er aufrecht und gesammelten Blickes über die Straße schritt.
Als sie dem Mädchen eingeschärft hatte, keinem die Tür zu öffnen, wer es auch sei, ging auch sie in die Stadt hinein[S. 324] und wählte die letzte Behausung für den stillen Gefährten und ließ den eichenen Sarg in die Wohnung schaffen. Bei der Rückkehr fand sie eine Gestalt im Garten vor. Wie ein abenteuerliches Wesen stand die Vierschrötigkeit des Matthes im schwarzen, altväterlichen Leibrock vor ihren Augen.
»Sie gestatten, Madam. Er war mein Freund. Schon aus unseren Seemannstagen her. Auf keinen bin ich so verdammt stolz gewesen wie auf den Kornelius. Sie gestatten deshalb, Madam.«
»Was soll ich gestatten?« fragte Angela Freydag zurück.
»Daß ich ihn noch mal zu sehen kriegen darf. Nur auf so lang, daß ich ihm ›Auf Wiedersehen‹ sagen kann. Nichts für ungut, Madam, aber er war doch nun mal mein Freund.«
»Kommen Sie,« sagte Angela Freydag und schritt ihm in seltsamer Erregtheit voran.
Der Mann stand vor dem Entschlafenen. Seine schweren Finger drehten den Rand des Trauerhutes. Seine Kiefern bewegten sich, formten an einem Wort, stießen es endlich heraus.
»Kornelius ... verdammt noch mal ... Kornelius — —«
Die Augäpfel quollen ihm. Aber er hielt stand und ließ keinen Ton mehr zwischen den Zähnen durch.
Es war ein Scharren und Schieben auf der Treppe. Die Leute brachten den Sarg, und Angela Freydag ging hinaus und gebot ihnen, ihn vor dem Sterbezimmer niederzustellen. Als sie in das Zimmer zurücktrat, fand sie den Matthes unbeweglich vor dem Toten.
Für eine Sekunde suchte sie sein Auge. Und sie sah in dem Auge des grobgearteten Menschen einen Schein aufleuchten, der wie ein Abschiednehmen war von der Jugend. Auch diesem Rohen war er das Erinnerungsbild aller[S. 325] Freude und Frohheit, dachte sie. Selbst diesem. Der Dank wird dich freuen, Kornelius.
»Sie sollen mir helfen,« sagte sie, »Ihrem Freunde den letzten Dienst zu erweisen. Wir wollen ihn zusammen in den Sarg legen.«
Der Mann wandte langsam den Kopf. Er glaubte, nicht recht verstanden zu haben.
»Sprachen Sie zu mir, Madam?«
»Ich sprach zu Ihnen,« und sie wiederholte ihre Worte und wartete auf seine Antwort.
Der Mann stellte seinen Trauerhut auf den Boden. Seine Hände zitterten ein wenig.
»Das vergess' ich Ihnen nicht, Madam. Die Ehre nicht. Obwohl ich glaub', der Kornelius Vanderwelt hätt' sich auch bei mir nicht gescheut und keinen Unterschied gekannt. Ich steh' zu Ihren Diensten.«
Sie trugen gemeinsam den Sarg vom Vorflur ins Zimmer, und der Mann sah bewundernd auf die Muskelkraft der Frau. Und Angela Freydag breitete ein weiches Bett in die letzte Lagerstatt, die sie auf eine teppichbehangene Bank gehoben hatten, und glättete mit den Fingerspitzen wieder und wieder das Kissen. Dann streckte sie den Körper und schritt ruhig auf den Toten zu, bettete ihn an ihr Herz und trug ihn mit starken Armen, während der Helfer den Arm unter des Freundes Knie hielt wie eine eiserne Stange.
Ausgestreckt lag Kornelius Vanderwelt in seinem letzten Bett und lächelte sie an. Seine vergangene Jugend in dem Mann und seine Ewigkeitsjugend in der Frau. Und Angela Freydag fühlte seinen Gruß.
Der Matthes hatte seinen Hut vom Fußboden aufgenommen und war mit einem Kopfnicken hinausgegangen. Sie hörte, wie die Haustür hinter ihm ins Schloß fiel. Und sie breitete eine Decke über die Füße des Toten, trug einen[S. 326] Stuhl heran und setzte sich in stummer Zwiesprache zu ihm. Kein Ohr vernahm sie.
So fand sie Thomas, der mit Juliane und Antonie und den beiden Knaben um die Mittagszeit das Zimmer betrat.
Die Frauen trugen ihre Trauergewänder mit einer leidvollen Anmut. Die feinmaschigen Schleier gaben den Gesichtern den Ton der Blässe, doch schweiften unter dem Gewebe die Augen Julianens forschend umher, während das Gefunkel in Antoniens Blicken von scheuem Schrecken gedämpft wurde.
Angela Freydag schlug die Augen zu ihnen auf. Jetzt erst wurde sie inne, daß sie ihr Alltagskleid noch nicht getauscht, daß sie die äußeren Zeichen der Trauer noch nicht angelegt hatte. Sie erwiderte die geflüsterte Begrüßung der Frauen durch ein Neigen des Kopfes und streckte den beiden Knaben die Hände entgegen.
»Guten Morgen, Tante Engel,« sagten die Knaben leise und schmiegten sich trostsuchend an sie.
»Ihr kommt, um euch vom Großvater zu verabschieden?« fragte sie still und freundlich. Und sie nahm sie bei den Händen und führte sie an das Kopfende des aufgebahrten Sarges. »Prägt euch sein Bild ein, Martin und Nikolaus. Kein besserer, kein tapferer und ritterlicherer Mann hat je gelebt.«
Die hochaufgeschossenen Jungen standen in ihren Schulanzügen mit einem Trauerflor am Arm und zwangen sich zur Männlichkeit. Aber der Aufruhr der Gefühle tat sich in den zuckenden Mundwinkeln kund, und die Augenlider färbten sich feuerrot, feuchteten sich heiß und ließen langsam schwere Tränen niedertropfen, die schimmernd auf des Toten Händen haften blieben. Und durch Angela Freydags Seele zog die erste wehmütige Freude.
Juliane trat heran und schob die Knaben zur Seite[S. 327] Sie warf den Schleier zurück, hob die Arme und öffnete den Mund zu einem Schrei. Angela Freydags Hände drückten die erhobenen Arme nieder, und der Schrei erstarrte.
»Wir wollen seine Ruhe nicht mehr stören, Frau Juliane. Er hat sie um uns alle verdient.«
»Sie wollen mein Unglück doch nicht zum Vorwand nehmen, mich für seinen Tod mitverantwortlich zu machen.«
»Ich sprach wohl von uns allen. Es mag sich jeder seinen Teil herauswählen.« Sie wandte sich um, und ihr Blick haftete auf der scheuen Antonie. »Treten Sie näher, Frau Vanderwelt. Auch von Ihnen nimmt der Tote seinen Abschied.«
Antonie Vanderwelt wehrte mit den Händen. Ihr Blick hatte den Toten nur gestreift, er heftete sich mit dem Ausdruck unerklärlicher Furcht auf die steinernen Züge der Frau, die sie an die Seite des Toten befahl. Und von einem Weinkrampf geschüttelt, mußte sie von Thomas Vanderwelt aus dem Zimmer geführt werden.
Angela Freydag deckte das Tuch über das Antlitz des Toten.
»Nun können wir gehen,« sagte sie. »Was noch zu besprechen ist, besprechen wir am besten in einem anderen Raum.«
Im Arbeitszimmer trafen sie Thomas Vanderwelt und seine in Stößen aufschluchzende Frau. Mit schmalgepreßten Lippen ging Juliane auf den Bruder zu.
»Wir werden jetzt die Begräbnisanordnungen treffen, Thomas. Es dürfte sich vielleicht empfehlen, daß ich bis zur Erledigung der Hinterlassenschaftsgeschäfte im Hause wohnen bleibe.«
Mit blutrotem Kopf blickte der Bruder auf Angela Freydag, die wortlose Zuhörerin war.
[S. 328]
»Ich bitte, meine Schwester zu entschuldigen. Ich bitte sehr darum. Der unerwartete Todesfall scheint sie um die Besinnung gebracht zu haben. Die Hinterlassenschaft steht in dieser Stunde gar nicht zur Besprechung. Und was die Anordnungen zum Begräbnis betrifft, so liegen sie in Händen, denen wir nicht genug danken können.«
»Ich bitte, in allen Dingen befragt zu werden,« beharrte Juliane scharf.
»Ich fürchte, liebe Schwester, daß nicht allzuviel zu befragen übrigbleibt. Augenblicklich befindet sich noch der Herr im Haus, wenn auch mit geschlossenen Augen.«
»So wollen wir den Wortlaut der Traueranzeigen festsetzen und die Listen aller —«
»Es ist nicht im Sinne des Vaters,« unterbrach sie der Bruder. »Die Anzeige in der Zeitung muß uns genügen. Ich habe sie bereits aufgestellt und abgegeben, Juliane.«
Die Schwester fuhr zornig auf.
»Du hast dich gut beraten lassen, lieber Thomas. Das mag bei kleinen Leuten von Nirgendwoher der Brauch sein, in unseren Kreisen hat man sich an die vorgeschriebenen gesellschaftlichen Formen zu halten und nur danach zu handeln.«
Thomas Vanderwelt trat dicht auf sie zu. Seine Lippen bebten vor Scham.
»Wir sind kleine Leute. Vergiß das nun nicht mehr und richte dich danach ein.«
Julianes Augen liefen mit hungrigem Ausdruck vom einen zum anderen. »Und Sie?« fragte sie die steinerne Zuhörerin schroff. »Was sagen Sie dazu, da Sie doch nun mal unserer Beratung beiwohnen?«
»Ihr Bruder«, sagte Angela Freydag, »hat als Oberhaupt Ihrer Familie vorläufig alle Bestimmungen zu treffen.«
[S. 329]
»Oberhaupt! Er ist es ja nicht einmal in — Nun ja. Vorläufig, haben Sie gesagt. Vorläufig mag es dabei sein Bewenden haben.«
Angela Freydag blickte den Sohn Kornelius Vanderwelts an. Seine zusammengesunkene Gestalt reckte sich ein wenig.
»Der Sarg wird heute abend in die Friedhofskapelle überführt. Die Beisetzung findet übermorgen nachmittag statt. Wer irgendwelche Wünsche und Fragen hat, möge sich voll Vertrauen an Frau Engel wenden.«
»Du meinst wohl an Fräulein Freydag, lieber Thomas.«
»Nach deinem Belieben, Juliane. Du wendest dich also an Fräulein Freydag.«
Er trat auf Angela Freydag zu, beugte sich lange nieder und küßte ihr die Hand.
»Auf Wiedersehen am Abend, Engel. Ich werde pünktlich zur Stelle sein. Vielen Dank.« —
Gegen Abend fuhr der Totenwagen vor das Haus, lud seine Last ein und fuhr von dannen. In einem geschlossenen Gefährt folgten ihm Angela Freydag, Thomas Vanderwelt und die beiden Knaben. Vor dem Friedhofstor harrten die Träger mit der Bahre. Hinter dem schwankenden Brette her schritten die vier Menschen. Und sie blieben, als die Träger gegangen waren, wohl noch eine Stunde in der Kapelle und kränzten den Sarg mit einem Gewinde aus Immergrün und allen dunklen Rosen, die Kornelius Vanderwelts Garten hervorgebracht hatte.
Der Beisetzungstag kam. Und wieder fuhren sie denselben Weg, und Juliane und Antonie fuhren mit ihnen. Da die Schleier der beiden Frauen nicht gedrückt werden durften, kauerten die beiden Knaben eng aneinandergeschmiegt neben dem Fahrer.
»Es gleicht einer Bettelmannsbeerdigung,« tadelte Juliane[S. 330] heftig. »Nun ja, wir brauchen uns wenigstens nicht vor einer großen Teilnehmerschar zu schämen, denn in der Zeitungsanzeige war ja wohlweislich die Stunde der Beerdigung weggelassen worden.«
Antonie Vanderwelt lehnte in der Ecke des Wagens, von den Fenstervorhängen verborgen. Sie wünschte nicht, von ihren Freunden in dieser Lage gesehen und beurteilt zu werden.
Angela Freydag entstieg als erste dem Wagen. Und es fiel Thomas Vanderwelt, der ihr folgte, auf, wie hoch und voll ihre Gestalt geworden war. Ihre Züge waren nicht zu erkennen. Dicht lag der schwarze Schleier vor ihrem Gesicht.
War noch ein anderes Begräbnis für diese Stunde angesetzt? Der Platz vor der Friedhofskapelle war gefüllt von Menschen. Spiegelnde Seidenhüte mischten sich mit Schlapphüten und sonntäglichen Schiffermützen. Es war ein Gewoge wie vor der Schifferbörse, wenn Kornelius Vanderwelt mit jugendstarkem Schritt und hellen Augen die Massen durchquert hatte, nur lautloser und ohne Kornelius Vanderwelts anfeuernden Zuruf.
Und die Massen bildeten eine Gasse und ließen Angela Freydag hindurchschreiten, wie sie einst Kornelius Vanderwelt hatten hindurchschreiten lassen, und die Vanderwelt-Kinder und -Enkel gingen vor ihr oder hinter ihr, sie wußte es nicht.
Sie wußte nur, daß diese Hunderte hier ungerufen gekommen waren, in Erinnerung an seinen Lebensübermut, in Ehrfurcht vor seinen vollbrachten Werken, in Teilnahme an seinem Endkampf um Sein oder Nichtsein des Hauses. Und eine Stimme in ihr sprach, und sie sprach zu dem geliebten, schlummermüden Mann: »Kornelius, dies hier ist dein Guthaben. In hunderten Gemütern. Nun[S. 331] ziehst du es ein, und was man dir je auf die Schuldseite geschrieben haben sollte, es ist entlastet, und das Guthaben bleibt und verzinst sich.«
Das aber machte sie über die Maßen froh und aufrecht in ihrem Schmerz, daß er die Ungerufenen zu sich gezwungen hatte.
Die Träger hatten das Gestänge der Bahre ergriffen. In endlosen Zügen folgten die Menschen zum Erbbegräbnis der Vanderwelts und umringten es. Die Kinder und Enkel standen vor der offenen Gruft. Neben ihnen, und doch wie auf einer Insel allein, die ehrfürchtig angestaunte verschleierte Gestalt der Frau, die Kornelius Vanderwelts Leben aus den Niederungen zu den einsamen Höhen begleitet hatte.
Und Angela Freydag sah trotz des schwarzen Schleiers alle, die gekommen waren, und vergaß keinen. Sie hörte die Nachrufe der Werks- und Handelsherren, der Börsenmitglieder und der Schiffergilde, und das Niederrascheln ihrer Kranzgewinde. Sie sah die Herren der ›Erholung‹ unter ihrem Vorsitzenden und die Kumpanei aus den ›Fünf Erdteilen‹ unter Führung des Matthes. Kapitäne und Partikuliers, Rudersleute, Matrosen und Hafenangestellte. Und selbst die Bräute der Matrosen gewahrte sie in achtungsvoller Entfernung, für die Kornelius Vanderwelt so oft die Harmonika hatte spielen lassen. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, in die Gruft zu starren, die den Sarg aufgenommen hatte. Sie mußte ja alle diese Dinge wissen, um sie ihm einst berichten zu können. Das nur war es.
Und nun war es still.
Vom Friedhofstor tönte das Rollen der Wagen herüber, die die Handelsherren und Werksleiter zu ihren täglichen Geschäften entführten, von der Straße dröhnte noch der Schritt der abziehenden Massen und verlor sich. Mit stolz[S. 332] geröteten, vom hindernden Schleier längst befreiten Gesichtern gingen Juliane und Antonie ihren Kindern voran zu dem harrenden Wagen, und nur Thomas Vanderwelt wartete auf Angela Freydag, die noch einmal an die verlassene Gruft getreten war.
Sie hob den Schleier, und ihre Augen suchten irgend einen Punkt irgendwo. Und nie vergaß Thomas Vanderwelt das hinreißende Lächeln, das über ihr Antlitz zog.
Als sie ihren Abschied genommen hatte, ging er unhörbar fast auf sie zu und bot ihr den Arm. Sie nahm ihn, und sie folgten den anderen und fuhren mit ihnen in das vereinsamte Haus.
Die Knaben waren zu ihren Schularbeiten heimgeschickt worden. Die Erwachsenen hatten ihre Anzüge geordnet, einen Imbiß genommen und sich alsdann im Arbeitszimmer schweigend niedergelassen.
Das Schweigen wurde drückend, und Thomas Vanderwelt erhob verwirrt den Kopf, als habe ihn jemand angerufen.
»Es bleibt nichts anderes übrig,« sagte er mit einem müden Seufzer, »die letzten Willensäußerungen des Vaters müssen verlesen werden.« Und er nahm den Schlüsselbund vom Schreibtisch und schloß die Tischlade auf.
Sein Auge fiel auf den großen versiegelten Umschlag, der die gesuchte Aufschrift trug. Seine Hände waren schwer und zitterten, als er die Siegel vorzeigte und den Umschlag öffnete. Buchstaben und Zahlen tanzten vor seinen Blicken. Es war Kornelius Vanderwelts Rechnungsablage, die er in Händen hielt.
Und es ergab sich, daß das Vermögen verausgabt war, bis auf weniges. Verausgabt für die Lebensführung der Kinder. Da standen die Beträge, die Justus als seine Vermögensanteile vorweg erhalten und in Abenteuern verschleudert[S. 333] hatte. Da standen die Beträge, die Thomas hingegeben worden waren, um ihn und die Seinen über das trübe Wasser zu halten. Da standen endlich die Beträge, die alle anderen verschlangen, gezahlt für die Prahlsucht Julianens, für ihre Wechselverbindlichkeiten, für die Ablösung ihres Sohnes und die Abfindung der Beckenrieds. Was blieb, war das Eigentumsrecht an den beiden verheuerten Frachtkähnen, an Einrichtungsgegenständen und ein kaum nennenswerter Barbetrag.
Jeden Posten hatte Kornelius Vanderwelts sichere Hand gegen den anderen verrechnet und die überschießenden Schulden der Tochter wettgemacht durch die Übertragung der Frachtkähne und der noch verbleibenden Einrichtungsgegenstände an den Sohn. Der Flügel, Hans Deiters' Meisterbild, Noten und Bücher sollten Angela Freydag ausgehändigt werden als ein kleines Zeichen des großen Dankes.
Die Verlesung war zu Ende. Mit fahrigen Händen suchte Thomas Vanderwelt die Blätter zusammen. Sein Gesicht war weiß.
»Wir haben — den Vater — sehr enttäuscht,« murmelte er vor sich hin.
»Nein!« schrie Juliane auf. »Uns hat er enttäuscht! Uns! Uns!«
»Schweig stille, Juliane.«
»Weshalb soll ich stillschweigen? Weil ich in meiner Unwissenheit Schulden gemacht habe? Jawohl! In meiner Unwissenheit! Wußte ich denn anders, als daß der Vater ein großmächtiger Geschäftsmann sei und Gelder über Gelder verdiene? Und daß er mich dem jungen Beckenried zur Frau gab, weil er auch über die Beckenriedschen Vermögensverhältnisse Bescheid wußte und sie glänzend für mich fand? Und jetzt? Das ist ja alles nur ein Wahnsinn.«
[S. 334]
»Wir werden alle arbeiten müssen, Schwester.«
»Ja, du! Als Inhaber der Firma! Wie hoch ist denn überhaupt die Firma bewertet? Das steht nirgendwo geschrieben.«
»Deine Unwissenheit, Juliane«, sagte Thomas Vanderwelt, und der müde, spöttische Ton wagte sich wieder hervor, »scheint sich nur auf solche Dinge zu erstrecken, die dir Schaden verursachen. Aber der Gedanke an die Bewertung der Firma braucht dir auch fernerhin den Schlaf nicht zu rauben. Der Name steht nur noch auf dem Papier. Auf Einstampfpapier, Juliane.«
»Was heißt das?«
»Es heißt, daß dein einstiger Gatte und dein einstiger Schwiegervater nicht an Weichherzigkeit zugrunde gehen werden. Daß sie Geschäftsleute und nichts als Geschäftsleute sind und den Abgang des unbequemen Kornelius Vanderwelt von der Bühne dazu benutzt haben, ganze Arbeit zu machen. Heute vormittag erhielt ich die Anzeige, daß der Mietvertrag des Geschäftshauses für die Erben Vanderwelt nicht erneuert werde, daß er vielmehr an die neugegründete Firma Beckenried Sohn übergegangen sei, die sich auch die Kräfte der bisherigen Mitarbeiter gesichert habe. Auf meine Mitarbeit wurde höflich Verzicht geleistet. Sie gilt nun einmal nicht als Kräftezuwachs.«
»Thomas! Darum fehlten die Beckenrieds beim Leichenbegängnis.«
»Thomas ...« wimmerte Antonie Vanderwelt.
»Ich habe nicht das Geld,« erwiderte er ablehnend, »um das Geschäft an anderer Stelle wieder flott zu machen. Ich werde mich als armseliger Schreiber verdingen oder als Schiffer fahren müssen.«
»Und was — was wird aus mir?« rief Juliane fassungslos.
[S. 335]
»Du wirst so gut hungern müssen wie wir, liebe Schwester, wenn du ein bißchen Arbeit nicht vorziehst.«
»Und wer — wer wird unsere Wohnung bezahlen?«
»Leute, die kein Geld besitzen, werden die Wohnung aufs schnellste räumen müssen.«
Antonie Vanderwelt wimmerte auf.
»Man wirft uns auf die Straße — man wirft uns auf die Straße. In welche Hände bin ich geraten!«
Mit halbgeschlossenen Augen, als wollten sie die anspringenden Bilder von sich weisen, wandte sich Thomas Vanderwelt ab, und seine Kehle schluckte mühsam den Ekel hinab. Und Angela Freydag sah, daß sie alle versagten, die den Namen trugen, und keiner sich mühte, des Vatersnamens würdig zu werden.
»Hören Sie mich an,« sagte sie, und ihre Stimme wollte nicht wärmer werden. »Es ist ein furchtbarer Sturz, den Sie tun, und eine Probe auf Ihre Lebensfähigkeit. Aber ich sehe einen Ausweg. Bleiben Sie ruhig sitzen, Frau Juliane, ich bin erst beim Beginn und weiß nicht, wie Ihnen das Ende bekommen wird. Und auch Ihnen, Frau Vanderwelt, empfehle ich, auf jedes Wort achtzugeben. Es kommt darauf an, sich zu sammeln und den Lebenskampf mit verkleinerten Mitteln aufzunehmen. Mit stark verkleinerten Mitteln. Von ganz unten müssen wir nach oben. Das hat ja auch der Vater gekonnt. Wenn wir uns und unsere Mittel zusammentun und einer dem anderen unter die Achseln greift, muß es gelingen.«
»Der Ausweg — der Ausweg —« hastete Juliane.
»Ihre Wohnungen haben Sie nur durch den Zuschuß des Vaters halten können,« fuhr Angela Freydag fort, als erstattete sie einen kühlen Bericht. »Thomas hat zunächst als erwerbslos zu gelten. Der Verkauf der Möbelstücke, die noch zurückgeblieben sind, dürfte die fünf Personen[S. 336] Ihrer Familie vielleicht ein Jahr lang bei größter Sparsamkeit über Wasser halten, wenn Sie keine Auslagen für die Wohnung haben. Und diese Wohnung biete ich Ihnen.«
»Sie —? Uns —? Woher wollen Sie sie nehmen?«
»Ich habe mir durch meine Konzertreisen eine Summe ersparen dürfen. Aus einer Laune heraus, die hier nicht zur Erörterung steht, wurde ich Eigentümerin des Grundstückes ›Zu den fünf Erdteilen‹. Es ist nur eine Gastwirtschaft zweiten oder dritten Grades. Aber für Anspruchslose genügen die Zimmer, und Ansprüche sind wohl bis auf weiteres nicht mehr zu stellen.«
»In eine Kneipe!« rief Juliane. »In eine Kneipe sollen wir!«
»In eine Matrosenkneipe!« rief Antonie und schüttelte sich vor Lachen.
Angela Freydag trat dicht vor die überreizten Frauen hin.
»Schweigen Sie,« herrschte sie sie an. »Schweigen Sie, oder, bei Gott, ich lasse Sie verhungern.«
Da krochen die Frauen in sich zusammen, und ihr schrilles Lachen erstarb in einem Wimmern.
»Hören Sie mich noch einmal an,« sagte Angela Freydag kalt. »Ich sprach vorher von einem Jahr. Sie werden sich schon ohne mich keinen Monat über Wasser halten können, wenn Sie erst — Ihre Schulden bezahlt haben werden. Ich will in Thomas Vanderwelt das Zutrauen setzen, daß er ein Mann wird. Und von Ihnen verlange ich, daß Sie sich einfügen und in sich selbst Wandel schaffen. Für Abenteuer öffne ich das Haus nicht, sondern für die Besinnung. Von der Besinnung zum Aufstieg ist dann nur noch ein Schritt. Hier meine Hand, Thomas.«
Thomas Vanderwelt hob die schwergewordenen Augenlider. Langsam legte er seine Hand in die dargebotene.[S. 337] »Nun dürfen wir wohl gehen, Engel. Die Erschütterungen häufen sich ein wenig.«
Noch am späten Abend sandte Angela Freydag das Mädchen zum Gastwirt Matthes und ließ ihn zu einer Unterredung zu sich bitten. In der Nacht fand die Unterredung statt.
»Ich bin die Besitzerin Ihres Hauses. Sie werden es von Ihrem Freunde erfahren haben. Sonst gibt Ihnen das Grundbuch Auskunft. Weshalb Kornelius Vanderwelt so handelte, ist seine Angelegenheit. Wir wollen seine stillen Gründe achten und nie ein Wort darüber verlauten lassen. Sie werden mich gleich verstehen. Ich übernehme die Wohnung, die Kornelius Vanderwelt in den ›Fünf Erdteilen‹ mietete, für mich und die Nachkommen Kornelius Vanderwelts, bis sie das Gehen und Stehen gelernt haben. Sie rechnen dagegen die Zinsen auf, die Sie mir vierteljährlich zu zahlen haben. Vielleicht kann ich mich auch sonst in Ihrem Hauswesen nützlich machen.«
Den Gesichtszügen des Matthes war keine Überraschung anzumerken. Er sprach, als setzte er eine Unterhaltung fort, die er vor Tagen mit Kornelius Vanderwelt geführt hatte. »Die Gastzimmer stehen längst leer. Die Ledigen un Jungen, die keine Bleibe haben, denken heut all amerikanisch un verlangen fließend Wasser un sonst noch wat für ihre Schlamperei. Selbst die Kneipe bleibt halb leer, weil ich dat Geld für dat Gefiedel scheu' und bei der Harmonika geblieben bin. Wann woll'n Sie einziehen? Für mich is et en Geschäft.«
»In nächster Woche. Sobald der Verkauf aller entbehrlichen Gegenstände stattgefunden hat.«
»Abgemacht. Dat Sie sich mit der Nachkommenschaft einen bösen Packen aufbürden, is Ihre Sache.« Er nickte ihr kurz zu, ging zur Tür und wandte sich noch einmal nach[S. 338] ihr um. Seine Augen blinkerten. »Aber en Staatsweib, dat sind Sie.«
In dieser Nacht verfaßte Angela Freydag ihre letztwillige Verfügung, in der sie ihr Grundstück und ihre gesamte Hinterlassenschaft für den Fall ihres Todes Thomas Vanderwelt, seinem Sohn Nikolaus und seinem Neffen Martin unter Ausschaltung jedes anderen Erben überschrieb. Und anderen Tages hinterlegte sie das Schriftstück bei dem zuständigen Gericht.
Sechzig Jahre hatte Kornelius Vanderwelt erreicht, als er aus seiner Kraft und seiner Liebe abberufen wurde, und Angela Freydag zählte vierzig Jahre. —
Der Einzug in die ›Fünf Erdteile‹ war in den Nachtstunden vor sich gegangen. Der Matthes war mit ein paar älteren Schiffern erschienen, und die Arbeit war bald getan. Die Knaben hatten ein gemeinsames Zimmer erhalten, Thomas Vanderwelt und Frau zwei weitere, und Frau Juliane bewohnte wie auch Angela Freydag ein Einzelzimmer. Die Küche des Wirtshauses war auch die ihrige.
Angela Freydag schritt durch die einfach eingerichteten Räume und wies einem jeden sein schmales Reich an. Die Frauen waren kleinlaut geworden, Thomas Vanderwelt zeigte sein altes, belustigtes Lächeln, und nur die beiden Jungen freuten sich offen und arglos über das romantische Zwischenspiel.
Angela Freydag hantierte zwischen dem geringen Hausrat, als wäre sie in ihre Kindheit zurückversetzt und hätte für den abgehetzten Vater, die ruhelose Mutter zu sorgen. In derbem Hauskleid verrichtete sie die Arbeit, die keiner ihr abnahm oder erleichterte, und hatte alles von sich getan, was an vergangene bessere Zeiten zu erinnern vermochte. Sie wollte ganz sein, was sie war, und mehr als der Schein. Darum auch hatte sie den Flügel hingegeben[S. 339] und das Bild und die Bücher bis auf wenige, und das Geld auf die Sparkasse gelegt. Es war ihr letzter und schwerster Abschied. Aber sie blickte auf ihre Hände, die arbeitshart geworden waren und ungelenk für die hohen Anforderungen der Kunst, und die Hände strichen langsam an den starken Hüften hinab, und sie freute sich ihrer Stärke.
Es war kein Leichtes gewesen, das Mißtrauen der gedemütigten Frau des Matthes zu besiegen, aber auch dies hatte sie vollbracht. Als sie der alten Frau am Küchenherd stillschweigend die schweren Kessel aus der Hand nahm und ihr zu einem kärglichen Aufatmen verhalf. Noch immer schielte die Frau argwöhnisch nach der straffen Gestalt der neuen Mieterin, bis Angela Freydag ohne ein Lächeln die Hand über das Herz legte und zu ihr sprach: »Es ist für immer vergeben.« Seit dieser Stunde war eine seltsame Freundschaft zwischen ihnen, die wenig Worte machte.
Aber es lebte noch ein anderes Mitglied der Familie Matthes im Hause, das nicht wortkarg war und sich mit dem ganzen Drang der Jugend an Angela Freydag, die bald schon im Hause allüberall Frau Engel gerufen wurde, anschloß. Es war das des Matthes Enkelin, das Kind seiner in Düsseldorf verstorbenen Tochter, und da es keinen Vatersnamen besaß, hieß es Magdalene Matthes. Die Zwanzigjährige war tagsüber auf einem Handelskontor beschäftigt und verdiente sich, was sie brauchte, und der Großvater Matthes mußte sein Schmälen unterlassen, da sie auf Heller und Pfennig für Kost und Wohnung zahlte.
Das mutige Ding war voll Ansporn und Leben, und da das Leben mit seiner Fülle nicht zu ihm gekommen war, so kam das Mädchen mit seiner Fülle zum Leben, und es war nicht anders, als ob es Gott und die Welt mit seinem Vorhandensein beschenken wollte.
[S. 340]
»Lassen Sie mich Ihnen helfen, die Zimmer in Ordnung bringen, bitte, Frau Engel. Dafür erteilen Sie mir in den Abendstunden ein wenig Unterricht.«
»Worin sollte ich Sie wohl unterrichten können, Magdalene.«
»In allem, was ich brauche, um eine Frau zu werden wie Sie.«
»Dazu gehört nur ein wenig Mut und viel, viel Liebe, kleine Schwärmerin.«
Sie schüttelte die Locken, und in ihre Mädchenstirn grub sich die Falte des frühreifen Ernstes, die Angela Freydag wie ein geschwisterliches Zeichen wiedererkannte. Wie oft war Kornelius Vanderwelts Hand darübergeglitten.
»Ich bin keine Schwärmerin, Frau Engel. Nein, gewiß nicht. Ich weiß, daß ich vor viele, harte Kämpfe gestellt bin. Aber ich bin jung und kräftig und will mir meinen Glauben nicht verkümmern lassen.«
»Ich muß Sie einmal ganz schnell in die Arme nehmen,« sagte Frau Engel. »Und nun helfen Sie in Gottes Namen.«
»Mut,« wiederholte das Mädchen. »Mut und viel Liebe ... Ich denke, darin kann ich schon ein ganzes Teil Bestellungen entgegennehmen.« Und sie machte sich mit lautem Gesang an die Arbeit.
Es war für Angela Freydag eine Wohltat, die frisch beherzte Angreiferin um sich zu haben, denn die beiden Frauen Juliane und Antonie rührten keine Hand, es sei denn für sich selbst und die Ausschmückung ihrer Kleider, die sie verstohlen wieder hervorgeholt hatten und in denen sie sich zum Abend in den Straßen wieder zu zeigen begannen. Oft und öfter geschah es schon, daß die beiden Frauen heimlich miteinander tuschelten und kicherten und jäh die Gleichgültigen spielten, wenn Angela Freydag durch die Zimmer ging.
[S. 341]
Einen Monat und länger hatte Thomas Vanderwelt mit der Auflösung der noch schwebenden Geschäftsverbindlichkeiten zu tun gehabt. Sie hatten sich ohne Schwierigkeiten vollzogen. Der gute Wille, der absterbenden Firma Kornelius Vanderwelt die letzten Ehrenbezeigungen zu erweisen, trat unverkennbar zutage, und ein Willensstarker hätte die freundliche Meinung auszunützen verstanden und sich außer neuen Aufträgen wohl auch die Leihsumme der fehlenden Betriebsgelder zu verschaffen gewußt. Aber Thomas Vanderwelt war kein Willensstarker. Was an Willen in ihm schlummern mochte, lag im Albdruck unter der Puderschicht, die vom Wesen seiner Frau auf ihn hinübergeglitten war.
Ein paar Wochen noch ging er Tag für Tag hinaus, um sich eine Stellung in den Schoß fallen zu lassen oder sich am Hafen nach seinen Kähnen umzusehen, um mit Wilm über die Heuer der Fahrten zu verhandeln oder ein anderes minder wichtiges Geschäft als Vorwand zu nehmen. Dann blieb er, als die Herbstregen rauschten, mehr und mehr daheim und erhob sich nur lauschend, wenn Antonie das Haus verlassen hatte, um ihr hinter den Fenstervorhängen nachzublicken und ihr auf demselben Wege zu folgen.
»Ich könnte Ihnen eine Stelle besorgen,« redete ihn an einem Abend, als sie ihn allein traf, Magdalene Matthes ohne Umschweife an.
»Ich Ihnen auch, mein Fräulein. Aber ob sie für ein so stolzes Fräulein gut genug wäre —«
»Das sind Kindereien, Herr Vanderwelt, die Ihnen schlecht zu Gesicht stehen. Sie wollen natürlich damit sagen, daß für einen so stolzen Herrn, wie den Herrn Vanderwelt, nicht jede beliebige Stelle passend erschiene. Jede Stelle aber ist ein Sprungbrett.«
»Ich habe gegen Ihre Denkrichtung nichts einzuwenden,«[S. 342] sagte er und lächelte freundlich zu ihrem flammenden Unwillen. »Sie scheinen mir sehr begabt, und begabte Frauen zählen zu den Seltenheiten.«
Jetzt aber flammte sie ihn wirklich an.
»Wie Sie zu Ihren traurigen Betrachtungen über die Frauen kommen, weiß ich nicht, und ob ich begabt bin oder nicht begabt bin, geht Sie nichts an. Sicher aber ist, daß ich mir eine Gelegenheit zur Arbeit nicht aus der Hand schlagen lassen würde und eher eine Meile liefe als einen Schritt zurück täte.«
Sie wandte sich auf dem Absatz, und Thomas Vanderwelt schaute ihr gedankenverloren nach, wie sie die Stufen der Treppe nahm und in ihrem Zimmer verschwand.
»Ich glaube, er weiß nicht einmal, wie ich aussehe, der Sterngucker,« eiferte sie, als sie Frau Engel ihren Bericht erstattet hatte. »Oder er hält uns Frauen für so minderwertig, daß es den hohen Herrn eine Zumutung dünkt, sich von einer Frau behilflich sein zu lassen. Spottvogel, der.«
»Es kommt wohl auf die Frau an,« sagte Frau Engel. »Und nun haben Sie genug geschimpft.«
»Geschimpft?« fragte sie bestürzt. »Ich wollte ihn doch nicht beschimpfen. Dazu habe ich erstens nicht das Recht, und zweitens weiß ich aus Erfahrung, daß Leute, die im Elend sind, ein ganz besonders feines Ehrgefühl besitzen.«
»Sehen Sie wohl, Magdalene? Es ist noch nicht aller Tage Abend, und wir wollen uns inzwischen tummeln.«
Während sie die Zimmer richteten und die Küche besorgten, plauderte das frische Mädchen unverdrossen. Es erzählte von den Aufgaben, die ihr im Geschäft gestellt worden seien und über welche Briefausdrücke sie gestolpert sei, fragte eindringlich und ließ sich voll Eifer belehren. Dabei überzog sie ein Bett mit festem Leinen oder wusch[S. 343] das Gemüse unter dem Küchenkranen. Und wie die Fragen mit Verstand gestellt wurden, so wurden die Antworten aus der Reife der Lebenserkenntnis erteilt, und es wurde ein Unterricht, bei dem der Geist des Mädchens alle Pforten öffnete und sich aus allen Pforten in die Höhe schwang zu Angela Freydags Geist.
Wie oft war es Angela Freydag in diesen Wochen und Monaten, als wären nur die Gesichter vertauscht. Als trüge das lernbegierige Mädchen die Züge der jungen, lernbegierigen Klavierlehrerin und sie selbst stünde als Lehrer an Kornelius Vanderwelts Statt. »Ich gebe deinen Reichtum weiter, Kornelius,« sprach sie dann wohl für sich hin, »und heute verstehe ich dein Wort, daß es nicht immer die blutseigenen Kinder sind, die unsere Seele am stärksten beerben.«
Aber die schwermütige Anwandlung verflog, als wäre sie nie gewesen, wenn Kornelius Vanderwelts blutseigene Enkel, wenn Martin und Nikolaus schulentlastet die winklige Treppe hinaufgestürmt kamen und ihr mit tausend Geschehnissen um den Hals flogen. »Heute hat der Martin ein Gedicht auf den Großvater gemacht.« »Der Nikolaus hat geholfen und die gute Hälfte daran.«
»Her damit, Jungens.« Und sie las die stammelnden Strophen.
Ihre Brust hob sich hoch. Ihre Augen funkelten. Nein, es war nicht vergebens.
Ihr Gedanke schweifte zu den spielerischen Müttern, zu dem lässigen Vater, der sich spöttelnd ein Kind der Zeit nannte.
Formte die Zeit die Menschen? Oder formen die Menschen die Zeit? Nur die es versuchen, haben die Berechtigung, zu sein, und dieses Jungdichtergestammel war über die Zeit erhaben.
[S. 344]
»Ich wälze zwei rotbackige Äpfel in Teig und schiebe sie für euch in den Ofen.«
Ein Jubelschrei aus zwei Kehlen — und ein beschämtes Innehalten und Verstummen.
»Schmeckt euch der Lohn zu sehr nach dem Alltag, Jungens? Hattet ihr auf eine goldene Rose gerechnet?«
»Aber wir haben dich ja gar nicht angedichtet, Tante Engel. Das Gedicht geht auf den Großvater.«
Da nahm sie die beiden Jungen mit einem herzlichen Lachen in ihre Arme und an ihre Brust.
»Der Großvater oder ich. Das ist in der Dichtung ein und dasselbe. Ob wir leben oder gestorben sind.«
Der Knabenverstand erfaßte den Sinn der Worte noch nicht. Aber die Augen glänzten vor Begeisterung, als die Bratäpfel in die Ofenröhre geschoben wurden und alsbald ein süßes Duften von Weihnachtsseligkeiten die Küche erfüllte. —
Für den Matthes aber war es gekommen, wie er es vorausgesagt hatte: es war für ihn ein Geschäft geworden. Die Verzinsungen fielen für ihn aus, und die Gastzimmer hatten ohnedies leergestanden und wurden nun in Obacht und Pflege genommen. Darüber hinaus aber waltete die starke Frau, die ihren Einzug gehalten hatte, in Küche und Haus, griff seiner verängstigten Gesponsin nachdrücklich unter die Arme und scheute sich nicht, wenn's not tat und die Kräfte der Alten versagten, unbeobachtet in der Wirtschaft zu erscheinen und nach dem Rechten zu sehen.
»So eine wie die, Alte, wenn ich die gehabt hätt' un nich dich Tränenkrug, die ›Fünf Erdteile‹ wären die erste Wirtschaft am Platz.«
Die Frau kniff erregt die Lippen ein und arbeitete ohne Widerrede weiter und über ihre Kräfte.
Es war einmal gewesen, daß sie mit einer Handvoll[S. 345] Bierseidel über einen Kautabak hingeglitten und zu Fall gekommen war, heftig gemaßregelt von dem Groll des Wirtes und von den Gästen mit Hallo begrüßt, als Angela Freydag die Wirtsstube betrat. Sie half der Beschämten auf die Füße, führte sie hinaus und kehrte kühl an den Schenktisch zurück. »Geben Sie her,« sagte sie zum Matthes.
Er blinzelte in den Tabaksqualm, füllte frische Gläser und schob sie auf das Schankblech, als wäre nichts weiteres dabei.
»Wer hat bestellt? Wohl bekomm's. Sehen Sie, es geht auch mit der Ruhe.«
Die Gäste blickten verdutzt auf die Frauengestalt in derbem Hauskleid, räusperten sich und tranken.
»Schmeckt noch mal so gut,« meinte ein Witzbold.
»Mehr wird nicht verlangt,« antwortete sie und sah dem Manne in die starrenden Augen, bis sein Blick quer ging.
Von diesem Abend an ging sie zeitweilig, wenn die Frau des Matthes vor gichtigen Schmerzen nicht weiter konnte, als Stellvertreterin der Ärmsten in die Wirtsstube hinunter und übernahm die Pflichten der Wirtin. »Sie haben hier nichts, aber auch gar nichts verloren,« wies sie das junge Mädchen zurück, das sich ihr hilfsbereit zugesellen wollte. »Für Männer in Kneipenluft ist eine andere Verfassung am Platz, als ich sie bei Ihnen wünsche. Diese Bekanntschaften hier möchte ich Ihnen für Ihren zukünftigen Lebensweg erspart wissen.«
»Aber, Frau Engel, Sie sind eine Dame, und was und woher bin ich?« erwiderte Magdalene Matthes angriffslustig.
»Sie stellen die Frage falsch, Kind. Nicht: ›woher bin ich?‹, ›wohin will ich gehen?‹ muß sie heißen und nicht anders. Also belasten Sie sich nicht mit Dingen, die Ihnen Ihren Weg versperren. Der meine war schön und weist[S. 346] mich zur Beendigung hierher. Weshalb, das lassen Sie meine Sorge sein.«
Das Mädchen ging verwirrt von dannen und suchte einen Entgelt darin, daß es sich mehr als bisher um die Wünsche und Gewohnheiten der Vanderweltschen Familie kümmerte und ihnen genugzutun sich mühte.
Stark und gefestigt saß Angela Freydag im Schatten des Schenktisches, die aufglühende Tonpfeife als Freundin. Und sie behielt den Stiel der glühenden Pfeife in der Hand, wenn sie am Schenktisch die gefüllten Gläser entgegennahm und zu den Gästen trat. Stark und gefestigt saß sie wieder auf ihrem Platze, und die voreiligen Witze der Männer hatten sich in ein Murmeln der Befriedigung verwandelt.
Man war bei Mutter Engel. — —
»Frau Engel, ich möchte Sie sprechen,« bat in den festfröhlichen Wintertagen Magdalene Matthes. »Darf ich es sagen?«
»Sagen Sie mir getrost alles, was Sie auf dem Herzen haben. Wir sind in meinem Stübchen und allein.«
»Sie sind vielleicht durch die Wirtsstube so oft in Anspruch genommen, daß Sie es nicht bemerkt haben. Und es sind auch ganz gewiß nicht meine Angelegenheiten. Aber die anderen dürfen doch nicht in die Mäuler der Leute kommen.«
»Wer sind die anderen?«
»Nun, der Herr Thomas Vanderwelt und — und — die Prachtburschen, der Martin und der Nikolaus.«
»Für die Frauen fürchten Sie nichts?«
»Ach, Frau Engel, die Frauen sind es ja gerade, die — ja, wie soll ich es Ihnen sagen? — die so unvorsichtig sind.«
»Und Sie glauben, ich bemerkte das nicht, wenn ich in der Wirtsstube sitze? Und Sie denken, weshalb ist sie hinuntergegangen und sitzt nicht oben und hält die Augen[S. 347] auf? Weil ich denen da oben eine Frist zur Besinnung gesetzt habe, Mädchen, und zusehen will, für wen es sich da oben verlohnt, bevor ich an die Abreise denke.«
»Frau Engel,« rief das Mädchen mit erschrockenen Augen, »dann bricht für die da oben alles zusammen.«
»Magdalenlein,« beruhigte Angela Freydag und strich ihr über die heißgewordenen Wangen, »es ist noch nicht so weit, und ich hoffe auf ein Wunder. Wenn auch das, was Sie mir zu sagen haben, nicht ein Wunder voraussehen läßt.«
»Hätte ich doch nicht damit begonnen!« stieß das Mädchen über sich selbst erzürnt hervor.
»Nicht so, Magdalene. Sie und ich, wir haben uns liebgewonnen, und in der Liebe gibt es keine heimlichen Gedanken. Was Sie mir zu sagen haben, kann nur die Bestätigung meines eigenen Wissens sein, und jede klare Bestätigung reinigt die Luft. Sie helfen mir also auch mit weniger schönen Wahrnehmungen.«
Das Mädchen hob den Kopf. Ihre tapferen Augen trugen den Ausdruck der Entschlossenheit.
»Frau Engel, es ist nicht gut, daß die beiden Frauen allein gehen. Ich sah sie nicht zum erstenmal in den Straßen, wenn ich abends aus dem Geschäft kam. Heute wurden sie angeredet, und sie ließen es sich gefallen und gingen mit den Herren in eine Tanzdiele. Es ist keine angesehene Örtlichkeit, in die sie gingen, und sie wußten es wohl nicht.«
Angela Freydag saß und hielt die verschlungenen Hände im Schoß. Aber die Gelenke ihrer Finger knackten.
»Wollen Sie es den beiden Frauen sagen, Frau Engel? Bitte, sprechen Sie doch.«
»Es ist die Sache Thomas Vanderwelts, Magdalene. Er hat für den Namen Sorge zu tragen. Also sprechen Sie mit Thomas Vanderwelt, wenn das Herz Sie treibt, und ich hoffe für ihn, daß Sie eine glückliche Stunde haben.«
[S. 348]
»Mit — Thomas Vanderwelt? — Und was hat mein Herz damit zu tun?«
»Das müssen Sie sich selber fragen. Oder auch nicht, wenn es Ihnen auf Hilfe ankommt.«
»Ja,« sagte sie mit schwerem Atem, »es kommt mir auf Hilfe an. Gerade bei ihm. Denn er ist im Grunde ein ganz anderer, als er vortäuschen möchte.«
»Wer ist er denn? Ein unglücklicher Ehemann?«
»Ein schlaffer Mensch ist er. Ein Mensch, der den Aufschwung nicht finden kann, weil er immer in den Schmutz stiert. Aber viel, viel weicher ist er, als seine Spottsucht zugeben will und die wenigsten es ahnen.«
»Vielleicht, weil er in Ihnen eine so gute Freundin gefunden hat. Und nun gehen Sie zu ihm, Mädchen.«
Die erhitzten Wangen erblaßten ihr. Mit kleinen, scheuen Schritten ging sie auf die ernstgewordene Frau zu, die sie in die Arme nahm.
»Ich habe einmal aus dem Munde eines ganz Großen gehört, der auch nicht in den Gleisen althergebrachter Sitte lief: ›Ich habe das Heilige angebetet in Gottes reichster Schöpfung. In der Liebe! Alle reine Liebe ist eine Tugend, Kind. Und es steht kein Mensch so niedrig, daß er sich ihrem Anruf entziehen könnte.‹«
Da ging sie und suchte Thomas Vanderwelt auf.
Er lag lesend auf dem Sofa, als sie zu ihm eintrat, und er behielt das Buch in der Hand, als er erstaunt aufsprang und ihr entgegenging. Es war still im Zimmer. Die Frauen spazierten in der Stadt.
»Soll ich mich durch Ihren Besuch geschmeichelt fühlen, Fräulein Magdalene, oder das niederdrückende Bewußtsein auf mich nehmen, daß es für ein junges Mädchen kein Wagnis bedeutet, mich in meiner Höhle aufzusuchen?«
[S. 349]
»Wenn ein Löwe in der Höhle steckt, mag es schon ein Wagnis sein, Herr Vanderwelt.«
»Ich verstehe. Sie sind gekommen, um das festzustellen. Ich sah einmal einen Löwen in einer Tierbude, der ließ sich an den Barthaaren zausen und weinte.«
»Man hätte ihn aus der Tierbude herauslassen sollen, und die Zauser hätten das Weinen gekriegt.«
»So hohen Ehrgeiz hatte der Löwe gar nicht. Er war zufrieden, daß er gefüttert wurde und nicht in den Regen brauchte.«
»Dann hat der Löwe wohl Ehrgeiz und Ehre verwechselt, Herr Vanderwelt. Das soll in der Gefangenschaft vorkommen.«
»Was wollen Sie?« fragte er mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln.
»Frau Engel behauptet, ich sei Ihre Freundin,« sagte sie furchtlos. »Es kommt gar nicht darauf an, ob Ihnen daran etwas gelegen ist oder nicht. Wenn ich Freundschaft für Sie fühle, so muß ich es Ihnen beweisen, auch wenn es Ihnen unangenehm ist. Ihre Gattin, Herr Vanderwelt, und Ihre Frau Schwester scheinen zuweilen den Löwen in der Höhle zu vergessen. Das ist nicht gut, Herr Vanderwelt. Für Sie nicht und für die Knaben nicht.«
Er trat hastig auf sie zu. Auf seinen blassen Wangen tanzten Flecke.
»Wissen Sie etwas Neues? Etwas, was ich nicht weiß? Ausgezeichnet. Wir werden Gegenminen legen und sie verblüffen.«
»Haben Sie nicht richtig zugehört?« fragte sie staunend. »Es ist kein schön Geschäft, die Angeberin zu spielen, und ich möchte es nicht wiederholen.«
Seine fahrigen Hände hielten inne. Er besann sich, wer sie war.
[S. 350]
»Meine Jagdleidenschaft ging lieber andere Wege. Das dürfen Sie mir glauben. Der röhrende Hirsch. Der wetzende Keiler. Und das Leben dransetzen, ihn auf die Decke zu kriegen. Aber wir sind kleine Leute und dürfen nur heimlich mit dem Frettchen auf die Karnickeljagd. Man gewöhnt sich daran. Es kann eine Leidenschaft werden. Da treiben die geschmeidigen Tierchen ihren verliebten Unfug in allen Hecken. Husch, sind sie im Bau und lachen sich eins. Und Sie lassen das Frettchen hineingleiten, und nun ist das Lachen an Ihnen, wenn die lieben Tierchen mit gesträubtem Haar aus den Röhren herausgefahren kommen. Ihnen in den Sack.«
»Herr Vanderwelt, hat Ihnen noch nie ein Mensch gesagt, daß die Frettchenjäger und die Hundefänger ungefähr auf der gleichen Stufe stehen?«
Ein Ruck ging durch seinen Körper. In seinen Augen blitzte es drohend auf. Sie aber freute sich der Drohung.
»Sie sind eine Frau,« sagte er und mühte sich in die Gelassenheit zurück. »Mit den Begriffen einer Frau soll man nicht rechten, und wir wollen den Gesprächsstoff wechseln. Übrigens sind Sie eine sehr hübsche Frau, oder Fräulein, wenn Sie das lieber hören. Schlank und voll geschwungener Linie, wie die Wiener Rokokofiguren, die ich besonders liebe. Mit der hellen Haut und dem hellen Haar der Frauen von Geblüt. Ich meine, wenn Sie sich strecken, müssen Sie mir gerade bis an den Mund gehen.«
»Loslassen. Oder ich schlage Sie ins Gesicht.«
»Gern?«
»Gern?« wiederholte sie, aus der Fassung gebracht, und fühlte seinen Arm nicht mehr. »Man schlägt doch einen Menschen nicht gern ins Gesicht?«
»Sicherlich nicht, wenn man vorgibt, eine Freundin zu[S. 351] sein.« Und er beugte sich über sie und küßte sie auf den Mund.
Sie setzte sich nicht zur Wehr. Sie streifte nur ruhig seine Arme von sich ab und trat einen Schritt zurück.
»Herr Vanderwelt, mein Mund ist kein Freiweideland. Mein Mund, das bin ich! Und wenn Sie wieder einmal Hunger oder Durst nach ihm bekommen sollten, so vergessen Sie nicht, daß Sie als Zahlung sich selber mitzubringen haben, oder doch das, was das Beste an Ihnen sein sollte, den Mann.«
Und sie war hinaus, bevor er sich den Sinn ihrer Worte gedeutet hatte.
Angela Freydag saß vor ihren Büchern und rechnete, als Magdalene Matthes leise bei ihr klopfte. Und sie errechnete noch ein Vierteljahr der Frist für die feiernden Hände derer, für die sie Sorge trug. Ihr Blick kam aus weiten Fernen zurück.
»Haben Sie eine glückliche Stunde angetroffen, Magdalene?«
»Er hat mich geküßt, Frau Engel.«
»Geküßt? So tief ging sein Dank für Ihre Freundeshilfe?«
»Ach, Frau Engel, ganz außerhalb meiner Freundeshilfe hat er mich geküßt. Wie man ein kleines Mädchen küßt, das ein Gedicht aufgesagt hat, oder ein größeres, mit dem man schon eine Liebelei anfangen möchte. Nicht so finster blicken, Frau Engel. Ich bin vergnügter herausgekommen, als ich hineingegangen bin. Denn ich habe ihm über seine hohe Mannbarkeit die Leviten gelesen, daß ihm der Spiegel im Zimmer zuwider sein muß.«
»Hüt' dich, Thomas,« sagte Angela Freydag vor sich hin.
Stark und gefestigt saß sie auch am heutigen Abend am Schattenplatz der Wirtin, die Arme aufgestemmt, die[S. 352] glühende Tonpfeife zwischen den weißen Zähnen. Schimmernd lag ihr die Haarkrone um den schöngebliebenen Kopf, der heute voll dunklen Sinnens war.
Der altgewordene Matthes kam vom Schenktisch. Er zwinkerte mit den Augen über sie hin und sah das Weiße ihres Armes aus den Ärmeln blinken. Wie versehentlich ließ er seine Hand an das Weiße streifen. Sie nahm die Pfeife aus dem Mund und lächelte ihn so fern und seltsam an, daß es den Mann überlief. Und senkte den glühenden Pfeifenkopf auf seinen Handrücken.
Ein paarmal blinzelte er. Dann wandte er sich schwerfällig um und verließ das Zimmer. Ein hellhörig Schweigen blieb hinter ihm, und die Gäste hockten wie ein verhagelt Hühnervolk auf den Stühlen und schielten nach der Frau. Der Matthes kehrte zurück. Er trug ein nasses Tuch um die Hand und stellte sich wortkarg hinter den Schenktisch. —
Die Feierabendstunde schlug, und die Gäste erhoben sich und verließen die Wirtsstube. Aber ein jeder rückte, was sonst nie der Brauch der Männer gewesen war, vor der gelassen weiterrauchenden Frau die Schiffermütze, und ein jeder sprach: »Gute Nacht, Mutter Engel.«
Draußen im Gang schloß der Matthes hinter dem letzten die Haustür. Dann schlurften seine Schritte die Treppe hinauf.
Auf der nächtlichen Gasse zogen ein paar Mädchen vorbei und sangen ein Lied.
Angela Freydag hob den Kopf, um den Sinn zu ergründen.
Sie sangen von der Sehnsucht.
[S. 353]
Es ging bergab mit den ›Fünf Erdteilen‹. Es gab lustigere Schankbetriebe im mächtig sich dehnenden Hafengebiet, und das arbeitende Volk war über die weißgescheuerten Tische, die Bierseidel und Genevergläschen hinausgewachsen und verlangte nach anders gearteten Genüssen als dem Gedudel der Harmonika. Noch war eine ältere Stammgemeinde treugeblieben, aber als auch die sprichwörtlich gewordene Grobheit des Matthes keine Funken mehr schlug und einzuschrumpfen begann, weil ihr die Hauptzielscheibe, die ein Leben lang verängstigte Frau, vor Augen fehlte, rückten auch die alten Kunden in verlegener Langeweile auf ihren Sitzen, und nur hier und dort klatschten noch die Skatkarten auf die Tischplatten.
Der Matthes alterte zusehends. Von einer Erkältung konnte er sich schwer erholen, und der vierschrötige Mann schlich wie ein Schatten umher. Aber noch wollte er nicht zugeben, daß seine besten Trümpfe ausgespielt wären, und er nörgelte mehr als je in Haus und Betrieb herum, bis ihn ein neuer Anfall aufs Lager warf.
Angela Freydag sah alles und sah mehr. Sie sah, wie die niedergedrückten Lebensgeister der alten Frau sich heimlich zu regen begannen, je mehr sie bei dem alten Manne zu versagen drohten, wie die Alte sich zusammenraffte, als hätte sie noch etwas vom Leben nachzuholen,[S. 354] was ihr einen Entgelt bieten müßte für alle Stöße und Schläge des Daseins. Die alte Frau stand von ihrem Lager auf und übernahm die Pflege des Mannes.
»Es geht nicht an, Engel,« sagte Thomas Vanderwelt, »daß du auch noch die Geschäfte der Matthesleute auf deine Schultern nimmst und vor den Gästen die Wirtsmutter spielst. Ich sage es nicht, weil ich mich meiner eigenen Unfruchtbarkeit schäme. Ich bin eine taube Blüte, über die nicht viel mehr zu reden ist. Ich sage es, weil ich an den Vater denke und an sein Entsetzen, seinen Angela-Engel in solcher Gesellschaft zu sehen.«
»Beruhige dich, Thomas. Der Vater würde sagen: Der Angela-Engel wird schon wissen, was er will.«
»Darf ich es auch wissen, Engel?«
Sie säumte an einem Handtuch, und er setzte sich grübelnd zu ihr und ließ das derbe Leinen durch seine Finger gleiten.
»Was ich will, Thomas? Feststellen, ob es sich lohnt, uns keinen Augenblick eher aufzugeben.«
»Ob was sich lohnt, Engel? Meine Gedanken sind seit einiger Zeit nicht mehr bei der Sache, und du mußt ihnen schon zu Hilfe kommen.«
Sie senkte die Arbeit in den Schoß und blickte forschend über ihn hin.
»Eine Frage an dich, Thomas, bevor ich antworte. Wo sind deine Gedanken seit einiger Zeit?«
Er prüfte das Leinen weiter zwischen seinen Fingern, als wäre es ihm wichtiger als die Frage.
»Ach, Engel, ich gefalle mir mal wieder in Übertreibungen, das ist alles. Gedanken! Als ob ich andere Gedanken hätte als ein abgeblaßter Papagei im Käfig.«
»Unterlaß mir zuliebe die weltschmerzlichen Bilder. Sag' mir, ob es noch einen Funken geben kann, der dich aufrüttelt?«
[S. 355]
»Einen Funken mag es schon geben. Aber ob dieser traurige Rest wert ist, aufgerüttelt zu werden —«
»Der Rest kann das Beste enthalten. Das Pulver, das sich entzündet und die Kugel aus dem Lauf treibt.«
»Es lohnt nicht, Engel. Ich habe in der letzten Zeit viel darüber nachgedacht.«
»Woher willst du müder Mensch wissen, was sich lohnt und was sich nicht lohnt? Welche Versuche geben dir das Recht dazu? Hast du alle Möglichkeiten ausgeschöpft? Bist du jeder Betätigungsmöglichkeit nachgegangen? Ja, es ist richtig, ich habe vorhin dieselben Worte gebraucht, und du hast mich nach ihrem Sinn gefragt. Den will ich dir jetzt gern offenbaren. Dein Vater Kornelius Vanderwelt, Thomas, würde deshalb sagen, der Engel wird schon wissen, was er will, weil er die großen Ziele sah, das Werk und nicht das Handwerkszeug. Es würde ihm nicht einfallen, zu fragen, ob es ehrenvoller ist, Bier zu verkaufen oder Kohlen zu fördern oder Schiffe zu befrachten. Wenn er das eine oder andere nicht gerade vermocht hätte, so hätte er das dritte oder vierte getan und den zupackenden Mann gewertet und nicht den überheblichen Kastengeist, der sich auch nur eine Sekunde besinnt, ob der Handel mit Stahl und Eisen vornehmer sei als der mit Guano. Die Art des Mannes ist vornehm, nicht die Art seiner Betätigung. Das solltet ihr jungen Menschen endlich lernen, die ihr euch ein funkelnagelneues Geschlecht dünkt.«
»Du selber sprachst davon,« sagte Thomas Vanderwelt nach einer stummen Weile, »du wolltest feststellen, ob es sich lohnt, uns keinen Augenblick eher aufzugeben. Wie soll ich das verstehen?«
Sie blickte ihn an und sah, daß sein Kopf wie eine schöne, welke Blüte an ihrer Schulter lehnte. Und dennoch[S. 356] war es der Schmalkopf des Vaters mit den breiten Wölbungen der Stirn.
»Thomas — ich habe mir eine Zeit gesetzt. Es kann sich eine Sache als so minderwertig herausstellen, daß ihre Beibehaltung eine Vergeudung von Zeit und Kraft bedeuten würde. Ist der Punkt erreicht, so lege ich nieder.«
»Was legst du nieder?«
»Die Sorge um den Nachruhm des Namens Kornelius Vanderwelt.«
»Liegt dir so viel daran?«
Sie nahm seinen Kopf mit beiden Händen, schob ihn von ihrer Schulter und suchte finster in seinen Augen.
»Nicht sehr viel mehr — wenn mich das der Sohn und Erbe fragt.«
»Und was würdest du tun — wenn der letzte Punkt erreicht ist?«
»Abreisen,« sagte sie hart, und kein Zug in ihrem Gesicht zuckte.
Sie hörten nur ihren Atem noch. Den ruhigen der Frau, den immer schneller werdenden des Mannes.
»Engel — wenn wir anderen dir schon so minderwertig erscheinen, wie wir es sind — denk' an die begabten Jungen. Übereile nichts.«
»Denk' du daran, Thomas. Und beeile dich.«
»Ich bin so müde — so elend müde — —«
»Müde wird man nur von der Trägheit des Herzens. Reg' die Hände und reiß das Herz mit. Es läßt sich so gern mitreißen.«
»Ach, Engel, die Hände. Sieh dir die Hände an. Es sind Knabenhände geblieben.«
»Ist das ein Kunststück, Thomas, aus Knabenhänden Manneshände zu machen? Manneshände für deine Person und für deine Familie? Glaubst du, ich ränge mit dir und[S. 357] rüttelte und schüttelte dich, wenn ich nicht doch noch die Möglichkeit sähe?«
»Zu meiner Familie gehört auch meine Frau.«
Sie zögerte keine Sekunde.
»Gibt es Hindernisse, so sind sie da, um beseitigt zu werden. Du hältst das Heft zur Scheidung in der Hand.«
Sie wartete auf Antwort und sah, wie er in den Schultern fröstelte.
»Ach,« sagte er klagend, »was ist nicht alles aus meinem Leben beseitigt worden. Der Stolz auf mich selbst — und die Freude an der Frau. Oder war die Reihenfolge die umgekehrte? Alles an Zweck und Ziel war aus meinem Leben gestrichen, seit ich blindlings in diese Ehe lief, Engel, und selbst das Jungferntum war aus der Mitgift gestrichen.«
Angela Freydag spürte ihr Herz hart gegen die Rippen schlagen. Ihre Nasenflügel weiteten sich.
»Man mag sagen, Thomas, das sei kein Gesprächsstoff zwischen uns beiden. Aber er ist es doch, wenn es — wenn es um eine Lebensrettung geht. Was du soeben ausgesprochen hast, setzt dich ins Unrecht. Denn du hast trotzdem die Ehe fortgesetzt. Jetzt aber sorge, daß Recht wird. Nicht mehr vergeben. Nicht mehr! Sagen: das nächstemal — aus! Und die Faust hinter das Wort setzen. Aus!«
Ihre Hand zog einen Strich, ballte sich zusammen, fiel hart auf die Tischplatte. Durch das Zimmer hallte ein Laut, als wäre hart eine Tür ins Schloß gefallen.
Thomas Vanderwelt hatte sich erhoben. Ein paar Tropfen perlten auf seiner Stirn. Er fühlte es, als er sich das Haar aus der Stirne strich. Die nächsten Atemzüge stand er, als ob es um ihn herum wirbelte, als ob er mit stoßenden Händen in den Wirbel hineinschlagen müßte. Eine Welle hob ihn hoch und zeigte ihm Land. Eine Welle riß ihn nieder.
[S. 358]
»Engel — hilf mir! Die Jungen — die Jungen sind es wert.«
»Ich helf' dir. Dir und den Jungen und keinem anderen. Weißt du, was helfen heißt? Nicht einen Ertrinkenden aus dem Wasser ziehen. Ihm den Arm unter die Brust legen, damit er das Schwimmen lernt. Dann ist es vorbei mit der Ertrinkungsgefahr.«
»Engel — Engel! Als ich ein Knabe war und nicht lernen wollte, wie du wolltest, hab' ich zum Schluß doch immer wieder nach deiner Hand gehascht. Das möcht' ich auch heute. Deine liebe, liebe Hand möcht' ich.«
Sie öffnete die Hand, die immer noch geballt vor ihr auf der Tischplatte lag, und streckte sie flach auf den Tisch.
»Sie war einmal eine liebe Hand. Als dein Vater sie so nannte, Thomas, und sie schön fand. Ja, das war. Jetzt muß sie so hart wie ein Hammer sein, um eines Tages — eines Tages — wieder schön gefunden zu werden.«
Er ergriff die Hand, und sie ballte sich schmerzhaft fest um die seine.
»Erst das erlösende Wort sprechen, Thomas, sonst wäre jede Dankbezeigung ein rührseliger Unsinn.«
»Engel,« rang er mühsam hervor, »soll ich es ihr wie eine Kugel vor den Kopf schleudern?«
Die Klammer ihrer Hand rührte sich nicht. Und er fühlte, daß sie die Wahrheit gesprochen hatte, daß ihre Hände unerbittlich hart geworden waren.
»Du kannst es ihr«, gebot sie, »in zwei Malen sagen. Das erste Wort heißt: Bis hierher und nicht weiter mehr. Und das zweite Wort: Aus! — Du kannst es auch deiner Schwester Juliane sagen.«
Noch einmal rüttelte er an ihrer Hand. Und sie sprach ganz langsam in seine erregten Augen hinein: »Im Namen deines Vaters, Thomas.«
[S. 359]
»Aus!« schrie er auf. Und er drückte sein Gesicht auf ihre Hand, und sie ließ sie ihm.
Ärger hat nicht Jakob mit dem Herrn an der Wasserfurt gerungen, dachte sie, bis der Herr ihn segnen mußte. — —
Es ging nur langsam aufwärts in der Seele Thomas Vanderwelts. Seine Lebenswelt war zu viele Jahre abwegig gewesen, und die Staubschicht zu dick, als daß er sie mit wenigen Atemstößen hätte hinwegblasen können. Sein Geist aber hatte die Schärfe der Dornen und Disteln, unter denen er sich so lange zu Hause gefühlt hatte, und sah das Unschöne schneller als das Gedeihliche. So tat er oft mißtrauisch die Schritte wieder zurück, die er eben erst vorwärts getan hatte, und glaubte, ein heimlich Grinsen zu gewahren, wo ihm ein ermunterndes Lächeln entgegengetreten war.
An einem Vorfrühlingsabend begegnete er Magdalene Matthes auf der Haustreppe. Sie wollte mit freundlichem Gruß an ihm vorüber, aber er verstellte ihr den Weg.
»Weshalb haben Sie Ihren Besuch nicht wiederholt? Weshalb weichen Sie mir aus? Fürchten Sie sich vor mir?«
»Ha,« sagte sie fröhlich, »ich wollt', ich könnt' es, mich vor Ihnen fürchten. Dann erkennte ich doch Ihre Überlegenheit an. Aber ich will gern wiederkommen, wenn Sie mir versprechen, mich gruseln zu machen.«
»Liebes Fräulein Magdalene, wollen wir wie ernste Menschen miteinander reden?«
»Gern, Herr Vanderwelt, und damit Sie sehen, wie hoch ich Männer achte, die ernste Gespräche führen wollen, bitte ich Sie in mein Zimmer. Treten Sie ruhig ein. Ich befinde mich unter Ihrem Schutz.«
Er tat, wie sie es wünschte. Er trat ruhig ein und setzte sich an den kleinen Fenstertisch. Dort stand ihr weißes Bett und dort ihr Kleiderschrank, und er wartete geduldig, bis[S. 360] sie Jacke und Hut abgestreift und in den Schrank gehängt hatte.
Sie saß ihm gegenüber und sah ihn ohne Verlegenheit an. Wie einen guten Gast, der zu Besuch gekommen ist.
»Sie sind ein junges Mädchen von einundzwanzig Jahren, Fräulein Magdalene. Sie brauchen sich nicht zu wundern, daß ich es weiß. Sie waren zwanzig, als wir ins Haus zogen, und das ist bald ein Jahr. In meinem Gedächtnis haben Nebensächlichkeiten leider immer die größte Rolle gespielt.«
»Ja,« antwortete sie, »ich bin mündig geworden.«
»Und ich, Fräulein Magdalene, zähle vierunddreißig Jahre und kann das letztere immer noch nicht von mir behaupten.«
»Sie können es nachholen, wann Sie wollen, Herr Vanderwelt.«
»Ich bin nur bei Ihnen eingetreten, um Ihnen zu sagen, daß ich will. Nur finde ich das Wollen leichter als das Vollbringen, und ich schäme mich nicht, mich mit Ihnen über das Wie und Wo zu unterhalten.«
»Ich verstehe Sie ganz gut, Herr Vanderwelt. Weil ich aus dem Geschäftsleben komme, meinen Sie.«
»Ja, weil Sie mitten im Geschäftsleben stehen. Weil Sie bei all Ihrer Lebenslustigkeit helle und ernste Augen haben, und weil mir mit den billigen Redensarten vom ›Steineklopfengehen‹ und ›Sandkarren‹ nicht gedient ist.«
»Ich freue mich ganz — ganz unbändig über Ihren Besuch, Herr Vanderwelt.«
»Ich werde mich ebenso unbändig mit Ihnen freuen, wenn etwas Nennenswertes dabei herausgekommen ist.«
»Darf ich sprechen?« fragte sie.
»Nur um Sie zu hören, sitze ich hier in Ihrem Stübchen.«
»Herr Vanderwelt, nicht ungeduldig werden, wenn nicht[S. 361] alles über Hals und Kopf geht. Und auch nicht grimmig werden, wenn ich die Dinge beim rechten Namen nenne. Sie haben gelassen zugesehen, wie man Ihnen ein Ruder nach dem anderen aus der Hand nahm, und ebenso gelassen zugesehen, wie der Kahn von dannen schwamm und versackte. Nun heißt es, ihn mit Geduld wieder heben und flott machen.«
»Geduld. Ich bin vierunddreißig Jahre und habe die Sorge für zwei Knaben.«
»Das ist schön, daß Sie sie beide nennen. Aber das gehört jetzt nicht hierher. Erst müssen Sie den Kahn heben, und dann können Sie die Sitzplätze verteilen. Nun wollen wir einmal überlegen, Herr Vanderwelt.«
Den Kopf in die Hände gestützt, blickte sie zum Fenster hinaus und die Gasse entlang zum dämmerigen Hafendamm.
»Überlegen wir nicht schon seit einer halben Stunde?« murmelte der Besucher.
Sie überhörte seine Ungeduld. Sie sann hinaus, als müßten aus dem Nebel des Stroms die Bilder steigen. Und die Bilder stiegen wie Schatten auf, und sie mühte ihr Hirn, den Schatten schärfere Umrisse zu geben, und die Furche, die sich ihr in die Stirn grub, gab ihrer Mädchenhaftigkeit das Gesicht einer reifen Frau.
Er saß mit zusammengelegten Händen und sah sie an. Und es wurde heller und heller in seinen Gedanken, und mit Staunen wurde er gewahr, daß seine Gedanken dieselben Wege gingen wie die ihren, seit sie das Gleichnis vom Kahn gebraucht hatte.
»Sie meinen den Rhein?« fragte er leise.
Sie nickte. »Ich meine den Rhein. Ich meine ihn zu Berg und zu Tal, von Mannheim bis Rotterdam, und so Gott will, darüber hinaus. Und ich meine Ruhrort als den Hafen.[S. 362] Und wenn man nicht die Möglichkeit hat, Kähne zu befrachten, so kann man — so kann man sie steuern. Wenn man Kähne hat.«
»Ich habe Kähne,« sagte er. »Ich habe zwei. Der Wilm hat sie geheuert.«
»Wir wollen den Wilm nicht vom Brote jagen. Frau Engel hält ihn hoch in Ehren. Aber mir ist immer — ist immer, als kämen von diesen Kähnen Taue herüber an Land, an denen man an Bord klettern könnte. Und einmal an Bord, geht man mit auf Fahrt und lernt das Handwerksgeschäft und das Errechnen von Gewinn und Verlust und das Wiedereinholen jedes Verlustes durch gewinnbringende Ausnutzung der Rückfrachten. Nein, durch Ausnutzung der eigenen Persönlichkeit. Dahin, daß man in persönlichen Verkehr zu den Kunden an allen Plätzen tritt. Dahin, daß man sich die Kunden zu persönlichen Freunden gewinnt. Und aus dem ›Partikülier‹ wird der Verlader.«
»Ha,« rief er, »und aus dem Verlader wird der König von Ruhrort! Das ist die Geschichte von der Eierfrau, die auf die Nase fiel.«
»Lassen Sie sie doch ruhig auf die Nase fallen,« erwiderte sie und behielt die nachdenkliche Furche bei. »Wie ich die Eierfrauen kenne, sind sie zäh wie die Katzen, und aus dem nächsten Korb Eier blökt schon wieder das Kalb heraus. Es wird sich sicherlich nicht alles wie an der Schnur abspielen, aber ein Herr Thomas Vanderwelt wird sich ja auch nicht von einer Eierfrau in den Schatten stellen lassen, und wem das Goldene-Pläne-Machen Freudenstunden bereitet, der muß auch die Nackenschläge in den Kauf nehmen können.«
In seinen Augen wurde es heiter. Aber es war nicht die Heiterkeit der Überlegenheit, sondern die währende Freude[S. 363] an der Stunde, von der ihr Mädchenmund gesprochen hatte.
»Es sitzt sich gut bei Ihnen,« sagte er und rückte näher an den Tisch. »Irgend etwas springt von Ihnen zu mir herüber. Was, weiß ich noch nicht, aber ich glaube, es ist Ihr unbekümmerter Jugendmut.«
»Finden Sie nicht, Herr Vanderwelt, daß ›Wir mit den leeren Taschen‹ die glücklichsten Menschen von der Welt sind? Wir dürfen alles das planen, was die anderen schon besitzen, und dürfen es viel schöner noch planen, und wenn nachher nur ein Bruchteil davon in Erfüllung geht, so bleibt es immer ein Gewinn und ein gewaltig schöner Glücksfall.«
»Ja, ja,« murmelte er, »es hat seine Reize. Nur darf man den Glücksfall nicht dem Zufall überlassen.«
Sie streckte ihm aus einem lebhaften Drange heraus über den Tisch die Hand entgegen, und er nahm sie.
»Das ist es, Herr Vanderwelt. Dem Wort sind Sie auf die Spur gekommen, und es bringt uns einen Sprung weiter. Von morgens früh bis abends spät am Steuer stehen, jeden Wind ausnutzen, jede steigende Wasserwelle. Und wäre es auch nur, um sich sagen zu können: ›Ich tat meinen Teil‹, und damit die anderen sich sagen können: ›Auf den ist Verlaß!‹«
»Ich möchte morgen früh beginnen, Fräulein Magdalene.«
Sie schüttelte seine Hand hin und her, als sollte er noch mehr erwachen.
»Sie haben ja schon begonnen. Sie haben ja heute abend schon begonnen. Und morgen früh ist Fortsetzung, und jeden Tag einen Schritt weiter. Ach, Herr Vanderwelt, was für eine Freude werden wir von unserer heimlichen Verschwörung haben.«
[S. 364]
»Wir? Wollen Sie denn auch weiter mittun?«
»Natürlich will ich weiter mittun. Sie sind ja seit Jahr und Tag aus dem Ruhrorter Geschäfts- und Hafenbetrieb heraus. Glauben Sie, der hätte stillgestanden, seitdem Sie auf die Seite traten? Da kennen Sie die Geschäftsgewaltigen von Duisburg-Ruhrort und was dazu gehört schlecht. Ich bin nur eine kleine graue Maus in dem Riesenbetrieb, aber gerade die Mäuse haben die feinsten Ohren, und es heißt nicht umsonst bei wichtigen Anlässen: ›Könnt' ich da nur Mäuschen sein!‹«
»Mädel, Mädel, wo nehmen Sie nur den verteufelten Wagemut her?«
»Ich könnte sagen, Herr Vanderwelt: aus meinen leeren Taschen. Aber das träfe den Nagel nur halb. Den besseren Teil nehme ich aus meiner Liebe — zu —«
»Zu —?«
»Zu Frau Engel, Herr Vanderwelt. Zu der Frau, die nur das hohe Ziel kennt und sich darum nie erniedrigt. Und wenn sie Wäsche spülen müßte. Solch ein Vorbild sollten Sie sich auch wählen.«
Er schwieg. Und nach einer Weile sagte er ruhig: »Ich möchte selbst eins werden. Das scheint mir jetzt notwendiger.«
Sie waren aufgestanden, und die Worte fehlten zwischen ihnen. Er griff nach dem Hut.
»Von morgen an gehe ich in den Hafen. Aber mit offenen Augen. Was ich an Ballast führe, geht über Bord.«
»Von morgen an«, sagte Magdalene Matthes, »werde ich mit Ihren Augen ins Geschäft gehen. Aber ich werde meine Kündigung einreichen müssen, um vor mir selber nicht als Ausspäherin gelten zu müssen.«
»Ich verpflichte Sie hiermit als meine Buchhalterin, als meine Schriftführerin, als die Gesamtheit meiner Mannschaft. Bis Ihre Kündigungsfrist abgelaufen ist,[S. 365] muß an meiner Seite Platz für Ihre Tätigkeit sein. Glückauf, Fräulein Matthes.«
»Glückauf, Herr Vanderwelt,« antwortete sie zukunftsfroh und drückte ihm herzhaft die Hand. —
Angela Freydag sah ihn am nächsten Morgen das Haus verlassen und mit gleichmäßigen Schritten dem Hafen zugehen. Und sie sah Magdalene Matthes das Haus verlassen, und ihre Augen begegneten sich.
»Keine Sorge,« sprachen die Augen des Mädchens, »ich bin mit am Werk.«
»Halt aus, Mädchen,« sprachen die Augen der Frau. »Aushalten ist Frauensache.«
Von diesem Morgen an kam eine Abgeklärtheit über Angela Freydag, die sie nicht mehr verlassen sollte. Wie bisher sorgte sie für Haus und Wirtschaft, aber zuweilen war ihr, als sei sie nur noch als Gast geladen, dessen Besuchszeit in absehbaren Tagen abliefe, und sie übe ihre Tätigkeit nur als eine Gegenleistung der Gastfreundschaft.
Kamen diese Gefühle zu ihr, und sie kamen immer öfter und heiterer, so gab sie sich ihnen nicht träumerisch hin, sondern nahm sie als Ansporn, das, was ihr in diesem Hause noch zu tun übrigblieb, mit geschärfteren Sinnen zu durchdenken und den Hebel ihrer Persönlichkeit mit gesteigertem Nachdruck einzusetzen.
Häufiger als in früheren Tagen pflegte sie die gemeinsame Kammer der Knaben aufzusuchen, denn die Klingel in der Wirtsstube schlug am Nachmittage kaum an, und die Versorgung des bettlägerigen Matthes hatte sich die wiedererstandene Frau als ihr ureigenes Recht ausbedungen, das die einst so Demütige mit giftigen Worten verteidigen konnte.
»Ich hab' mit dem Mann noch meine Abrechnung. Geschenkt wird ihm nix.«
[S. 366]
Angela Freydag hörte darüber hinweg. Was ging sie die Abrechnung der Alten an? Sie hatte mit den Jungen zu tun. Und die Jüngsten der Jungen waren die beiden Knaben, waren Martin und Nikolaus, die vor fast einem Jahre das Gedicht an den Großvater, an Kornelius Vanderwelt geschrieben hatten und ihren jungen Geist in die Höhe steigen ließen.
Zu Ostern, in wenigen Wochen, würden sie die Obertertiaklasse erobert haben. Ein Jahr zu früh für den regelmäßigen Arbeitsgang und doch für ihre begeisterungsfähigen Seelen nicht früh genug.
In Angela Freydags Augen waren sie beide mutterlos. Selten oder nie hatte sie Frau Juliane oder Frau Antonie in der Kammer der Knaben angetroffen, es sei denn, daß eine der Frauen mit wichtigem Auftrag die Knaben aus der Arbeit aufschreckte und mit einem Brieflein durch die halbe Stadt entsandte. Thomas Vanderwelt aber war nun dabei, sich draußen im Hafen sein Floß zu zimmern, um den freien Rhein zu gewinnen. Da blieb die Sorge um die Knaben Angela Freydag, und es war ihre liebste Sorge.
»Was treibt ihr?« fragte sie, wenn sie beim Eintritt in die Kammer mit Jubelgeheul bewillkommnet wurde.
»Setz' dich einmal nieder, Tante Engel. Hierher an den Tisch. Nikolaus, wirf die Scharteken vom Stuhl. Sitzest du gut, Tante Engel? Das Publikum muß in eine freundliche Gemütsverfassung gebracht werden.«
»Narren ihr! Sammelt die Schulbücher vom Boden auf und zeigt mir eure Hausaufgaben.«
»Muß das sein, Tante Engel? Hat's nicht Zeit? Inzwischen verpufft die ganze Begeisterung.«
»Recht so, Jungens. Da habt ihr die Probe aufs Beispiel, und die haltet mir fest. Was verpufft, ist nicht echt[S. 367] und nicht lebensfähig. Das schillert nur in allen Regenbogenfarben und zerplatzt.«
»Baus!« machten die Jungen und suchten ihre Bücher zusammen.
»Das Aufgabenheft brauche ich nicht,« sagte Angela Freydag und schob es zurück. »Zwischen uns herrscht Vertrauen. Ich belüg' euch ja auch nicht. Außerdem predigt euch euer heller Verstand, daß der Wissende der Herr ist und der Unwissende der Knecht. So, das wäre die Mathematik. Verstehe ich nicht, aber die Zeichnungen sind sauber. Und das wäre das Latein. Verstehe ich auch nicht, aber es sind zwei Seiten voll und wird wohl genügen. Und das — das ist Griechisch, und ich verstehe es noch viel weniger. Wollt ihr euch lustig machen, ihr Sonntagsreiter?«
»Sonntagsreiter hat sie gesagt, Martin! Sonntagsreiter! In der Woche braucht man den Klepper nicht, und Sonntags hoppelt man darauf herum. Tante Engel, du hättest nur unsere Reihenfolge bestehen lassen sollen.«
»Wißt ihr es denn nicht mehr aus eurer Kinderzeit? Erst mußtet ihr den Lebertran schlucken, dann kam die Backpflaume als Belohnung. Schmäht mir den Lebertran nicht. Er fördert den Knochenbau. Wie das Lateinische und Griechische Verstand und Geist. Die Kunst aber ist die große goldene Feierabendsonne.«
»Gilt sie nur für den Feierabend?« fragten die Knaben enttäuscht.
»Ihr habt mich mißverstanden, ihr lieben, heißen Jünger. Am Abend geht sie auf und gibt die Kraft für die Nacht und den ganzen neuen Tag. Damit der Mensch den Werktag durchhält und mit jeder Arbeit, die er hinter sich bringt, der Freude näher kommt. Sonst müßte er ja glauben, die Sonne am Himmel schiene nur für die Müßiggänger.«
[S. 368]
»Schreib's auf, Nikolaus, für die nächste Nummer.«
»Es kann noch in diese, Martin. Wir machen den Leitspruch daraus. Los. Ein jeder für sich.«
Der eine saß am Fensterbrett, der andere am Bettpfosten und strichelte Buchstaben aufs Papier. Jetzt lief der eine zum anderen, und sie verglichen die Blätter. Aus Rand und Band geraten, schlugen sie sich auf die Schultern, hin und her. Die Prägung der Worte war fast die gleiche geworden und bedurfte nur geringer Feilung.
»Erfahre ich nun bald,« fragte Angela Freydag, »was für Narrheiten ihr treibt?«
»Tante Engel, du mußt unser Mitarbeiter werden. Wir verpflichten dich feierlich. Eigentlich wollten wir es ja ganz alleine machen, aber was wir nur unter Hochdruck zutage fördern, das sagst du so ganz selbstverständlich daher.«
»Ist es wahr, Tante Engel, daß es ›geborene Künstler‹ gibt? Die ganz und gar Kunst sind?«
»Ja, ihr Jungen. Es gibt Menschen, die aus ihrem bloßen Leben das größte Kunstwerk gestalten. Sie sind noch seltener als die namhaften Künstler, und Kornelius Vanderwelt, euer Großvater, war einer von ihnen.«
Die Knaben kamen ihr näher. Ihre Augen leuchteten, als sie von ihrem Vorfahren vernahmen, der ein so großer Künstler gewesen war. Es wurde ihnen zumut, als ginge ein Schein von seinem stolzen Haupte auf ihre Jugendlocken über.
»Tante Engel, du bist doch auch eine berühmte Künstlerin gewesen. Auf dem Konzertflügel.«
»Ihr wollt mich wohl nicht ganz leer ausgehen lassen, wenn ihr an den Großvater denkt?«
»Der Großvater und du, Tante Engel, das ist doch derselbe Begriff. Seit wir denken können, haben wir euch[S. 369] immer zusammen gesehen, und der Martin, als er noch ganz klein war, hat mich einmal gefragt, ob du der Großvater seiest oder der große Mann da.«
»Tante Engel, es war der Nikolaus. Er wollte dich damals heiraten, aber er wußte nicht, ob das anginge, da du doch der Großvater seiest.«
»Weil du die Piep rauchtest, Tante Engel.«
Angela Freydag saß zwischen Kornelius Vanderwelts Enkeln und ließ sich die Jugendwogen warm und wohlig zu Herzen gehen. Ihre Hände griffen in die blonden Schöpfe, ihre Augen lachten in die Knabenaugen.
»Muß ich nun zum dritten Male fragen, was es mit euren Heimlichkeiten auf sich hat? Ich muß doch wissen, ob ich an einer Sprengbombe mitarbeiten soll oder an Apollos Sonnenwagen.«
Die Knaben blickten sich an. Dann sprangen sie gemeinsam an den Tischschubkasten und suchten einen Stoß geschriebener Blätter hervor. »Mit der ersten großen Einnahme wird eine Schreibmaschine gekauft. Natürlich eine ›gebrauchte‹,« erklärten sie beruhigend.
Angela Freydag nahm die Blätter entgegen. Ihr wurde froh und sogar ein wenig feierlich zumute, als sie auf die beschriebenen Seiten blickte. »Aus Sehnen und Leben« benannte sich die handschriftliche Zeitung, die sie in den Händen hielt. Ob nicht der junge Kornelius Vanderwelt, bevor ihn das Sehnen nach dem Leben auf die Weltmeere getrieben hatte, auch eine solche Schülerzeitung gedichtet und geschrieben haben mochte?
Die erste Seite in zwei Spalten geteilt. Auf jeder ein Gedicht, beide in genau der gleichen Verszahl. Links Martins, rechts Nikolaus' Name.
»Tante Engel, das war ein Spaß. Dort saßen wir, wo wir eben saßen. Der eine am Fensterbrett, der andere auf[S. 370] der Bettkante. Eins — zwei — drei — und los! Da schwirrten die Saiten. Der Martin war mit seinem Gedicht zuerst zu Rande gekommen, dafür hatte es bei näherem Zuschauen eine Strophe weniger als das meine, und er mußte eine Strophe hinzudichten, damit auf der ersten Seite das schöne Gleichmaß bewahrt blieb. Wieder 'ran an den Feind, und auf die Sekunde wurde er mit mir fertig. Wie haben wir gelacht, Tante Engel!«
Und Angela Freydag dachte: Da sitzen sie in einem elenden Bauwerk, den Himmel über sich und unter sich eine Schifferkneipe, und das Blut bricht doch durch und schlägt vor lauter Freude Purzelbäume von einem Stern zum anderen.
»Umblättern, Tante Engel,« drängten die jungen Dichter. Sie wollten das Staunen genießen.
Ein Märchen folgte vom Rhein. Eine Erzählung aus dem Hafen. Gleichnisse zwischen Schule und Freiheit, in denen die Freiheit triumphierte. Ein Sportbericht wie ein schottisch Tuch, so bunt überwürfelt mit Fachausdrücken. Eine Spalte voll rheinischen Humors. Und dann der Briefkasten. Der Briefkasten, in dem unzähligen Anfragern immer wieder aufs neue versichert werden mußte, daß die Nummer wirklich nur fünfzig Pfennig koste, obschon noch keine Nummer erschienen und noch kein Anfrager möglich war.
Die Kaufmannsader der Vanderwelts, dachte Angela Freydag. Sie hält auf ihren Preis.
Unter den größeren Arbeiten prangten die Namen der Verfasser, die geringeren waren mit ›Bischof‹ und ›Ruprecht‹ gezeichnet. Angela Freydag wies mit dem Finger darauf. »Was bedeutet das?«
»Verstecknamen, Tante Engel. ›Bischof‹ bedeutet Martin, denn der heilige Martin war ein Bischof, und ›Ruprecht‹[S. 371] bedeutet Nikolaus, denn der liebe, liebe Nikolaus läuft auch als Knecht Ruprecht durch den Wald. Wärst du darauf gekommen? Ehrlich, Tante Engel.«
»Es sind prachtvolle Verstecknamen,« gestand sie, zog ihre Geldtasche und blickte hinein. »Wie oft erscheint die Zeitung?«
»Monatlich,« sagten die Jungen atemlos.
»Bin ich euer erster Besteller?«
»Ja! — Willst du bestellen?«
»Ich bestelle hiermit die Monatsschrift ›Aus Sehnen und Leben‹ auf ein Jahr. Macht, soweit ich richtig rechnen kann, sechs Mark. Und da ich euch nicht eines Tages mit dem Gelde auf und davon gehen möchte, so erlege ich es in bar. Nehmt hin. Auf jeden Dichter kommt ein Taler.«
»Tante Engel! Tante Engel!« schrien die Jungen, vom Glück wie benommen. Und warfen sich ihr an den Hals, saßen auf ihren Knien, wiegten sich an ihrer Brust.
»Wollen wir es ihr sagen, Nikolaus?« flüsterte der Martin.
»Alles, alles, und wenn wir damit hineinfallen.«
»Tante Engel — also — du bist doch unsere Vertraute — die Gedichte von der ersten Seite, die haben wir an eine Berliner Zeitschrift geschickt.« Und lagen wieder still an ihrer Brust und ließen sich wiegen. — —
Es war eine Woche später, als Angela Freydag die beiden Himmelsstürmer unter strömenden Tränen fand. Sie taten keinen Klagelaut, aber die Tränen bahnten sich auch lautlos ihren Weg, rollten über die Wangen und zogen in den Schulheften trübselige Furchen.
»Ihr seid mir ja ein paar nette Sonnenanbeter,« tadelte sie die Zerschmetterten. »Wie wollt ihr denn euere Leser an die Sonne in eueren Gedichten glauben machen, wenn[S. 372] ihr selber das graue Elend habt? Oder hat Berlin euch die Gedichte zurückgeschickt? Mein Zartgefühl hätte das zuerst fragen sollen.«
»Berlin — Berlin — hat sie angenommen.« Und die Jungen lächelten unter Tränen.
»Martin! Nikolaus! Wollt ihr wohl gefälligst die Schlappheit unterdrücken? Seit wann steht ihr nicht mehr auf, wenn ich mit euch spreche? Das Glück fällt euch in den Schoß, und ihr wollt euch hier in Weltschmerz gefallen?«
Die Jungen waren aufgesprungen, purpurne Scham auf den Wangen.
»Entschuldige, Tante Engel. Entschuldige vielmals. Es soll nicht wieder vorkommen.«
»Und weshalb ist es vorgekommen? Darf ich das als euere vertraute Mitarbeiterin vielleicht erfahren?«
Die Jungen blickten scheu in die Zimmerecken. Ihr Knabentum vermochte den Helden noch nicht zu spielen. Und der Blick wagte sich zu der gebietenden Frau empor, die für sie nur die Güte gewesen war, und als sie das Verständnis bemerkten, das sie ihrem Schmerze entgegenbrachte, sprangen sie ihr an den Hals.
»Tante Engel, nicht wahr, das glaubst du nicht von uns, daß es Geldgier wäre? Aber es war doch das erste, selbstverdiente Geld, und wir wollten doch die gebrauchte Schreibmaschine dafür kaufen. Das ist nun für ewige Zeiten aus und vorbei, und mit dem Bestellgeld für die Zeitung können wir es nicht machen, weil wir auch das eingehende Bestellgeld abliefern müssen.«
»An wen?«
»An die Mutter. An Tante Juliane.«
»Also an Frau Juliane. Ist das richtig? Und was hattet ihr von Berlin eingenommen?«
[S. 373]
»Denke dir, Tante Engel! Denk' dir doch nur! Zwanzig Mark für jedes Gedicht! Zwanzig Mark, und zusammen vierzig.«
»Hei,« sagte sie, »das ist ein feiner Anfang, und ich muß euch beglückwünschen. Der Rückschlag schadet nicht. Manche werden überheblich, bevor sie erprobt haben, ob es Glück oder Verdienst war. Manche denken, sie brauchten in Zukunft nur irgend etwas auf Papier zu schreiben, was sich reimt, und es hätte Geldeswert. Der Künstler muß durch das Leid hindurch wie der Titan durch die Schicksalswelt, um seinen Adel zu spüren, aber so weit seid ihr gottlob noch lange nicht, und ihr dürft noch um den verlorenen Groschen weinen.«
Sie sagte die Worte vor den Ohren der Knaben, leicht und launig und schmerzstillend. Aber in ihrem Innern zog sich drohend eine Wolke zusammen.
»Hüt' dich, Habgier und Eigennutz, die helleuchtenden Kerzen auf dem Kindesaltar auszulöschen.«
Sie ging in das Zimmer, in dem die beiden Frauen beieinander saßen. Kopf neben Kopf an das Fenster gepreßt, mit den Händen Grüße winkend. Sie fuhren herum, als sie Angela Freydags Schritte vernahmen, wie auf böser Tat ertappt.
»Was verschafft uns die Ehre?« fragte Juliane. »Gilt Ihr Besuch mir oder meiner Schwägerin?«
»Er dürfte Ihnen beiden gelten. Aber da Herr Thomas Vanderwelt berufen genug erscheint, die Angelegenheiten mit seiner Frau selbst zu ordnen —« Frau Antonie erhob sich und verließ ohne aufzublicken das Zimmer — »so ist es mir recht, mit Ihnen allein zu reden. Ich habe mit einer besonderen Art von Genugtuung bemerkt, daß Sie begonnen haben, der starken Begabung der beiden Knaben Ihre Anteilnahme zuzuwenden. Diese Anteilnahme äußerte[S. 374] sich vor allem darin, den Knaben ihre Einnahmen wieder abzunehmen.«
»Vierzig Mark! Was sagen Sie dazu? Vierzig Mark für zwei Gedichte.«
»Das Geld ist Nebensache. Die Freude am Erfolg, der sich in dem Gelde wie in einem Wertmesser auswirkt, ist die Hauptsache. Ich bitte Sie, das zu bedenken und die Freudenquellen nicht zu verstopfen.«
»O nein! O nein! Wie sollte ich? Halten Sie mich für eine solche Törin? Das Geld kam mir geradewegs vom Himmel gesandt, denn ich brauchte ein Frühlingskleid wie das liebe Brot und konnte doch nur mit einer Anzahlung aufwarten. Eine Frage noch. Es wäre mir lieb, sie von fachmännischer Seite beantwortet zu hören, und Sie gehörten doch auch einmal der Kunst an. Können sich die Einnahmen der Jungen steigern lassen? Ich meine, können diese Nebeneinnahmen, wenn die Jungen erwachsen und zu einem Hauptberuf übergegangen sind, große Summen erreichen? Ich für meinen Teil werde ja doch meine Unterhaltungspflicht eines Tages allein auf meinen Sohn übertragen müssen und, wenn nicht alle Zeichen trügen, meine verehrte Schwägerin auf den ihren. Da möchte man jede Möglichkeit, die Lebenshaltung zu verbessern, ausnutzen und die Jungen beizeiten an die Trense nehmen. Wie denken Sie als Fachmännin darüber?«
»Fühlen Sie nicht, Frau Juliane, wie Sie sich mit jedem Worte an dem heiligen Geist Ihres Jungen versündigen? Und an dem des Neffen dazu? Sind Sie so bar jedes Mutter-, Frauen- und Familiengefühls, daß Sie die Begabung der Jungen, ganz gleich, ob sie auf kaufmännischem oder künstlerischem Gebiet zum Ausdruck kommen sollte, nur an die Leine nehmen möchten, um Ihren Wagen ziehen zu lassen? Nein, es hat keinen Zweck, mit Ihnen[S. 375] darüber zu reden. An Ihrer Selbstsucht prallt jeder Versuch einer Einwirkung ab. Seit Mädchenzeiten, Frau Juliane. Aber daß Sie eine schwere Gefahr für die Enkel Kornelius Vanderwelts bedeuten, das ist mir erst heute offenbar geworden.«
»Sie gestatten, daß ich mich aus dem Gespräch zurückziehe.«
»Nur aus dem Gespräch?« fragte Angela Freydag und schritt an ihr vorüber. »Das scheint mir etwas zuwenig.«
Den ganzen Tag durchwanderte sie das Haus und wurde ihren vielen Pflichten gerecht, und doch sah sie vor ihren Augen nichts als das Bild der beiden Knaben, der flügelschlagenden, sonnendurstenden, und alles Flügelschlagen brachte sie nicht höher hinauf, weil sie eine Eisenkugel am Beine schleppten, und kein Sonnendurst wurde ihnen gestillt, weil sie den unersättlichen Erdendurst anderer zu stillen hatten und darüber verkamen.
Wie eine Wölfin durchwanderte Angela Freydag das Haus, und ihre Blicke sonderten das Kranke von dem Gesunden.
Es waren noch andere Kranke im Hause als die durch die Sumpfniederungen gleitenden Frauen Juliane und Antonie. Aber Angela Freydag brauchte sie nicht zu sondern, denn sie hatten sich allein schon abgesondert, wie Tiere tun, die ihre letzten ohnmächtigen Zuckungen den Blicken des Tages entziehen. Der alte Matthes lag hilflos auf seinem Schmerzenslager, und die alte Frau hielt die Kammertür verschlossen und ließ keinen zu ihm.
»Einen Schnaps, Alte! Einen großen Schnaps, um über die höllischen Schmerzen wegzukommen.«
»Du brauchst keinen Schnaps. Hättst du im Leben weniger getrunken, hättst du jetzt die Schmerzen nich[S. 376] auszuhalten. Damals mußt' ich sie aushalten. Dat is die Strafe.«
»Willst du kuschen? Hol' den Schnaps her! Oder ich komm' dir an die Naht!«
»Du? Ogottogott. Bekuck' dich doch mal im Spiegel un freu dich, dat ich dir nix tu.«
»O du niederträchtig Geschöpf. Un so wat hat man mehr als vierzig Jahr neben sich geduldet.«
»So is richtig. Vierzig Jahr hab' ich nich mucksen dürfen, un jetz hältst du et Maul un schläfst.«
Nicht Hand noch Fuß konnte der Matthes rühren und nur ohnmächtig mit den Zähnen knirschen. Ob er wachte oder schlief, sie war da und das Grinsen, das ihre Teilnahme ausdrücken sollte. Klapprig und ledergelb schlurfte sie in der Kammer umher und versorgte ihn mit Speise und Trank.
»Die Magdalene soll kommen.«
»Weshalb soll die Magdalene kommen? Die Magdalene hat Besseres zu tun, als solch 'nen alten Kerl zu bekucken.«
»Die Magdalene soll kommen! Ich will meine Enkelin Magdalene an meinem Bett wissen un nich dich Hexe du!«
»Du hast ja nich mal deine leibliche Tochter in deinem Haus wissen wollen. Da hat auch die Tochter von der Tochter nix an deinem Bett zu suchen.«
»Zwanzig Mark — hörst du? — zwanzig Mark an die Armen, könnt' ich jetzt an dich.«
»Betrag dich anständig, dat et en Christenmensch neben dir aushalten kann.«
Zuweilen kam der Arzt, verschrieb ein paar Pulver oder Tropfen und lobte vor des Matthes Ohren umständlich die treue Pflegerin, die selber sterbensmatt sei und dennoch nicht wiche und wanke in der Sorge um den Gatten.
»Ein Engel des Herrn, Matthes. Ein Engel des Herrn.«
[S. 377]
Er war gegangen, und nach kurzer Weile reichte Magdalene Matthes die neu verschriebene Arznei durch den Türspalt in die Kammer. Der Kranke verfluchte den Apothekerkram und befahl einen Grog.
»Is et nich einen widerwärtigen Menschen?« fragte die alte Frau, bevor die Tür sich schloß.
»O du Satan!« schrie der Matthes und mühte sich, sich auf den Ellbogen aufzurichten. »Tat ich nicht recht, dat ich dich zeitlebens unterm Daumen hielt, du Satan? Dat Leben hättst du mir zur Hölle gemacht, wenn et nach dir gegangen wär, o du — Engel des Herrn!«
Die Alte zählte die Arzneitropfen in den Löffel und gab sie dem Gatten zu schlucken.
Immer schneller schwand der Matthes dahin. Der Arzt erwartete nur noch den Eintritt der letzten Lungenentzündung. Und die Alte saß an seinem Lager, strich ihm die Kissen glatt, reichte ihm zu trinken, wischte ihm die Stirn.
Der Matthes hielt sich gut. Er wollte dem Weibe den Triumph nicht gönnen, ihn weinerlich gesehen zu haben. Einmal aber spannten sich seine Mienen, horchten seine Augen und Ohren auf. Die alte Frau hatte ein Lied zu singen begonnen.
Da wußte er, daß seine Zeit gekommen war, nahm nicht mehr Arznei noch kühlenden Trank, sondern sah dem Kaperschiff entgegen, das mit dunklen Segeln aus den Nebeln heraus ihn ansteuerte.
[S. 378]
Und das Seltsame geschah. Von der Stunde an, da der ins Wesenlose entgleitende Mann der alten Frau nicht mehr bedurfte, kroch sie auf das Lager neben ihn und war teilnahmlos geworden für Umwelt und Geschehnisse. Sie verweigerte die Nahrung, sie gab auf Fragen keine Antworten mehr, sie sah in der Nacht den Matthes sterben und starb am nächsten Tage hinter ihm drein. Wie eine Frau, die ohne den bewunderten Gatten nicht mehr leben kann noch mag.
Angela Freydag ging zu den Entschlafenen in die Kammer und verweilte lange bei ihnen. Es war kein billiges Mitleid in ihr und keine rührselige Regung über das Zufallspiel des Todes. Aber ihr war, als ob mit dem Dahinschwinden der beiden alten Menschen eine Hemmung mit dahingegangen wäre, und als ob die Rechnung, an der sie seit Tagen und Nächten unablässig rechnete, leichter aufging.
»Hab' Dank für dein Sterben, Matthes.« Und sie nickte der alten Frau nicht anders zu.
Die Wirtschaft blieb an diesem Abend und an den nächsten Tagen geschlossen. Angela Freydag hatte in ihrer Stube den Besuch von Magdalene Matthes erhalten, und es war eine Weile still zwischen ihnen geblieben. Angela Freydag stand am Fenster und ließ die Blicke über die dämmernde Frühlingslandschaft des Stromgebietes schweifen.
»Ich möchte Sie noch bitten, mir eine Frage zu beantworten, Magdalene. Wahrheitsgemäß, wie es unter uns guter Brauch ist. Hat das Mitleid Sie zu Thomas Vanderwelt geführt?«
»Ich glaube, daß es so war, Frau Engel.«
»Mitleid ist ein Trinkgeld, Magdalene. Große Menschen zahlen in großer Münze. Es gibt nichts Ärgeres im Zusammenleben[S. 379] zweier Menschen als den Gedanken, daß der eine vom anderen ein Trinkgeld angenommen habe.«
»Bitte, sprechen Sie weiter.«
»Ich habe nichts weiter mehr zu sagen, Magdalene. Eher einen Trunk aus einem gemeinsamen Glase als Trinkgelder.«
»Ich antwortete Ihnen, als Sie fragten, Frau Engel: ich glaubte, daß es Mitleid gewesen wäre. Seit ich Sie sprechen höre, weiß ich, daß ich es mir nur vorgeredet habe. Aber Sie erlassen es mir gewiß, weiter darüber zu reden, da ich mit mir selber noch nicht darüber gesprochen habe.«
»Dann ist es gut. Wann erwarten Sie Thomas Vanderwelt?«
»Herr Vanderwelt muß jeden Augenblick das Haus betreten. Er wollte noch eine Besprechung mit mir abhalten und die letzten Berechnungen vornehmen. Er läßt nicht mehr locker, der Herr Vanderwelt.«
Thomas Vanderwelt kam die Treppe herauf. Er hörte die Frauen in Angelas Stube sprechen, klopfte an und wurde hereingerufen.
»Ich freue mich, daß du vorwärts wirkst, Thomas. Nimm Platz und laß uns plaudern. An welchem Ende willst du beginnen?«
»Rheinseitig, Engel, rheinseitig. Der Rhein weiß nicht, wer ich bin, und wenn er es zu wissen glaubt, denkt er an einen waschlappigen Kerl, dem man nicht einmal eine Frau anvertrauen könnte, geschweige denn Frachten. Und die Leute am Rhein wissen es auch nicht besser. In ein paar Tagen schwimmen meine Kähne. Der Wilm fährt den einen, ich den andern. Der Vater verlangte ja die Schifferprüfung von mir. Und wenn wir in die Häfen kommen, werde ich die Kundschaft besuchen und zu ihr[S. 380] sprechen: Ich wollte euch nur zeigen, daß wieder ein Vanderwelt das Ruder hält und Verlaß ist.«
»Und wenn du zurückkommst, Thomas?«
»Dann werde ich ein kleines Kontor aufmachen mit zwei Räumen. Wir haben sie schon gemietet, Engel. Wie zwei kleine Kojen sind sie. Die eine Koje für die Mannschaft, die andere für den Kapitän.«
»Ist das die Mannschaft?« fragte Angela und wies auf Magdalene Matthes.
»Das ist sie, Engel. Aber du mußt sie dir unter immer neuen Verkleidungen vorstellen, wie auf einem Seeräuberschiff. Jetzt stellt sie die Wache im Vorzimmer dar, die nichts tut, als die vielen Besucher melden. Jetzt die Geheimschreiberin eines großen Zechenwerkes, die mit ungeheuren Aufträgen eingetroffen ist. Jetzt die Geschäftsbevollmächtigte, die in einem eigenen Zimmer haust, weil im Gewühl des Hauptkontors —«
»Ich bin zufrieden, Thomas. Ein Kaufmann muß Erfindungskraft besitzen wie ein Dichter, oder er ist nur ein Krämer. Wie lange willst du mit deiner Mannschaft in den Kojen hausen?«
Er blickte schnell zu seiner Kameradin hinüber, und da sie so wenig wie er eine Antwort wußte, bekam sie einen roten Kopf vor Erregung.
»Ich hätte einen Plan,« sagte Angela Freydag. »Seit heute habe ich ihn, seitdem es keinen Wirt ›Zu den fünf Erdteilen‹ mehr gibt. Was glaubt ihr großen Rechenkünstler wohl, was dieses alte Eckhaus für einen Wirklichkeitswert besitzt? Nein, nicht das Haus. Der Eckplatz, der das ganze Geviert beherrscht. Die beste Lage des landarmen Ruhrorts. Hafen, Strom und Schifferbörse wenige Schritte vor sich, und von der Stadt lebendig umklammert. Ach, ihr meint, das seien schöne Traumbilder, weil das[S. 381] Baugeld fehlt. Ihr sollt ja auch gar nicht bauen, ihr bescheidenen Anfänger. Eine Baugesellschaft soll bauen, die an die Stelle der ›Fünf Erdteile‹ ein machtvolles Hochhaus erstehen läßt, mit Stockwerken voller Kontore. Und ihr bedingt euch die günstigsten Kontorräume aus. Zu ebener Erde. Damit Jan Maat nicht Treppen erklimmen muß.«
»Wir bedingen uns aus?« fragte Thomas Vanderwelt verwundert. »Es ist doch nicht unser Haus, sondern das deine.«
Ein Hauch lief über Angela Freydags Gesicht. Und sie hatte ihre Gelassenheit wieder.
»Das Haus ist mein, und das Geschäft mit der Baugesellschaft werde ich mir nicht nehmen lassen. Ich bringe das Bauland ein und werde meine Bedingungen stellen. In die Luft hinein können sie nicht bauen. Ich werde für euch meine Bedingungen stellen.«
In den Augen Thomas Vanderwelts funkelte es auf. Das Kaufmannshirn war an der Arbeit. Und in den Augen der Magdalene Matthes wetterleuchtete es. Auch hier war ein Kaufmannshirn an der Arbeit.
»Für euch und für die Jungen,« sagte Angela Freydag und horchte hinaus.
Aber das Horchen ihres Geistes wurde ein Wirklichkeitshorchen. Und sie wandte den Kopf.
»Was hast du, Engel?«
»Ich höre einen Mann durch das Haus gehen.«
»Laß mich nachsehen, Engel.«
»Er tastet sich die Treppe hinauf. Nein, bleib, Thomas. In meinem Hause muß ich selbst nach dem Rechten blicken.«
Sie ging auf den Flur und schloß die Tür hinter sich. Wie eine Erscheinung wuchs die Frau vor dem Fremden auf.
»Wohin wollen Sie?«
Der Fremde tat, als ob er den Anruf der Frau nicht[S. 382] vernommen hätte. Er stieg nur schneller die Stufen zum oberen Stockwerk empor.
»Antworten Sie. Oder soll ich Sie wie einen Einbrecher an der Kehle fassen?«
»Guten Abend,« sagte der Fremde. »Ich besuche hier eine Bekannte.«
»Wie heißt Ihre Bekannte?«
»Hören Sie, um mir meine Geheimnisse abfragen zu lassen, bin ich nicht ins Haus gekommen.«
»Dann bedaure ich, Sie nicht eher aus dem Hause lassen zu können, als die Polizei eingetroffen ist. Sie wird gleich benachrichtigt werden und feststellen, mit was für einer Art Besucher wir es zu tun haben.«
»Bin ich denn hier in ein Tollhaus geraten?« fragte der Fremde ungeduldig. »Dort oben am Fenster sitzt eine Frau und winkt, und hier auf dem Flur steht eine andere, als wollte sie einen niederreißen.«
»Werde ich jetzt bald den Namen erfahren?« beharrte Angela Freydag. »Wer hat Ihnen gewinkt?«
»Wer? Wer? Wie soll ich den Namen wissen? Den dachte ich oben zu erfahren?«
»Und Sie wagen, in ein Haus einzudringen, um Abenteuer zu suchen? Sind Sie bei Sinnen, oder soll ich Sie zur Besinnung zurückführen?«
»Entschuldigung,« sagte der Fremde. »Wenn Sie, wie aus Ihrem Benehmen hervorgeht, die Hauswirtin sind, so scheinen Sie über Ihr eigenes Haus schlecht unterrichtet zu sein. Das ist doch in der ganzen Nachbarschaft bekannt, daß hier oben ein paar Herumtreiberinnen sitzen, und wegen der läuferischen Frauenzimmer wollen Sie mich mit der Polizei in Berührung bringen?«
»Gehen Sie! Laufen Sie! Daß ich meine Gutheit nicht bereue.«
[S. 383]
Wie ein Erlöster sprang der Fremde die Treppe hinunter. Die Haustür schlug ins Schloß.
»Ich habe«, sagte die Stimme der Magdalene Matthes neben Angela Freydag, »Herrn Vanderwelt gebeten, die Säuberung des Treppenhauses Ihnen als der Hausfrau zu überlassen. War das recht, Frau Engel?«
»Es war recht. Wer ein neues Leben beginnen will, Thomas, muß wenigstens ein paar saubere Hände mitbringen.«
Thomas Vanderwelt ging ruhig die Stiegen hinauf zu den Wohnkammern der Familie. Er öffnete die gemeinsame Kammer der Knaben. Sie waren ausgeflogen. Er öffnete das Zimmer seiner Schwester Juliane. Sie war nicht daheim. Und als er das dritte Zimmer öffnete, sah er Frau Antonie im Fensterwinkel stehen, und ihre Augen flackerten in Ungewißheit zu ihm hinüber.
Er nickte ihr zu.
»Jawohl, Antonie.«
Und trat näher, legte die geballte Faust auf den Bettpfostenknauf und sagte nur noch das eine Wort: »Aus!« — —
In dieser Vorfrühlingsnacht lag Angela Freydag schlaflos, und hinter ihrer rastlos arbeitenden Stirn reiften die letzten Entschlüsse.
[S. 384]
Die Karwoche war angebrochen. Schon waren die Morgennebel von der Sonne durchleuchtet, und über den Wasserbahnen hoben sich die flimmernden Streifen wie Vorhänge zu einer anderen Welt. Die ergrünenden Fluren und die erwachenden Geschöpfe staunten in die Wandlungen hinein und schickten Sehnsucht und Erwartung als Kundschafter ins gelobte Land voraus.
Wer hatte es gelobt —? Angela Freydag lächelte am Fensterausblick über ihre eigene Frage und beantwortete sie selbst.
»Die wenigen, die es erreichten. Aber es sind immer die wenigen, die in der Wildnis die Wege roden, und immer die wenigen, die den Weg zum Menschenglück zeigen. Ob er kurz ist oder lang. Es geht um die Erfüllung.«
Und während sie in der Stille des Morgens beobachtete, wie die junge, warme Sonne die Nebel aufsog und der entlasteten Winterlandschaft das aufatmende Frühlingsgesicht verlieh, blieb ihr das Lächeln, und sie sprach mit sich weiter.
»Wenn die wenigen nicht wären, die ihr Leben zu schmücken wüßten, was sollten die vielen tun? Sie würden nur die Karwoche sehen, nur den grauen Weg, und nicht das Ziel, den Auferstehungstag. So aber haben sie die lebendige Hoffnung vor Augen: es kann auch uns glücken wie den Vorläufern.«
Über die Gasse hörte sie Schritte klappern. Sie lehnte[S. 385] sich an das Fensterkreuz und gewahrte Martin und Nikolaus mit den weißen Zeugnisbogen in der Hand auf das Haus zustürmen. Sie rührte sich nicht. Aber ihr Blick nahm das Bild der hoffnungsseligen Jugend auf wie einen Gruß, der ihr zur Pflegschaft und Weitergabe anvertraut wurde.
Die Knabenstiefel polterten auf den Stiegen. Sie machten halt vor Angela Freydags Kammertür.
»Kommt nur herein, ihr Ungeduldigen,« rief ihre Stimme, und die Knaben brachen herein, mit erhitzten Wangen und erwartungsvoll leuchtenden Augen, und streckten ihr stumm die Zeugnisbogen entgegen.
»Versetzt?« fragte Angela Freydag über die raschelnden Papiere hinweg.
»Versetzt?« wiederholten sie, und der Übermut der Sieger schwang in ihren Stimmen mit. »War daran ein Zweifel, Tante Engel? Obertertia. Selbstverständlich. Aber lies nur mal! So lies doch nur!«
Sie tat ihnen die Freude an, bei jeder neuen Note wie in Verwunderung aufzublicken, und dann las sie das Ganze noch einmal in Ruhe und verglich beide Bogen miteinander.
»Hast du nichts bemerkt, Tante Engel? Hast du wirklich nichts bemerkt?« drängten die Ungeduldigen.
»Ich habe bemerkt,« sagte Angela Freydag, und ihre Augen lagen in heimlicher Freude auf den angespannten Zügen des einen und des anderen, »daß man die Bogen vertauschen kann, und sie bleiben bis auf die Namen dieselben, und ich habe bemerkt, daß man auch den Martin und den Nikolaus vertauschen kann, als wäre es nur dieselbe Person in zwei gleichen Teilen, und sie ergäben zusammen immer nur eine einzige Person.«
»Welche Person —?« fragten sie und wußten nicht, wo sie hinauswollte.
[S. 386]
»Eueren Großvater, ihr Jungen — Kornelius Vanderwelt meine ich.«
»Kornelius Vanderwelt« ... wiederholten sie und sahen sich an. Und aus gleichem Antrieb heraus nahmen sie sich in die Arme, rangen miteinander, hoben sich hoch in die Luft.
Mit halbgeschlossenen Augen sah Angela Freydag dem Kräftespiel der Jungen zu. Dann wandte sie den Kopf zur Tür.
»Es klopft. Tritt nur ein, Thomas. Es ist Vanderweltsche Jugend, die hier ihr Wesen vollführt. Der Fink hat wieder Samen.«
Thomas Vanderwelt kam schon vom Hafen her. »Ferien?« fragte er. »Laßt sehen, was sie bringen.«
Die Jungen hatten mit einem Ruck innegehalten. Sie suchten ihre Zeugnisse zusammen und überreichten sie ihm. Wieder begann das erwartungsvolle Spiel ihrer Knabenaugen.
Thomas Vanderwelt war mit den Zeugnissen ans Fenster gegangen. Und Angela Freydag trat hinter ihn, als wolle ihre Hand auf besonders bedeutungsvolle Punkte hinweisen.
»Bemächtige dich der jungen Seelen,« flüsterte sie ihm zu. »Nimm die Leitung in Mannes Hand. Zeig' ihnen deine Freude. Und schaff' ihnen neue. Kinder ergeben sich dem Freudenbringer.«
Thomas Vanderwelt sah auf. Ihre Augen hafteten ineinander.
»Du setztest viel Hoffnungen in mich, Engel.«
»Alle. Sonst ließ' ich dir die beiden nicht.«
Thomas Vanderwelt zog die Oberlippe von den Zähnen. Eine Woge des Stolzes ging durch ihn hindurch. Und Angela Freydag sah nichts, als daß er seinem Vater zu ähneln begann.
»Jungens,« sagte Thomas Vanderwelt über die Schulter[S. 387] hinweg und klopfte auf die Zeugnisbogen, »glaubt ihr, daß diese Kritzeleien hier mit einer Schleppschiffahrt nach Rotterdam bezahlt wären? Es geht ein Haniel-Schleppdampfer um die Mittagszeit, der Kapitän ist mein Freund, und wenn ihr euch sputet —«
Er kam nicht mehr dazu, auszusprechen, was, wenn sie sich sputen würden, Wirklichkeit werden könnte. Er spürte vier Knabenarme um seinen Hals, die ihn zu erdrosseln suchten, und ungekannte warme Lippen auf seinen Augen und auf seinen Wangen. Ein paar Herzschläge lang gab er sich dem Ungestüm der ungewohnten Zärtlichkeiten hin. Dann setzte er sich kräftig zur Wehr.
»Wollt ihr mir den Atem lassen, ihr Räuber und Wegelagerer?«
»Vater! Oheim! Du läßt ihn uns ja nicht! Ganz atemlos sind wir vor lauter Freud'! Von welchem Haniel-Dampfer sprichst du? Wo ist der Liegeplatz? Genügen die Rucksäcke? Ach, Tante Engel, so hilf uns doch!«
Es kam Ordnung in den Wirrwarr. Die Knaben stürmten die Treppe hinauf, um droben ihr Glück zu verkünden. Und Angela Freydag wandte sich langsam zu Thomas Vanderwelt und reichte ihm beide Hände hin.
»Da hast du sie, Thomas. Nicht meine Hände. Die Knaben aus meinen Händen heraus in die deinen. Mach' aus ihnen, was du aus dir selber zu machen gedenkst.«
»Das war dein reichstes Geschenk, Engel,« sagte Thomas Vanderwelt und hielt ihre Hände.
Und nach einer Weile: »Nicht, daß du mir die Knaben anvertraust. Daß du mir vertraust, Engel.«
»Wann trittst du die eigene Fahrt an, Thomas?«
»Übermorgen, Engel. Es ist eine Stückgutfahrt mit Zwischenlandungen in den rheinischen Häfen bis Mannheim. Gerade das Rechte für mich und meine Pläne.«
[S. 388]
»Ich hätte noch einen Wunsch, Thomas. Es ist ja nicht allzuoft, daß ich mit Wünschen hervortrete.«
»So sprich ihn doch nur aus. Du wünschest ja doch nur zu meinen Gunsten.«
»Nimm die Magdalene mit. Sie hat eine Ausspannung verdient, und es steht ihr harte Arbeit bevor.«
»Die Magdalene —?« fragte er unsicher. »Ja, hältst du es denn für angängig?«
»Soeben danktest du mir erst, daß ich dir vertraute, Thomas. Mein Vertrauen ist noch viel größer.«
Er schüttelte hastig den Kopf, als wollte er eine falsche Annahme von sich abweisen.
»Du darfst dein Vertrauen auf mich so weit spannen, wie du nur kannst, Engel. Die Magdalene wäre bei mir so sicher aufgehoben wie in deiner Obhut. Aber du hast nicht bedacht, daß ich die Scheidung eingereicht habe und seit Tagen schon auf einem leeren Gastzimmer hause. Da sollte man den Leuten nicht freiwillig die Mäuler öffnen.«
»Besprich dich mit dem Wilm, Thomas. Sie könnte für beide Kähne die Küche besorgen und zur Nacht in der Kajüte des einen Kahnes wohnen, während du mit dem Wilm die Kajüte des anderen teilst. Keine Menschenseele wird sie kennen.«
Er überlegte. Der Gedanke tat ihm wohl, aber das Weshalb wollte ihm nicht klar werden.
»Weshalb kann sie nicht einen anderen Ausflug machen? Sie hat sich in den letzten Wochen stark überanstrengt, und ich bin innerlich sehr froh darüber, daß sie es für mich getan hat. Aber gerade darum, meine ich — —«
»Was meinst du —?«
»Man bringt eine Frau, die man so ehrlich schätzen gelernt hat, nicht in Ungelegenheiten.«
»Und wenn sie sie gar nicht als Ungelegenheiten empfindet?[S. 389] Sondern im Gegenteil als einen Beweis, daß euere Kameradschaft auf vertrauensfesten Füßen steht?«
»Weshalb drängst du so, Engel? Du bist ja dann ganz allein?«
»Kein Mensch ist allein, der seine Arbeit zu verrichten hat. Du und Magdalene aber, ihr habt euere Arbeit nun einmal aufeinander eingestellt, und es ist nicht nur gut, daß ihr in täglicher Verständigung miteinander bleibt, es wird euch die erste gemeinsame Ausreise ins Arbeitsleben auch für die Zukunft die Quelle des Erinnerungsstromes bedeuten, denn nur in der Kraft der Erinnerungen lebt sich der Mensch vorwärts.«
»Woher weißt du das alles?« fragte Thomas Vanderwelt ehrfürchtig.
»Mein Lehrmeister trug den von dir ererbten Namen, Thomas, er hieß Kornelius Vanderwelt. Und wenn er mich nicht mit auf seine Fahrten genommen hätte, wäre ich der ärmste Mensch unter dem Nachthimmel und bin der reichste Mensch unter der Sonne geworden. Nun weißt du es auch.«
»Engel! Engel! Zuweilen weiß ich nicht, ob ich mehr von dir oder vom Vater ererbt habe.«
»Es ist das gleiche, Thomas. Aber etwas Besseres konntest du mir nicht sagen.« —
Die Jungmannen kamen mit Gepolter die Treppe herunter. Sie trugen in den Rucksäcken Schuhe und Fernglas, Nachtzeug und Waschgegenstände. Und in einem gemeinsamen, schmalen Handkoffer die Sonntagsanzüge und die Hemden. Droben war der Abschied genommen. Jetzt sollte er drunten beginnen.
Angela Freydag packte ihnen den eisernen Mundvorrat für eine Woche in die Rucksäcke und kargte nicht. Sie hieß die Jungen Westen und Hemden öffnen und hängte einem[S. 390] jeden ein flaches Geldtäschchen auf die bloße Brust, das durch einen Knopf verschlossen war. »Damit ihr in der Ferne nicht zu betteln braucht,« sagte sie, und die Jungen strahlten sich an. »Ein paar Zehrpfennige für den Alltag stecke ich euch in die Hosentasche,« und sie steckte jedem ein paar Silbermünzen zu. »Vorwärts denn. Folgt dem Vater.«
Gern hätte sie hinzugesetzt: »und euerem Großvater, Jungens,« aber sie unterdrückte rasch die feierliche Regung und ließ sich dafür so unfeierlich wie möglich in die Knabenarme nehmen und sich jedes Glied am Körper zusammendrücken, ohne sich zu wehren.
»Dank, Dank, Tante Engel! Laß es dir gut ergehen. Glückauf!«
»Fahr wohl, Martin! Fahr wohl, Nikolaus! Allzeit gut Wind und Wetter vorauf!«
Drunten marschierten sie über die Straße, links und rechts von Thomas Vanderwelt. Und Angela Freydag stand hinter dem Fenster und schaute ihnen nach, bis sie auf den Hafendamm bogen.
»Euch hab' ich in Sicherheit,« sagte sie, und ihre Augen hatten einen dunklen Glanz. »Ich hoffe: für ein Leben lang.« —
Am späten Nachmittag kam Magdalene Matthes aus ihrem Handelskontor. Es war ihr letzter Diensttag gewesen. Und nun gehörte sie frank und frei dem neuen Vanderwelt-Unternehmen an. Sie wußte schon von der Weltfahrt der Knaben. Sie hatte Thomas Vanderwelt im Hafen getroffen.
»Frau Engel, er hatte noch mit Wilm zu verhandeln. Ahnen Sie es wohl, weshalb? Mein Gott, ich soll mit auf die Reise! Mein Gott!«
»Freuen Sie sich darüber, Magdalene?«
[S. 391]
»Freuen? Freuen ist gar kein Wort! Das hab' ich mir ja seit Kindheitstagen gewünscht, wenn ich irgendwo bei Düsseldorf an der Uferböschung lag und die Schleppzüge kommen und verschwinden sah: Wer da mitreisen könnte! So ins Unendliche aller Wünsche hinein! Und nun darf ich mit. Und darf mich jetzt schon für die Firma Vanderwelt nützlich machen. In der Küche, jawohl! Aber das ist ja ganz einerlei ...!«
»Ich hoffe, Sie werden sich nicht nur für die Firma, sondern viel mehr noch für den Firmenträger nützlich machen können.«
»Nicht sprechen, Frau Engel, nicht sprechen. Nein, ich fürcht' mich nicht.«
»Frauen fürchten sich vor nichts, wenn der Mann voranschreitet.«
Am nächsten Tage trafen sie alle Vorbereitungen. Und als gegen Abend die Schiffsjungen kamen und mit dem Gepäck abgezogen waren, blieben sie zu dritt allein: Angela Freydag, Thomas Vanderwelt und Magdalene Matthes. In den Kammern über ihnen war es ruhig. Der Brief, der am Nachmittag aus einer Rechtsanwaltskanzlei für Frau Antonie Vanderwelt eingetroffen war, hatte den beiden Schwägerinnen Gelegenheit geboten, zur vorgerückten Stunde noch das Haus zu verlassen, um sich bei Freunden Rat zu holen.
Die drei Menschen saßen beieinander am Tisch und schwiegen miteinander, ohne es zu bemerken. Dann nahm Angela Freydag das alte Pfeiflein auf, das sie noch von den gemeinsamen Fahrten mit Kornelius Vanderwelt besaß, entzündete es und tat still ihre Züge.
»Sprachst du, Engel?« fragte Thomas Vanderwelt und legte seine Hand auf die ihre.
»Tat ich es, Thomas? Ich tat es wohl aus Gedanken[S. 392] heraus. Ich dachte gerade darüber nach, wie verkehrt es ist, sich die Karwoche grau in grau zu malen. Am Schlusse winkt doch die einzige Erlösung der Heilsgeschichte, der Auferstehungstag.«
»Ja, so lehrt die christliche Religion.«
Sie bewegte den Kopf, als sei ihr das nicht genug.
»Es kommt nicht auf die Religion, es kommt auf die Frömmigkeit an.«
Und sie grübelten hinter den Worten her, die die geheimsten Kräfte bargen.
»Wenn ihr wiedergekehrt seid,« sagte Angela Freydag nach einer Weile, »darfst du an nichts anderes mehr denken, Thomas, als an die Auferstehung der alten Firma. Alles, was Karwoche geheißen hat, muß vor diesem Morgenlicht verschwunden sein wie ein Rudel Gespenster. Und wenn du dann über den Platz vor der Schifferbörse schreitest, sorg', daß die Schiffer sich anstoßen und zu sich sprechen: ›Kornelius Vanderwelt ist wieder auferstanden.‹«
Die Hand, die auf der ihren lag, drückte zu. Und der harte Druck gefiel ihr.
Magdalene Matthes erhob sich und zündete das Licht an. Ein kurzes Zwinkern war, und die Augen standen weit geöffnet und schauten einander an, als ob sie neue Menschen sähen.
»Keinen überflüssigen Ballast,« sagte Angela Freydag. »Nichts Wertloses. Das Schiff muß Ladung haben, die sich lohnt.«
»Ja,« erwiderte Thomas Vanderwelt, und seine Brust hob sich.
»Ja,« wiederholte Magdalene Matthes.
Wieder kehrte das Schweigen ein. Und sie bemerkten es nicht, bis Thomas Vanderwelt noch eine Frage tat.
»Bleiben die ›Fünf Erdteile‹ geschlossen, Engel? Jetzt, wo[S. 393] ich auf Fahrt gehe, und ich meine nicht nur diese Rheinfahrt, Engel, entfällt ja wohl der Grund für dich, die Wirtin zu spielen.«
Sie tat ein paar Züge aus dem alten Pfeiflein und nickte vor sich hin.
»Die ›Fünf Erdteile‹ — hören auf, zu bestehen. Meine Pflichten sind erfüllt. Für dich und die Jungen darf keine Belastung mehr vorhanden sein, wenn ihr das neue Leben angreift, sie könnte geartet sein, wie sie wollte.«
»Es ist bald ein Jahr, daß der Vater starb und du uns hier sammeltest und sichtetest.«
»Ich konnte es nicht schneller machen, Thomas.« — —
In der Morgendämmerung verließen Thomas Vanderwelt und Magdalene Matthes das Haus. Auf ihren Gesichtern war der Glanz der Jugend.
»Dank, Dank, Engel, für alles und viel mehr,« riefen sie der Zurückbleibenden zu und schlossen sie kräftig in die Arme.
Und Angela Freydag erwiderte mit dem alten Schifferspruch, den sie schon den Knaben mit auf den Weg gegeben hatte: »Fahr wohl, Thomas, fahr wohl, Magdalene. Allzeit gut Wind und Wetter vorauf!«
Noch einmal stand sie am Fensterkreuz ihrer Kammer und sah die beiden rüstigen Schrittes über die Straße schreiten, bis ihre Umrisse in die sonnendurchzitterten Nebel des Stromgebietes hineinwuchsen, als gehörten der Strom und die Menschen zusammen.
Ihr Gesicht wurde schmal, und eine Blässe zog darüber hin. Aber der Mund erzwang ein Lächeln.
»Nun seid auch ihr in Sicherheit, und ich kann an die Reise denken. Bist du mit mir zufrieden, Kornelius?«
Am nächsten Tage ging sie durch die Stuben und errechnete den Wert der geringen Hinterlassenschaft des[S. 394] Matthes. Und sie saß an ihrem Schreibtisch und verglich die Summe mit dem Betrag, den sie noch auf der Sparkasse liegen hatte. Und überschrieb den Betrag an Fräulein Magdalene Matthes mit einer zurückgesetzten Zeitangabe.
Auf der Sparkasse ließ sie sich ihr Fach öffnen, das ihre wenigen Anlagepapiere barg, und ließ das Schreiben zwischen ihre Papiere gleiten.
Als sie heimkehrte, hatten sich die Frauen noch nicht erhoben. Aber Juliane rief aus ihrer Schlafstube nach ihr und bat um das Frühstück, da sie zu müde seien, um sich zu erheben.
»Wir haben bis spät in die Nacht hinein Besprechungen mit unserem Rechtsbeistand gehabt,« erklärte sie. »Für mich liegen die Dinge ja klar am Tage. In zwei Jahren wird mein Martin mit der Schule Schluß machen und eine kaufmännische Lehre antreten. Bei seiner großen Begabung wird es ihm nicht schwer fallen, bald Geld zu verdienen. Er hat es ja heute schon gezeigt, daß er es kann. Und da er für seine Mutter unterhaltungspflichtig ist, wird er sich, wie ich ihn kenne, ganz besonders anspornen. Für meine Schwägerin Antonie liegen die Dinge anders. Und wenn Sie auch als die Freundin meines lieben Bruders Thomas auftreten, mein Brüderlein wird sich freuen, die Scheidungsklage zurückziehen zu dürfen, denn der Rechtsbeistand hat mit einem Lärm gedroht, der Thomas Vanderwelt für das Geschäftsleben unmöglich machen würde. Ich denke also, es bleibt vorläufig alles beim alten.«
Angela Freydag ließ den Strom der Worte über sich ergehen und spielte die Bedienerin. Sie entzündete das Gasöfchen auf dem Wandtisch und wärmte das Frühstück darauf. Und tat ein übriges und betrat auch Antonie Vanderwelts Schlafzimmer, entzündete auch hier das Gasöfchen auf dem Wandtisch und erwärmte das Frühstück.[S. 395] Die seidenen Röcke Antoniens lagen zerknittert vor dem Bette.
Am Abend flogen die Frauen aus. Und wieder währte es bis zum Morgen, daß Angela Freydag ihre gleitenden Schritte erhorchte. Heute aber verschliefen sie das Frühstück ganz, und es war der Karsamstag.
Im Hause war alles geregelt. Ein jedes Teil stand auf dem Platze, auf den es hingehörte. Und nur die Frauen lagen gegen Abend noch in ihren Betten und baten Angela Freydag mit Klagelauten zu sich.
»Es sind so anstrengende Tage für uns,« klagte Frau Juliane. »Unsere Freunde tun ja für uns, was sie können, um uns über unsere trüben Gedanken hinwegzubringen, aber es bleibt doch immer noch ein Rest, den wir allein verarbeiten müssen. Morgen, ja, über die Ostertage hinaus wollen wir mit auswärtigen Freunden einen Ausflug unternehmen, der uns wirklich erfrischen soll. Deshalb möchten wir heute gar nicht erst aufstehen, da wir morgen in aller Herrgottsfrühe hinaus müssen. Würden Sie uns die Freundlichkeit erweisen und uns ein kleines Abendbrot bereiten?«
Und wieder entzündete sie die Gaskocher in den Zimmern der beiden Frauen und wärmte die Speisen auf, und die seidenen Röcke lagen wie tags vorher zerknittert vor den Betten.
Es wurde elf Uhr abends, und Angela Freydag ging durch das ganze Haus. Und schloß alle Fenster und Türen. Als sie den Hausflur betrat, zogen ein paar feuchtfröhliche Schiffer Arm in Arm durch die Türe ein.
»Guten Abend, Mutter Engel. Ist hier Ankergrund?«
»Es ist Feierabend für die ›Fünf Erdteile‹, meine Herren.«
»Für alle fünf Erdteile? Spaß, Mutter Engel. Irgendwo[S. 396] in den fünf gesegneten Erdteilen muß doch Ankergrund sein?«
»Die Schankerlaubnis ist mit dem Wirt Matthes und seiner Frau erloschen. Gute Fahrt, meine Freunde.«
»Nix mehr zu machen? ›Meine Freunde‹ hat sie doch gesagt. Wirklich gar nix mehr?«
»Es tut mir leid — aber es ist Schlafenszeit.«
»Hoiho! Mutter Engel hat zum Abschied einen Reim geschmiedet. ›Es tut mir leid — aber es ist Schlafenszeit!‹ Weiß die Mutter Engel auch, was das nach Schiffersbrauch bedeutet?«
»Was bedeutet es denn nach Schiffersbrauch, Jan Maat?«
»Wer nach altem Schiffersbrauch einen Reim in der Rede schmiedet, ohne zu wollen, der kriegt mit Gewißheit noch in der Nacht seinen Schatz zu sehen.«
»Oho! Hoho! Mutter Engel kriegt die Nacht noch ihren Schatz zu sehen!«
Angela Freydags Augen leuchteten über sie hinweg.
»Wer weiß, ob es nicht wahr ist.« — —
Sie hatte hinter den feuchtfröhlichen Männern die Haustür geschlossen. Der Riegel schnappte ein, und der Klang zog hallend durch das verlassene Haus. Sie wandte sich und ging hinauf.
Ich weiß es noch, dachte sie, wie er mich seine Wölfin nannte. Von der mitjagenden Wölfin sprach er. Und von der säugenden — wie bei Romulus und Remus. Und ich weiß noch, wie ich ihm erwiderte, daß die Wölfin, die starke Wölfin, die Wunden und Gezeichneten der Gattung zerreiße, um den Lebensstarken die Bahn zu säubern. Kornelius, nun halte ich mein Wort. Und du wirst weiterleben.
Sie ging hinauf in das Stockwerk der Frauen, und als[S. 397] sie die Zimmer der Frauen betrat, fand sie sie eingeschlafen. Sie griff nach den Schaltern des elektrischen Lichtes und löschte es in beiden Zimmern. Und in beiden Zimmern griff sie nach den Hähnen der Gaskocher und öffnete sie mit ruhiger Hand. Und als sie in das Haus hinuntergegangen war, bis in die leere Wirtsstube, tat sie hier ebenso, und sie saß am Tisch, stark und gefestigt, und der einschläfernde Duft umwogte sie.
Eine Kirchenuhr schlug Mitternacht. Der Ostertag brach an.
Angela Freydag zählte die Glockenschläge bis zum letzten. Nun war sie müde.
»Ich komme, Kornelius,« sagte sie. Und sie nahm das Pfeiflein Kornelius Vanderwelts zwischen die Zähne, tastete nach dem Feuerzeug und zündete ein Holz für die Pfeife an ...
Ahoi! — was war? Eine Jacht in Abendrotflammen! Kornelius Vanderwelts leuchtende Gestalt am Steuer! Hoiho! Angela Freydag im Sprunge neben ihm! Hochöfen in Gluten! Blitzlichter, hunderttausende, über den Häfen! Das schwarze Venedig in Funken und Feurio!
Krachend stürzten die Decken zusammen. Die Mörtelmauern barsten. Ein Trümmerhaufen schoß hoch und begrub die ›Fünf Erdteile‹ mit allem, was in ihnen geatmet hatte. — —
Den Heimkehrenden aber erzählten die Nachbarn, eine Flamme wäre aus dem Dache gefahren, so sprühend und wild, als wäre eine feurige Wölfin geradenwegs in den Himmel hineingesprungen.
Druck der
Union Deutsche Verlagsgesellschaft
in Stuttgart
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachf., Stuttgart und Berlin
Rudolf Herzog
Das goldene Zeitalter. Roman. 30.-42. Tausend
Ganzleinen Rm. 3.80
Der Adjutant. Roman. 33.-52. Tsd.
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Ganzleinen Rm. 40.—, Halbleder Rm. 60.—
Rudolf Herzogs Leben und Dichten. Von Johann Georg Sprengel. Mit acht Bildnissen.
Halbleinen Rm. 2.20