The Project Gutenberg eBook of Der Moskauer Prozeß gegen die Sozialrevolutionäre 1922. Revolution und Konterrevolution

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Title: Der Moskauer Prozeß gegen die Sozialrevolutionäre 1922. Revolution und Konterrevolution

Author: Kurt Kersten

Editor: Rudolf Leonhard

Release date: January 14, 2023 [eBook #69795]
Most recently updated: October 19, 2024

Language: German

Original publication: Germany: Die Schmiede

Credits: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER MOSKAUER PROZESS GEGEN DIE SOZIALREVOLUTIONÄRE 1922. REVOLUTION UND KONTERREVOLUTION ***

AUSSENSEITER DER GESELLSCHAFT
– DIE VERBRECHEN DER GEGENWART –

AUSSENSEITER
DER GESELLSCHAFT
– DIE VERBRECHEN DER GEGENWART –

HERAUSGEGEBEN VON
RUDOLF LEONHARD

BAND 12

VERLAG DIE SCHMIEDE
BERLIN

DER MOSKAUER PROZESS
GEGEN DIE SOZIALREVOLUTIONÄRE
1922.
REVOLUTION UND KONTERREVOLUTION

VON
KURT KERSTEN

VERLAG DIE SCHMIEDE
BERLIN

EINBANDENTWURF
GEORG SALTER
BERLIN

Copyright 1925 by Verlag Die Schmiede Berlin

An der Bahnlinie Moskau-Saratow liegt mitten im Kiefernwald die kleine Datsche eines reichen Kaufmannes; grün und blau schimmern die Holzwände durch den Sommermorgen eines furchtbaren Jahres; als der Streckenwächter früh vorüberkam, fiel ihm auf, daß Garten- und Haustür offenstanden; der Rasen war zertrampelt – der Mann in der hellen Russenbluse stutzte, ging scheu in den Garten, zögerte noch einen Augenblick, bevor er die Treppenstufen hinaufging – plötzlich stieß er einen Schrei aus, wandte sich um und lief davon – „Mord – Mord –“ brüllte er durch den Wald –

Nach einer Weile kehrte er mit einem jungen Sanitätssoldaten zurück, beide hielten den Revolver schußfertig in der Hand und gingen zögernd die Treppe hinauf, ihnen entgegen gähnte ein dunkler Flur – gerade vor der Öffnung lag ein dicker Mann im Nachthemd – mit starren, weit geöffneten Augen, blutigem, vertrocknetem Schaum vor dem schwarzen Mund – der Sanitäter bückte sich, entblößte eine zottige Brust, horchte, befühlte – erhob sich nach einer Weile, zuckte die Achseln: „Herzschlag –“ Der Wächter setzte scheu den Fuß über den Leichnam hinweg – eine Zimmertür stand offen – Spinde, Wandschrank schienen durchwühlt, auf der Erde lag ein Bankkontobuch; sämtliche Schubfächer des altertümlichen Vertikos waren erbrochen – Akten, Briefe aber unberührt – es schien den Tätern nur am baren Gelde gelegen zu sein.

Alle Nachforschungen nach den Tätern blieben erfolglos.

Das Reich war in Aufruhr und Menschenleben billig; seit vier Jahren wütete Krieg in der ganzen Welt, seit einem halben Jahr herrschten die Arbeiter und Bauern in Rußland – eben noch erstreckte sich ihre Macht auf die Weichbilder von Moskau und Petrograd, von der Wolga rückten tschechoslowakische Söldner unter Führung von Ententeoffizieren gegen Kasan und berannten die Stadt, in Kiew wehte die schwarz-weiß-rote Fahne, in Archangelsk landeten Amerikaner und Engländer, vom Ural, vom Dongebiet her breiteten sich Kosakenschwärme unter der Führung zaristischer Generale weit übers Land aus, Gutshöfe brannten, Bauern wurden von Offiziersbataillonen grausam zu Tode gemartert, in den Städten traute keiner dem andern – Einbrüche am hellen Tage waren keine Seltenheit, staatliche Ämter wurden mit Einverständnis der Beamten ausgeraubt, eben erst war ein vergeblicher Versuch in Moskau gemacht worden, den feuerfesten Schrank des Gouvernements-Ernährungskomitees zu sprengen, offenbar war den Tätern der Sauerstoff ausgegangen, das Schloß war zur Hälfte geschmolzen; einige Tage später drangen am hellen Tage fünf vermummte Männer in das Postgebäude an der Twerskaja, der belebtesten Straße Moskaus, ein, hatten die Eingangstür verriegelt, riefen den Beamten und Kunden „Hände hoch“ zu, schwangen Handgranaten, zückten Messer, hielten den Finger am Revolverhahn und plünderten die Kasse – entnahmen ihr über 100000 Rubel – entfernten sich dann, und ehe sich noch jemand vom Schreck erholt hatte und auf die Straße lief, waren die Banditen längst verschwunden.

Einige Tage später las man in der Presse der ganzen Welt: „Ausraubung eines Postamtes am hellen Tage in Moskau – Die Täter entkommen – Das russische Chaos – Nieder mit den Bolschewiki.“

 

In denselben Tagen finden in den Städten neue Sowjetwahlen statt. Die Wahlagitation ist im heftigsten Gange; in Petersburg herrscht ungestörte Pressefreiheit, einer der eifrigsten Agitatoren in den Fabriken ist der junge Wolodarski – eben 27 Jahre alt, gebürtig aus Wolhynien, seit frühster Jugend in der revolutionären Bewegung: der Vierzehnjährige arbeitet schon in illegalen Organisationen, der Siebzehnjährige sitzt bereits als „Politischer“ im Gefängnis – drei Jahre später verbannt ihn das zaristische Gericht nach Archangelsk, 1913 flieht er nach Amerika, bei Kriegsausbruch redigiert er mit Bucharin in New-York eine Zeitung „Neue Welt“ – immer führt er ein wahres Hundeleben, immer sind ihm Spitzel auf den Fersen, immer machen sich Provokateure an ihn heran, auch in den U. S. A. sieht er Kerkermauern – endlich wehen in Rußland rote Fahnen; einige Monate nach Kerenskis Aufstieg arbeitet Wolodarski schon in Petersburg, macht innerhalb kurzer Frist schwindelnd Karriere: eben noch Agitator des Peterhofer Bezirks, sitzt er nun schon im Petersburger Sowjet, kommt ins Exekutivkomitee, wird ein glühender, hinreißender Sprecher, alle Bezirke telephonieren:

„Schickt uns Wolodarski“ – „Schickt uns Wolodarski.“ –

Nach dem Oktoberumsturz wird Wolodarski Volkskommissar für Presse und Agitation. Im Frühjahr 1918 ist er Chefredakteur der „Roten Zeitung“. Im Juni finden die Wahlen statt – Wolodarski arbeitet an hervorragender Stelle – er ist es, der Pressefreiheit gibt – am nächsten Tage liest man in einer Petersburger Zeitung: „Es gibt im Smolny zwei besonders unangenehme Juden – Sinowjew und Wolodarski.“ Einen Tag später wird gewählt – Resultat:

Bolschewiki: 72.
Linke S.R.: 9.
Parteilose: 4.

Am Abend sprach Wolodarski in einer Versammlung der Eisenbahner der Nikolajew-Bahn, noch umtoste ihn der Beifall der proletarischen Masse, als er schon im Auto saß, um in eine Maschinenfabrik zu fahren und eine zweite Rede zu halten.

In der Farforstraße hält plötzlich sein Auto.

„Was ist los?“

„Kein Benzin.“

Wolodarski steigt aus, will einen Laden suchen – vielleicht kann man irgendwo etwas Benzin auftreiben – kaum ist er zehn Schritte gegangen, da eilt ihm ein Mann entgegen, Wolodarski beachtet ihn nicht, da ein Knall, ein Schlag gegen die Brust, er taumelt, fällt zu Boden – eben noch sieht er den Täter enteilen, über einen Zaun hinwegklettern – dann noch eine Detonation – ein Sausen und Wimmern durch die Lüfte – noch einige Revolverschüsse – schon kniet Grischa Sinowjew neben dem sterbenden Wolodarski.

Man bahrt den Leichnam im Taurischen Palais auf; das Proletariat von Petersburg defiliert am Sarg in langen, langen Zügen vorüber, alle Fabriken halten Meetings ab, geschlossen rücken die Belegschaften der großen Fabriken an, eine alte Arbeiterin küßt die bleiche Stirn des Toten, eine Arbeiterfrau führt ihr Kind an den Sarg: „Siehe – für dich ist er gestorben.“ –

 

Der Mörder ist entkommen, in den Zeitungen der sowjetfeindlichen Presse erscheinen beunruhigte Artikel, am Tage nach der Ermordung liest man befremdenderweise im Zentralorgan der Sozialrevolutionäre eine Erklärung:

„Das Petrograder Bureau des Zentralkomitees der Partei der Sozialrevolutionäre erklärt, daß keine Organisation der Partei zu der Ermordung des Kommissars für Pressewesen, Wolodarski, in irgend welcher Beziehung steht.“

Niemand hatte sie beschuldigt, niemand mit Fingern nach ihnen gezeigt, weshalb regen sie sich, weshalb wehren sie ab? Wundern sie sich, wenn zwei Tage später Sinowjew in einer Sitzung des Petrograder Sowjets ausruft: „Wir wissen nicht, wer der Mörder ist, doch es wäre wünschenswert, wenn von den Sozialrevolutionären am Begräbnis des Genossen Wolodarski niemand teilnehmen würde.“

Wundern sie sich? Sie schweigen.

Einige Wochen später fällt der alte Genosse Uritzki einem Attentat zum Opfer; als Täter kommt ein „Volkssozialist“ in Betracht. Indessen sind die Tschechoslowaken schon auf halbem Wege nach Nishni-Nowgorod, immer enger wird der furchtbare Ring, in Jaroslaw bricht ein grauenhafter Bürgerkrieg aus, die ganze Stadt ist nach fünf Tagen ein Trümmerhaufen, die Ermordung Mirbachs und Eichhorns versteift die Beziehungen zu Deutschland, man gelangt durch Zufall in den Besitz von Papieren, die unwiderleglich von einer engen Verbindung zwischen bürgerlichen Verbänden und der französischen Militärkommission zeugen, der französische Botschafter Noulens hatte in Wologda sein Archiv verloren – – dann versuchen die linken S.R. in Moskau zu putschen – die Herrlichkeit dauert einen knappen Tag – der Wirrwarr wird größer – die „Rote Garde“ ist schlecht bewaffnet, in Lumpen gekleidet, der Hunger quält in den Augen – an allen Fronten entbrennt der Kampf – innerhalb des Kreises züngeln die Flammen – und mitten in dieser verzweifelten Situation schießt eine kleine Jüdin einen Revolver ab – eines Abends in den ersten Septembertagen – die Schüsse treffen Wladimir Iljitsch Lenin. Das ganze Land ist erschüttert. Ein Stöhnen entringt sich der russischen Arbeiterschaft: Lenin schwer verwundet.

Diesmal kennt man kein Zögern mehr. Jetzt erst geht man zur Gegenwehr über. Noch in dieser Nacht verhaftet man 500 Offiziere, erschießt sie am frühen Morgen. Und die nächsten Septembertage erleben im ganzen Land, soweit die Macht der Bolschewiken reicht, Hausuntersuchungen, Verhaftungen, Verhöre – in den ersten Morgenstunden hört man immer Salven knattern – und einige Tage später zieht Trotzki in Kasan ein, treiben Budjenis „Rote Reiter“ die Tschechoslowaken und Kosaken vor sich her, langsam fällt die Weiße Flut, langsam drängt man Entente- und Zarengenerale über die Wolga und an die Gestade des Eismeeres zurück – wenige Wochen später bricht die kaiserliche deutsche Armee zusammen, die roten Fahnen wehen in Riga und Kiew. Langsam sieht Lenin seiner Genesung entgegen.

Und wer hatte auf ihn geschossen? Wer hatte in ihm das Land getroffen?

Fanny Kaplan – Mitglied der Sozialrevolutionären Partei.

 

Im Laufe der nächsten Jahre verdichten sich Anklagen und Beweise wider diese Partei; allmählich gelingt es, zahlreiche Führer zu verhaften, Gerüchte zu bestätigen, da erscheint im Herbst 1921 in Berlin eine russische Broschüre eines G. Ssemjonow, Die Partei der Sozial-Revolutionäre in den Jahren 1917-1918. (Ihre Kampftätigkeit und militärischen Aktionen.) Die Broschüre erregt in der gesamten Emigrantenpresse ein ungeheures Aufsehen; Auszüge erscheinen in deutschen Zeitungen, zwischen Emigrantenorganen entspinnen sich Pressefehden, Presseprozesse. In derselben Zeit wird bekannt, daß ein Prozeß gegen 34 Mitglieder der S.R. in Moskau stattfinden wird. Und was enthält jene staubaufwirbelnde Broschüre?

Ich Ssemjonow – ehemaliges Mitglied der S.R., Führer der Kampforganisation – habe Attentate, Sprengungen und Expropriationen vollführt – ich habe mit meinen Leuten das Postamt in der Kammerherrengasse am hellichten Tage ausgeplündert, ich bin mit Gefährten in die Datsche eines Kaufmannes eingebrochen, der vor Schreck tot zusammenbrach, als er uns sah, ich habe das Attentat auf Wolodarski inszeniert, ich habe Attentate auf Lenin und Trotzki vorbereitet, ich weiß von der Verbindung unserer Partei mit der Entente, Deutschland und bürgerlichen Organisationen. Existierten bloße Verbindungen? Von dort erhielten wir Gelder, Aufträge, Material, im Einverständnis mit der Entente, in ihrem Auftrag mordeten, plünderten, sprengten wir. Sämtliche Maßnahmen, die ich im Interesse der Partei ergriffen habe, erfolgten im Einverständnis mit dem Zentralkomitee unserer Partei; die hervorragendsten Männer gaben uns die Lizenz. Dabei herrschte innerhalb der Partei völlige Plan- und Kopflosigkeit; aus reiner Verzweiflung schien jedes Mittel recht – erst nach langer Haft kam mir zum Bewußtsein, von welchen haltlosen Menschen wir mißbraucht wurden, daß wir nicht im Interesse der arbeitenden Klasse handelten, sondern gegen ihre Interessen. – Alle Angaben Ssemjonows wurden einige Wochen später von einer gewissen Lydia Konoplewa bestätigt – ja sie verstärkte noch den Verdacht gegen das Z.K. der Partei, das seine Genehmigung zu sämtlichen Attentaten gegeben habe.

 

Der Verteidiger Murawiew unterhält sich mit den Angeklagten, Mitglieder der sozialrevolutionären Partei: Gotz, Hendelmann, Tatareew u. a.

Im Frühjahr hatte sich das Material gegen die verhafteten S.R. bereits so verdichtet, daß auf der Berliner Konferenz der II., II½. und III. Internationale die Vertreter der II. und II½. Internationale von der III. Internationale das Versprechen zu ertrotzen suchten, kein Todesurteil über die S.R. zu verhängen, die Zulassung ausländischer Verteidiger zu befürworten – man geriet in ernste Besorgnis; hatte man früher immer und immer wieder geschrien: weshalb laßt ihr diese Leute so lange in Untersuchungshaft sitzen – weshalb laßt ihr sie nicht frei – schlug man jetzt einen anderen Weg ein: man suchte zu verschleppen, zu bemänteln, verschwieg die Tatsachen, ging über die eigentlichen Anschuldigungen hinweg, vermied überhaupt sie zu erwähnen, klammerte sich an reine Formalitäten, und schrie und schrie und gab keine Antwort, wenn man fragte: „Und wie verhält es sich mit den Fakten“? –

Sonntagnachmittag im Juni 1922. Als das Flugzeug von Moskau eben auf dem großen Flugplatz in Kowno, den die deutsche Armee im Weltkrieg angelegt hatte, gelandet war, und die Passagiere der Kabine entstiegen, rief ihnen schon von weitem der deutsche Flugplatzführer der Derutra zu: „Rathenau ist ermordet“ – „Der Dollar 375.“ „Die Nationalisten“ – Der junge Schriftsteller konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. „Dollar, Mord und Nation – deutsche Atmosphäre.“ Und während man sich noch rings um ihn ernst unterhielt, ob der Dollar noch weiter fallen würde, dachte er: „Wird man die Täter ergreifen? Wird man ihnen den Prozeß machen? Wird man vor allem den Hintergrund enthüllen, die wahren treibenden Kräfte feststellen?“ Und er gedachte jenes seltsamen Prozesses, dem er soeben in Moskau beigewohnt hatte, er gedachte jener doppelt seltsamen Demonstration im Gerichtssaal, die am vierten Jahrestag der Ermordung Wolodarskis stattgefunden hatte. Und während das Flugzeug wieder startete und bald über Deutschland hinschwebte, vergegenwärtigte sich der junge Schriftsteller lebhaft noch einmal die Erlebnisse der vergangenen Woche, des 20. Juni.

Am vierten Jahrestag der Ermordung Wolodarskis zogen schon am frühen Morgen aus allen Bezirken die Arbeiter ins Innere der Stadt, um die Mittagsstunde füllten Hunderttausende den Roten Platz vor dem Kreml. An den Gräbern der gefallenen Revolutionäre zogen die Belegschaften aller Moskauer Betriebe vorüber. Und auf der Rednertribüne erschien ein großer blonder Mann – erschien der Vorsitzende des Obersten Tribunals Pjatakow und erklärte den demonstrierenden Arbeitern: „Das Urteil wird gerecht, wird erbarmungslos sein. Noch ist es nicht an der Zeit, es zu fällen.“

Und einen langen Sommertag über zogen die Massen russischer Arbeiter durch die Iberische Pforte hinab zum Swerdlowplatz, an einem barocken Säulenbau vorüber, jede Belegschaft hielt einen Augenblick an, und einer ihrer Sprecher rief nach jenem Hause Worte der Rache hinüber – die ganze Stadt dröhnte vom Schritte der Arbeiterbataillone, die ganze Stadt hallte vom Gesang der Internationale.

Und als der Abend hereinbrach, und die Massen sich langsam entfernt hatten, passierte der junge Schriftsteller die Postenketten des Prunkgebäudes, betrat die weiten unteren Räume des Hauses, in denen eine Kompagnie des Tschekaregimentes untergebracht war; breite Marmortreppen führten in den ersten Stock. Wieder forderten Soldaten in braunen Uniformen mit breiten roten Querstreifen auf der Brust den Ausweis, die Wände spiegelten ein reges Treiben, weithin erstreckten sich Wandelhallen, und in einem Seitenraum war eine Ausstellung von Bildern und Dokumenten – grauenhaften Urkunden der Scheußlichkeiten des Bürgerkrieges; da hingen die Proklamationen der Partei der S.R., die Aufrufe zum Sturz der Sowjets, da hingen Flugschriften und Proklamationen, Reden Awxentijews, Artikel Tschernows und unzählige Photographien – Photographien der Generale des Zaren, Photographien von Führern der S.R., Bilder gesprengter Brücken und Stationen, Photographien langer Reihen von Särgen und Massengräbern, Bilder der 26 Bolschewiken, die in Baku von den S.R. hingerichtet wurden, Photographien schauderhaft zugerichteter Leichen – und dann Bilder Wolodarskis, Uritzkis, Bilder vieler, vieler Kinder, vieler Waisen, deren Eltern Koltschak hinrichten ließ.

Und als der junge Schriftsteller erschüttert diese Kammer der Seufzer und Tränen, der Lügen und Heuchelei verließ, öffnete er eine kleine Tür und befand sich plötzlich in einem gewaltigen Saal – Säulenreihen zogen sich zur Linken und Rechten, mächtige Leuchter hingen von der hohen Decke herab – am anderen Ende des Saales saßen und standen auf einem Podium zahlreiche Männer und einige Frauen – zwischen mächtigen Säulen waren gewaltige rote Tücher gespannt, große Lettern verkündeten: „Das Proletariat ist der Schutzschild der Revolution.“

An einem Tische mitten auf dem Podium sitzen die Richter – und in ihrer Mitte sehen wir wieder Pjatakow. Rechts scharen sich hinter einer Sperre dicht hinter- und nebeneinander in zwei Gruppen getrennt 34 Angeklagte, vor ihnen sitzen an langen Tischen die Verteidiger; hart an der Rampe steht ein kleiner Tisch – vor ihm sitzt der Ankläger Krylenko – neben ihm ein langer Tisch, an dem drei andere Ankläger sitzen: Lunatscharski, der Historiker Pokrowski, die greise Klara Zetkin. Die Reihen der Angeklagten umspannt ein Kordon jener Soldaten in braunen Uniformen mit den breiten Litzen, sie tragen die spitzen Helme der Krieger Iwans des Schrecklichen, das Gewehr mit aufgepflanztem Seitengewehr bei Fuß. Zur Rechten öffnet sich eine breite Tür – herein tritt eine Deputation Moskauer Arbeiter – eine ältere Frau ist unter ihnen, sie durchschreiten den überfüllten Zuschauerraum, in dem wohl 2000 Menschen sitzen, und steigen langsam die Treppen zum Tribunal hinauf. Und unter tiefem Schweigen begannen die Arbeiter zu reden – junge und alte – leidenschaftlich brach es aus ihnen los – Anklagen und wieder Anklagen – Ein Arbeiter von Kasan erzählte erregt von den Grausamkeiten der S.R. in Kasan, es sprach jener Arbeiter, der die Fanny Kaplan nach ihrem Attentat auf Lenin festgenommen hatte, und ein langer, breiter Mann mit einer fürchterlichen Stimme erzählte noch einmal vom Eindruck, den der junge Wolodarski auf sie gemacht hatte; wie aus einem Krater brodelten Anklagen, Verwünschungen los – „Rache für Wolodarski“ schrie es durch den Raum – und die Männer hinter der Barriere saßen mit gesenkten Häuptern festgebannt da – ohne die Möglichkeit der Flucht, allen Blicken preisgegeben, gerichtet, geächtet, gestraft.

Niemals zuvor in der Weltgeschichte wird die Stimme der Masse so vernehmlich, so eindrucksvoll gesprochen haben wie in dieser Sommernacht zu Moskau im Prunksaale des ehemaligen Adelsklubs.

 

Zehn Tage währte nun schon dieser Prozeß. Am 10. Juni hatte er begonnen; einige Tage zuvor waren die ausländischen Verteidiger in Moskau eingetroffen, vor dem Bahnhof hatte sie die Arbeiterschaft mit Pfiffen begrüßt. Am Tage der Eröffnung hatte der Führer der II. Internationale, Vandervelde, vor dem Tribunal das Mißgeschick, als Justizminister S. Majestät des Königs der Belgier verhöhnt zu werden, weil er sich im Westlerdünkel erhaben fühlte über die Justizmethoden der Arbeiterrepublik.

Die 34 Angeklagten trennten sich in zwei Lager – zur Linken saßen 25 Männer und Frauen – die Offiziere der Partei:

Gotz, Abram Rafalowitsch
Donskoi, Dmitri Dmitrijewitsch
Gerstein, Lew Jakowlewitsch
Lichatsch, Michail Alexandrowitsch
Iwanow, Nikolai Nikolajewitsch
Ratner-Eljkind, Jewgenija Moisjewna
Rakow, Dmitrij Fedorowitsch
Fedorowitsch, Florian Florianowitsch
Wedenjapin, Michail Alexandrowitsch
Gendeljmann-Grabowski, Michail Jakowlewitsch
Morosow, Sergej Wladimirowitsch
Artemjew, Nikolai Iwanowitsch
Ratner, Grigoric Moisjewitsch
Timofejew, Jewgenij Michajlowitsch.

Gotz, Donskoi, Wedenjapin und Gendeljmann, Gerstein, Lichatsch, Iwanow, Ratner-Eljkind, Ratner, Fedorowitsch, Timofejew saßen seit 1917 im Zentralkomitee der Partei; Artemjew, Morosow und Ratner waren Mitglieder des Moskauer Bureaus des Zentralkomitees.

Diese 14 Personen werden angeklagt, ihre Partei so geleitet zu haben, um den Sturz der von der proletarischen Revolution eroberten Macht der Arbeiter- und Bauernräte herbeizuführen. Sie haben alle Mittel und Kräfte der Partei zu diesem Zwecke verwandt.

Man beschuldigt sie:

1. Der Vorbereitung bewaffneter Aufstände gegen die Sowjetmacht in Petrograd und Moskau. Bildung militärischer Stäbe und besonderer Kampforganisationen. Sie unterhielten Verbindung mit anderen konterrevolutionären Organisationen und nahmen ihre finanzielle Hilfe in Anspruch; gemeinsam mit ihnen organisierten sie technische Organe, Stäbe, Stadtkommandos für bewaffnete Aufstände.

2. Im Namen der Partei traten sie in Verbindung mit den Vertretern des internationalen Kapitals – mit den offiziellen Vertretern der kapitalistischen Ententestaaten zur Zeit, als diese sich im Kriegszustande mit der R.S.F.S.R. befanden. Sie halfen diesen Staaten das Gebiet der Sowjetrepublik besetzen, verschafften ihnen Nachrichten und informierten sie über die innere Lage des Landes. Sie nahmen die militärische, finanzielle und technische Hilfe dieser Staaten in Anspruch.

3. Verbindung mit weißgardischen Heeresleitungen, mit den Generalen Krasnow, Alexejew und Denikin, mit den in den Randgebieten der R.S.F.S.R. entstandenen bürgerlich-nationalistischen gegenrevolutionären Zentren, den sogenannten Regierungen der Ukraine, des Kuban und Dongebietes. Sie haben mit allen Mitteln unter dem Namen der „Regierung, der Mitglieder der Konstituante“ zur Befestigung der entstehenden gegenrevolutionären Zentren beigetragen, besonders in Samara, im Norden, in Ufa und Omsk. Sie halfen diesen gegenrevolutionären Zentren in ihrem bewaffneten Kampfe gegen die Sowjetregierung durch Hochverrat und Spionage.

4. Organisation von Kampfgruppen zwecks Verübung terroristischer Akte gegen die Funktionäre der Sowjetmacht Sprengung von Eisenbahngeleisen, Ausraubung von Sowjetinstitutionen. Sie leiteten die Tätigkeit dieser Gruppen. Und benutzten die auf diese Weise erlangten Mittel für die Fortsetzung ihrer gegenrevolutionären Arbeit.

Gegen einzelne Angeklagte wird noch besondere Anklage erhoben:

1. Gotz (Mitglied des Z.K.P.S.R.): Agitation unter den Truppen nach dem Oktoberumsturz, Aufforderung auf Meetings zum bewaffneten Widerstand, Vorbereitung und Leitung des Junkeraufstandes am 29. Oktober. Teilnahme an den Sitzungen der Militärkommissionen der bürgerlichen Verbände. Teilnahme an den Akten des individuellen Terrors.

2. Donskoi (Mitglied des Z.K.P.S.R.): Leiter der Militärkommission nach Auflösung der Konstituante; in konspirativer Verbindung mit den bürgerlichen Organisationen Filonenko und Iwanow, Teilnahme an Konferenzen mit Offizieren des Generals Alexejew, erteilte Genehmigung zu terroristischen Akten und war mit Anschlägen auf Lenin und Trotzki einverstanden. Er war der eigentliche Inspirator aller Unternehmungen Ssemjonows, er ermutigte zu Expropriationen und Sprengungen, er stellte die Verbindung zur französischen Militärmission her.

3. Iwanow: Aus eigener Initiative schlug Iwanow dem Z.K. terroristische Akte vor, rechtfertigte sie und erteilte Ssemjonow Aufträge.

4. Gerstein: Leiter der militärischen Propaganda, sanktionierte den Empfang der Gelder von bürgerlichen Organisationen, betätigte sich in der Ukraine, leitete Verhandlungen mit der französischen Mission.

5. Timofejew: unterhielt Verbindungen zur französischen Mission, entsandte Offiziere in die Wolgaprovinzen, war über die Tätigkeit der Terrorgruppen informiert und gab seine Einwilligung zu ihren Plänen.

6. Wedenjapin: war der Beauftragte des Z.K. der S.R. in Samara, stand in Verbindung mit den Tschechoslowaken, war über die terroristische Tätigkeit informiert, unterstützte Mitglieder der Terrorgruppen durch Geld.

7. Lichatsch: war bevollmächtigter Leiter der Militärabteilung des Z.K., nahm an gemeinsamen Sitzungen konterrevolutionärer Verbände teil, erhielt Gelder aus englischen Quellen, war Mitglied der „Nordregierung“ in Wologda und Archangelsk.

8. Morosow, 9. Artemjew: Konspirative Tätigkeit in Moskau. Vorbereiter des Aufstandes in der Wolgagegend.

10. Ratner-Elkind: Erhielt als Kassiererin des Z.K. der S.R. die aus Expropriationen stammenden Gelder von Ssemjonow und war über ihre Herkunft unterrichtet.

11. Ratner, Gregor: Mitglied der Militärgruppe. War unterrichtet über die terroristische Tätigkeit.

12. Rakow: Erhielt von Ssemjonow geraubte Gelder.

13. Fedorowitsch: Konspirative Tätigkeit, stand in Verbindung mit Savinkow.

14. Gendelmann: stand in Verbindung mit Ententekommissionen, war im Wolgagebiet aktiv, Teilnehmer der Ufakonferenz.

Gegen andere 20 Mitglieder der Partei der S.R. wurde weiter Anklage erhoben; als Mitglieder der P.S.R. hatten sie nach den Direktiven des Z.K. der S.R. konterrevolutionäre Aktionen vollführt, die auf den Sturz der Sowjetmacht hinzielten.

1. Agapow, Wladimir Wladimirowitsch: Mitglied einer Sprengkolonne, Verbindungsmann zwischen Donskoi und der Kolonne.

2. Altowski, Arkadi Iwanowitsch: Wegen Teilnahme an militärischen Organisationen und allgemeiner konspirativer Tätigkeit.

3. Utgoff-Deruschinski: Wegen Teilnahme an militärischen Organisationen und allgemeiner konspirativer Tätigkeit.

4. Liberow, Alexander Wassiljewitsch: Wegen Teilnahme an militärischen Organisationen und allgemeiner konspirativer Tätigkeit.

5. Slobin: Wegen Teilnahme an militärischen Organisationen und allgemeiner konspirativer Tätigkeit.

6. Gorkow-Dobroljubow: Wegen Teilnahme an militärischen Organisationen und allgemeiner konspirativer Tätigkeit.

7. Iwanowa-Iwanowa: Als Mitglied der Zentralen Kampforganisation, nahm an den Vorbereitungen eines Attentates auf Lenin teil, beobachtete Wolodarski und Trotzki, traf Vorbereitungen, um einen Zug in die Luft zu sprengen, in dem Trotzki fuhr.

8. Ssemjonow, Grigori Iwanowitsch: Organisator einer militärischen Spezialorganisation, deren Aufgabe in der Vorbereitung und Ausführung terroristischer Akte und Expropriationen bestand. Ihre Tätigkeit war vom Z.K. sanktioniert. Diese Organisation vollführte den Mord an Wolodarski, plante Attentate gegen Sinowjew und Uritzki, bereitete Attentate gegen Lenin und Trotzki vor. Sie bereitete ferner Expropriationen vor und führte sie aus.

9. Daschewski: Teilnehmer an Expropriationen und Vorbereitungen terroristischer Akte.

10. Konoplewa: Mitglied der Organisation Ssemjonow. Trieb Propaganda im Landheer und in der Marine. War an den Vorbereitungen von Attentaten beteiligt. Erbot sich, auf Lenin zu schießen und verständigte sich mit dem Z.K. Beteiligt an Expropriationen.

11. Jefimow: Mitglied der Terrorgruppe; Komplize der Konoplewa. Teilnehmer von Expropriationen.

12. Usow: War als Attentäter Lenins designiert; nahm an den Vorbereitungen der Attentate gegen Trotzki und Lenin teil; beteiligte sich an Expropriationen. Mitglied einer Sprengkolonne.

13. Fjedorow-Koslow: Am Attentat gegen Wolodarski beteiligt. Sollte auf Lenin schießen. Helfershelfer bei Expropriationen.

14. Subkow: Mitglied der Kampforganisation und Terrorgruppe, beteiligt an Vorbereitungen von Attentaten gegen Lenin und Trotzki. Helfershelfer bei Expropriationen.

15. Pelewin: Nahm an Vorbereitungen von Attentaten teil; beteiligte sich an Expropriationen; stand mit einem Kriminalverbrecher in Verbindung, dem er einen besonderen Apparat zur Schmelzung von Tresoren abkaufte, und der sich an der Expropriation im Landhaus an der Eisenbahn Moskau-Saratow beteiligte.

16. Ljwow: Mitglied der Kampforganisation; bei Expropriationen behilflich.

17. Moratschewski: Organisierte Gruppen, beherbergte den Mörder Wolodarskis.

18. Stawskaja: (Fanni Jefremowna) Mitglied der Kampforganisation; nahm an Vorbereitungen von terroristischen Akten teil, war im Wolgagebiet tätig.

19. Berg: Nahm an Vorbereitungen des bewaffneten Aufstandes teil.

20. Ignatiew: Mitglied des Z.K. der Partei der Volkssozialisten. War im „Verband zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution“. Unterhielt Verbindung zu bürgerlichen Organisationen, übermittelte Gelder, stand in Beziehung zu fremden Militärmissionen.

 

34 Männer und Frauen standen vor dem Obersten Revolutionstribunal, 34 Männer und Frauen verkörperten die leidenschaftlichen Anstrengungen, der Novemberrevolution den Garaus zu machen, ihre Wurzeln wieder auszureißen, vor keinem Mittel zurückzuschrecken, keine Verbindung zu scheuen, rastlos zu arbeiten, das durch Kriegswirren an den Rand des Abgrunds gebrachte Land nicht zur Ruhe kommen, vielmehr alle Künste spielen zu lassen, die eine jahrzehntelange Erfahrung in konspirativer Tätigkeit unter dem Zarismus gezüchtet, verfeinert hatte. Es gab kein Verbrechen, dessen sie nicht fähig waren, sie kannten keine Skrupel, dachten dabei nie an ihre eigene Person, sie setzten sich restlos ein und waren Meister ihres Faches geworden, Terror, Expropriationen, Sprengungen waren ihnen zur Kunst geworden, der Tod war ihr steter Gefährte, wie unsichtbar war bleiches Totengebein ihr ständiger Begleiter – es gab in dieser Partei längst eine Psychologie des politischen Mörders, es gab Analysen seiner Seelenstimmung; ehedem – nach der fünfer Revolution hatte Savinkow in seinen Büchern diese Stimmungen geschildert, er hatte das zwiespältige Wesen dieser Menschen geschildert, er hatte ihr Grauen, ihre seelische Nacht gemalt, ihre Fragen gestellt, ihre Unruhe, ihre Unrast in Worten festgehalten. Sie waren alle Romantiker, Abenteurer, längst losgerissen von jeden Beziehungen zur bürgerlichen Welt; die revolutionäre konspirative Tätigkeit war ihnen zum Selbstzweck geworden; die Konspiration war ihr Beruf, die Negation ihre einzige Antwort, die Ratlosigkeit ihr ständiges Grundgefühl. Die Sozialrevolutionäre waren die Erben der alten Narodniki: jener Männer und Frauen, die Turgenjew zuerst geschildert hat, deren Urtyp Bassarow war, den man heute ganz fälschlich immer zum Urbild Lenins macht. In der „Neuen Generation“ findet man eine solche echte Sozialrevolutionärin: konspirativ, längst verzichtend auf alle Geschenke des Lebens und jedes Wohlleben, immer gehetzt und immer im Zuge. Die Männer und Frauen, die Alexander II. hinrichteten, waren solche Narodniki – sie waren die Vorkämpfer der Revolution in den Jahren, als es in Rußland noch kein Industrieproletariat gab. Und es ist typisch, daß alle diese Narodniki Intellektuelle waren, dem Bürgertum entsprangen und in Fehde mit ihrer Klasse lebten. „Ins Volk gehen“ hieß jener Terminus, den man auch bei Turgenjew so oft findet. Ins dumpfe, unterdrückte Volk, das noch wie im Halbschlummer lag und wohl wußte, daß es ihm nicht gut ging, aber nicht wußte, wie es sich befreien sollte.

Gesamtansicht des Saales im Vereinshaus

Die Lehre vom „individuellen Terror“ war ein Fundament des Programms der S.R. geworden; sie konnte nur mit einer solchen unwiderstehlichen Macht in einer Partei um sich greifen, die früher nie mehr als eine Sekte sein wollte und sein konnte. Erst aus dem Zusammenschluß zahlreicher „Sekten“ hat sich 1900 jenes Gebilde der S.R.P. ergeben, die gar keine straffe Einheit darstellte, und deren eigentlichstes Rückgrat immer nur „Kampforganisationen“ gewesen sind, die mit unerhörter Kühnheit und seltenem Raffinement, mit grenzenloser Todesverachtung und fanatischem Enthusiasmus beinahe ein volles Jahrzehnt Attentat auf Attentat gegen die Vertreter des Zarismus verübten. Und fast alle diese Richter und Rächer des Volkes sind in den Tod gegangen. Sie ließen sich festnehmen, sie wurden zuweilen gefoltert, sie erlitten die grausamen Methoden einer ruchlosen Justiz, sie erlitten Schmähungen, manche erfuhren noch – mit dem Strick um den Hals – daß man nicht einmal unter diesem verrotteten Regime zu hängen verstand. Kibaltschisch wurde viermal gehängt, Kalajew zweimal ...

Ein seltsamer mystischer Zauber hat alle diese Menschen umfangen. Von Kalajew, dem Attentäter des Großfürsten Sergius, werden die Worte überliefert: „Ich will für meine Sache sterben“ – Worte, die schon ein Sektierer, ein Märtyrer im Rausch gesprochen haben könnte. Andere schritten unter dem Gesang ihrer Revolutionshymne zum Galgen, bevor sie in die ewige Nacht hinüberschwebten. Sie haben ihr eigenstes Ich bis in jene Sphären zu steigern vermocht, in denen längst die Stimme der Erkenntnis schwieg.

Sie hatten es immer mit dem „Ich“ zu tun. Sie sahen immer nur die Persönlichkeit, sie sind in Wahrheit Persönlichkeitsfanatiker gewesen, die letzten fernen Nachgeborenen der Renaissance.

Personen waren ihre Feinde. Personen sahen sie auf Rußlands Thron, in Rußlands Ämtern, auf Personen warfen sie die Bomben, Personen lauerten sie wochen-, oft monatelang auf – ach Wilhelm Tell – dieser Urtyp eines Sozialrevolutionärs, hatte es leicht hinter seinem Holunderstrauch.

Man kann hier schon fast von einer Systematik des politischen Mordes sprechen. Savinkow hat eine ganze Schule ausgebildet. Junge Menschen liefen zu Tschernow wie zu einem Heiligen, um sich von ihm theoretisch über die Berechtigung des individuellen Terrors unterweisen zu lassen.

Und so fruchtlos im Grunde alle diese Attentate gewesen sind, auf die große Masse hat diese Sekte von Frauen und Männern, die mit dem Tode vertrauter schienen als gewöhnlich, eine faszinierende Wirkung ausgeübt. Ein dunkel strahlender Schimmer von Romantik umgab diese Helden; er war stärker als das Dämmerlicht der engen Gelehrtenstube Lenins.

Aber die Geschichte hat es weniger mit Personen als mit Verhältnissen zu tun. Und auch der Tod ist nur eine individuelle Angelegenheit. Der vornehmste Unterschied zwischen den S.R. und den Bolschewiki ruht gerade in dieser verschiedenen Auffassung von Personen und Verhältnissen.

Als der Zar und die ganze alte Autokratie im Frühjahr 1917 gestürzt wurde, war es natürlich, daß die Bauern und auch zahlreiche Arbeiter in ungeheuren Scharen zur S.R. übergingen. Die S.R. wurden zur eigenen Überraschung eine Massenpartei, ihnen vertraute die unterdrückte Bauernschaft, für die nicht nur erst der Krieg grausame Folgen gehabt hatte – sie wollten ihr Land haben, sie wollten der Lasten ledig sein, mit denen sie der Grundbesitz beschwert hatte, sie wollten vor allem das Ende des aussichtslosen Krieges, der ihnen ihre Söhne raubte. Die „Provisorische Regierung“ Kerenskis setzte sich aus Vertretern der Großindustrie, des Großgrundbesitzes und der Kleinbürger zusammen. Sie war fest entschlossen, den Krieg an der Seite der Entente weiterzuführen, sie unterstrich jetzt den Charakter des Befreiungskrieges gegen den deutschen Imperialismus, aber sie gab bereits viele Forderungen des Zarismus preis: die Kuppel der Hagia Sophia entschwand in unsichtbare Fernen. Die Entente aber hat einen eisernen Druck auf die „Provisorische Regierung“ ausgeübt, weil sie die russische Hilfe gegen die Mittelmächte nicht zu entbehren glaubte, weil ihr das Geld leid tat, das sie für die Ausrüstung des russischen Heeres hergegeben hatte. Man brauchte Rußland. Und trieb es bis an den äußersten Abgrund. Die fremden Botschafter und Militärmissionen ließen alle ihre Künste spielen, die II. Internationale entsandte ihre Vertreter, um Kerenski an der Stange zu halten. Dabei mußte der russische Generalstabschef Gurko erklären, im Laufe des Jahres 1917 bedürfe das russische Heer unbedingt der Ruhe. Den fremden Botschaftern blieb die Lage weder in den Städten noch auf dem Lande verborgen. Die Bewegung gegen den Krieg wurde immer stärker. Die Julioffensive an der deutschen Front brach nach Teilerfolgen zusammen, noch wurde ein Aufstandsversuch der Bolschewiki mühsam abgewehrt, inzwischen wechselten die Minister; die Front geriet in Zersetzung, die Deutschen machten erfolgreiche Vorstöße, die Offensive der Alliierten im Westen kam trotz ungeheurer Opfer nicht vom Fleck. In den Städten wuchs die Not. Die Bauern sahen bald, daß der Sturz des Zarismus an ihrer Lage nichts geändert hatte; die S.R. Minister gaben eitle Versprechungen und waren völlig ohnmächtig, setzten nichts in ihren Ressorts durch; überall herrschte Sabotage und offene Brüskierung. Tschernow ging. Und Kerenski redete.

Eine Weile schien sogar eine Militärdiktatur zu drohen, der General Kornilow marschierte gegen Petrograd, um „Ordnung“ zu schaffen – Kerenski schien mit ihm zu verhandeln, ja sogar mit ihm im Einvernehmen zu stehen – die Arbeiter von Petrograd haben Kornilow davongejagt. Und dann brach plötzlich das ganze Gebäude kläglich zusammen, als die Partei der Bolschewiki geschlossen und entschlossen vorstieß, den alten Staatsapparat völlig zertrümmerte, den Bauern das Land gab, der Armee den Frieden, den Arbeitern die ökonomische Freiheit und die Herrschaft.

Die Bolschewiki schufen die Einheit Rußlands. Arbeiter, Soldaten, Bauern – die werktätigen Schichten wurden zusammengeschlossen. Die Bolschewiki vermochten ihren sämtlichen Forderungen zu genügen.

Gegen sie standen die Fremden – die Fremden aller Art: die Klasse der Großindustriellen und Großgrundbesitzer, die ohne Privilegien nicht mehr zu leben vermochten, die fremden Botschafter und Militärmissionen, die Parteiführer, die seit dem März 1917 Rußland regiert und Rußland nicht verstanden hatten; nun war ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen, sie verloren nicht nur alle materiellen Grundlagen, sie verloren vor allem auch die Bindung mit der Gesamtheit der Nation, sie waren nicht mehr Rußland. Sie waren Außenseiter einer Gesellschaft geworden, die nach neuen ökonomischen Gesetzen ihr Dasein zu formen bestrebt war.

Mitten in das Chaos des Krieges verkündeten die Bolschewiki ihre Kriegslosung gegen das Kapital. Sie verließen die Schützengräben der Nation und warfen die Schützengräben zwischen den Klassen auf. Die S.R. aber zögerten nicht einen Augenblick und harrten in den Schützengräben der Nation aus, obschon einer der ihren – Tschernow – Teilnehmer der Zimmerwalder Konferenz gewesen war.

 

In den Verhandlungen gaben die Angeklagten zu, den Kampf mit allen Mitteln gegen die Bolschewiki geführt zu haben, und unumwunden rief Timofejew aus: „Wir werden nie aufhören, euch zu bekämpfen, wir stehen zu unseren Taten.“

So erweiterte sich das Tribunal über den Gerichtshof hinaus, so vollendete sich in diesem Saale das Schicksal der russischen Revolution. Der Prozeß war der dramatisch bewegte Schlußakt des Bürgerkrieges in Rußland. Über zwei Monate zogen sich die Redeschlachten hin, die Angeklagten genossen vollste Redefreiheit, manche ergingen sich in stundenlangen Ausführungen, nie wurde einem Redner das Wort entzogen, zuweilen kam es zu Beifallsäußerungen im Saale, die der Vorsitzende ruhig aber bestimmt rügte. Die gewandtesten Sprecher Rußlands lieferten sich Gefechte. Nie wurden Ankläger oder Vorsitzende im Ton kleinlich und gehässig; nirgends hat man in einem bürgerlichen Staate erlebt, daß Angeklagte so menschlich, so unpersönlich behandelt wurden. Die S.R. haben diesen Prozeß selbst verlangt, sie fürchteten sich nicht vor dem Ende an der Mauer; als die ausländischen Verteidiger ihnen im Gefängnis eröffneten, daß man Garantien besitze, die Todesstrafe würde nicht verhängt werden, lächelten sie – darauf komme es nicht an, viel mehr liege ihnen daran, sprechen zu dürfen. Da ihre Partei zerschlagen, ihre Presse verboten war, bot sich jetzt die einzige Möglichkeit, noch einmal für die alten demokratischen Ideen, für das Ideal der Volksgemeinschaft zu werben – in aller Öffentlichkeit.

Die Bolschewiki haben diesen Prozeß in aller Öffentlichkeit geführt vor dem Angesicht Europas, um die S.R. in ihrer Stellung zur arbeitenden Klasse zu entlarven. Sie luden den greisen Anatole France nach Moskau ein, sie brauchten seine Skepsis nicht zu scheuen. Anatole France ist nicht gekommen.

Damals begannen die Wellen der Revolution zu verebben, der Faszismus blühte in Deutschland, die Möglichkeit der Weltrevolution rückte in die Ferne, die Wirtschaftspolitik Rußlands mußte jene neue Richtung erfahren, die unter dem Namen NEP bekannt geworden ist. Der Staat war bemüht, unter allen Umständen den Wirtschaftsapparat fest in der Hand zu behalten, der Privatwirtschaft und dem Auslandskapital nur die notwendigsten Zugeständnisse zu machen. So kam es darauf an, diesen Unterschied zwischen dem Staatssozialismus der Bolschewiki und dem Wirtschaftsanarchismus der S.R. zu unterstreichen. Und jede Anklage gegen die S.R. bedeutete zugleich eine Verteidigung des eigenen Systems. Hatten die S.R. mit ihren Methoden die Arbeiter und Bauern zugunsten der Besitzenden preisgegeben, so versuchten die Bolschewiki alle Konzessionen nur im Interesse der Arbeiter und Bauern zu machen. Zentralisation hier, und Dezentralisation dort. Den Arbeitern der Welt sollte gezeigt werden, wie sich die S.R. so völlig im Gegensatz zu den Bolschewiki den imperialistischen Mächten angeboten hatten. Die unüberbrückbaren Gegensätze zwischen Bourgeoisie und Proletariat sollten aufgezeigt werden, und überall bemühte man sich, den Charakter der S.R. zu enthüllen, die einen Volksstaat, aber keinen proletarischen Staat zu errichten gedachten. Der Prozeß war eine in der Weltgeschichte unerhörte Demonstration aggressiven Charakters gegen die Parteien der Erde, die versuchten, Gegensätze zu überbrücken, statt zu verschärfen. Der Beweis sollte erbracht werden, daß die S.R. Außenseiter der neuen Gesellschaftsordnung waren. Und so läßt sich bei der Eröffnung internationaler Perspektiven das Erscheinen deutscher und belgischer Advokaten vor dem Tribunal erklären: Vandervelde, Liebknecht, Wauters, Rosenfeld. Man empfing sie höhnisch beim Betreten des sowjetrussischen Gebietes, Moskauer Arbeiter pfiffen sie bei ihrer Ankunft aus, und im großen Demonstrationszug sah man die Karikaturen dieser Männer, die als Politiker aus einer verlorenen Sache eine Sache der Märtyrer zu machen gedachten und davonliefen, als man ihnen nicht zugestehen wollte, daß ihre Stenogramme offiziellen Charakter trügen. Vandervelde offenbarte sein völliges Mißverständnis für die proletarische Struktur des russischen Staates, als er die belgische Justiz rühmte – höhnisch rief man ihm, dem „Proletarierführer“, zu: Minister Seiner Majestät. War er nicht noch im Kriege sogar als Beauftragter dieses Königs erschienen, um dem Zaren seine Reverenz zu machen und auf russische Arbeiterführer im Sinne des „Durchhaltens“ einzuwirken? Der Name „Liebknecht“ hatte unter den russischen Arbeitern besonderen Klang, in jeder Stadt geht man heute durch eine „Karl-Liebknecht-Straße“ – nun erschien der Bruder des ermordeten Karl, um Männer zu verteidigen, die angeklagt waren, auf Lenin, Trotzki, Sinowjew Attentate geplant, Wolodarski ermordet zu haben! Die Masse des russischen Proletariats war in ihrem tiefsten Innern aufgewühlt – sie fühlte sich selbst zum Richter über Männer berufen, die ihre eigensten Interessen gefährdet hatten. So waren Angeklagten- und Verteidigerbänke nicht mehr zu trennen, Verteidiger wurden zu Angeklagten. Sie konnten nicht anders entrinnen als durch Einsprüche gegen formale Verletzungen, endlich durch die Flucht.

 

Die erste Gruppe der Angeklagten hat in diesen Monaten kein eigentliches Geständnis gemacht; ihre Taktik lief stets darauf hinaus, durch den Angriff die Anklagen zu parieren, dabei verwickelten sie sich ständig in Widersprüche; ihre Lage war um so gefährdeter, da die Werkzeuge der Methoden ihrer Politik sich gegen sie wandten. Sie gaben zu, den Junkeraufstand organisiert und Truppen in Marsch von Gatschina gegen Petrograd gesetzt zu haben, sie konnten nicht leugnen, mit den Militärmissionen in Verbindung gestanden zu haben, sie vermochten natürlich nicht ihre Teilnahme an der Konstituante von Samara zu bestreiten. Ihre ganze Haltung gegen die Sowjets versuchten sie ja gerade durch ihr Festhalten an der Konstituante, an den parlamentarischen Regierungsformen zu erklären; damit wurde das ganze Problem „Demokratie“ und „Diktatur“ aufgeworfen; alle ihre Schritte begründeten sie mit diesem Kampf für die Konstituante, jenes Parlament, das nur einen einzigen Tag zusammentreten durfte, in dem die S.R. die Mehrheit hatten, deren Präsident Tschernow gewesen war. Die Wahlen zur Konstituante waren monatelang verzögert worden; die „Provisorische Regierung“ ist eigentlich nur eine Art Direktorium gewesen; niemand wünschte den Zusammentritt des Parlamentes, das die Schwierigkeiten nur noch erhöhen konnte. Erst als die Sowjets die Macht an sich gerissen hatten, versuchten die S.R. ihre Konstituante auszuspielen, zu ihrem Schutz bewaffnete Demonstrationen zu veranstalten. Aber Zeugen, Mitglieder der S.R., bekundeten, daß sich niemand fand, der für die Konstituante sein Leben eingesetzt hatte, die militärischen Organisationen versagten völlig – und in der späten Abendstunde des 5. Januar 1918 genügte die Aufforderung eines einzigen Mannes, eines Matrosen: die Konstituante wurde aufgelöst – „Alle Macht den Räten“ – den unmittelbar aus den Betrieben hervorgegangenen Deputierten.

Der II. Rätekongreß hatte bereits drei Tage nach der Machtergreifung durch die bolschewistische Partei die neue Regierung bestätigt; man war sich des rein proletarischen Charakters dieser Regierung bewußt, vor allem aber ihrer radikalen Einstellung gegen die Bourgeoisie in allen ihren Schattierungen. Die S.R.P. befand sich in völliger Auflösung und Verwirrung; ihre Führer versuchten sich sofort einiger Regimenter zu versichern; aber Gotz wurde ausgelacht, Tschernow hatte den Kopf verloren, Kerenski zog sich um und verschwand bei Nacht und Nebel. In dieser verzweifelten Lage knüpfte Gotz sofort Verbindungen mit bürgerlichen Organisationen an, aber vergebens brachte man bewaffnete Organisationen zusammen, – es existierten nur noch Stäbe ohne Soldaten. In Petrograd schlugen sich die Junker tapfer zwei Tage lang – Gotz leugnet nicht, als Mitglied eines Militärstabes gemeinsam mit bürgerlichen Elementen diese Revolte der jungen Bourgeoisie organisiert zu haben. Er muß zugeben, daß auf der Seite der Junker keine Arbeiter gekämpft haben; für das Tribunal war diese Gemeinschaft der Führer der S.R. mit Vertretern der Bourgeoisie von entscheidender Bedeutung. Und mit derselben Genugtuung wurde festgestellt, daß sich an den Umzügen für die Konstituante in der Mehrheit Damen und Herren, aber fast keine Arbeiter beteiligt hatten.

Damals saßen noch in Rußland die Botschafter und Militärmissionen der Entente, denen über Nacht die Aufgabe erwuchs, die Interessen jener Kapitalisten wahrzunehmen, die große Kapitalien in der russischen Industrie angelegt hatten. Der Sturz der Kerenskiregierung hatte die Entente eines Bundesgenossen beraubt, der zwar nicht mehr imstande schien, der deutschen Front einen entscheidenden Schlag zu versetzen, aber mindestens zahlreiche Kräfte zu fesseln vermochte, die eine Offensive der Deutschen im Westen unmöglich machten. Die Botschafter hatten bereits längst den Zusammenbruch Rußlands vorausgesehen; die Entente war ferner unzweifelhaft nicht imstande, Rußland mit Kriegsmaterial so ausreichend zu versorgen, um weiter als ernstlicher Gegner Deutschlands in Betracht zu kommen. Es mußte der Entente nach dem Zusammenbruch der russischen Front vor allem daran gelegen sein, vor der sozialen Revolution zu retten, was nur irgend möglich war. Paléologue hat bereits seit dem Kriegsausbruch argwöhnisch die Arbeiterbewegung beobachtet und verzweifelt die Mißerfolge der Kerenskiregierung verfolgt. Ungeheure Kapitalien waren in der russischen Industrie fundiert. Die Nationalisierung der Betriebe war vor allem ein Schlag gegen das ausländische Kapital. Notwendig mußte sich bei solcher Lage ein enges Bündnis zwischen allen besitzenden Schichten und den Ententevertretern ergeben. Und die Demokratie, die das Eigentum unbedingt anerkannte und die Freiheit des Individuums postulierte, mußte die Staatsform sein, zu der sich diese Koalition bekannte. In den S.R. sah man dank ihres moralischen Einflusses auf breite Massen die geeigneten Männer, einer solchen Politik Dienste zu leisten.

 

Am achten Verhandlungstage erschien vor dem Obersten Tribunal ein merkwürdiger, schwarzgekleideter Mann mit hagerem, hartem Gesichtsausdruck, dunklen, unbeweglichen, unerbittlichen Augen; seine Sprache verriet französischen Akzent, seine Aussagen erfolgten mit großer Bestimmtheit und Energie. Der Mann erinnerte eher an einen strengen Asketen einer mittelalterlichen Sekte, er hatte etwas Mönchisches in seiner kalten Unnahbarkeit und Geschlossenheit.

Es war der ehemalige Offizier der französischen Republik – Pierre Pascal, der vor dem Tribunal die Beziehungen zwischen den Ententevertretern und der sozialrevolutionären Partei schilderte.

Pascal war an der Westfront verwundet worden, da er nicht mehr felddiensttauglich war, wurde er der französischen Militärmission in Rußland überwiesen. Beim Ausbruch der Oktoberrevolution sympathisierte Pascal mit den Bolschewiki; als die Militärmission Rußland verlassen mußte, blieb Pascal zurück und arbeitete für die russische kommunistische Partei. Er war ein Kamerad jenes Hauptmanns Sadoul, der im Frühjahr 1925 vom Kriegsgericht zu Orleans wegen Hochverrat freigesprochen wurde.

In seinen Aussagen erklärte Pascal:

„Als Angestellter der französischen Mission hatte ich verschiedene Arbeiten zu verrichten. Eine Zeit lang wurde ich mit der Dechiffrierung und mit der Redaktion der für die Kommandanten der Mission, die Generäle Lavergne und Niessel bestimmten Berichte betraut. Die französische militärische Mission unterhielt ständig enge Verbindung mit den S.R. Das Ziel der Tätigkeit der französischen Mission in der Periode vom Oktoberumsturz bis zum Brest-Litowsker Frieden war, Rußland zu zerlegen und zu schwächen.

Zum Zwecke der politischen Schwächung teilten die Verbündeten Rußland in Einflußsphären. Frankreich wurde der Süden zugeteilt, die Krim und ein Teil des Kaukasus inbegriffen. Der andere Teil des Kaukasus kam in die englische Einflußsphäre. Repräsentant des Einflusses in der südlichen, Frankreich zugeteilten Sphäre war General Berthelot, der sich damals in Rumänien befand. Zum Zwecke der wirtschaftlichen Schwächung Rußlands hat Frankreich damals die Streiks unterstützt, besonders den Streik der Staatsangestellten und Beamten. Außerordentliche Aufmerksamkeit hat es dem Streik im Kommissariat für die Volksernährung gewidmet. „Dieser Streik,“ erklärte der Chef der Mission, „wird eine große Bedeutung haben.“ Die Streikenden vernichteten alle Vorräte. Moskau blieb ohne Zufuhr von Nahrungsmitteln. Das Geld für die Streikenden gaben die Banken, besonders die Russisch-Asiatische Bank, die ganz unter dem Einfluß der französischen Mission stand.

Die politische Arbeit der französischen Mission leitete der französische Gesandte Noulens. Er hielt sich damals in Wologda auf, wo er den Stab der Konterrevolution schuf. Dort wurde ein genauer Plan einer bewaffneten Eroberung von Sowjetrußland ausgearbeitet. Es wurde beschlossen, die Basis für den späteren Aufmarsch der Konterrevolution an verschiedenen Punkten der Peripherie Sowjetrußlands zu schaffen. Tschechoslowakische, elsässische, serbische, polnische Legionen wurden organisiert. Im Interesse der konterrevolutionären Arbeit wurden in die größeren Städte Rußlands legale französische Konsuln geschickt. Die Aufstände der Tschechoslowaken und in Jaroslaw wurden unter der aktiven und unmittelbaren Teilnahme der französischen militärischen Mission und des gewesenen französischen Gesandten Noulens entfacht.

Nach dem Aufstand der Tschechoslowaken entfaltete die französische Mission eine noch lebhaftere Tätigkeit. Es wurde ein Plan ausgearbeitet, Moskau in einem engen Kreise zu umzingeln. Man beschloß, Jaroslaw, Nishnij-Nowgorod, Tambow und andere im Kreise um Moskau liegende Städte zu besetzen. Ziel dieser Umzingelung war, Moskau und Zentralrußland zu isolieren, die Zufuhr der Nahrungsmittel zu verhindern und in der Hauptstadt Hungersnot hervorzurufen. Aus diesem Grunde wurden die Aufstände in Jaroslaw, Tambow und anderen Städten angezettelt.

Als die Aktion der Tschechoslowaken und der Aufstand in den Provinzen nicht zum Erfolg führten, ging die französische Mission zu einer anderen Art von Tätigkeit über. Ich selbst habe ein chiffriertes Telegramm gelesen, in dem über Terror gesprochen wurde. Ich kann bestimmt sagen, die französische Mission hat sich mit Aufforderungen zum Terror befaßt. Sie hat darauf spekuliert, der Terror werde blutige Repressalien der Sowjetregierung hervorrufen. Die Repressalien würden die Empörung wecken und so die Zahl der Gegner der Sowjetregierung vermehren. Als ich am zweiten Tag nach dem Attentat auf Lenin in die Mission kam, hat mich der Chef der Mission, Lavergne, mit der Frage empfangen: „Haben Sie gelesen, was sie über uns schreiben? Als ob wir an dem Attentat an Lenin beteiligt wären ...“ Als ich schwieg, sagte General Lavergne: „Ich weiß nicht, wie weit Lockart (der ehemalige englische Gesandte in Moskau) beteiligt ist; ich bin nicht beteiligt.“ Dies sagte er so, daß ich den Eindruck hatte, General Lavergne müsse an dem Attentat beteiligt sein.“

Auf die Frage des Verteidigers Murawjew, welche politischen Ziele die französische Mission verfolgt habe, ob sie die Sowjets stürzen wollte oder für den Kampf mit Deutschland zu gewinnen suchte, antwortete Pascal: „Meiner Ansicht nach war das letzte, eigentliche Ziel der französischen Regierung, die Regierung der Sowjets zu stürzen.“

„Was waren die Pläne der französischen Mission?“ fragte Krylenko den Zeugen.

„Die Sowjetmacht zu stürzen. Zuerst scheinbar eine Koalitionsregierung zu bilden, dann aber sich von den sozialistischen Elementen zu befreien, und eine Kadettenregierung zu bilden.“

„Wie war das Verhältnis der französischen Mission zu den russischen Arbeitermassen?“ ... „Das verächtlichste!“ erwiderte Pascal.

„Glauben Sie, daß die französische Mission eine Partei unterstützt hätte, die den Sturz der Sowjetmacht nicht anstrebte?“

„Noulens hätte es nicht getan,“ erwiderte Pascal kurz und mit Nachdruck.

„Wie war das persönliche Verhältnis Noulens’ zu den Russen?“ „Ich wies darauf schon hin, daß alle, angefangen vom Chef der Mission, bis zum letzten französischen Offizier, von den Russen mit der größten Verachtung sprachen ...“ – Eines Tages kehrte Pascal im Zuge mit Noulens nach Moskau zurück. Der Zufall wollte es, daß er mit einem russischen Soldaten in einem Wagen übernachten mußte. Als Noulens davon Kenntnis erhielt, sprach er seine Mißbilligung darüber aus, daß Pascal mit einem Bolschewiken zusammen war. Pascal bemerkte, es wäre kein „Bolschewik“, sondern ein gewöhnlicher russischer Soldat. Darauf erwiderte Noulens: „Ganz egal, ich will nicht, daß ein Russe in meinem Zuge übernachtet.“

Der Verteidiger Schubin interessiert sich für die Frage: Wie hätte sich die französische Regierung zu einem Kriege der Sowjetmacht gegen Deutschland verhalten.

Pascal erwidert:

„Der Haß der französischen Regierung gegen die Bolschewiki war so groß, daß sie kaum die ruhige Existenz dieser Macht zugelassen haben würde.“

„Wurde die östliche Front letzten Endes doch geschaffen?“ fragten den Zeugen die Verteidiger der zweiten Gruppe der Angeklagten.

„Ja, es wurde eine antisowjetistische, aber nicht eine antideutsche Front gebildet,“ erwidert Pascal.

Krylenko kommt auf die Frage der Subventionen der verschiedenen antisowjetistischen Organisationen durch die französische Mission zu sprechen.

Pascal erklärte, daß alle diese Organisationen der Sowjetmacht feindlich gesinnt waren und aus französischen Staatsmitteln unterstützt wurden. Der Sekretär Petit habe Pascal selbst mitgeteilt, welche Gruppen von den Franzosen Gelder empfingen.

Der Verteidiger Tager ersucht Pascal, auszusagen, welche terroristischen Akte die S.R. mit moralischer Billigung der Entente zur Ausführung gebracht hätten. Pascal weist auf die Verwundung Lenins, den Mord Wolodarskis hin.

Die Aussagen Pascals machten einen sehr starken Eindruck, der noch durch Aussagen anderer Franzosen verstärkt wurde.

Frossard, der Sekretär der Kommunistischen Partei Frankreichs wurde drei Stunden lang über die Beziehungen der französischen Regierung zu sowjetfeindlichen Organisationen vernommen. Seine Aussage ergab: Die Politik der französischen Regierung baute sich von 1917 bis 1922 auf ununterbrochenen Interventionen auf. Die französische Regierung dachte nicht daran, die Macht in Rußland einer sozialistischen Regierung zu übergeben, denn sie betrachtete als feste Regierungsform für Rußland die konstitutionelle Monarchie und unterstützte alle auf einen Sturz der Bolschewisten zielenden Versuche, gleichviel, von wem sie ausgingen. Die Ententebotschafter hätten alle Mittel aufgeboten, den konterrevolutionären Versuchen im Innern des Landes Vorschub geleistet und Anschläge gegen einzelne Vertreter der Sowjetmacht angestiftet. Diese Aktionen haben der französischen Republik monatlich 50 Millionen Francs gekostet; die Gesamtkosten aller Interventionen kamen dem französischen Volke auf etwa 1 Milliarde Francs zu stehen.

Der Angeklagte Timofejew bemüht sich, den Beweis zu führen, die S.R. wären Gegner jeder Intervention gewesen. Aber kann er bestreiten, daß die Tschechoslowaken von französischen und englischen Offizieren geführt wurden und als Elitetruppe der Regierung von Samara galten? daß die S.R. im Wolgagebiet gemeinsam mit diesen Truppen gekämpft haben? Kann er bestreiten, daß er selbst Verhandlungen mit der Entente geführt hat? Krylenko legt ihm Dokumente vor, aus denen das engste Einvernehmen der S.R. mit den Ententetruppen im Murmangebiet erhellt, die Entente hat dort sogar ohne jeden russischen Einfluß völlig selbständig operiert; es gab ein alliiertes Oberkommando, von dem die S.R. Vertreter Befehle empfingen! Timofjejew versucht noch einmal einzuwenden, es habe sich nur um die Wiederaufrichtung der Front gegen das imperialistische Deutschland gehandelt – noch einmal greift Pascal ein und wiederholt seine Aussagen über die Einstellung der Entente zur Sowjetregierung – es kam in erster Linie darauf an, die Diktatur des Proletariats zu stürzen und der kapitalistischen Ordnung zur Macht zu verhelfen. Das war der ganze Sinn des Kampfes gegen die Sowjets.

Einige Tage später eröffnete René Marchand dieselben Perspektiven; er kann konkrete Angaben über die direkten Beziehungen der Ententemissionen zu den S.R. machen. In seiner Gegenwart erhielt das Mitglied der Mission, Ehrlich, 50000 Rubel für die S.R. von der Mission. Über andere Anweisungen der Mission habe er noch vom Kassierer der Mission erfahren. Nach Abfahrt der französischen Mission wurden die Gelder für Unterstützung der S.R. dem dänischen Konsulat übergeben, mit dem der S.R. Elias Minor in Verbindung gestanden habe.

Der ehemalige Kriegsminister Werchowski bestätigt die Gelderhergabe der Entente an weißgardistische Organisationen, der Name eines Generals Suwarow taucht auf, der von der französischen Mission Gelder empfing und an Organisationen weiterleitete. Dieser Suwarow war Mitglied eines Militärstabes, dem Vertreter verschiedener bürgerlicher Parteien angehörten; aber auch der S.R. Gotz war Mitglied des Stabes; er bestreitet es nicht.

Die Aussagen dieser Zeugen haben im Frühjahr 1925 in Orleans eine Bestätigung durch den Major Laurent erfahren, dessen Name bereits im Moskauer Prozeß aufgetaucht war: René Marchand hatte ausgesagt, daß dieser Laurent mit den S.R. verhandelt hätte, um militärische Organisationen vorzubereiten, man hatte besonders lange darüber beraten, wie man S.R. in die Rote Armee als Kommandeure einschmuggelte.

Laurent ist in Orleans persönlich erschienen und erklärte unter seinem Eid vor dem bürgerlichen Gericht, daß man terroristische Akte gegen die Führer der Sowjets nicht nur moralisch gebilligt, sondern selbst solche Attentate gegen Trotzki und andere Führer der Sowjetrepublik geplant hätte ...

Man hat immer versucht, die Beziehungen der S.R. zur Entente zu verschleiern, Semjonow, der vor Gericht keineswegs im Mittelpunkt stand, wurde als einziger Zeuge dargestellt; da er den S.R. den Rücken gewandt und ihre Machenschaften preisgegeben hatte, war es ein leichtes, ihn als Provokateur hinzustellen. Aber dabei verschwieg man, daß dieser Semjonow immer eine große Rolle in den Kampforganisationen gespielt hatte und auf dem Parteitag der S.R. zum führenden Mitglied des Stabes der Kampforganisation der S.R. ernannt worden war; er hatte nie eine geringe Rolle gespielt; ihm war die gesamte terroristische Tätigkeit in den Reihen der Sowjettruppen anvertraut, als die Samararegierung auf allen Fronten gegen Moskau vorrückte. Semjonow hatte sein Leben in die Schanze geschlagen. Vor Gericht erblickte man einen mittelgroßen, etwas schmächtigen Mann von einigen 30 Jahren, er erinnerte eher an einen Menschen, der aus einem Bureau kam, als an einen Terroristen; hellblond, bleich, immer etwas übernächtigt, offenbar schwer in innere Kämpfe verstrickt, äußerst nervös, nur während seiner Aussagen stets gleichmütig, ganz ohne jede Pose – war er in diesen Verhandlungen am meisten exponiert – er – als Renegat – war leicht anzugreifen, dabei trafen seine eigenen Angriffe immer die wundesten Stellen. Wenn Schwierigkeiten entstanden, so infolge der Zwiespältigkeit und Halbheit der S.R. überhaupt; ihr Schwanken und Schillern, ihre Halbheit und Unschlüssigkeit erschwerte die einfache, klare Feststellung der Vorgänge. Die S.R. Partei war nie ein festes Gefüge – sie war es erst recht nicht im Bürgerkriege, in der Zeit der Illegalität. Es konnte sehr leicht möglich sein, daß die Mitglieder der Zentralkomitees durchaus nicht derselben Meinung waren, und daß jener billigte, was dieser verwarf. Es gab eine Instanz, die für alles Geschehen verantwortlich war: eben das Zentralkomitee – aber es gab im Grunde keine Personen, die verantwortlich sein wollten – es gab Meinungen von Personen. Und jemand konnte schon individuell seinem Standpunkt Ausdruck gegeben haben – war es für die Partei als Ganzes unbequem, so leugnete man später ab. Es gab keine Führung, kein Programm, niemand gab Direktiven, weil alle sich berufen fühlten. Semjonow, ein altes Mitglied der Partei, holte sich für alle seine Unternehmungen die Genehmigung des Z.K. Da er rührig, umsichtig und verwegen war, schien er wertvoll – man ließ ihn deshalb gewähren, gab ausweichende Antworten, wollte bestimmte Akte geschehen lassen und zauderte wieder, sie zu genehmigen. Eine Weile ließ sich das Spiel der halben Zusage, des Nein-Ja-Sagens schon an; aber als sehr ernste Taten geschehen waren, und die Mitglieder der Partei verlangten, die Partei solle zu diesen Taten stehen, wich das Z.K. scheu zurück; der Mord auf Wolodarski hätte eine Steigerung verlangt – wenn nicht gerade den offenen Aufstand – so doch die offene Erklärung gegen die proletarische Regierung – aber da nun die S.R.P. eine Arbeiterpartei sein wollte, bedeutete solche Erklärung eine Kampfansage ans Proletariat – Lenin war längst ein den Arbeitern teurer Name, welche Partei, die auch nur mit der Arbeiterschaft sympathisierte, hätte ein solches Attentat gutheißen können! Also wich man aus und gab die Täter, die ihr Leben eingesetzt hatten, preis. Wundert man sich, daß die Täter endlich das Lager verließen, in dem man ihnen nie den Rücken deckte? Mußten sie nicht allmählich gewiß sein, daß diese Partei gar nicht wußte, was sie wollte, wohin ihr Weg führte. Semjonow schreckte zurück, von bürgerlichen Organisationen Gelder zu empfangen – Donskoi, Mitglied des Z.K., erklärte höhnisch: „Non olet.“ Eine Weile schien es noch, als könnten die S.R. eine selbständige Politik treiben; dann aber ballte sich eine mächtige Front zusammen, die Bürger vor allem erwachten aus ihrer Betäubung, die Entente bot alle Kräfte auf, ließ alle Minen springen – die weißen Generale drängten von allen Seiten ins Land, die S.R. wurden in die zweite Linie gestoßen, den Bürgern, den Generalen, den fremden Missionen war offenbar, daß die Parolen der S.R. nirgends mehr verfingen; der Kampf ließ sich nur noch mit brutalsten Mitteln führen, das Gerede von der Demokratie sollte ein Ende haben, rücksichtslos schob man alle Kulissen beiseite: auf offener Bühne erschien der weiße Schrecken; die S.R. verhandelten mit dem französischen Botschafter Noulens über die Zusammensetzung einer neuen Regierung im Falle des Sieges der Samarafront. Die S.R. designierten Tschernow: „Genug von sozialistischen Experimenten. Ich will nichts von Tschernow wissen,“ erklärte Noulens barsch, damals einer der wahren Herrn des weißen Rußlands. Die S.R. standen plötzlich verlassen da. Man mag zur Beleuchtung der Lage die Memoiren weißer Generale nachlesen: sie strotzen von Verachtung für die S.R. Je heftiger der Bürgerkrieg tobte, desto geringer wurde der Einfluß der S.R. Sie hätten die Reihen der Konterrevolution verlassen können – aber nachdem sie sogar eine ganze Front der „Konstituante“ formiert hatten, war es unmöglich, diesen Bankrott einzugestehen, ohne – mit blutbefleckten Händen – dem Fluche der Lächerlichkeit, der Verachtung preisgegeben zu sein. Die Partei als Ganzes mußte schon weiter vegetieren; aber ihr nie festgefügter Bau zitterte in allen Gründen – die Mitglieder sprangen ab – so erklärt sich Semjonows Abfall, seiner Komplizin Konopleva Reue, der anderen Bußgang – je heftiger der Bürgerkrieg tobte, desto schärfer erkannte der S.R., wer auf der Barrikade neben ihm stand – nicht der Arbeitsmann aus dem Betrieb, nicht der Bauer, sondern der weiße Offizier, der Beamte, der Student. Zu wessen Gunsten sollte Lenin fallen?!

 

Sawinkow hat 1924 in jener aufregenden Nachtsitzung vor dem Tribunal die grauenhaft erniedrigenden Gefühle geschildert, die er in den Vorzimmern der Ententeminister empfand. Er schildert sein Entsetzen, als Churchill auf eine Karte wies und ihm „unser“ Rußland zeigte – diesen Ekel Sawinkows sollte Semjonow nicht empfunden haben? Oder jener andere Ignatiew, der auch zur 2. Gruppe der Angeklagten gehörte und sich vor allem im Gebiete von Archangelsk betätigte?! Ignatiew schilderte, wie die Ententetruppen im Norden gehaust hatten, Sondergerichte einsetzten, Stäbe ernannten, denen die Russen untergeordnet waren. Immer wieder durchtönte dieselbe Melodie dieses Trauerepos: wir wurden verächtlich behandelt, man benutzte uns, die Besetzung von Archangelsk erfolgte nur im Interesse der großindustriellen Machthaber. Ignatiew schilderte die Taten der Weißen – immer waren die Arbeiter nur die Opfer, immer richtete sich alles gegen das Proletariat. Der Blick auf den Nebenmann war für den argwöhnischen, schwankenden Beobachter erschütternde Erkenntnis.

Da saß unter den Angeklagten der 2. Gruppe ein hellblondes, mittelgroßes Geschöpf – Lydia Konoplewa; erinnerte an ein Bauernmädchen, das sich „hochgearbeitet“ hatte, vielleicht Lehrerin geworden war (die kleinbürgerliche Physiognomie war überhaupt ein auffallendes Merkmal aller dieser Typen); sie war ein guter Soldat der S.R. geworden, sicherlich ohne eigene Gedankenwelt, aber vom festen Willen erfüllt, für die Unterdrückten zu kämpfen; verwegen, erfinderisch, losgerissen von jeder Tradition und den Formen der alten Gesellschaft, bereit, ihr Leben zu opfern. Für sie hatte die Haltlosigkeit der S.R. die größte Enttäuschung bedeutet; von ihr existiert ein Brief an Tschernow, in dem sie sich auf Unterredungen mit ihm beruft, in deren Verlauf er sich entrüstet über die ausweichende Haltung ihrer Auftraggeber ausgesprochen und den Terror gebilligt habe. Aus dem Briefe spricht das Gefühl der tief enttäuschten, verlassenen Kreatur, die man noch obendrein verhöhnt, weil sie den Rückweg in die Gesellschaft, diesmal in die Gemeinschaft des Proletariats, zurückfinden wollte. Diese Angeklagten der II. Gruppe wollten keine Außenseiter sein, sie sind nicht die Führer der Partei gewesen, vielleicht wird man sagen, sie hätten deshalb nicht draußen bleiben können; aber sie waren irregeleitete, ausgenützte Geschöpfe – sollten sie, da sie Reue empfanden und bekannten, die neue proletarische Gemeinschaft nicht aufnehmen, gegen die sie ehedem die Hand erhoben hatten, die jäh herniederfiel, als plötzlich die Erkenntnis zuckte: für wen erhebe ich die Hand?!

Die wahren S.R., die Führer der Partei, die Offiziere und Auftraggeber kämpften noch vor dem Tribunal um diese isolierte Partei als um ein Ganzes. Ein tragischer Schatten huschte zuweilen über ihr Geschick. Ihre Anhänger im Lande hatten sie längst verlassen. Die Ruinen von Jaroslaw waren ein furchtbares Memento. Die S.R. hatten die Macht gehabt, und die Probe nicht bestanden. Die Bolschewiki hatten in vielen Stücken ihr Programm ausgeführt – das warf man ihnen vor – „ihr habt uns bestohlen“. Aber die Bolschewiki hatten es ausgeführt.

Die Führer kämpften vor dem Angesicht Europas; sie wichen in die weiten Wüsteneien ihrer Zersplitterung und Haltlosigkeit zurück, wenn man sie festhalten wollte; im Grunde waren sie echte Russen, wahre Kutosowrussen, aber 1812 hat diese Methode des Ausweichens Rußland gerettet; die Leute, die sich jetzt ins Weite verloren, gaben ihre Partei preis, ihren ganzen Kampf um die Demokratie. Sie verwickelten sich in unlösbare Widersprüche: sie waren gegen Interventionen, aber sie waren überall mit den intervenierenden Mächten verbunden, sie waren gegen die Bourgeoisie, aber sie standen mit bürgerlichen Organisationen in engster Verbindung und empfingen sogar Gelder von ihnen, sie wollten die Front gegen Deutschland errichten, aber sie waren bereit, Boten ins deutsche Hauptquartier zu senden, sie scheuten den Terror, aber sie haben in ihren Zeitungen nach geschehener Tat gejubelt, sie wollten verhindern, daß Geld an Deutschland abgeliefert würde, aber sie wollten den Zug unbewacht stehen lassen, wenn die Sprengung geschehen war ... Sie wollten eine Partei der Arbeiter sein, aber nach der Oktoberrevolution organisierten sie zuerst eine Erhebung der Offiziersschüler. Sie waren nicht gegen die Sowjets, aber für die Konstituante, sie hatten den Zusammentritt der Konstituante nicht beschleunigt, obschon sie es vermocht hätten; aber sie erhoben die Konstituante zum unantastbaren Heiligtum, nachdem die Konstituante längst nicht mehr dem Willen des Volkes entsprach. Man fand einen Brief von Gotz, in dem es von dunklen Anspielungen wimmelte; u. a. kam auch der bekannte Satz, der alte Wahrspruch der S.R.P., vor: „Im Kampf wirst du dein Recht erwerben!“ Wundert man sich, wenn Gotz umwunden erklärte, dieser Ausdruck beziehe sich nur auf den Kampf um die Konstituante, nicht aber um den Kampf gegen die Sowjets?!

Die Führer versuchten sich durch solche Methoden des Ausweichens zu retten, aber gerade diese Taktik wurde ihnen zum Verhängnis, um so kräftiger stieß das Tribunal nach und plötzlich entlarvte sich eine Partei, die gar kein festes Gefüge, keine straffe Organisation war, sondern eher wirkte wie ein Schwarm zusammengelaufener ratloser, verärgerter Menschen. Wie imposant richtete sich im Gegensatz dazu das eherne Gebäude der bolschewistischen Partei auf!

 

Die Haltung der S.R. zu den terroristischen Akten offenbarte ihre ganze Schwäche als Partei, die sich vor Gericht zugleich als ihre Stärke erwies. Niemand hat gezweifelt, und niemand konnte Einspruch erheben, daß die Attentate auf Lenin, Trotzki und Wolodarski von Mitgliedern der Partei vorbereitet und ausgeführt waren. Fanny Kaplan, die Lenin schwer verwundet hatte, war eine Sozialrevolutionärin; Semjonow und die Mitglieder seiner Kampforganisationen gehörten zur Partei. Der Prozeß rollte nicht die Frage der Täterschaft auf; sie war längst entschieden. Dem Tribunal kam es vielmehr darauf an, in den Hintergrund einzudringen, die Zusammenhänge zwischen den Offizieren und Soldaten festzustellen, das Z.K. als eine Mordzentrale zu entlarven, die Partei zu überführen, daß sie zu Attentaten auf Arbeiterführer angestiftet hätte. Bewiesen war längst, daß die Ententemissionen Attentate auf bolschewistische Führer moralisch billigten; bewiesen konnte aber nicht werden, daß zwischen den Missionen und dem Z.K. Verabredungen für bestimmte Attentate bestanden haben. Möglich ist es schon; gelegen war den Missionen an solchen Attentaten. Die Führer des Z.K. konnten nicht bestreiten, daß sie um die Absichten von Attentaten gewußt haben; Semjonow hat sowohl Gotz wie Donskoi von seinen Plänen benachrichtigt; beide konnten dieser Aussage nicht widersprechen, sie bestritten energisch, Semjonow ermuntert zu haben, Gotz will ausdrücklich Semjonow geraten haben „er möchte noch mit der Ausführung warten.“ Aber ein striktes Verbot des individuellen Terrors seitens der Partei ist nie ergangen, nach vollbrachter Tat rückte das Z.K. öffentlich von den Tätern ab, aber in Gebieten, wo die Bolschewiki nicht die Macht besaßen, jubelte die Presse der S.R. auf. Eine moralische Verurteilung der Täter seitens der Partei ist nie erfolgt, geschweige daß man die Täter etwa ausgeschlossen hätte. Als Wolodarski ermordet wurde, spielte sich folgende merkwürdige Szene ab, die Tschernow in einer Emigrantenzeitung geschildert hat:

„Das Mitglied der Partei der Sozialrevolutionäre S. M. Postnikow hat mir über diesen Fall wörtlich folgendes mitgeteilt:

„Der Mord an Wolodarski erfolgte in der Hitze der Wahlkampagne zum Petrograder Sowjet. Plötzlich kommt die unerwartete Nachricht: Wolodarski durch einen Schuß getötet. Natürlich nutzten die Bolschewisten dies sofort aus, um die Zeitung zu schließen und durch die schärfsten Repressalien unsere ganzen Wahlerfolge zu annullieren. Ich lief sofort zu Gotz und fragte ihn, was los sei. Er antwortete: ein Arbeiter, seiner Überzeugung nach Sozialrevolutionär, der einen ernsten Parteiauftrag hatte, war Zeuge, wie das Automobil Wolodarskis eine Panne erlitt; er konnte sich nicht zurückhalten und schoß auf ihn, da er ihn für den Urheber der in Petrograd unter dem Regime Sinowjews begangenen Grausamkeiten hielt. „Wissen Sie, wenn wir in einer anderen Lage wären – fügte Gotz hinzu, – wie wir dann nach unseren Traditionen verfahren müßten? Wie man solches eigenmächtiges Handeln an einem Mitglied, das auf einem ihm anvertrauten revolutionären Posten steht, bestrafen müßte?“

Diese Erklärung Tschernows spielte vor Gericht eine große Rolle. Man fragte Gotz vergebens, welchen „ernsthaften Parteiauftrag“ hatte dieser S.R.? Merkwürdig, daß er sich gerade jetzt „nicht zurückhalten“ konnte, merkwürdig, daß Gotz an der Handlung nur auszusetzen hatte, daß sie „eigenmächtig“ erfolgte! Und wie seltsam kontrastierte zu diesem Gespräch die Weisung Gotz’ an Semjonow, man sollte noch warten. Und was wußte Tschernow zu Semjonows Angaben zu sagen? Sie sind eine ... „verräterische Denunziation.“ Lydia Konoplewa hat in einem öffentlichen Brief an Tschernow eine Frage gerichtet, ohne je eine Antwort erhalten zu haben:

„Sie stützen sich auf die Erzählung S. P. Postnikows über seine Unterhaltung mit Gotz nach der Ermordung Wolodarskis: „Ich lief sofort zu A. R. Gotz und fragte ihn, was los sei. Er antwortete: ein Arbeiter, Sozialrevolutionär seiner Überzeugung nach, der einen wichtigen Parteiauftrag hatte, war Zeuge, wie das Automobil Wolodarskis eine Panne erlitt –, er konnte sich nicht zurückhalten und schoß auf ihn ...“

Halten Sie es nicht für möglich, Viktor Michailowitsch, daß Gotz die Wahrheit vor Postnikow verbarg, wie sie den meisten Mitgliedern der Partei der Sozialrevolutionäre verborgen blieb? – Postnikow hatte, wie Sie selbst wissen müssen, nicht die geringste Beziehung zur militärischen Arbeit und der Kampfarbeit in der damaligen Zeit.

Doch selbst diese so zweifelhafte „Zeugenaussage“ brauchen Sie nicht vorsichtig genug.

Was ist das für ein „ernster Parteiauftrag“, den Sergejew hatte? – Es ist etwas seltsam, daß das mit „einem ernsten Parteiauftrag“ versehene Mitglied der Partei der Sozialrevolutionäre sich gerade in diesem günstigen Augenblick in der Nähe Wolodarskis befand und überdies noch mit einem Revolver und einer Handgranate in der Hand.“

Im Prozeß wiederholte Semjonow sein Bekenntnis in der Broschüre: er habe sich Mitte Mai 1918 an Donskoi gewandt und ihm den Vorschlag gemacht, zu terroristischen Aktionen überzugehen. Donskoi freute sich über diesen Vorschlag sehr. Bald darauf traf Semjonow auch mit Gotz zusammen, mit dem er eine Unterredung über die Organisierung terroristischer Aktionen hatte. Gotz wies darauf hin, daß in erster Linie gegen Sinowjew und Wolodarski Attentate verübt werden müßten. Nachdem er die Zustimmung des Zentralkomitees erhalten hatte, begann Semjonow mit der Organisierung einer „Kampfabteilung“, die die geplanten Attentate verüben sollte. Die Beobachtung Sinowjews und Wolodarskis wurde der Iwanowa übertragen. Sie stellte fest, daß es am leichtesten wäre, auf Wolodarski ein Attentat zu verüben, der häufig Meetings zu besuchen pflegte. Als Tatort wurde der zu der Obuchowschen Fabrik führende Weg, den Wolodarski mit dem Auto öfters passierte, ausersehen. Als die Vorbereitungen zur Ermordung Wolodarskis getroffen waren, erstattete Semjonow dann Gotz Bericht. Gotz gab jedoch Semjonow den Rat, mit der Ausführung seines Vorhabens zu warten. Dies fand Semjonow sehr merkwürdig, da sich das Zentralkomitee der Partei der S.R. doch bereits prinzipiell mit dem Attentat auf Wolodarski einverstanden erklärt hatte. Am nächsten Tage begab sich Sergejew an den Tatort, um sich zu überzeugen, wie dieser von dem Auto Wolodarskis passiert werde. Von seinem Wagen aus fragte Sergejew den Semjonow noch, wie er sich zu verhalten habe, wenn die Gelegenheit günstig sei, um auf Wolodarski zu schießen. Semjonow antwortete, daß in solchem Falle eben gehandelt werden müsse. Zufällig blieb das Auto Wolodarskis nicht weit von dem als Tatort ausersehenen Platze stehen. Wolodarski verließ sein Automobil und ging Sergejew entgegen, der mehrere Schüsse auf Wolodarski abgab und ihn tötete. Es gelang Sergejew zu entfliehen. Am Abend des gleichen Tages begab er sich in die Wohnung Semjonows, wo er Unterkunft fand. 2 bis 3 Tage blieb Sergejew in Petersburg, dann wurde er von Semjonow nach Moskau geschafft. Am Tage nach der Ermordung Wolodarskis erschien eine Erklärung des Zentralkomitees der Partei der S.R., die Partei der S.R. habe mit diesem Morde nichts zu schaffen. Semjonow betonte, daß diese Erklärung für ihn und die anderen Mitglieder der Kampforganisation ein furchtbarer Schlag gewesen wäre. Bald darauf erschien der Bevollmächtigte des Zentralkomitees, Rabinowitsch, der Semjonow erklärte, er habe kein Recht gehabt, das Attentat zu verüben, er hätte vielmehr die Einwilligung Gotz’ abwarten müssen. Eine Weile später machte Rabinowitsch Semjonow den Vorschlag, mit ihm ein Meeting zu besuchen, und um alle Zweifel Semjonows zu zerstreuen, sagte er ihm, daß die Sache der Terroraktionen gut stehe, und alle Spuren verwischt seien, so daß Semjonow ruhig zu dem Meeting gehen könne.

Kurz nach der Ermordung Wolodarskis hatte Gotz eine Zusammenkunft mit Semjonow, in deren Verlauf Gotz erklärt haben will, er sei zu seiner großen Überraschung vor eine vollendete Tatsache gestellt worden. Vielleicht entspricht diese Angabe von Gotz der Wahrheit; aber fest steht, daß man Semjonow nicht in die Arme fiel, als er weitere Attentate organisierte. Gotz gab offen zu, die Ermordung Wolodarskis habe das Z.K. moralisch gebilligt; man habe nie in Erwägung gezogen, den Attentätern ihre Parteirechte zu entziehen. So kann man ohne Zweifel resultieren, daß das Z.K. durch Gotz ausweichende Bescheide gab, die Tat geschehen wissen, aber sie nicht inspiriert haben wollte. Und als man sah, welche tiefe Erregung in den breiten Massen der Tod Wolodarskis auslöste, schreckte man erst recht zurück und veranlaßte die Übersiedlung der Kampforganisation Semjonow von Petrograd nach Moskau.

In Moskau hat die Gruppe sofort wieder ihre Tätigkeit aufgenommen. Diesmal wollte man Lenin selbst treffen. Semjonow hat der Fanny Kaplan Munition und Gift verschafft, Donskoi wurde von Semjonow informiert; die Angeklagte Stawskaja bekundet, Donskoi sei über die Vorbereitungen zu dem Attentat auf Lenin genau unterrichtet gewesen, das Mitglied der Z.K. Timofjejew machte als Einwand gegen terroristische Akte nur geltend, man dürfe die Bolschewiki nicht zu Märtyrern machen. Aber hat nicht die Angeklagte Eugenie Ratner bereits erklärt, die Partei lasse sehr wohl Terrorakte gegen die Bolschewiki gelten? und stand Eugenie Ratner dem Z.K. nicht sehr nahe? Und war nicht außer jenem Attentat der Fanny Kaplan noch ein zweites Attentat auf Lenin geplant gewesen, in das Lydia Konoplewa verwickelt war, die im Februar 1918 B. N. Rabinowitsch den Vorschlag machte, W. I. Lenin zu töten. „Ich schlug vor, dies in Form eines individuellen Aktes auszuführen, um die Partei keinen Repressalien auszusetzen, hielt es jedoch für notwendig, die prinzipielle Stellung des Zentralkomitees zu dieser Frage festzustellen. Aus diesem Anlaß führte ich Unterhandlungen mit dem Mitglied des Zentralkomitees A. R. Gotz. – Gotz pflichtete mir bei und holte die Meinung des Büros des Zentralkomitees ein, das sich damals in Moskau befand. Speziell zu diesem Zweck fuhr Rabinowitsch nach Moskau. Die Sanktion des Büros des Zentralkomitees für den individuellen Akt wurde erteilt. Außerdem gab uns das Büro als Führer der terroristischen Gruppe das Mitglied des Zentralkomitees W. Richter bei.“

Aus dem Attentat wurde nichts; Gotz hat selbst später die Vorbereitungen inhibiert.

 

Ein Attentatsversuch gegen Trotzki mißlang, weil Trotzkis Zug von einem anderen Bahnhof abfuhr. Die Teilnehmer erzählen von einer merkwürdigen Nachtwanderung am Eisenbahndamm, und während sämtliche Beteiligte ihr Vorhaben eingestehen, behauptet die Angeklagte Iwanowa, sie habe die Bombe in jener Nacht nur mit sich herumgeschleppt, um sie auf die Wachtmannschaften, nicht aber auf Trotzki zu werfen ...

„Die S.R. Partei hatte prinzipiell nichts gegen die Attentate einzuwenden,“ gestand Timofejew. Er erzählt, daß Semjonow, von Gewissensbissen getrieben, bei ihm erschienen wäre und das Anerbieten stellte, Koltschak und Denikin zu töten. Und Timofjejew willigte in das Attentat gegen Koltschak ein. Das Attentat gegen Denikin verbot er, da Denikin die Konstituante nicht auseinandergejagt hätte und auf dem Territorium seiner Herrschaft die S.R. Organisationen nicht auflösen ließ.

Im Saale herrschte eine tiefe furchtbare Stille, als Timofjejew diese Aussage machte.

„Welche Gewissensbisse haben Semjonow zu diesem Entschluß veranlaßt?“ fragt Krylenko.

„Semjonow hatte das Gefühl, daß er sich mit der Organisation von Attentaten gegen die Revolution versündigt hat. Semenow fühlte damals Reue über seine blutigen Taten, die er gegen die Revolution verbrochen hat,“ antwortete Timofjejew.

„Welche Taten meinen Sie?“ fragt Krylenko.

Jene terroristischen Akte im Jahre 1918,“ lautet die Antwort Timofjejews.

Sie hatten also Kenntnis von diesen?“ fragt Krylenko.

Ich hatte von ihnen Kenntnis,“ antwortet Timofjejew.

Aber hat es im Z.K. der S.R. eine einheitliche Stellung zum individuellen Terror gegeben? Die Frage ist nicht geklärt worden. Zwei ehemalige S.R. sagten als Zeugen über eine Sitzung des Z.K. aus, in der man sich über die Frage des individuellen Terrors schlüssig werden wollte. Tschernow und ein großer Teil der Anwesenden habe für den Terror gestimmt, ein ebenso großer Teil habe ihn verworfen – und zuletzt sei man auseinandergegangen, ohne einen endgültigen Beschluß gefaßt zu haben. In diesem ausweichenden, unentschiedenen Verhalten enthüllt sich der ganze schwankende Charakter der S.R. Fühlten sie eine gewisse Scham, die Hand gegen Arbeiterführer zu erheben? Wollten sie keine Märtyrer machen? Mußten sie nicht noch vielmehr jetzt im Prozeß alle Rednerkünste aufbieten, um die Hintergründe zu verschleiern und sich nicht vor einem Arbeiterpublikum, im Arbeiterrußland als Arbeitermörder zu bekennen?! Es spielte sich ein erbitterter Kampf um die Hintergründe, um die Feststellung der wahren Antreiber zu Meuchelmorden ab. Die S.R. Partei war empfindlich getroffen, wenn der klare Beweis geführt werden konnte, daß es eine Mörderzentrale im Z.K. gab. Der klare Beweis ist nicht erbracht worden. Festgestellt wurden nur die Uneinigkeit im Zentralkomitee und seine Mitwisserschaft; festgestellt wurden die moralische Billigung und der Versuch, die Terrorgruppen zu schützen. Und durch die Aussagen Pascals konnte der Beweis geführt werden, daß die Mordtaten der S.R. im Lager der Entente Gefühle hoher Befriedigung auslösten. Man hat nie feststellen können, wie sich die Verhandlungen zwischen den S.R. und der Ententemissionen in Details abspielten. Den Unterredungen hat niemand beigewohnt, es existiert kein Stenogramm, kein Dokument. Aber als Lenin schwer verwundet aufs Lager hingestreckt wurde, jubelte die S.R. Presse, atmete man in den Missionen auf, und der französische Offizier Laurent grübelte mit seinen Kumpanen nach: Wie töten wir Trotzki? ... Draußen vor den Toren Moskaus stand an einer Eisenbahnbrücke eine hohe weibliche Gestalt: Iwanowa. Das Umschlagtuch barg eine Bombe. Und die brennenden Augen bohrten sich fiebernd in die schwüle Nacht: blinkten noch immer nicht die Lichter von Trotzkis Zug?

 

Die Expropriationen und Sprengungen hat man zugegeben. Darüber wurde nicht lange gestritten. Man gestand, Material von den Franzosen erhalten zu haben, um Eisenbahnzüge zum Entgleisen zu bringen, Brücken zu sprengen. Donskoi hat keine Ausflüchte gemacht. Das waren „Kriegsoperationen“ der Front der Konstituante. Auch die Expropriationen, die Bestechungen von Beamten, die Einbrüche ins Post- und Telegraphenamt an der Ecke Twerskaja-Kammerherrengasse, in staatliche Lebensmittellager gab man zu. Von dem Tode des reichen Kaufmannes wußte das Z.K. nichts; diese Tat hat Semjonow nicht berichtet. Es berührt schon merkwürdig, daß man sich nicht über diese Einbrüche und Diebstähle erregte – es waren Bagatellen – nachdem man als Mörder entlarvt war.

 

Die Aufstände in Archangelsk, im Murmangebiet, die Errichtung der Wolgaregierung, der Aufruhr in der Ukraine und alle diese offenen Kampfhandlungen der S.R. gegen die Sowjets haben nicht so sehr im Mittelpunkt des Interesses gestanden, wie jene terroristischen Handlungen. Die Bolschewiki haben den individuellen Terror nie gebilligt und ihn schon zur Zarenzeit verurteilt. Sie waren dank ihrer marxistischen Schulung überzeugt, daß der Erfolg der Revolution nur einer Massenbewegung zu verdanken ist. Und immer hatte sich schon im Gegensatz zwischen individuellem und Massenterror am auffälligsten der Unterschied zwischen den beiden Parteien enthüllt. Der individuelle Terror entsprang nicht nur einer völlig verzweifelten Stimmung und einer ausgesprochenen persönlichen Einstellung; er konnte nur in Kreisen zum Prinzip erhoben werden, in denen man davon überzeugt war, daß Menschen, einzelne Personen die Geschichte machen. Die Bolschewiki wußten, daß jeder revolutionäre Fortschritt einer Umwälzung der Verhältnisse, der Produktionsmethoden entspringen muß. Nur Massenbewegungen konnten nach Ansicht der Bolschewiken zur Eroberung der Macht führen. Die Geschichte hat ihnen Recht gegeben. Die Oktoberrevolution 1917 ist eine solche unwiderstehliche Massenbewegung gewesen, der die bolschewistische Partei Richtung und Ziel gewiesen hat. Und die verzweifelten Aktionen der S.R. nach der Oktoberrevolution beweisen, wie sehr ihnen die Leitung der Massen entglitten war. Und wie ungeheuerlich erschienen dem russischen Arbeiter die terroristischen Akte gegen seine Führer, die niemandem frommten als dem Großgrundbesitz und dem Großkapital, hinter denen die Entente als Antreiberin stand. Unzweifelhaft haben nationale Elemente eine gewisse Rolle gespielt – die bolschewistische Revolution war eine Umwälzung der ökonomischen Besitzverhältnisse, aber die proletarische Revolutionsidee verschmolz zugleich mit einem starken nationalen Selbstbewußtsein – der Arbeiter empfand zum ersten Male, daß er ein Vaterland hatte – ein Begriff, der für die Vertreter des Kapitals niemals mehr als eine Kulisse gewesen ist, die man je nach der Konjunktur hin- und herschob. Die Tätigkeit der S.R. erschien deshalb in einem noch schlimmeren Lichte, als gegen Ende des Prozesses sich auf den Tischen des Tribunals Berge von Dokumenten häuften, durch die der Partei nachgewiesen wurde, daß sie bis tief in die jüngste Zeit hinein sich mit dem Ausland verbunden hatte, um die Sowjets zu stürzen. Man muß sich in jene Tage zurückversetzen, in denen Sowjetrußland erst von wenigen Staaten anerkannt war, von der gesamten Bourgeoisie geächtet war, und Flutwellen der Verleumdung sich über das Gesicht Rußland ergossen. Auch Rußland hatte gegen eine Welt von Feinden gekämpft und geblutet, an allen Fronten des Reiches hatten die Heere der Arbeiter und Bauern die von den Westmächten, Deutschland und Amerika ausgerüsteten weißen Armeen aufgehalten; im Innern hatten die S.R. durch ihre terroristischen Akte die Moral und Widerstandskraft zu schwächen gesucht, Hunger, Not, Entbehrungen, Kälte, Epidemien suchten das ungeheure Reich heim, das der imperialistische Krieg schon genug mitgenommen hatte. Die Heere der Arbeiter und Bauern hatten den Feind nicht nur aufgehalten, sondern besiegt; der Freiheitskampf dieses Volkes wird vielleicht in seiner ganzen gewaltigen heroischen Größe erst späteren Geschlechtern offenbar werden; vielleicht wird man ihm Genugtuung widerfahren lassen. Die Heere der Fremden und Weißen wurden von expropriierten Kapitalisten vorwärts gejagt, von den Bankherren der City und Wallstreet, die keine Möglichkeit mehr sahen, ihre Kapitalien in russischen Industrieunternehmungen anzulegen – und sehr günstig bei den niedrigen Löhnen und der relativen Bedürfnislosigkeit der russischen Arbeiter, die von den Kosaken des Zaren jahrzehntelang immer wieder trotz tapferer Gegenwehr zur Arbeit getrieben waren. Die Herrschaft des Proletariats in Rußland bedeutete für das ausländische Kapital die Versperrung von Ausbeutungsmöglichkeiten, bedeutete den Ausfall Rußlands als Kolonie. Und da sich dem Expansionsdrang des Kapitals bis zum heutigen Tage in Rußland unüberwindbare Widerstände entgegensetzen, das Kapital aber auf Rußland angewiesen ist, erscheint dieser Konflikt unlösbar, so lange der proletarische Staat besteht. Aus solchem Gegensatz erwächst der Weltkonflikt der nächsten Jahrzehnte.

An einem der letzten Prozeßtage wurde dem Angeklagten Timofjejew ein Dokument mit der Frage: „Kennen Sie diese Unterschrift?“ überreicht. „Sensinow?“ – „Ja.“ „Und erkennen Sie diese Unterschrift als echt an?“ Der Angeklagte zögerte eine Weile und sagte dann: „Ja!“ Und diesem Dokument folgten unzählige andere Schriftstücke, aus denen hervorging, daß die Partei der S.R. in engster Abhängigkeit von ausländischen Regierungen stand. Sensinow, ein alter Sozialrevolutionär, hatte in der Regierung der Konstituante von Samara gesessen, war nach dem Zusammenbruch der Front ins Ausland geflohen und hatte in Frankreich ein „Administratives Zentrum“ gebildet, dem die bekanntesten Führer der S.R. beigetreten waren: Kerenski, Awxentijew, Bruschwit, Tschernow, Machin und einige andere! Das Pariser Geheimarchiv dieser ausländischen Geheimorganisation war in die Hände der Sowjetregierung gefallen, das Material belastete die S.R. aufs Schwerste. Unter den Dokumenten befanden sich Briefe, aus denen hervorging, daß die Partei im Jahre 1921 von der französischen und tschechoslowakischen Regierung, ferner von Weißgardisten Gelder empfangen hatte, um Aufstände in Rußland zu organisieren. In einem Briefe Sensinows an das Mitglied des „Administrativen Zentrums“, Rogowski, heißt es:

Gestern hatte ich eine Unterredung mit Benesch, die 50 Minuten dauerte. Er war wie immer liebenswürdig und entgegenkommend; ich denke, er ist auch aufrichtig. Ich berührte im Gespräch unsere Möglichkeiten und unsere tatsächliche Lage. Ich schilderte ihm das Bild des Ganzen. ‚Wir halten eure Arbeit für nützlich und notwendig, sowohl für Rußland, wie auch für uns. Wir werden es daher nicht dazu kommen lassen, daß eure Arbeit aufgegeben wird; vom Januar an werdet ihr wöchentlich 50000 Kronen bekommen, ich (Benesch) werde persönlich dafür Sorge tragen, daß dieser Betrag auf 60000-65000 Kronen erhöht wird‘.“ (Benesch ist der Premierminister der Tschechoslowakei.) Am 21. Dezember berichtet Sensinow an Rogowski: „Vor vier Tagen erhielt ich 80000 Kronen; dieses Geld wurde uns ohne jede Mahnung von unserer Seite ausgezahlt.

Als nächster Geldgeber erscheint der ehemalige russische Botschafter Bachmetjew, in dessen Händen sich auch heute noch bedeutende Summen aus dem russischen Staatsschatz befinden. Am 12. April 1921 sendet Kerenski an Bachmetjew über die tschechoslowakische Gesandtschaft in Paris folgendes chiffrierte Telegramm: „Ich erhielt aus Rußland die Bitte um eine äußerste Kräfteanstrengung. Das von Ihnen geschickte Geld gewährte eine wirkliche Hilfe am Bestimmungsorte. Es ist notwendig, die Hilfe ohne Verzug sofort fortzusetzen. Die unaufschiebbare Geldnot verlangt meine schleunige Abreise nach Amerika.“ Im Brief vom 13. März teilt Sensinow an Kerenski mit: „Gestern erhielten wir von Ihnen aus Paris eine Anweisung auf 50000 Francs und von Bachmetjew telegraphisch 25000 Dollars.“

Als Geldgeber fungiert ferner der weiße General Bitscherachow. Die S.R. erhielten von ihm während der Jahre 1918/19 20000 Francs und im Jahre 1920 einige hundert Pfund Sterling. Woher stammen diese Gelder? Darüber schreibt am 21. März 1921 der S.R. Ter-Pogosian an den S.R. Minor: „Die Gelder im Besitze L. Bitscherachows stammen aus zwei Quellen. Nach der Auflösung der persischen Front durch die Bolschewiki organisierte Bitscherachow eine Freischärlerabteilung. Die Engländer zahlten ihm monatlich einen bestimmten Betrag für die Unterhaltung dieser Truppe. Die englischen Subsidien überstiegen die Ausgaben, so daß bei Bitscherachow Reste blieben. Außerdem hatte er noch Gelder aus jenen Beträgen, die nach dem Umsturz und der Beseitigung der bolschewistischen Regierung in Baku und Petrowsk in den Besitz der Bakuschen weißen Diktatur kamen. Hauptsächlich die Gelder der Staatsbahnen, folglich also Staatsgelder ... In Anbetracht dessen hatten wir Grund, diese Summen nicht als Bitscherachow persönlich gehörig aufzufassen, ihre Bereitstellung für soziale und politische Zwecke erscheint als völlig gerechtfertigt.“

Endlich gaben die russischen Industriellen selbst große Summen. Zur Zeit des Kronstadter Aufstandes öffneten sie ihre Portefeuilles.

Ein Teil der Dokumente beleuchtete die engen Beziehungen zwischen den S.R. und der französischen Regierung. Kerenski hat verschiedene Male mit Berthelot, dem Direktor des französischen Außenministeriums, und mit Briand selbst korrespondiert und mündlich verhandelt.

Im Besitz solcher Mittel und Beziehungen legten die S.R. ein Spionagenetz an, das von Konstantinopel bis Reval reichte, sie schickten Sendboten ins Innere des Landes, trieben militärische Spionage und sondierten die Kommandeure der Roten Armee. Ein Oberst Machin ist der Leiter dieses militärischen Spionagedienstes; aus einem Briefe geht hervor, daß Machin sich in Reval mit französischen Offizieren in Verbindung zu setzen hatte. Kerenski entsandte einen Oberst nach Konstantinopel und gab ihm einen Brief an den französischen Militärvertreter mit, den General Pellet. Die Minister der Randstaaten empfingen die Boten der S.R., und wenn den S.R. der Empfang zu kühl schien, versuchten sie durch englische Vermittlung einen Druck ausüben zu lassen. In allen Hauptstädten Europas entfalteten die S.R. eine fieberhafte Tätigkeit; sie hielten verschiedene Zeitungen, bauten ihren Apparat aus, saßen in den Vorzimmern der Minister und Bankiers, versuchten die Errichtung einer großen weißen Front, schüchterten die Kleinstaaten durch die Großmächte ein, nutzten sämtliche Verbindungen aus, verbreiteten Märchen über Rußland und ließen kein Mittel unversucht, um dem neuen Staate zu schaden. Dies alles vollzog sich mit der Skrupellosigkeit, dem Raffinement, der Hartnäckigkeit und dem Haß des Unterlegenen und Verdrängten, dessen Zeit vorüber ist, und der eine rastlose Tätigkeit zu entfalten sucht, um sich zu betäuben und der Welt zugleich seine Brauchbarkeit zu beweisen.

Im Januar 1921 schien der Same aufzugehen. In Kronstadt brach eine Meuterei aus; über das Eis der Newa drangen die Truppen der Sowjets und nahmen mit stürmender Hand die Seefestung. Der Aufruhr ist unzweifelhaft von den S.R. entfacht worden. Damals weilte Tschernow in Reval und schickte Telegramme nach Kronstadt; andere bemühten sich um Proviant und Munition für die aufständige Festung. In einem Flugblatt des „Revolutionären Rußland“ schreibt Tschernow:

„Kronstadt hat sich erhoben. Durch sein heroisches, aufopferndes Beispiel ruft es ganz Rußland zu dem langersehnten Befreiungswerke. Petrograd hat den Generalstreik erklärt. Ihr aber, Tyrannen und Despoten, laßt es Euch gesagt sein, daß die Tage Eurer, dem gesamten Volke verhaßt gewordenen Herrschaft gezählt sind. Wenn Ihr um Euer Leben bangt, wenn Ihr am Leben hängt, verschwindet aus dem Wege. Das Volk kommt, es wird Euch richten.“

Im Laufe des Jahres versuchte man im Kaukasus eine Bewegung zu entfachen; das „Administrative Zentrum“ hielt verschiedene Sitzungen ab, in denen die Vorbereitungen zu Aufständen beraten wurden. Es existiert das Protokoll einer solchen Sitzung, in der Machin die finanzielle und ökonomische Vorbereitung „zum Aufstande und Sturze der Bolschewisten“ verlangt. Bruschwit spricht von der Notwendigkeit, „Militärkaders vorzubereiten und eine starke, leistungsfähige militärpolitische Organisation zu haben.“ Kerenski erklärt: Wir haben unsere Fachleute und unsere Leiter in den bestehenden Organisationen in Rußland und verlangen ihre Unterschrift als Garantie ihres politischen und militärischen Lebenswandels.

Im November 1921 wird sogar schon wieder eine „terroristische Kampfgruppe“ gegründet. Ihre Haupttätigkeit aber entfalten jetzt die S.R. im Kaukasus, man gründet im Inneren Geheimorganisationen, erbittet und erhält von den Franzosen materielle Unterstützung und erklärt sich bereit im Falle eines Fehlschlages die eingegangenen Schulden durch Übermittlung von Nachrichten an die französische Konterspionage abzutragen.

Bis ins Jahr 1922 hinein reichten die schriftlichen Beweise dieser konspirativen Tätigkeit der S.R. Die Angeklagten in Moskau waren an diesen Unternehmungen aktiv nicht beteiligt. Man legte ihnen sämtliche Dokumente vor. Man stellte ihnen die Frage: billigt ihr diese Methoden der Auslandsdelegation eurer Partei, im Bunde mit der großen und kleinen Entente neue Interventionskriege herbeizuführen, dank materieller Unterstützung der Westmächte das Land mit einem Netz von Geheimorganisationen zu überziehen und Rußland in neues unsagbares Elend zu stürzen. Die Angeklagten wichen aus. Die Methoden ihrer Kameraden im Auslande schienen ihnen verwerflich; aber im Angesicht ihres eigenen Todes weigerten sie sich, von ihren Parteigenossen abzurücken. „Also billigt ihr, was jene tun?“ „Wir sind, wie am ersten Tage eurer Herrschaft, gegen euch und werden euch mit allen Mitteln bekämpfen.“

 

Nach fünfzig Sitzungstagen, nach einer Vernehmung von etwa 100 Zeugen und der Verlesung einer Fülle von Dokumenten begannen die Plaidoyers. Die Vertreter des Arbeiter- und Bauernrußlands erhielten zuerst das Wort; dann sprachen die Vertreter der III. Internationale: Klara Zetkin, der Tscheche Mune, der Ungar Bokanyi. Auf die Angeklagten hat die Rede Klara Zetkins einen niederschmetternden Eindruck gemacht. Der Name dieser tapferen, unermüdlich im Dienste der Sache des Proletariats tätigen Frau, die immer in der vordersten Front stand, noch als Greisin in die Kerker des deutschen Kaiserreiches wanderte, war auch für die S.R. ein – man muß schon sagen – heiliger Name. Sie wußten, daß diese Frau die letzte war, die sich beeinflussen ließ. Diese Frau erhob ihre Anklage ganz gewiß aus eigenster innerster Überzeugung, die Reinheit ihres Willens und Denkens war unantastbar. Erhob sich auch diese Frau gegen sie, so fühlten sie sich in ihrem Innersten schuldig. Es ist verbürgt, daß das Auftreten der Klara Zetkin die Angeklagten außer Fassung brachte, sie haben es selbst gestanden.

Klara Zetkin hielt den S.R. vor, es handele sich nicht um die Wege und Mittel, deren sich eine Partei bediene, es handele sich vielmehr um die Ziele, in deren Interesse diese Mittel angewendet wurden. Die S.R. wollten das Proletariat wieder der Bourgeoisie unterwerfen, deren Joch es durch den heldenhaften Kampf der russischen Arbeiter und Bauern abgeschüttelt hatte. Die S.R.P. habe alles getan, um die Revolution zu untergraben: „Ein Verbrechen, mit dem man nicht einmal den Mord von Hunderten, den Mord von Tausenden, den Mord von Millionen vergleichen kann.“ Die S.R. stehen vor dem Gericht der russischen Arbeiter und Bauern, vor dem Gericht des proletarischen Staates. Es ist wahr, daß sie vor einem Klassengericht stehen. Aber wo gibt es ein Gericht, das über den Klassen steht? Es gibt zwei Arten von Klassengerichten: das bürgerliche und das proletarische Klassengericht. Das revolutionäre Gericht der Arbeiter ist eine mächtige Waffe in den Händen des Proletariats im Kampfe gegen die Bourgeoisie.

Die russischen Arbeiter begannen die Weltrevolution. Die S.R. haben alles getan, um ihren Weg aufzuhalten, sie behaupten, daß sie gegen Usurpatoren kämpfen, aber es gibt keine Usurpatoren, die ohne Massen die Macht behaupten können. Die S.R. sind das beste Beispiel: sie ergriffen die Macht, ohne Massen hinter sich zu haben – mit Hilfe des Auslandes.

Die S.R. berufen sich auf ihre revolutionäre Vergangenheit – ja, sie haben den Zarismus tapfer bekämpft. Aber als sie selbst an der Macht waren, stellten sie sich, statt die Revolution im Bunde mit dem Proletariat fortzusetzen, auf die Seite der Bourgeoisie; in ihrer äußeren Politik waren sie abhängig von der internationalen Bourgeoisie, in ihrer inneren von der russischen Bourgeoisie. Die S.R. nannten sich eine Bauernpartei, aber sie haben auf dem Lande mit den Waffen in der Hand den Kampf der Bauern gegen die Gutsbesitzer unterdrückt. In der äußeren Politik haben sie den imperialistischen Krieg fortgeführt.

Die S.R. haben durch ihren Kampf gegen die Sowjets den Wiederaufbau des russischen Wirtschaftslebens verhindert; sie haben in diesem Kampfe gegen die Sowjetmacht alle möglichen Mittel angewendet: Bündnis mit dem Ausland, Bündnis mit der Reaktion, den Terror.

Klara Zetkin setzte sich dann für die geständigen, reuigen Angeklagten der II. Gruppe ein, die geglaubt hatten, für die Revolution zu kämpfen, aber später erkannten, daß sie gegen die Revolution gekämpft hatten. Sie gerieten in einen tragischen Konflikt, und standen vor der Frage: Wie können wir unsere Verbrechen sühnen? Sie fanden nur den einen Weg: Offenes Geständnis. So sühnten sie ihre Schuld. „Die Arbeiter, Bauern und das Oberste Tribunal sind sich dieser Beichte bewußt und werden Milde walten lassen. Aber die Stimme des Gewissen wird sie bis zum Tod wegen ihrer Verbrechen am Proletariat verfolgen. Und das ist für sie Strafe genug!“

Die Verteidiger, die aus dem Auslande den S.R. zu Hilfe eilten, haben nie daran gedacht, Arbeiter in ihren eigenen Ländern zu verteidigen. Vandervelde war als Justizminister Seiner Majestät der höchste Richter in jenen Prozessen, die von der belgischen Bourgeoisie gegen die flämischen Autonomisten und Anarchisten geführt wurden. 1500 Menschen wurden in die Zuchthäuser gesteckt, viele wurden zum Tode verurteilt. Und niemals haben die Vertreter der 2. und 2½. Internationale zu protestieren gewagt, nur jetzt erscheinen sie plötzlich auf dem Plan. Klara Zetkin verweist auf die Justiz in Deutschland, in dessen Kerkern 6000 politische Gefangene schmachten, für die kein Vertreter der II. Internationale seine Stimme erhoben hat.

„Im Namen der III. Internationale gebe ich der Überzeugung Ausdruck, daß das Gericht es verstehen wird, die Errungenschaften des Proletariats zu schützen und die notwendigen Mittel zu finden!“

Der Ungar Bokanyi, der Volkskommissar der ungarischen Räterepublik, erinnert an seine eigene Kerkerzeit nach dem Sieg der Horthys: „Damals kam uns Vandervelde nicht zu Hilfe!“ Er vergleicht die weiße und die rote Justiz, er spricht aus eigensten Erfahrungen und schließt: „Das Oberste Tribunal kann auf seine Unparteiischkeit und Objektivität stolz sein. Das Oberste Tribunal wird ein Urteil fällen, das den Interessen des Proletariats entspricht!“

Der Tscheche Muna hatte zweimal in den Kerkern der tschechischen Republik gesessen, im Weltkrieg war er in russische Gefangenschaft geraten, aber er hatte sich nicht jenen tschechischen Legionen angeschlossen, die unter Führung von Ententeoffizieren und im Bunde mit den S.R. den Kampf gegen das Rote Moskau geführt hatten. Muna schildert die Lage der tschechischen Legion, ihren Kampf im Interesse der besitzenden Klasse, er schildert das reaktionäre tschechische Offizierkorps, weist auf Zeugnisse tschechischer Offiziere hin, aus denen klar hervorgeht, daß sie die Verbindung mit den S.R. suchten und gemeinsam mit weißen Offizieren arbeiteten. Er führt die belastenden Aussagen der Prozeßzeugen Pascal, Mariski und Dworschets an. Der Zeuge Dworschets hatte bekundet, daß die S.R. nur mit Hilfe der Tschechoslowaken in Samara ihre Macht behaupten konnten. Die S.R. Partei war mit Hilfe der Tschechoslowaken der Kernpunkt, um den sich die ganze russische Gegenrevolution sammelte. Infolgedessen trägt die S.R. Partei die volle Verantwortung für alle Opfer des Bürgerkrieges; für das Blut der Arbeiter und Bauern, für das Blut der Rotarmisten, das an allen Fronten des Bürgerkrieges vergossen wurde. Die gegenrevolutionäre Haltung der S.R. Partei nützten auch die Sozialpatrioten der westeuropäischen Staaten aus, und nur mit ihrer Hilfe gelang es der Bourgeoisie Westeuropas, die durch den Krieg erschütterte kapitalistische Ordnung vorübergehend zu befestigen.

Ich werde mich nicht auf irgendeinen Gesetzesparagraphen berufen, indem ich die Bestrafung der Angeklagten fordere, da ja die Arbeiterklasse Rußlands und das revolutionäre Proletariat Europas bereits sein Urteil fällte, ohne das Urteil des Obersten Revolutionären Tribunals abzuwarten.

Das Urteil des revolutionären Proletariats lautet: „Vollständiger politischer Tod der S.R. Partei!“ Wie immer das Urteil des Obersten Tribunals ausfallen sollte, es kann nicht so streng werden, als das bereits gefällte Urteil des revolutionären Proletariats aller Länder.

Die S.R. Partei hat sich mit ihren Handlungen ein tiefes Grab geschaufelt. Das internationale Proletariat stößt sie mit seinem Urteil in dieses Grab, und dem Obersten Tribunal bleibt nichts übrig, als über dem Leichnam der S.R. Partei das Grabmal zu errichten.

Am nächsten Tage begründet Krylenko als „Oberster Ankläger“ in einer ununterbrochenen zehnstündigen Rede sämtliche Anklagepunkte: Das proletarische Gericht hat die Aufgabe, den Arbeiterstaat gegen verbrecherische und gefährliche Handlungen zu verteidigen. Dieser Prozeß ist nicht da, um Rache zu üben, sondern um Verbrechen zu sühnen, zu unterbinden, zu verhüten. Einige Angeklagte haben selbst erklärt, daß sie auf das Recht, Aufstände gegen die Sowjetmacht zu organisieren, nicht verzichten werden. Vom Standpunkte des revolutionären Rechtes aus hätte das Gericht nach dieser Erklärung sofort den Prozeß abbrechen und die Frage umgehender Anwendung sozialer Schutzmaßregeln in Erwägung ziehen können.

Krylenko hält es für bewiesen, daß die S.R. schon in den ersten Tagen der Oktoberrevolution in den vordersten Reihen der bürgerlichen Bataillone standen; er hält es für bewiesen, daß die S.R. Gelder von der Entente erhielten, und beruft sich auf das Geständnis des Angeklagten Lichatsch, er hält ihnen die konspirative Verbindung mit bürgerlichen Verbänden vor, die Zersetzungsversuche in der Roten Armee und ruft erregt aus: „Die Arbeiter und Bauern Rußlands werden Ihnen schon ihre Rechnung vorlegen! Wir werden mit Ihnen nicht scherzen! Es handelt sich um den Schutz und die Verteidigung des proletarischen Staates, für den so viel Blut geflossen ist, und für den wir alle unser Leben eingesetzt haben!“

Die Verbindung mit der Entente erstrebte den Sturz des neuen Staates; die S.R. stellten mit Vertretern der Entente gemeinsame Programme auf: Die Entente sendet Offiziere und Techniker und liefert Sprengmittel. Die S.R. sprengen Brücken, Eisenbahnen; organisieren den Terror. Krylenko schildert die Aufstände der S.R. in Samara, Archangelsk und in der Ukraine, im Don- und Kubangebiet, er verweist auf die Dokumente des „Administrativen Zentrums,“ aus denen hervorgeht, daß die Partei bis in die letzte Zeit hinein am Sturz der Sowjetmacht gearbeitet hat.

„Ich stelle jetzt die Fragen, ob die Angeklagten eine für die Sowjetrepublik gefährliche Tätigkeit ausgeübt haben oder nicht, und ob ihnen gegenüber die Maßnahmen angewendet werden sollen, die gegen Personen, die die Sicherheit des Staates bedrohen, vorgesehen sind.“

Beide Fragen beantwortet Krylenko mit Ja.

Er geht dann zur terroristischen Tätigkeit der Partei der S.R. über, und stellt an Hand von Dokumenten und Zeugenaussagen fest, daß die Mitglieder des Zentralkomitees der Partei der S.R. für die terroristische Tätigkeit der Partei voll verantwortlich sind.

Für die Angeklagten der ersten Gruppe – mit Ausnahme von drei Angeklagten – fordert Krylenko die Anwendung des höchsten Strafausmaßes. „Das Revolutionstribunal ist ein Organ des Klassenkampfes der Arbeiterklasse, das gegen die Feinde des Proletariats gerichtet ist, und aus diesem Grunde kann es für die Angeklagten der ersten Gruppe, mit Ausnahme jener, die ich schon genannt habe, nur eine Strafe geben: den Tod durch Erschießen. Für alles Blut, alle Schrecken, alle Leiden, die wir in Laufe von fünf Jahren erdulden mußten, und die von ihnen wissentlich verursacht wurden. Die Angeklagten haben hier erklärt, daß sie auch in Zukunft alle ihre Kräfte darauf richten wollen, jenes Werk, für das wir nun schon fünf Jahre lang kämpfen, zu vernichten. Wir haben das Recht auf Selbstschutz und Selbstverteidigung.“

 

Die Angeklagten erheben sich zum letzten Waffengang. Fast ein jeder ergeht sich in stundenlangen, sehr eingehenden Ausführungen; vielleicht zum letzten Male bietet sich ihnen Gelegenheit, in aller Öffentlichkeit mit ihren Feinden abzurechnen, im Saale sitzen Verwandte und Freunde, sie haben ein kleines Publikum, das mit ihnen sympathisiert und ihr Testament weiterverkünden wird. Sie verteidigen noch einmal ihre Positionen, die von ihnen in der Februarrevolution so leicht erobert wurden, wie sie ihnen wieder verloren gingen. Sie vermeiden es, sich allzu sehr in Einzelheiten zu verlieren und schieben den Kampf mit ihren Gegnern auf die Plattform der großen Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Klassenausgleich und Klassenkampf. Sie leugnen nie, daß sie Feinde dieses Staates sind, vor dessen Gericht sie stehen müssen, und dem sie nur Rede stehen, weil sie ihrer Partei dienen zu können glauben.

Hendelmann, ehedem Rechtsanwalt, der im Prozeß Anklägern und Tribunal oft Schwierigkeiten bereitet hatte, erhebt nochmals prozessuale Einwände, schützt das Zentralkomitee vor der Anklage, daß es den Terror sanktioniert habe – im Gegenteil: die Partei habe stets den Massenaufstand propagiert, das geplante Attentat auf den Zug Trotzkis wäre eine „bloße Demonstration“ gewesen, mit der Organisierung eines Attentats auf Lenin hätte sich die Konoplewa nur wichtig machen wollen, Wolodarskis Ermordung sei ein rein individueller Akt der Kampforganisation Semjonow gewesen; in der Frage der Expropriationen kann Hendelmann nichts bestreiten, er versucht den Eindruck nur abzuschwächen: es habe sich nur um ... simulierte Expropriationen gehandelt; den Einbruch ins Postamt habe man mißbilligt ... Krylenko unterbricht Hendelmann mit der Frage: „Weshalb habt ihr das Verbot des Terrors und der Expropriationen nicht in aller Öffentlichkeit kundgegeben, weshalb habt ihr Semjonows Gruppe nicht aufgelöst?“ Und Hendelmann weicht aus.

„Ich ersuche das Tribunal, über sämtliche Mitglieder der ersten Gruppe dasselbe Urteil zu fällen, denn keiner wünscht den anderen zu überleben!“

Der Angeklagte Lichatsch, Organisator des Aufstandes im Gebiet von Archangelsk, verzichtet aufs Wort.

Timofejew eröffnet seine Rede mit einer Erklärung:

„Ich erkläre kategorisch, daß Ihr von uns weder Reue noch Versöhnung noch Lossagung von unserer Vergangenheit erwarten sollt. Krylenko bezeichnete uns als Rückfällige. Ja, wir sind rückfällig von Eurem Gesichtspunkte. Wir bestehen auf unserem früheren Standpunkte, und in dieser Hinsicht sind wir reuelose Rückfällige.“

Die Verhandlungen mit Ententevertretern gibt er zu, den Empfang von Geldern bestreitet er. Aber: „Die Landung der Verbündeten in Archangelsk war uns willkommen! Denn ihr Ziel war die Fortsetzung des Krieges gegen Deutschland, und nur aus diesem Grunde traten wir mit der Entente in Verbindung. Wir haben nichts zu bereuen, wir leugnen unsere Vergangenheit nicht.“

Gotz gibt einen historischen Abriß der russischen Revolution und beleuchtet von Fall zu Fall die Niederlage der S.R. Die Verteidigungsrede von Gotz schildert das Fiasko der ganzen Partei: Wir hatten keine Kräfte in entscheidenden Augenblicken, das Militär war nicht für uns, die Massen waren nicht auf unserer Seite. „Wir haben eine richtige Politik geführt, und künftig werden wir ebenso arbeiten wie bisher ...“

Eugenie Ratner versucht die Partei von dem Vorwurf des Kleinbürgertums zu befreien, Rakow wehrt sich gegen die Behauptung, die Partei habe die Interessen der Großbourgeoisie wahrgenommen, er rühmt die Haltung der Partei gegen Koltschak und bestreitet die Verbindung mit dem Banditenführer Antonow im Gouvernement Tambow.

 

Als erster Verteidiger erscheint der junge Advokat Tschlenow, Verteidiger der Konoplewa und Daschewkis, die zur zweiten Gruppe der Angeklagten gehörten.

Seine Aufgabe bestehe darin, seine Klienten vom Vorwurf der Provokateure und Verräter zu befreien.

Die erste Gruppe stellt eine kollektive Einheit dar, repräsentiert das Z.K. der Partei. Dies Z.K. veröffentlichte in den Zeitungen, daß keine einheitliche Parteiorganisation zu den terroristischen Akten Beziehungen hatte. Kann man unter solchen Umständen Aussagen erwarten, durch die sie feststellen würden, daß das Z.K. lügt? In dieser Frage sind sie alle gebunden und werden die Wahrheit um so weniger sagen, da sie das Tribunal als ihre Feinde betrachten.

Sie selbst machten vor dem Prozeß keine Aussagen, und hier handeln sie geschlossen nach den Direktiven des Z.K.; deshalb ist es selbstverständlich, daß in ihren eigenen Aussagen keine Widersprüche erscheinen können. Um so schlimmer, wenn man einige Widersprüche in ihren Aussagen findet.

So kann man sich auf E. Iwanowa berufen. Sie benahm sich recht lächerlich, aber sie benahm sich so, weil es die Interessen der Partei erfordern. Sie hat schon einmal eine Aussage vor der Tscheka abgegeben. Was hat sie dort ausgesagt? Parteizugehörigkeit: Sie gehöre keiner Partei an. Ferner: Bitte mich nicht zu verhören, da ich nicht normal bin. Endlich: Ich bin eine Anhängerin der Sowjetmacht, aber habe in manchen Beziehungen andere Ansichten, als die Kommunisten.

So muß angenommen werden, daß die Angeklagten als Parteimitglieder alle Tatsachen ableugnen, die ihnen unangenehm sind. Daher stammt die Theorie: Wer ein anständiges Parteimitglied sein will, der darf keine unangenehmen Aussagen machen; wer aber solche Aussagen macht, ist ein Verräter. „In diesem Falle dürfen Sie aber nicht verlangen, daß das Tribunal Ihnen Glauben schenken soll. Und wenn sich einige in Ihrer Partei enttäuscht fühlten und zu den Kommunisten übergingen, wie sollten sie Unwahres aussagen, wenn sie damit beginnen, daß sie die schwersten Verbrechen auf sich nehmen.“

Angenommen aber, daß Semjonow und Konoplewa nicht die Wahrheit gesagt hätten, könnte Hendelmann auch in diesem Falle nicht behaupten, daß die terroristischen Akte ohne Billigung des Z.K. durchgeführt wurden.

Die kriegerischen Reden Tschernows und der Eugenia Ratner auf dem Vierten Parteikongreß und der dort veröffentlichte Brief Gotz’, in dem er für den Fall der Auflösung der Konstituante mit der Anwendung „der alterprobten Taktik“ droht, sind natürlich noch kein Beweis dafür, daß der Vierte Kongreß der Sowjetmacht den terroristischen Krieg erklärt hat. Aber diese Drohung mit dem Terror hatte in den Reihen der Parteimitglieder eine terroristische Stimmung hervorgerufen. Es waren keine Beschlüsse über den Terror da, aber die einzelnen Mitglieder des Z.K. haben sich so benommen, daß in den aktivsten Elementen der Partei die tiefe Überzeugung erweckt wurde, der Terror wäre nützlich und vom Z.K. gebilligt.

In den Statuten der Kampforganisation heißt es: daß die Kampforganisation den bereits begonnenen terroristischen Akt auch gegen das Verbot des Z.K. durchführen könne, und daß der Führer sich nur mit einem Z.K.-Mitglied und nicht mit allen Z.K.-Mitgliedern ins Einverständnis zu setzen brauche. Deshalb war es nicht notwendig, daß Semjonow den Fall außer mit Gotz noch mit anderen besprach.

Die Untersuchung stellte fest, daß mehrere Z.K.-Mitglieder, wie Iwanow, Tschernow und Gotz, den Terror gegen die Vertreter der Sowjetmacht prinzipiell anerkannt haben.

Sehr interessant ist die Geschichte des Verbesserungsantrages Zumgins zur Resolution Tschernows über den Terror. Merkwürdigerweise erinnern sich dessen alle angeklagten Mitglieder des Z.K. nicht, obwohl dieser Fall durch Burewitschs Aussagen festgestellt wurde.

Nach Annahme der Tschernowschen Resolution wird sie nicht veröffentlicht. Und als man die Angeklagten über die Ursache dieser Verheimlichung fragte, antwortete Gotz, daß es auch Sachen gebe, die das Gericht nicht zu wissen brauchte. Hendelmann gab eine andere Antwort: Die Parteimitglieder waren nicht terroristisch gestimmt, deshalb lag kein Grund zur Veröffentlichung der Resolution vor. Wenn aber eine solche Resolution angenommen wurde, so beweist das doch, daß eine solche Stimmung vorhanden war.

Nehmen wir das erste Attentat auf Lenin. Da wurde nach Aussagen Jefimows und Rabinowitschs das Moskauer Büro des Z.K. befragt. Dieses Attentat versuchten die Angeklagten als eine Operette hinzustellen. Die Mitglieder des Z.K. erklären, daß sich sehr viele Parteimitglieder an sie wandten, mit dem Vorschlag, terroristische Aktionen zu organisieren.

Und wenn das Z.K. von einer solchen Stimmung nichts wußte, hätte es sich nach der Ermordung Wolodarskis und nach dem Attentat auf Lenin von ihrem Vorhandensein überzeugen können. Man schoß. Es gab Opfer. Kann man von Stimmungen sprechen? Es handelt sich um Tatsachen. Den Terror offen zu erklären, war nicht erwünscht, aber wenn jemand einen terroristischen Akt durchführte, mit dem das Z.K. sich nicht solidarisch zu erklären brauchte, so war das dem Z.K. sehr angenehm.

Aus dem Vergleich der Aussage Rabinowitschs mit den Aussagen Gotz und Semjonows geht klar hervor, daß die Ermordung Wolodarskis mit Kenntnis des Z.K. durchgeführt wurde, obwohl zu einer äußerst ungelegenen Zeit, da sie die Wahlkampagne der S.R. sehr ungünstig beeinträchtigte.

Auch das zweite Attentat auf Lenin wurde mit Kenntnis und Einverständnis des Z.K. unternommen. Usow, Fedorow, Kozlow, Subkow und anderen waren die Sanktionen des Z.K. bekannt. Und zwar nicht nur durch Semjonow, sondern auch durch E. Iwanowa. Besonders Iwanowa überredete Usow, daß er auf Lenin schießen solle. Dem Z.K. schien es besonders notwendig, das Attentat später als Symptom des Volkszornes hinstellen zu können. Die Angeklagten Gotz, Hendelmann und andere wundern sich, weshalb Semjonow die terroristischen Akte mit Donskoj und Gotz und nicht auch mit Timofejew besprochen habe. Das ist nicht verwunderlich. Nicht alle Mitglieder des Z.K. waren Anhänger des Terrors; nur einige. Und die Anhänger des Terrors verbargen ihre terroristischen Bestrebungen vor den übrigen Mitgliedern und handelten hinter ihrem Rücken. Timofejew war Gegner des Terrors. Deshalb hat man ihm die terroristischen Pläne nicht mitgeteilt. Deshalb hat man Semjonow nicht zu ihm gelassen. Semjonow war ein Werkzeug in den Händen derjenigen Mitglieder des Z.K., die für den Terror waren. Diese Mitglieder dachten: Gelingt es nicht, kann man es ableugnen, und der Partei wird kein Schaden erwachsen. Gelingt es aber – die Sieger verurteilt man nicht.

Auf die Uneinigkeit in den Reihen der S.R. weist der Verteidiger Semjonows, Schubin, hin. Auch er erklärt die Verdunkelungsversuche in der Terrorfrage ähnlich wie Tschlenow: Das Z.K. war in der Frage des Terrors nicht einig. Ein Teil war für, der andere gegen den Terror. Die Anhänger des Terrors handelten selbständig, ohne die Gegner des Terrors in ihre terroristischen Pläne einzuweihen.

Noch ein charakteristischer Umstand. Weshalb zog Timofejew Semjonow nicht zu den Sprengungsarbeiten heran, sondern organisierte die Spezialabteilung Davidows? Weil die Kampforganisation eigene Aufgaben – die terroristischen Aktionen – gehabt hat. Außerdem mußte die Sprengungsabteilung mit den Verbündeten in Verbindung treten, und Semenow war offensichtlich kein Anhänger der Beziehungen zu den Verbündeten, besonders war er kein Anhänger des Geldempfangens von ihnen. Die angeklagten Z.K.-Mitglieder berufen sich selbst auf das Buch Semjonows und anerkennen alles das, was man nicht mehr ableugnen kann. Sie gestehen die Expropriationen in Buja und die ganze Kriegstätigkeit. Aber das, was ihnen unangenehm ist, und was man ableugnen kann, verwerfen sie. Die objektive Logik der Dinge sagt uns aber, daß die angeklagten Z.K.-Mitglieder die Lossagung vom zweiten Teil der Semjonow-Broschüre nicht begründen können.

Hendelmann erklärte in seiner Verteidigungsrede, daß die in der Semjonowschen Broschüre angeführten Tatsachen der Sowjetmacht schon längst vor der Herausgabe der Broschüre bekannt waren, daß sie es aber nicht für möglich hielt, die Angaben Semjonows auszunützen, und gegen die S.R. Partei eine Gerichtsverhandlung zu eröffnen. Diese Erklärung Hendelmanns ist Unsinn. Es ist doch nicht denkbar, daß die Sowjetmacht, die über die Beteiligung bestimmter Personen an terroristischen Aktionen gegen Wolodarski, Lenin und Trotzki unterrichtet gewesen wäre, die Attentäter auf freiem Fuß gelassen hätte, ohne gegen sie gerichtlich einzuschreiten.

Weshalb schrieb Semjonow seine Broschüre? Er war im Auslande, er sah, wie das administrative Zentrum gegen die Sowjetmacht arbeitet, und welchen Schaden es der Revolution bereitet. Diese Tätigkeit wollte Semjonow durch seine Enthüllungen verhindern.

Vor dem Obersten Tribunal sitzt derselbe Semjonow, der Wolodarski ermordet, der auf Lenin geschossen hat. Wenn in ihm der alte Semjonow nicht vernichtet ist, dann muß der auf der Anklagebank sitzende Semjonow vernichtet werden. Wenn aber der alte Semjonow sich selbst vernichtet hat, und vor uns hier ein neuer Semjonow sitzt, dann muß diesem neuen Semjonow das Leben erhalten werden, da die Revolution dessen Leben bedarf.

 

Stawskaja war die Tochter eines unteren Beamten, ein hübsches, schlankes Mädchen mit kleinem lieblichen Gesicht und schwarzen Haaren. Die Achtjährige muß schon ihr Brot selbst verdienen. Die Fünfzehnjährige ist Mitglied der S.R. Partei. Und mit 18 Jahren versucht sie den zaristischen Gouverneur von Jekaterinoslaw zu erschießen, man macht ihr den Prozeß, sperrt sie drei Jahre lang in den Kerker, „begnadigt“ sie zu zwanzigjähriger Zwangsarbeit. Erst die Februarrevolution schenkt ihr die Freiheit wieder, sie fährt in die Krim, folgt den Parolen der S.R., tritt aus Empörung über den Brester Vertrag in die Kampforganisation Semjonows, vollführt seine Befehle. Aber auf die Kunde des Verhaltens der S.R. Partei zu den terroristischen Anschlägen bekennt sie sich: Dies ist nicht mein Weg. Und da ist Usow, dessen Familie seit Jahren eng mit den S.R. verwachsen ist. Mit 16 Jahren ist er Mitglied der Partei, und außer der Partei hat für ihn nichts mehr existiert. Er war Arbeiter, von Mißtrauen gegen die Intellektuellen erfüllt, ihm wollte man den Revolver in die Hand drücken, um auf Lenin zu schießen – er konnte es nicht und brach zusammen – er, der Arbeiter, konnte nie und nimmer auf Lenin schießen, obschon es die Intellektuellen verlangten. Er verließ die Partei, kehrte unter die Masse zurück, arbeitete in der Fabrik und wollte büßen. Hernach ist er Rotarmist, Mitglied der R.K.P., aber erst nach der Publikation von Semjonows Broschüre macht er sein Geständnis. Er kann nicht schweigen.

Der alte polnische Sozialist Felix Kon, ein hagerer Hüne mit wallenden weißen Haaren und einer gewaltigen Stimme, verteidigt diese beiden Menschen, schilderte ihre Herkunft, ihre Tragik und forderte Freisprechung, denn „Ihr müßt ihnen durch Euer Urteil nicht nur das Leben, sondern auch ihre revolutionäre Ehre zurückgeben.“ Der Georgier Katanjan sprach für den Terroristen Jefimow, der vor langen Jahren mit Gotz in Zwangsarbeit gewesen war. Gotz kennt Jefimow sehr gut, er hält ihn für einen ehrlichen Menschen. Katanjan bemüht sich, den Beweis zu führen, daß Jefimow die Wahrheit gesagt hat. Er war Mitglied einer Terrorgruppe, aber als er die Richtung erkannte, in der sich die Politik der S.R. bewegte, trat er aus der Partei aus. Katanjan plädiert für Freispruch.

Nun der blonde, bewegliche Bucharin: klein von Gestalt, aber immer geladen mit Energien, so daß man zu glauben scheint, jeden Augenblick wird eine Bombe explodieren; immer im Angriff, verschwenderisch in seiner Satire, seiner Laune, seinem Hohn und seiner Boshaftigkeit. Er war der „Allgemeine Verteidiger“ der zweiten Gruppe der Angeklagten. In seiner Rede führte er in großen Zügen aus, was die S.R. und Bolschewiki unterscheidet, es ist ein Sondergericht über die ganze Politik der S.R. Partei, die nach Bucharin vom Ausbruche des Weltkrieges an durch Verrat gekennzeichnet ist. Ihm liegt daran, zu beweisen, auf welchen Stühlen vor Gericht die wahren Verräter sitzen.

„Es kam mir gelegen, daß Eugenia Ratner hier die Zimmerwalder und Kientaler Konferenzen erwähnt hat, denen auch Victor Tschernow beiwohnte. Auf der Zimmerwalder und Kientaler Konferenz wurden zwei Grundsätze angenommen: erstens keine Abstimmung für Kriegskredite und zweitens keine Teilnahme an einer bürgerlichen Regierung.

Die anwesenden Vertreter der S.R. Partei schlossen sich diesen Resolutionen an. Folglich: wenn eine Parteiorganisation sich sozialistisch nennt, und auf der Zimmerwalder Konferenz erklärt, daß sie an keiner bürgerlichen Regierung teilnehmen und in der Periode des imperialistischen Krieges für keine Kriegskredite stimmen wird – wenn eine solche Parteiorganisation dies später dennoch tut, so ist sie ein Verräter am Sozialismus.

Bürgerin Ratner! Sie müssen zugeben, daß Ihre Partei, kaum einige Monate nach der Zimmerwalder Konferenz, beide Punkte auf die beschämendste Weise verraten hat. Ihre Partei nahm bei der erstbesten Gelegenheit an einer Koalitionsregierung teil. Ihre Partei nahm an einer imperialistischen Regierung teil, deren imperialistischer Charakter von niemandem bestritten werden kann. Dadurch habt Ihr den einen Punkt der Resolution verraten.

Und wenn Ihr jetzt sagen wollt, daß Ihr keine formelle Erklärung, keine formelle Abstimmung bezüglich der Kriegskredite abgegeben habt, so wird dieser Umstand durch die Junioffensive aufgehoben, zu der Euch Mister Buchanan gezwungen hat. Wenn Ihr dabei nicht vom bösen Willen geleitet, sondern einfach gefoppt wurdet, so habt auch den Mut, das hier offen zu gestehen.“

Weshalb fühlen die S.R. sich der II. Internationale so sehr verbunden? Hat Tschernow nicht erklärt, die II. Internationale sei tot und werde nie wieder auferstehen? weshalb erklärt hier Timofejew, sie ist wieder auferstanden? Die II. Internationale hat Berge von Verbrechen an der Arbeiterklasse aufeinander getürmt. Vielleicht besteht Eurer Meinung nach die Korrektur der Stellungnahme der II. Internationale darin, daß ihr Vertreter, Bürger Vandervelde, den niederträchtigsten Friedensvertrag der Geschichte, den Versailler Vertrag unterzeichnet hat, bei dessen Anblick man vor Scham vergehen muß. Oder erblickt Ihr vielleicht den Glorienschein über dem Haupte der II. Internationale darin, daß die Regierung der deutschen Sozialdemokratie, eine der wichtigsten Organisationen der II. Internationale, Rosa Luxemburg ermordet hat?

Nein, es wird Euch nicht gelingen zu beweisen, daß die II. Internationale ihre Stellung auch nur um ein Haar geändert hat. Im Gegenteil, ihre Handlungen seit Kriegsende sind noch viel niederträchtiger, noch viel schmutziger, tausendmal verbrecherischer als ihr Verrat bei Kriegsausbruch.

Werfen wir jetzt einen Blick auf die inneren Verhältnisse der Partei. Eugenia Ratner hat uns den General Krasnow, diese schöne Figur der russischen Gegenrevolution geschildert: Ich kann sagen, daß die Welt einen solchen Terror gegen das Proletariat und hauptsächlich gegen das Bauerntum, wie es der Terror Krasnows in Rostow und Umgebung war, noch nie gesehen hat. Und jetzt bitte ich Euch, Genossen Richter, Euch dessen zu erinnern, daß es derselbe Krasnow war, mit dem Gotz seinen Feldzug zur Erwürgung der revolutionären Arbeiter Petrograds führen ließ. Bürger Gotz hat mit dem Krasnowschen Heer die größten und fortgeschrittensten revolutionären Kräfte angegriffen, die sich auf dem Gebiete des frühern russischen Imperiums befanden. Diese Aktion ist die beste Charakteristik der S.R. Partei.

Was die „äußere Politik“ – wir nennen sie einfach Spionage – der S.R. Partei betrifft, so sehen wir hier die S.R. Partei an einem Tische mit Dumas, mit Ehrlich und anderen Vertretern des französischen Imperialismus, die die S.R. Organisationen mit Geld und Sprengmaterial versorgt haben.

Als den S.R. hier vorgeschlagen wurde, die Tätigkeit des Administrativen Zentrums entweder anzuerkennen oder aber zu verurteilen, erklärte Gotz, daß sie sich unter Drohungen nicht lossagen können. Und der Angeklagte Hendelmann gab seinem Zweifel an der Echtheit der Dokumente Ausdruck und berief sich auf den Kölner Kommunistenprozeß. Dort erklärten aber die Kommunisten kategorisch, daß die Londoner Dokumente Fälschungen seien. Sie gaben nicht ablehnende und zweideutige Erklärungen ab. Dasselbe sollten auch die Angeklagten des Prozesses tun.

Es gibt hier nur drei Möglichkeiten: Entweder sind die Dokumente falsch, dann müssen es die Angeklagten gerade heraus, kategorisch erklären, um die Falschheit derselben zu beweisen. Wenn aber die Dokumente echt sind, dann müssen sie entweder ihre Solidarität mit diesen Dokumenten ehrlich erklären oder aber sich offen auf den Standpunkt stellen, daß sie mit den in diesen Dokumenten figurierenden Personen nichts gemein haben, daß daher also diese Personen als einfache Provokateure zu betrachten sind. Und wenn ein Teil der Dokumente echt, ein anderer Teil falsch ist, dann müssen die Angeklagten erklären, daß sie den echten Teil der Dokumente entweder anerkennen oder sich von ihm lossagen und beweisen, daß der andere Teil der Dokumente tatsächlich falsch sei.

Die Angeklagten aber haben weder das eine, noch das andere getan. Weder anerkannten sie die Dokumente, noch sagten sie sich von ihnen los. Anzuerkennen wagten sie diese Dokumente nicht, sich von ihnen lossagen konnten sie nicht, da sie noch bis heute mit dem Administrativen Zentrum in Verbindung stehen.

Es ist festgestellt worden, daß das Moskauer Zentralbüro der S.R. Partei mit dem Administrativen Zentrum in Verbindung steht und von ihm Geld erhält. Wenn sie sich also lossagen wollten, so hätten sie sich vom ganzen übrigen Teil der eigenen Partei lossagen müssen.

Von dem Standpunkte jenes Kriteriums, das der Zimmerwalder und Kientaler Konferenz zum Ausgangspunkt diente, hat sich die S.R. Partei sowohl in ihrer inneren, wie auch in ihrer äußeren Politik als systematische Verräterin der Interessen der Arbeiterklasse und des Sozialismus erwiesen. Und wenn sich in dieser Partei einige Leute befinden, die auf Grund ihrer sozialen Abstammung mit diesem systematischen Verrat eine Zeitlang sympathisierten, im Laufe ihrer weiteren Entwicklung aber die Verräter preisgaben, so haben sie ein nützliches Werk geleistet.

Wenn eine bestimmte Gruppe, nachdem sie aus der S.R. Partei austrat, den Verrat enthüllte, veröffentlichte und ihre Führer an den Pranger stellte, so ist das ein historisches Verdienst. Vom Standpunkte der moralischen Rehabilitation könnt Ihr denken, was Ihr wollt. Uns interessiert nur, was vom Standpunkte der internationalen Revolution und der revolutionären Arbeiterklasse nützlich und richtig ist.

Seit der Oktoberrevolution wart Ihr unter dem Pseudonym „Komitee zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution“, dann als „Verband der Wiedergeburt“ und schließlich als „Komitee der Konstituante“ tätig. Nach der Auflösung der Konstituante kam es so, daß jede zwei S.R., die zwei Tage lang Mitglied der Konstituante waren, hier und da eine Macht gründeten und sich für eine Staatsmacht hielten, für die die Partei keine Verantwortung trägt. Es ist ganz natürlich, daß, sobald in letzter Zeit die Möglichkeit unter fremdem Namen in Rußland aufzutreten schwand, Ihr Euch im Auslande ein Pseudonym schaffen mußtet und Ihr habt es Euch geschaffen. Es verblieb Euch die merkwürdige „Pariser Konstituante“ und das „Administrative Zentrum“.

Bei einer flüchtigen Analyse der S.R.-Spitzen muß eine besondere Tatsache in die Augen fallen: In keiner revolutionären oder pseudo-revolutionären Gruppierung kann man unter den führenden Kreisen soviel Millionäre finden wie in der S.R. Partei. Vandervelde ist auch ein Millionär und sprach hier vor dem Gericht im Namen seiner Millionen und nicht im Namen von Millionen Arbeitern. Was die S.R. Partei betrifft, so ist Gotz Inhaber einer Handels- und Industrie-Firma, Gunakow macht in Brillanten, Rabinowitsch war Inhaber einer Pelzfirma, während Semjonow Eigentümer großer Teeplantagen ist usw. usw. Der Kernbestand der S.R. Parteiführer geht nicht einfach aus den Familien der demokratischen Intelligenz, sondern aus den Familien des Großkapitals hervor. Der Umstand, daß in die S.R. Partei auch Arbeiter und Bauern eingetreten sind, bedeutet nichts anderes, als daß in einer bestimmten geschichtlichen Periode die Handels- und Industriebourgeoisie und andere bürgerliche Gruppierungen versuchen, mit den Massen in Verbindung zu treten. Während des Kampfes gegen den Zarismus versuchten diese Gruppierungen einerseits die Intelligenz auszunützen, andererseits sich auf das Bauerntum und teilweise auch auf die Arbeiterklasse zu stützen. Als Resultat entstand eine ihrem sozialen Bestande nach aus verschiedenen Elementen zusammengesetzte Gruppierung, die sich S.R. Partei nennt. Es war ganz richtig, als sie Bürger Vandervelde hier mit den Girondisten verglich, da ja die Girondisten eben eine großbürgerliche Gruppierung und nicht eine Kleinbürger- und Bauerngruppe waren. Unsere russischen Girondisten stützen sich auf dieselbe soziale Basis, und es war nur natürlich, daß sie während der proletarischen Revolution ihr eigenes Gesicht gezeigt haben.

Timofejew legt es den Kommunisten zur Last, daß sie als erste den Bürgerkrieg begonnen haben. Erinnert Ihr Euch, wie wir in die Revolution eingetreten sind? Ihr habt über den ganzen Apparat der Staatsmacht und über die ganze Armee verfügt, wir aber waren nur ein kleines Häuflein – wie Ihr Euch ausdrückt – deutscher Spione. Wenn man die Lage, von Eurem Gesichtspunkte, von dem Gesichtspunkte der freien Konkurrenz, der für die Massenorganisation kämpfenden Faktoren aus betrachtet, so waren alle Vorteile dieses Kampfes auf Eurer Seite. Trotzdem wurdet Ihr geschlagen. Und wenn wir dann, als wir an der Macht waren, die Euch verhaßte Tscheka gegründet haben, so geschah das erst später. In dieser ungeheueren Gärung hat nur diejenige Kraft das Recht zur geschichtlichen Existenz, die in der gegeebenen historischen Phase das Land organisieren, über das Land regieren kann. Weder Nikolaus II. noch Ihr, noch die Bourgeoisie konnten regieren.

Ich erlaube mir, einen Freispruch für die ganze zweite Gruppe zu fordern, schon aus dem Grunde, weil Ihr, Mitglieder des Revolutionären Tribunals, ja selbst erklärt habt, daß für Euch der Wille des organisierten Proletariats nicht gleichgültig ist. Und das zu fordern, beauftragte mich – wenn auch nicht formell – die Masse der organisierten Arbeiter. Die Demonstration vom 20. Juni gab mir dieses Mandat. Ich wandte mich damals an die Masse der demonstrierenden Arbeiter mit der Frage, ob sie es für richtig halte, daß wir diese und diese Leute verteidigen, und diese proletarische Riesenmasse antwortete: „Ja, Ihr seid verpflichtet, es zu tun.“

Und nun im Namen dieser Arbeitermassen, die unsere Stellungnahme billigen, fordere ich einen Freispruch für alle meine Klienten ohne Ausnahme.“

Nach einer kurzen Rede von Sadoul, der für ein mildes Urteil plädiert, folgt eine Replik des Staatsanklägers Lunatscharskis, in der er auf verschiedene Einwände der Angeklagten eingeht und besonders ausführlich auf den Vorwurf Gotz’ zu sprechen kommt, die Absicht wäre, durch diesen Prozeß die S.R. Partei zu vernichten: „Gotz sagt: Ihr wollt unsere Partei ermorden!“ Ja, ja, wir wollen es! Dieser Prozeß verfolgt dies Ziel. Wir werden die Partei vernichten! Denn sie ist schädlich, abscheulich und lächerlich, ihre Unreife und Unerfahrenheit, wie jede kleinbürgerliche Schichtung, wie jeder Zwerg, der gegen elementare Kräfte zu kämpfen gedenkt.

Krylenko hebt in seiner Replik den Unterschied zwischen alter und neuer Rechtsauffassung hervor:

„Hendelmann rollte hier die Frage der prinzipiellen, individuellen und kollektiven Verantwortlichkeit im strafrechtlichen Sinne auf. Hendelmann erwähnte das richtige Prinzip, daß in Strafsachen jeder nur für sich die Verantwortung tragen kann. Ein solches Prinzip war in den alten zaristischen Gesetzen tatsächlich durchgeführt worden. In unserer Strafgesetzgebung existiert aber dieses Prinzip nicht. Im gegenwärtigen Prozeß muß die Frage in folgender Weise gestellt werden: wenn eine gewisse führende Körperschaft, die die Tätigkeit aller lokalen Organisationen leitet, erklärt, daß sie für die Tätigkeit aller dieser Organisationen die Verantwortung trägt, so unterliegen ihre Mitglieder einer kollektiven Verantwortung.

Auf alle kategorischen Aussagen der zweiten Angeklagtengruppe antworten die Angeklagten der ersten Gruppe: „Davon ist nichts wahr, das habt Ihr alles nur erfunden.“ Ich frage Euch nun, aus welchem moralischen, logischen oder politischen Grunde könnt Ihr behaupten, daß sie lügen? ... Auf die Fragen, die Euch unangenehm sind, antwortet Ihr nicht.

Ich muß noch einmal auf die bereits in meiner ersten Rede behandelte Frage des Strafausmaßes zurückgreifen. Ich gehe ausschließlich vom Standpunkte der Nützlichkeit oder Gefährlichkeit der betreffenden Bürger aus. Mir scheint, daß diese Frage bereits klar vor uns stehen kann. Es liegen uns die Erklärungen Gotz, Hendelmanns und Timofejews vor. Gotz erklärte: „Wir sterben, aber wenn wir sterben, so sterben wir mutig, und wenn wir leben werden, so werden wir so handeln, wie wir bisher gehandelt haben.“ Timofejew sagte: „Weder Lossagung noch Reue werdet Ihr von diesen Bänken hören.“ Und Hendelmann schloß seine Rede mit der Erklärung, daß sie uns tot und lebendig gefährlich sein werden.

Wie sollen wir uns diesen Erklärungen gegenüber verhalten? müssen wir oder müssen wir nicht das höchste Strafausmaß anwenden? Kann denn diese Frage im Interesse der Staatszweckmäßigkeit anders gestellt werden? Nein! Wenn wir um uns blicken, was in der Vergangenheit geschah, so sehen wir: Petrograd – Junkeraufstand – Blut; Moskau – Oktoberaufstand – Blut. Bei allen Bewegungen in Petrograd wurde Blut vergossen. Ferner: die Epoche von Archangelsk, wo während eines ganzen Jahres die englischen Kapitalisten herrschten. Auch dort – Blut und Blut. Samara, Sibirien, Südrußland – Blut und Blut. Tambow – Blut und Blut. Kronstadt – wiederum nur Blut und Blut. Überall, wo die S.R. nur auftraten, war nichts anderes als Blut und Blut. Deshalb können wir hier mit einer vollständigen Seelenruhe sagen: „Damit in der Zukunft kein Blut oder weniger Blut fließe, muß hier Blut vergossen werden.

 

Die Angeklagten ergreifen – jeder Einzelne – nochmals das Wort zu längeren Ausführungen, die sich einen vollen Tag hinziehen; die Angeklagten der ersten Gruppe beharren auf ihrer gegnerischen Einstellung, bestreiten noch einmal die Sanktionierung des Terrors durch das Z.K., verklären die demokratische Idee und bekennen, den Kampf gegen die Sowjets nicht ruhen zu lassen. Die Angeklagten der zweiten Gruppe bekennen sich nochmals zu ihren Verbrechen an der Revolution und der Arbeiterschaft, gestehen ihre Reue und als letzter spricht Semjonow: „Meine Verbrechen lassen sich weder rechtfertigen noch wieder gutmachen. Mein revolutionäres Gewissen hat mich bereits verurteilt.“

 

Nach fünftägiger Beratung wird am 8. August 1922 das Urteil des Obersten Tribunals des Allrussischen Zentralexekutivkomitees, bestehend aus dem Vorsitzenden, Genossen G. L. Pjatakow und den Mitgliedern, Genossen O. J. Karklin und A. W. Galkin verlesen.

Man führt die Namen der 34 Angeklagten auf, bemerkenswert ist die Angabe der Klassenzugehörigkeit eines jeden Angeklagten, unter den 34 Angeklagten befinden sich 29 Personen, die bürgerlichen Verhältnissen entstammen, Hochschulbildung genossen, in der Marine oder im Heer des Zaren gedient haben; einige Personen sind vom Adel, der Angeklagte Utgoff ist der Sohn eines Gendarmerieoffiziers, bei Gotz wird ausdrücklich vermerkt: Kaufmannssohn, Donskoi, Hendelmann sind die Söhne von Ärzten, Semjonow ist der Sohn eines Beamten, L. Konoplewa stammt aus einer Lehrerfamilie. Pelewin ist Bauer, nur Usow, Kozlow und Subkow sind Arbeiter. Der bürgerliche Charakter der S.R. Partei wird auf diese Weise noch einmal besonders grell hervorgehoben. Die Arbeiter und Bauern, für die vielleicht die S.R. Partei durch ihre Tradition noch immer von einem Schimmer heroischer revolutionärer Tapferkeit umstrahlt war, sollten wissen, aus welchen Kreisen diese Führer stammten; das Ziel war Entlarvung der S.R. Partei als einer bürgerlichen Partei, die die Arbeiterbewegung ins Schlepptau zu nehmen sucht. Immer wieder findet man mit allem Nachdruck hervorgehoben: die Bewegung richtete sich gegen die Arbeiter.

Das Urteil gibt zunächst eine längere marxistische Analyse der revolutionären Bewegung. In den Vordergrund wird der Kampf um den Staatsapparat gestellt, dessen sich das Proletariat im Oktober 1917 bemächtigte. Ihre Vollmacht erhielt die proletarische Regierung vom 2. Allrussischen Rätekongreß der Arbeiter- und Bauerndelegierten, er bestätigte am 27. Oktober die durch den Aufstand zur Macht gelangte Arbeiter- und Bauernregierung. Als ihre erste Aufgabe erblickte sie die Vernichtung des Widerstandes der Bourgeoisie, das Ziel war: die Vernichtung der Klassenunterschiede durch Änderung der ökonomischen Verhältnisse. Die Entscheidungsfrage lautete: Mit der Bourgeoisie oder gegen sie? Kampf für oder gegen die Sowjetmacht?

Die S.R. boten alles auf, um die Sowjetmacht zu stürzen. So arbeiteten sie im Interesse der Bourgeoisie, und im Bunde mit ihr. Das Urteil geht auf die einzelnen Aktionen ausführlich ein, die sich gegen den Staat, der zugleich den Vertreter der Interesse der Arbeiter und Bauern repräsentierte, richteten.

Schon einen Tag nach der Bestätigung der Sowjetregierung durch den Rätekongreß marschiert der S.R. Kerenski im Bunde mit dem General Krasnow gegen Petrograd. In der Stadt selbst erheben sich die Junker unter Führung eines Stabes, dem der S.R. Gotz angehört, der persönlich wieder mit Krasnow in Verbindung steht. Krasnow und die Junker werden geschlagen. Nach ihrer ersten Niederlage versuchen die S.R. einen technischen Apparat zu organisieren. Für den Tag der Eröffnung der Konstituante wird der Aufstand geplant, der als Farce endet. Das Gericht sieht als erwiesen an, daß die S.R. in verschiedenen Regimentern arbeiteten. Aber die Massen waren nicht zu gewinnen. Das Zentralkomitee gab seinen Plan auf. Zweiter Mißerfolg. Nach der Auflösung der Konstituante beginnt die geheime, die konspirative Tätigkeit der S.R. Eine militärische Organisation arbeitet unter den Soldaten der Roten Armee. Das Z.K. selbst nimmt Verbindung mit bürgerlichen Verbänden auf und erhält von ihnen Gelder; man scheut sich sogar nicht mit einer Organisation Fühlung zu nehmen, die Fäden zum deutschen Hauptquartier-Ost gesponnen hat. Ein Mitglied der S.R., der Oberst Postnikow, soll sogar ins deutsche Hauptquartier fahren, um mit dem Vertreter Ludendorffs zu verhandeln. In Moskau bestehen engste Beziehungen zu Bürgerwehren und Verbänden der Bischöfe. Die Spionagetätigkeit in der Armee wurde fortgesetzt, die betreffenden Organisationen ausgebaut; dabei wurde auf den Oberst Machin hingewiesen, der als Mitglied der S.R. Partei und im Auftrag des Z.K. einen hohen Posten in der Roten Armee bekleidete und im Kampf mit der Ufaregierung zum Feinde überging.

Der 8. Parteitag im Mai 1918 beschließt den Kampf mit der Sowjetregierung auf allen Fronten und mit allen Mitteln aufzunehmen. Im Wolgagebiet, in Archangelsk und Wologda kommt es zu erbitterten Kämpfen. In Verbindung mit der französischen Mission gewinnt die S.R. die tschechoslowakische Legion, die unter Führung französischer Offiziere offenen Krieg mit den Sowjets führt. Die Tschechoslowaken werden die Elitetruppe der Regierung von Samara, die sich unter Führung der S.R. bildet. An der Regierung beteiligen sich Vertreter des Großgrundbesitzes und der Industrie. In Archangelsk operieren die S.R. in engster Fühlung mit den Ententetruppen und der russischen Bourgeoisie. In diesen Kämpfen fiel den S.R. die entscheidende politisch organisatorische Rolle zu, während die militärische Führung in den Händen der Ententegenerale und russischer Weißgardisten lag.

In der Ukraine, in Kuban und am Don bestanden Verbindungen zwischen den S.R. und den dortigen sowjetfeindlichen Regierungsorganen. In der bürgerlichen ukrainischen Rada sanktionierte die S.R. Fraktion die Okkupation der Ukraine durch den deutschen und österreichischen Imperialismus. Direkt oder indirekt erhielt die Partei finanzielle Unterstützung von den Missionen der Verbündeten. Ferner bestand eine direkte organisatorisch-persönliche Verbindung des Z.K. mit Vertretern der Entente. Außerdem bestand eine enge Verbindung mit bürgerlichen Organisationen; genannt werden die Organisation Filonenko, Iwanow und der „Verband der Wiedergeburt“, dem Kadetten und weiter rechtsstehende Vertreter angehören. Es kam zur Bildung einer zukünftigen russischen Regierung, dem „Allrussischen Direktorium“, in dem Führer der S.R. saßen.

Nach dem Siege der Roten Armee 1919 vollzog sich ein Umschwung. Einige Mitglieder der Konstituante von Samara gaben eine Erklärung ab, in der sie auf den bewaffneten Kampf gegen die Sowjetmacht verzichteten. Aber das Plenum des Z.K. spricht sich gegen jede Versöhnung mit den Sowjets aus und veranlaßt sogar eine Untersuchung gegen die versöhnlichen Mitglieder des Z.K. Diese Wendung hat den Austritt verschiedener Mitglieder zur Folge. Um so entschiedener wird die Haltung der Unversöhnlichen. Eine Resolution des Z.K., von Gotz, Helene Ratner und Timofejew unterzeichnet, erklärt:

„Die S.R. Partei darf ihre alten Positionen nicht verlassen und nicht für einen einzigen Moment auf den bewaffneten Angriff verzichten. Wenn die Bewegung ... gegen die Bolschewiki im gegebenen Augenblick nicht erneuert werden kann, so wird die Aufgabe unserer Partei in der weiteren Vorbereitung der Massen und Zusammenfassung der Elemente der Demokratie bestehen, dort, wo diese Elemente sich noch erhalten haben.“

Am 13. Mai 1920 erläßt das Z.K. ein Rundschreiben, das einen bestimmten Arbeitsplan der S.R. auf dem flachen Lande enthält: 1. Befestigung der organisatorischen Position der S.R. Partei unter den sowjetfeindlichen Elementen des Dorfes; 2. Provozierung bewaffneter Zusammenstöße der Bauern mit der Sowjetmacht.

Eine Folge dieses Zirkulars sieht das Urteil in der Bauernrebellion in Tambow unter Führung des Banditen Antonow. 1921 versuchten die S.R. eine ähnliche Bewegung in Sibirien zu organisieren. Für die Teilnahme der S.R. an Unruhen in den Küstengebieten des Schwarzen Meeres wird ein Aufsatz des Oberst Machin herangezogen; ferner gilt als Beweis ein Aufsatz Tschernows, in dem die Taktik der S.R. gerühmt wird, endlich Akten des „Administrativen Zentrums“. Der Oberst Woronowitsch wurde zu den Aufständigen entsandt.

Das „Administrative Zentrum“ beauftragt Woronowitsch in einem Briefe vom 19. August 1921, gezeichnet vom Sekretär der S.R. Partei, Fabrikant, „mit der Bauernorganisation am Schwarzen Meer, mit dem Obersten Stab der Bauernwehr usw. Verbindungen herzustellen.“

Die Septemberkonferenz der S.R. im Jahre 1920 beschloß in einer Resolution den „bewaffneten Sturz der bolschewistischen Diktatur“. Darauf senden die in Haft befindlichen Mitglieder der S.R. Partei Gotz, Hendelmann, Wedenjapin, Donskoj, Lichatsch, Morosow, Rakow, H. Ratner, Timofejew und Zeitlin anläßlich jener Resolution einen Brief an das neugewählte Z.K., in dem es heißt: „Mit Freude erfuhren wir den günstigen Ausgang der 10. Konferenz. Die 10. Konferenz erkennt vollkommen richtig, daß die Hauptaufgabe der Partei in der Liquidierung der Diktatur der gegenwärtig herrschenden Regierung besteht.“

Der Kronstadter Aufstand im Jahre 1921 ist von den S.R. gefördert worden. Hinweise auf Telegramme und Artikel Tschernows, Akten des „Administrativen Zentrums“.

Einen breiten Raum nehmen im Urteil die Feststellungen des Obersten Tribunals hinsichtlich der terroristischen Akte, Expropriationen und Sprengungen ein.

1. Wird auf eine Erklärung der S.R. Gotz, Ratner und Tschernow hingewiesen, in der terroristische Akte gebilligt wurden. Dieser Erklärung wurde nicht widersprochen.

2. Im Februar 1918 fand eine Aussprache über den Terror im Z.K. statt. Das Urteil stellt folgendes fest: Bei der Erwägung der Frage im Z.K. kamen zwei Ansichten zum Ausdruck. Es gelang dem Gerichte nicht, den Text des Z.K.-Beschlusses festzustellen. Es wurde nur festgestellt, daß in der Motivierung die Mitglieder des Z.K. nicht einig waren. Eine Motivierung wurde nicht angenommen, der Berichtigungsantrag des Z.K.-Mitgliedes Zuntin (eines Gegners des Terrors) wurde abgelehnt; die Resolution Tschernows (Anhänger des Terrors) wurde angenommen. Zuntin trat aus dem Z.K. aus. Der Beschluß des Z.K. wurde nicht nur nicht in weiteren Kreisen veröffentlicht, sondern war nicht einmal den verantwortlichen Parteifunktionären bekannt, wie z. B. dem Leiter der Militärkommission beim Z.K., Daschewski. Als Tschernow auf die Enthüllungen Semjonows und Konopljewas hin die terroristische Tätigkeit der S.R. Partei in Abrede stellte, hat er nicht ein einziges Mal diesen Beschluß erwähnt.

3. Hinweis auf die Terrorgruppe Semjonow, die von Z.K.-Mitgliedern Aufträge erhielt.

4. Als erwiesen wird angesehen, daß diese Gruppe von den Z.K.-Mitgliedern Gotz und Donskoi Weisungen erhielt und auf Befehl des Z.K. oder einer Gruppe von Z.K.-Mitgliedern handelte.

5. Die Z.K.-Mitglieder Gotz, Donskoj, Gerstejn und der Bevollmächtigte des Z.K. Rabinowitsch nahmen an der Organisation terroristischer Aktionen, Expropriationen und Sprengungen teil. Die Z.K.-Mitglieder Timofejew, Iwanow, H. Ratner und Wedenjapin hatten wenigstens teilweise von dieser Tätigkeit Kenntnis.

6. Die Ermordung des Genossen Wolodarski, das Attentat auf den Genossen Lenin, das Attentat auf den Eisenbahnzug des Genossen Trotzki wurde durch die Kampforganisation der Partei organisiert. Der Mörder des Genossen Wolodarski, Sergejew und die Attentäterin auf den Genossen Lenin, F. Kaplan, waren Mitglieder dieser Organisation und der S.R. Partei.

7. Diese Kampforganisation beging eine Reihe von Expropriationen, das auf der Station Buij von Angestellten des Ernährungskommissariats entnommene Geld im Betrage von ungefähr einer Million Rubel wurde auf Beschluß des Z.K. in seine Kasse eingezahlt.

8. Der Agent der französischen Mission für Sprengungen, Henry Virtimon, stand mit dem Z.K. und mit Timofejew in enger Verbindung und erwies der Sprengungsgruppe des Z.K. eine materielle Unterstützung. Timofejew hielt die Annahme dieser Unterstützung für unbedenklich.

9. Die Teilnahme aller Mitglieder des Z.K. an dieser verbrecherischen Tätigkeit ist bewiesen worden. Die Teilnahme der Z.K.-Mitglieder und anderer Parteimitglieder an den terroristischen Aktionen, Expropriationen und an der Sprengungsarbeit wird in bezug auf jeden Angeklagten einzeln festgestellt.

Das Tribunal kam für die einzelnen Angeklagten zu folgenden Feststellungen:

Gotz, Wedenjapin, Hendelmann, Donskoi, Gerstein, Lichatsch, Iwanow, Ratner-Elkind, Rakow, Federowitsch, Timofejew waren Mitglieder des Z.K. der S.R. Partei, deren Ziel der Sturz der Arbeiter- und Bauernregierung war, die Hochverrat im Bunde mit fremden Mächten beging, Verträge verletzte, die die Sowjetrepublik abgeschlossen hatte, und Gebiete von der Republik abzutrennen suchte. Gotz, Donskoi und Gerstein leiteten die Tätigkeit terroristischer Terrorgruppen, die Attentate auf Lenin und Trotzki planten und Wolodarski töteten. Timofjejew, Iwanow, H. Ratner, Wedenjapin sind als Mitwisser zu verurteilen; ferner empfingen sie Gelder, die in einem staatlichen Büro geraubt waren. Donskoi war Anstifter dieses Raubes. Endlich unterhielten sie Beziehungen zu ausländischen Staaten, die sich mit der Sowjetrepublik im Kriegszustand befanden! Sie leiteten Sprengungsarbeiten.

Artemjew, Morosow und G. Ratner waren Mitglieder des Moskauer Büros der Z.K. und führten mit einigen Mitgliedern des Z.K. die ganze Tätigkeit der Partei auf dem Gebiete der Arbeiter- und Bauernregierung. Sie haben von der Existenz der Semjonowschen Kampfgruppe Kenntnis gehabt.

Agapow, Altowski, Liberow, Gorkow, Lwow, Berg, Slobin, H. Iwanowa und Utgoff waren Mitglieder verschiedener führender Organe der S.R. Partei und vollzogen die Direktiven ihres Zentralkomitees; außerdem leitete Agapow die Sprengungsgruppe des Z.K., die für Sprengungen, Brandstiftungen und Zerstörung der Verkehrswege zu gegenrevolutionären Zwecken organisiert wurde.

Semjonow, Konopljewa, H. Iwanowa, Ussow, Subkow, Fedorow-Koslow, Jefimow, Pelewin nahmen an der Tätigkeit der Kampfgruppe des Z.K. teil, die terroristische Aktionen gegen die Führer der proletarischen Revolution, bewaffnete Überfälle und bewaffnete Plünderungen zugunsten der S.R. Partei ausführte, wobei Semjonow der Führer dieser Gruppe war, und Semjonow, Konopljewa und Iwanowa für ihre Verbindung mit dem Z.K. sorgten. Stawskaja trat später in die erwähnte Gruppe ein, nahm aber an ihrer Tätigkeit keinen tatsächlichen Anteil.

Daschewski leitete die militärische Organisation der S.R. Partei, wofür er amnestiert wurde; außerdem aber half er der Ausführerin des Attentates auf Genossen Lenin, dem Mitglied der S.R. Partei, Fanny Kaplan, bei ihrem Eintritt in die Semjonowsche Kampfgruppe und hatte von der Existenz dieser Gruppe Kenntnis.

Ignatjew war Mitglied des Z.K. der Volkssozialistischen Partei und handelte in unmittelbarer Verbindung mit den Mitgliedern des Z.K. der S.R. Partei; nahm bis zu seiner Verhaftung an der gegenrevolutionären Tätigkeit zum Sturze der Sowjetmacht teil, trat dem Komitee zur „Rettung des Vaterlandes und der Revolution“ bei, beteiligte sich an der Tätigkeit dieser Organisation gegen die Sowjetmacht, setzte sich mit den gegenrevolutionären Organisationen Filonenkos und Iwanows und mit der militärischen Kommission der S.R. Partei in Verbindung, trat in den Kriegsstab des Verbandes der Wiedergeburt ein, wohnte den Sitzungen des politischen Zentrums des Verbandes der Wiedergeburt bei und leitete die gegenrevolutionären Aktionen in Wologda. Er setzte sich außerdem mit den Vertretern der verbündeten Missionen und weißgardistischen Organisationen in Verbindung, um die Sowjetmacht zu stürzen.

Demzufolge verfügt das Tribunal:

1. G. M. Ratner freizusprechen.

2. J. W. Moratschewski wegen Mangel an Beweisen freizusprechen.

3. Die Schuld der Angeklagten F. J. Stawskaja gemäß Paragraph 213 des Strafgesetzbuches (Kriegsspionage) als unbewiesen zu betrachten.

Das Tribunal verurteilt:

4. P. W. Slobin, in Anbetracht des unbedeutenden Umfanges seiner gegenrevolutionären Tätigkeit, seiner Nichtteilnahme an der illegalen Tätigkeit der S.R. Partei während der letzten Zeit, seiner gutgesinnten Arbeit in den Sowjetbehörden, auf Grund des Paragraphen 60 des Strafgesetzbuches mit Anwendung des Paragraphen 28 zu zwei Jahren Kerkerstrafe bei strenger Einzelhaft und Zwangsarbeit unter Anrechnung der Untersuchungshaft.

5. G. R. Gorkow-Dobrolubow, in Anbetracht des unbedeutenden Umfanges seiner gegenrevolutionären Tätigkeit und seiner prinzipiell ablehnenden Haltung zum bewaffneten Kampfe, auf Grund des Paragraphen 60 mit Anwendung des Paragraphen 28 zu drei Jahren Kerkerstrafe bei strenger Einzelhaft, Zwangsarbeit, unter Anrechnung der Untersuchungshaft.

6. W. R. Utgoff-Deruschinski, J. S. Berg und M. L. Lwow auf Grund des Paragraphen 16, aber in Anbetracht des unbedeutenden Umfanges ihrer gegenrevolutionären Handlungen, zu fünf Jahren Kerkerstrafe bei strenger Einzelhaft und Zwangsarbeit, unter Anrechnung der Untersuchungshaft.

7. P. N. Pelewin auf Grund der Paragraphen 76 und 68 zu drei Jahren Kerkerstrafe bei strenger Einzelhaft und Zwangsarbeit unter Anrechnung der Untersuchungshaft.

8. K. A. Usow, F. W. Subkow und F. F. Federow-Koslow auf Grund der Paragraphen 64, 76 und 68, Subkow außerdem auch auf Grund des Paragraphen 65, in Anbetracht der Größe ihres Verbrechens, aber mit Rücksicht darauf, daß sie keine führende Rolle gespielt haben und mit Rücksicht auf ihre proletarische Abstammung zu fünf Jahren Kerkerstrafe bei strenger Einzelhaft und Zwangsarbeit unter Anrechnung der Untersuchungshaft.

9. P. T. Jefimow auf Grund der Paragraphen 64, 76 und 68 zu zehn Jahren Kerkerstrafe bei strenger Einzelhaft und Zwangsarbeit, unter Anrechnung der Untersuchungshaft.

10. A. W. Liberow und N. I. Artemjew auf Grund des Paragraphen 60 zu zehn Jahren Kerkerstrafe bei strenger Einzelhaft und Zwangsarbeit, unter Anrechnung der Untersuchungshaft.

11. D. F. Rakow, F. F. Federowitsch und M. A. Wedenjapin auf Grund der Paragraphen 57, 58, 60, 62 und 65, ungeachtet dessen, daß sie Mitglieder des Z.K. sind, mit Rücksicht auf ihr Schlußwort, zu zehn Jahren Kerkerstrafe bei strenger Einzelhaft und Zwangsarbeit unter Anrechnung der Untersuchungshaft.

12. A. R. Gotz, D. D. Donskoj, B. J. Gerstejn, M. J. Hendelmann-Grabowski, M. A. Lichatsch, N. N. Iwanow, E. M. Ratner-Elkind, E. M. Timofejew, S. W. Morosow, W. W. Agapow, A. I. Altowski, W. I. Ignatjew, G. I. Semenow, L. W. Konopljewa, E. A. Iwanowa-Iwanowa – zum Tode durch Erschießen.

In Anbetracht dessen jedoch, daß Ignatjew sich von seiner gegenrevolutionären Vergangenheit unwiderruflich lossagte, der Sowjetmacht dient und als sozial-ungefährliches Element zu betrachten ist, wendet sich das Tribunal auf Grund des Punktes 3 des Paragraphen 330 der Strafprozeßordnung an das Präsidium des Allrussischen Zentral-Exekutivkomitees mit dem Ersuchen, Ignatjew von der Strafe zu befreien.

Bezüglich Semjonow, Konopljewa, Jefimow, Usow, Subkow, Federow-Koslow, Pelewin, Stawskaja und Daschewski stellt das Tribunal fest: diese Angeklagten haben sich beim Begehen ihrer schweren Verbrechen wohlmeinend irreführen lassen und nahmen an, daß sie im Interesse der Revolution kämpften; als sie aber die gegenrevolutionäre Rolle der S.R. Partei begriffen, traten sie aus der Partei und verließen das Lager der Feinde der Arbeiterklasse, in das sie durch einen tragischen Zufall geraten sind. Die genannten Angeklagten haben den ganzen Umfang der Ungeheuerlichkeit ihrer Verbrechen erkannt. Das Tribunal ist überzeugt, daß sie in den Reihen der Arbeiterklasse mannhaft und selbstlos für die Sowjetmacht gegen alle ihre Feinde kämpfen werden, und ersucht auf Grund des Punktes 3 des Paragraphen 330 der Strafprozeßordnung das Präsidium des Zentral-Exekutivkomitees um volles Erlassen ihrer Strafe.

Auf Grund des Paragraphen 42 des Strafgesetzbuches verurteilt das Tribunal außerdem die Angeklagten Artemjew, Wedenjapin, Gorkow, Slobin, Lwow, Rokow, Federowitsch, Utgow, Liberow, Berg zum Verlust ihrer bürgerlichen Rechte, und zwar auf Grund der Punkte a, b und c des Paragraphen 40 des Strafgesetzbuches, auf die Dauer von fünf Jahren.

Das Tribunal ordnet die Verhaftung der Angeklagten Ignatjew, Konopljewa, Stawskaja, Semjonow und Usow an.

Die Beweisgegenstände und Dokumente sind dem Archiv der Oktoberrevolution zu übergeben. Die Kosten des gerichtlichen Verfahrens trägt die Staatskasse.

Der Vorsitzende des Tribunals: G. P. Pjatakow.
Mitglieder: O. Karklin, A. Galkin.

Noch am gleichen Tage erscheint eine Verfügung des Allrussischen Zentral-Exekutivkomitees, in der es heißt:

1. Das Urteil des Obersten Tribunals bezüglich der Angeklagten Gotz, Donskoj, Gerstein, Hendelmann-Grabowski, Lichatsch, H. Iwanow, E. Ratner-Elkind, Timofejew, Morosow, Agapow, Altowsky und E. Iwanow-Iwanowa wird bestätigt, der Vollzug der Strafe ist jedoch aufzuschieben.

Wenn die Partei der Sozialrevolutionäre ihre unterirdisch-verschwörerische, terroristische, aufständische und Kriegsspionage-Tätigkeit gegen die Sowjetmacht auch in der Tat einstellt, wird sie dadurch auch jene ihre führenden Mitglieder von der Todesstrafe befreien, die in der Vergangenheit diese Tätigkeit leiteten und selbst am Prozeß die Absicht aussprachen, diese Tätigkeit auch in der Zukunft fortzusetzen.

Die Anwendung der Methoden des bewaffneten Kampfes gegen die Arbeiter und Bauernmacht durch die Partei der Sozialrevolutionäre hingegen wird das unvermeidliche Erschießen der verurteilten Aufwiegler und Organisatoren gegenrevolutionärer Terroraktionen und Aufstände nach sich ziehen.

Sowohl die zum Tode Verurteilten, wie auch die zu langfristiger Kerkerstrafe Verurteilten verbleiben in strenger Haft.

2. Bezüglich Semjonow, Konopljewa, Jefimow, Usow, Fedorow-Koslow, Pelewin, Stawskaja, Daschewski und Ignatjew beschloß das Präsidium des Allrussischen Zentral-Exekutiv-Komitees, dem Ersuchen des Obersten Tribunals über das völlige Erlassen ihrer Strafe stattzugeben.

Moskau, den 8. August 1922.

Vorsitzender des Allrussischen Zentral-Exekutiv-Komitees:
Gez. M. Kalinin.

Sekretär des Allrussischen Zentral-Exekutiv-Komitees:
Gez. A. Enukidze.

Wenige Monate später wird das Todesurteil überhaupt zurückgezogen, als Strafe fünfzehnjährige Haft festgesetzt. 1924 wurde das Urteil endgültig auf 5 Jahre Haft beschränkt. Im Jahre 1927 sind sämtliche Angeklagten in Freiheit, wenn nicht zuvor ein internationaler Austausch der politischen Gefangenen erfolgt ist. Es hängt von den westeuropäischen Regierungen ab, ob diese Aktion durchgeführt wird!

 

Dies Urteil ist ein Friedensvertrag heutiger Zeit. Mit seiner Ratifikation schließt eine große Periode russischer Geschichte ab, die jedoch nicht nur die Geschichte der revolutionären Bewegung des Proletariats geworden ist, sondern zugleich auch die Geschichte der Eroberung des Staatsapparates durch das Proletariat. Erst seit diesem Prozeß ist ein einheitliches proletarisches Rußland geschaffen; die S.R. Partei hat nach diesem Prozeß in Rußland jeden Boden verloren und ihre illegale konspirative Tätigkeit eingestellt. Außenpolitisch haben die Interventionsversuche vorläufig einen Abschluß gefunden. Soweit bekannt geworden ist, beschränkt sich die S.R.-Presse der Emigranten auf den Papierkrieg gegen Sowjetrußland. Der russischen Arbeiterregierung blieb eine Atempause, in der sie ihren Staat ausbauen konnte.

So war dieser Prozeß mehr als ein politischer Prozeß kriminellen Charakters. Nur so läßt sich auch die tiefe Erregung erklären, die seine Verhandlungen in Europa auslösten. Noch einmal standen sich die Mächte der Vergangenheit und Gegenwart gegenüber, allerdings mit ungleichen Waffen. Nie ist so klar geschieden worden: Vertreter des Proletariats – Verführer des Proletariats. Der S.R.-Prozeß war der Abschluß einer großen historischen Epoche, aber er war zugleich eine erste große öffentliche gerichtliche Abrechnung jener Vertreter des Proletariats, die die Souveränität des Proletariats forderten, die Klassenkampfauffassung bis in ihre letzten Konsequenzen verfochten, während die S.R. eine Volksgemeinschaft nach westeuropäischen Prinzipien verlangten, in der die Klassengegensätze verwischt werden. Der neue Staat schloß diese Männer aus seiner Gemeinschaft aus, für ihn waren sie Außenseiter, für jene aber wie für die bürgerliche Welt waren die Vertreter jenes Staatsprinzips Außenseiter. So bekämpften sich zwei Welten. Die Tragik der S.R. ruht in ihrer Halbheit, ihrem Schwanken.

Wir müssen noch einmal auf den Terror zu sprechen kommen. Das Gericht gewann die Überzeugung, daß die Partei einen gemeinsamen Beschluß nicht gefaßt hat, es gab Strömungen für und wider den Terror. Aber selbst wenn man annehmen wollte, das Gericht hätte sich geirrt und Gotz oder Donskoi hätten wirklich nicht ihre Sanktion gegeben, oder sie nur als Privatpersonen erteilt, bleibt immer wieder die Frage offen: aber weshalb rückte das Z.K. nicht von der Terrorgruppe ab, weshalb erfolgte keine Mißbilligung dieser Taten, weshalb gab man nur öffentlich die Erklärung ab, die Partei sei an den Taten nicht beteiligt?! Wie anders verhielten sich die S.R. in der Zarenzeit! Da verteilte man Flugblätter und verkündete das Todesurteil öffentlich, da ging man vor Gericht und zur Hinrichtung wie ein Märtyrer, ein Bote der Freiheit. Weshalb jetzt diese Unklarheiten, diese Unaufrichtigkeit, dies Leugnen, diese Widersprüche? Weil man mit sich selbst im Hader lag und nicht mehr an seinen Sieg glaubte. Gotz konnte kein vernichtenderes Geständnis machen, als er das Resumé der Tätigkeit seiner Partei zog: „Wir hatten die Massen nicht hinter uns!“

 

Es ist immer gesagt worden, die Sowjetrepublik hatte nicht das Recht, über die S.R. zu Gericht zu sitzen; sie hatte durch die „Neue ökonomische Politik“ das Recht verwirkt, über Konterrevolutionäre zu richten. Der Prozeß fand in einem Zeitpunkt statt, in dem der Kriegskommunismus aufgegeben und zu einer Art Staatssozialismus übergegangen wurde. Aber gerade in dieser Zeit war die Sowjetrepublik verpflichtet, die Grenzen zwischen sich selbst und den Vertretern der Demokratie scharf zu ziehen. Und bis zum heutigen Tage sieht die kapitalistische Welt im Außenhandelsmonopol das schwerste Hindernis ihrer Expansions- und Kolonisationsbestrebungen in Rußland, ein Hindernis, das Austen Chamberlain nicht anders als durch einen neuen „Heiligen Krieg“ überwinden zu können glaubt. Die Republik hatte kein Recht, sich gegen eine Partei zu wehren, die bis zum Tage der Verhandlungseröffnung alle Hebel in Bewegung setzte, um die Republik zu stürzen und dem europäischen Proletariat, das immer stärker in die Defensive gedrängt wurde, den letzten Rückhalt zu rauben?! Der Staat sollte sich nicht gegen seine erbittertsten Feinde wehren, deren Schlußwort noch vor dem Tribunal lautete: „Wir werden euch mit allen Mitteln bekämpfen!“?

 

Auch die deutsche Republik hat Prozesse gegen ihre Feinde führen müssen. Wir brauchen hier nicht auseinanderzusetzen, wie der Prozeß gegen Hitler, wie er gegen die sogenannte Tscheka geführt wurde. Zwischen Extremen schwankt die deutsche Justiz, nach Willkür, nach Zeit; sie scheint subjektiv. In denselben Tagen, in denen Rathenau ermordet wurde, verhandelte man in Moskau gegen die S.R. Im Rathenau-Prozeß wurde an die Drahtzieher nicht gerührt, nie wurde versucht, die Geldgeber festzustellen, nie wurde das Netz von Verschwörercliquen zerstört, nie wagte man sich an die wahren Auftraggeber heran. Im S.R.-Prozeß spielten die Attentäter die geringere Rolle – man drang in die Hinterzimmer vor, man stieg in die Abgründe und entdeckte die Auftraggeber in den Kabinetten der Ententemissionen, in den geheimnisvollen Absteigequartieren der Mitglieder des Z.K. der S.R. Im Hitler-Prozeß sind nie gewisse Verbindungen zwischen Parteiführern und Hitler enthüllt worden, die Geldgeber blieben diskret hinter dem Vorhang – Geld spielt in der bürgerlichen Welt eine diskrete Rolle. Wie anders im S.R.-Prozeß! Die ganze Front der Gegenrevolution wird entlarvt, geheime Verbindungen werden ans Licht gezogen, illegale Organisationen festgestellt – es gab kein Geheimnis, vor dessen Enträtselung man zurückschreckte, nirgends ein Vertuschungsmanöver, nirgends ein Versuch zu verschweigen, zu beschönigen. Die Republik hatte ihre Feinde erkannt, entlarvt, sie wollte sie vernichten.

Das Oberste Tribunal war ein Klassengericht. Daraus wurde kein Hehl gemacht. Der Staatsgerichtshof der Deutschen Republik tat sich etwas zugute auf seine Objektivität und fällte seine Urteile im Interesse der mächtigsten Klasse. Das Oberste Tribunal hatte die Interessen der Schichten im Auge, die der Staat repräsentierte. Der Staatsgerichtshof entschied im Interesse der Mächte, die den Staatsapparat wieder fest in ihre Hand zu gewinnen suchten. Das Oberste Tribunal wollte ein Klassengericht sein, der Staatsgerichtshof ist es. Man braucht nicht immer erst zu bekennen, was man ist. Man ist, was man ist. Das Wesen der Staatsform deckt sich nicht immer mit den Interessen der stärksten Mächte im Staate, in einer Demokratie, der biegsamsten Form, nun schon gar nicht, ja sie gerade liefert heterogensten Machtgruppen je nach den Umständen die besten Werkzeuge, so lange man nicht wagt an den ökonomischen Grundlagen zu rütteln. Die Bolschewiki haben diese Grundlagen revolutioniert und eine Einheit zwischen Staatsform und Klasseninteresse geschaffen, die sich nicht je nach den Umständen maskieren läßt.

 

„Anfangs trat Mitjä dicht an Aljoscha heran, und plötzlich küßte er ihn. Seine Augen brannten.

..., Aljoscha, ich habe in diesen zwei letzten Monaten einen neuen Menschen in mir entdeckt ... Dieser Mensch war immer in mir verborgen, doch es wäre mir nie zum Bewußtsein gekommen, daß ich ihn in mir trug, wenn Gott nicht dieses Gewitter geschickt. Unheimlich ist das Leben! ... Man kann auch dort in den Erzgruben Sibiriens neben sich in genau solch einem Zwangsarbeiter und Mörder ein menschliches Herz finden ... Und ihrer gibt es so viele dort unter der Erde, Hunderte, und wir alle haben schuld an ihnen! ... Denn alle sind für alle schuldig ... Und so gehe ich denn für alle, denn irgend jemand muß doch für alle gehen! Ich habe meinen Vater nicht erschlagen, aber ich muß hingehen. Ich nehme es auf mich!“

 

Gotz und Donskoi und Timofejew und die anderen haben Wolodarski erschlagen lassen, sie wollten die Revolution töten, aber sie nahmen es nicht auf sich. Ihre Freunde im Ausland schlossen sich zu konspirativen Umtrieben zusammen, und als vor Gericht den Angeklagten die Dokumente unterbreitet wurden, nahmen sie es wieder nicht auf sich. Aus falscher Solidarität, mehr noch vielleicht aus Unvermögen, einen furchtbaren Konflikt lösen zu können. „Sind die Dokumente echt?“ fragten zweifelnd, zögernd die Gotz und Timofejew. Lag nicht in dieser Frage schon ein Geständnis? rückten sie nicht mit ihr schon von den Auslandsdelegierten ihrer Partei ab? Und dennoch zögerten sie, ein entscheidendes Wort zu sagen. Die bürgerliche Meinung hätte ihnen zugeschrien: Feiglinge, Verräter. Vielleicht war diese Zwangslage für die Angeklagten der ersten Gruppe der furchtbarste seelische Konflikt. Das Material belastete die Partei vor den russischen Arbeitern und Bauern am stärksten. Nun stand ihre Partei so offensichtlich als die Partei der Interventionsmethoden da – im Bunde mit dem Ausland, den Mächten des Versailler Vertrags, den erbittertsten Feinden der Sowjetrepublik. Wer dachte nicht noch schaudernd der Bürgerkriege, der gräßlichen Kämpfe mit den Weißen auf allen Fronten; und hatte nicht gerade dieser siegreiche Kampf gegen Entente und Weiße die Masse des Volkes geeint? Und nun war diese S.R. Partei im Begriff, das Verbrechen wider die Nation zu erneuern? und diese Angeklagten rückten nicht von solchen Methoden ab?! „Wir sind nicht für diese Umtriebe verantwortlich, wir sitzen seit Jahr und Tag in Haft.“ „Doch, ihr seid verantwortlich nach den Grundsätzen der Kollektivität, nach der Auffassung, daß die Geschichte der Menschheit eine Geschichte der Klassenkämpfe ist. Steht ihr diesseits oder jenseits der Barrikade?“

Und im bitteren Konflikt entschieden sich die Angeklagten für ihren Untergang – vielleicht waren sie dann „moralisch“ gerettet, hatten sie moralisch gesiegt. So nahmen sie es nicht auf sich.

 

Es gibt noch eine Stelle in den „Brüdern Karamasoff“. Aljoscha verläßt Mitjä und sucht Iwan auf, der es auf sich nahm und sich als Mörder fühlte.

„Iwan Fedorowitsch blieb plötzlich stehen.

‚Wer ist denn deiner Meinung nach der Mörder?‘ fragte er kalt, und es klang ein hochmütiger Ton in seiner Frage.

‚Du weißt es selbst, wer,‘ entgegnete Aljoscha leise und ruhig ...

Aljoscha fühlte, wie er plötzlich am ganzen Körper zitterte.

‚Du weißt es selbst, wer,‘ kam es kraftlos aus ihm heraus. Er konnte kaum atmen.

‚Aber wer denn, wer?‘ schrie ihn Iwan wild auffahrend an. Seine ganze Zurückhaltung war plötzlich verschwunden.

‚Ich weiß nur das eine,‘ sagte Aljoscha immer noch im selben kraftlosen betäubten Flüsterton: ‚– nicht du hast den Vater erschlagen.‘

‚Nicht du!‘ Was heißt das, ‚nicht du?‘ Iwan stand wie erstarrt vor seinem Bruder.

‚Nicht du hast den Vater erschlagen, nicht du, nicht du!‘ wiederholte Aljoscha fest.

Sie schwiegen. Lange dauerte das Schweigen.

‚Ich weiß es doch selbst, daß nicht ich es getan habe, redest du im Fieber?‘ sprach schließlich Iwan, und er lächelte ein bleiches, verzerrtes Lächeln.

Er hatte sich mit den Blicken gleichsam festgesogen an den Bruder. Sie standen sich beide wieder bei einer Straßenlaterne gegenüber.

‚Nein, Iwan, du hast dir selbst wiederholt gesagt, daß du der Mörder seiest!‘

‚Wann habe ich es gesagt? ... Ich war in Moskau ... Wann habe ich es gesagt?!‘ stotterte Iwan mit abirrendem Blick ...

... ‚Du hast dich beschuldigt und hast dir gesagt, daß der Mörder kein anderer sein könne als du. Aber nicht du hast ihn erschlagen ...‘“

 

Der andere tragische Konflikt entspann sich im Kampf zwischen den Angeklagten der ersten und zweiten Gruppe. Die erste Gruppe repräsentierte die Partei, wollte sie retten, mußte sie retten, stand für sie. Um die Partei ging der Kampf, um diese geschlagene, sterbende, ja schon verwesende Partei. Deshalb scheues Zurückziehen ins Zwielicht von Höhlen, deshalb Zagen, Schwanken, Widersprüche. Es ging im Grunde nie um Personen, immer um Parteien. Die anderen fühlten sich verraten, geopfert, mißbraucht, irregeleitet. Sie waren überfahren worden und wollten wieder aufstehen. Sie waren immer die Aktiveren, Entschlosseneren gewesen, ja sie hatten die Partei vorwärts gedrängt, ihr Impulse ins Blut gejagt, sie waren der eigentliche handelnde Körper, dessen Seele zermürbt und hoffnungslos war. Ihre Einstellung gegen die Sowjets war vor allem durch den Abschluß des Brester Friedens bestimmt, der ja selbst in den Reihen der Bolschewiki eine tiefgehende Krisis gezeitigt hatte, die nur die Parteidisziplin wieder überwand. Wir wissen, wie die Demütigung der Nation die Gemüter bedrückt und verwirrt. Der Brester Vertrag mußte doppelt schwer empfunden werden: denn er war nicht nur die Demütigung einer Nation durch die andere; er war die Demütigung einer Klasse durch die Klasse, die man eben im eigenen Lande erst besiegt hatte – zum ersten Male in der ganzen Geschichte der Menschheit – so entscheidend, so wuchtig. Und nun stürzte man wieder in den Abgrund.

So läßt sich begreifen, weshalb alte Parteigenossen sich von der Parole des Z.K. locken ließen. Aber als immer deutlicher wurde, in welche Abhängigkeit das Z.K. von der Entente geriet, welche Ziele die Entente vor allem in Rußland selbst verfolgte, gingen jene „Einfachen“ mit sich zu Rate und verließen ihre Partei: Diese Krisen und Wandlungen lassen sich nicht mit „Gesinnungswechsel“ bezeichnen. Die Russen stehen nicht so rasch auf dem Boden der Tatsachen. Die europäische Flinkheit und demokratische Geschäftigkeit ist für den Russen unbegreiflich. Wer mit der Macht der Finsternis ringt, kämpft lange mit sich selbst, bevor der neue Mensch aus dem Chaos heraustritt. Im Grunde tauchen alle Probleme der russischen Literatur auf, wenn wir an diesen Wandlungsprozeß der Angeklagten der zweiten Gruppe denken. Sie fallen in Zweifel, sie hadern mit sich selbst, sie beichten und werden „neue Menschen“. Der Kampf zwischen den Angeklagtengruppen nahm oft erbitterte Formen an, aber nicht ein Mal ist dieser Kampf zur Gemeinheit entartet; man würde im Westen sofort bei ähnlichen Fällen beobachten, wie man versuchen würde, die Schuld abzuwälzen, sich nur als den Verführten hinzustellen und im Gassenjungentone zu schreien: „Ich bin es nicht gewesen“ – vielleicht würde man sofort eine Dolchstoßlegende erfinden.

Die Angeklagten der zweiten Gruppe haben nie ihre eigene Schuld in Abrede gestellt: Wir haben gefehlt, wir haben getötet, wir haben uns an der Revolution versündigt, straft uns.

Die neue Gemeinschaft nahm sie auf. Es ist eines ihrer schönsten und erhabensten Prinzipien, den ehrlich Reuigen aufzunehmen. Sie übte diesen Grundsatz vom ersten Tage ihrer Herrschaft. Der General Krasnow hat solches Vertrauen bitter enttäuscht. Semjonow, Ratner, Ignatiew, die Männer aus dem Volke nicht.

 

Dieser Prozeß war die große Abrechnung mit der Konterrevolution; er schied scharf zwischen den Strömen, die noch die heutige Menschheit durchfließen. Das Tribunal war ganz bewußt das Organ einer siegreichen Klasse. Der Prozeß erscheint deshalb so kompliziert, weil es sich um eine Partei handelte, die zwischen den Linien stand, und deren tragischer Auflösungsprozeß in Europa die Teilnahme aller Kreise und Parteien erregte, die mißtrauisch, furchtsam, unsicher und zermürbt nicht die Spannkraft besaßen, mit tausendjährigen Traditionen zu brechen, die sogar schon den Instinkt überwuchert und infiziert haben. Auch der Besitzlose unterliegt derselben Stimme der Verführung, die den Besitzenden immer aufs Neue lockt, zur Macht herausfordert und die wahre Gemeinschaft unmöglich macht. Wie einst die Jakobiner den Girondisten den Prozeß machten, weil sie Feudalismus und Bourgeoisie zu versöhnen suchten, standen sich jetzt Bolschewiki und Sozialrevolutionäre gegenüber. Parteien und Menschen, die sich um Ausgleiche bemühen, um den Weg nicht zu Ende gehen zu müssen, verstricken sich in alle Wirrnisse, die Verhältnisse dem Menschen bereiten können. So erzeugt das Bündnis von Neigung und Idee endlich sogar das kriminelle Verbrechen, weil Tradition, Fehlschläge und Minderwertigkeitsgefühle der Tat nicht mehr das reine Antlitz zu verleihen mögen. Die Bombe, die Alexander II. zerriß, wurde nicht vom Mann mit gleichem Bewußtsein geworfen, wie es jener besaß, der auf Wolodarski schoß. Der Held wird zum Verbrecher, die Partei ist gerichtet, und die Einheit der werktätigen Masse unter zielbewußter Führung ist geschaffen.

 

Alle Konflikte und Fragen, die seit 1914 die Welt bewegten und aus den Fugen brachten, wirbelte der Prozeß auf: die Tendenzen der imperialistischen Mächte, ihre Absichten, Rußland zur Kolonie zu machen – also das ganze Problem der Akkumulation des Kapitals. Lenins These, der Weltkrieg müsse unbedingt in die soziale Revolution umschlagen und mit der Eroberung des Staatsapparates durch das Proletariat enden. Die Frage: Demokratie oder Diktatur, Parlament oder Räte. Die Frage: Masse und Partei, Masse und Revolution. Die Haltung des Kleinbürgertums. Die lavierenden arbeiterfreundlichen Parteien. Die Legitimität einer revolutionären Regierung. Die Mittel und Methoden des revolutionären Kampfes: individueller oder Massenterror.

Es war bezeichnend: Die bürgerliche Gesellschaft empfand diesen Prozeß als eine Provokation und einen Schlag ins Gesicht. Sie sprach schon dem Staate des Proletariats jede Existenzberechtigung ab; da er nun existierte, nach fünf Jahren, trotz aller Interventionen und Verleumdungskampagnen immer noch existierte, während die revolutionäre Bewegung in den bürgerlichen Ländern vom Wellenkamm immer tiefer hinab fiel, versuchte man zähneknirschend die Rechtsformalitäten zu kritisieren und sprach dem Staate des Proletariats jede Berechtigung ab, sich nicht nur überhaupt zu verteidigen, sondern auch zu richten. Der alte warnende Satz, „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!“ wurde wutschnaubend von der ohnmächtigen bürgerlichen Presse hervorgestoßen. So kam es, daß sachliche Meldungen über den Verhandlungsstoff als solchen überhaupt nicht in die bürgerliche Öffentlichkeit drangen. Man lehnte das Gericht ab, man fühlte sich mit den S.R. verbunden, sah in ihnen Bundesgenossen, Sachwalter, Märtyrer. Wie hätte man über ihre „Verbrechen“ sprechen können, die in den Augen der bürgerlichen Gesellschaft Heldentaten gewesen waren. Die bürgerliche Gesellschaft aber rechtfertigte durch ihre Sympathiebeweise nun erst recht die Strenge des Gerichts. Das Oberste Tribunal hat zuletzt nicht einmal so sehr die Mittel verurteilt, deren sich die S.R. in ihrem Kampf gegen die Sowjets bedient hatten. Es kam vielmehr auf das Ziel an. Und das Ziel der S.R. war die Erhaltung der bürgerlichen Gesellschaft, der elastischen demokratischen Staatsform, der kapitalistischen ökonomischen Verhältnisse; für die Bolschewiki aber galten noch jene Worte, die Wilhelm Liebknecht ein Jahr vor seinem Tode geschrieben hat: „Ein Sozialist, der in eine Bourgeoisieregierung eintritt, geht entweder zum Feind über oder er gibt sich in die Gewalt des Feindes. Er mag sich für einen Sozialisten halten, ist es aber nicht mehr; er kann von seiner Ehrlichkeit überzeugt sein, aber dann hat er nicht das Wesen des Klassenkampfes begriffen – nicht begriffen, daß der Sozialismus den Klassenkampf zur Grundlage hat.“ Gotz hatte in seiner letzten Rede vor dem Tribunal behauptet, im Oktober hätten Arbeiter auf beiden Seiten der Barrikade gekämpft. Wilhelm Liebknecht hätte ihm entgegengehalten: „Ich bin für die Einheit der Partei – aber es muß die Einheit des Sozialismus und der Sozialisten sein. Die Einheit mit Gegnern, mit Leuten, die andere Ziele und andere Interessen haben, ist keine sozialistische Einheit. Die Internationale Arbeiter-Assoziation hat deshalb den Arbeitern gepredigt: Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein.“

ANHANG.

Überblick über die Tätigkeit der S.R. in den Jahren 1917-1922.

Nach der Abdankung Nikolaus’ II. gelangen die S.R. zur Macht. Kerenski ist ein S.R. Der Landwirtschaftsminister der Provisorischen Regierung – Viktor Michailowitsch Tschernow – ist einer der bekanntesten Führer und Theoretiker der S.R. Die Provisorische Regierung setzt den Krieg gegen Deutschland fort, trotzdem Tschernow an der Zimmerwalder Konferenz teilgenommen hatte. Am 7. November 1917 wird die Kerenski-Regierung durch die Bolschewiki gestürzt.

Im Augenblick der Oktoberumwälzung gibt in Moskau die Stadtverordnetenversammlung, die eine starke S.R.-Mehrheit hatte, den Offiziersschülern den Befehl: Mit den Waffen in der Hand gegen die Arbeiter! Nach der Niederlage der Offiziersaspiranten in Petersburg sind es die S.R. Gotz und Kerenski, die die Kosakenschwadronen des Zarengenerals Krasnow gegen die Hauptstadt der Revolution anrücken lassen.

Im selben Jahre 1917 treten die S.R. in Verbindung mit einer Weißgardisten-Organisation (Filonenko). Gleichzeitig agitieren die S.R. unter den städtischen kleinbürgerlichen Schichten für die Sabotage der Sowjetmacht in den Betrieben und Fabriken und für Streiks.

1918.

Am 5. Januar 1918 eröffnete die Konstituierende Versammlung ihre Session; über die Hälfte der Mitglieder waren S.R. Am 8. Januar wurde der dritte allrussische Rätekongreß, mit einer überwiegenden Mehrheit von Bolschewiki (Kommunisten), eröffnet. Die der Arbeiter- und Bauernregierung feindlich gesinnte Konstituierende Versammlung wird aufgelöst. Die S.R. beginnen den bewaffneten Kampf gegen die Sowjetmacht. In diese Zeit fällt die Hilfe der S.R. für General Krasnow, ferner bricht in diesem Jahre der Aufstand der tschechoslowakischen Truppen (der ehemaligen Kriegsgefangenen des Zarenheeres) aus, mit denen zwei S.R.-„Regierungen“ – die fern-ostasiatische und die westsibirische durch Vermittlung des englischen Obersten Hodgson, durch den General Horvat und durch japanische Diplomaten Verhandlungen führten, um die Revolution zu zertreten.

Dann organisierten die S.R. die Rumpf-„Nationalversammlung“ in Samara. Auf Befehl des französischen Botschafters am Zarenhof, Noulens, zahlte die französische Botschaft an die S.R. Gotz, Timofejew und andere Gelder zur Aushaltung der Samaraer „Konstituante“.

Die Sozialrevolutionärin Kaplan verwundet Lenin schwer mit einer vergifteten Kugel.

Der S.R. Ssergejew erschießt Wolodarskij.

Die Kampforganisation der S.R. organisiert Attentate auf Trotzki und Sinowjew.

Von der Militärorganisation der S.R. wird in den Reihen der Roten Armee Spionage getrieben. Die S.R. führten „Expropriationen“ aus. In Petersburg wurde das Volksernährungskommissariat beraubt, in Moskau das Postamt Nr. 9, in Kaluga (südlich Moskau) wurde die Beraubung des Gouvernements-Ernährungskomitees versucht usw.

Als General Denikin nahe vor Tula (unweit Moskau im Süden) stand und Koltschak auf Tjümenj (Ostural) rückte, erläßt das Zentralkomitee der S.R. einen Aufruf an die Arbeiter, daß Denikin auf der Spitze seiner Schwerter die Reaktion gegen die Arbeiter trage usw. In Wirklichkeit bevollmächtigt das Z.K. gleichzeitig seine Mitglieder, Donskoj und Daschjewskij, mit Denikin in Unterhandlungen zu treten.

Außerdem verbreitet die Zentrale der S.R. Partei in den Reihen der Rotarmisten eine Proklamation, mit der Aufforderung, die Kampffronten gegen Denikin und Koltschak zu verlassen.

1920.

Im Jahre 1920 organisieren die S.R. einen „Bund der werktätigen Bauernschaft“, sie organisieren einen Bauernaufstand im Bezirk Tambow (südöstlich Moskau), an dessen Spitze der Bandenführer Antonow steht; Aufstände in Sibirien und an der Schwarzen Meer-Küste.

1921.

In Paris organisierten die S.R. Tschernow, Kerenski, Awksentiew gemeinsam mit den Kadetten das „Komitee der Mitglieder der Konstituante“.

Der Aufstand in Kronstadt wird von den S.R. mit allen Mitteln unterstützt.

Tätigkeit des „Administrativen Zentrums“; Gründung von Geheimorganisationen; Vorbereitungen im Kaukasus.

In der Sammlung
AUSSENSEITER DER GESELLSCHAFT
– DIE VERBRECHEN DER GEGENWART –
sind bis jetzt folgende Bände erschienen:

Band 1:

ALFRED DÖBLIN
DIE BEIDEN FREUNDINNEN UND IHR GIFTMORD

Band 2:

EGON ERWIN KISCH
DER FALL DES GENERALSTABSCHEFS REDL

Band 3:

EDUARD TRAUTNER
DER MORD AM POLIZEIAGENTEN BLAU

Band 4:

ERNST WEISS
DER FALL VUKOBRANKOVICS

Band 5:

IWAN GOLL
GERMAINE BERTON
DIE ROTE JUNGFRAU

Band 6:

THEODOR LESSING
HAARMANN, DIE GESCHICHTE EINES WERWOLFS

Band 7:

KARL OTTEN
DER FALL STRAUSS

Band 8:

ARTHUR HOLITSCHER
DER FALL RAVACHOL

Band 9:

LEO LANIA
DER HITLER-LUDENDORFF-PROZESS

Band 10:

FRANZ THEODOR CSOKOR
SCHUSS INS GESCHAEFT
DER FALL OTTO EISSLER

Band 11:

THOMAS SCHRAMEK
FREIHERR VON EGLOFFSTEIN
Mit einem Vorwort von ALBERT EHRENSTEIN

Band 12:

KURT KERSTEN
DER MOSKAUER PROZESS GEGEN DIE SOZIALREVOLUTIONÄRE 1922

Band 13:

KARL FEDERN
DER PROZESS MURRI-BONMARTINI

Band 14:

HERMANN UNGAR
DIE ERMORDUNG DES HAUPTMANNS HANIKA

Ferner erscheinen noch Bände von:

HENRI BARBUSSE, MARTIN BERADT, MAX BROD, E. I. GUMBEL, WALTER HASENCLEVER, GEORG KAISER, OTTO KAUS, THOMAS MANN, LEO MATTHIAS, EUGEN ORTNER, JOSEPH ROTH, RENE SCHICKELE, JAKOB WASSERMANN, ALFRED WOLFENSTEIN.

OHLENROTH’SCHE BUCHDRUCKEREI ERFURT

Anmerkungen zur Transkription

Das Cover wurde vom Bearbeiter den ursprünglichen Bucheinbänden der Serie nachempfunden und der public domain zur Verfügung gestellt.

Die kräftig variierende Transliteration russischer Namen wurde beibehalten. Der Name Семёнов kann so z. B. als Semjonow, Ssemjonow oder Semenow auftauchen. Hier ist eine Liste der am häufigsten gefundenen Varianten:

Altowski, Altowsky
Awksentijew, Awksentiew, Awxentijew
Daschewski, Daschjewskij
Dobroljubow, Dobrolubow
Donskoj, Donskoi
Elkind, Eljkind
Eugenia, Eugenie
Fanny, Fanni
Fedorowitsch, Federowitsch
Fjedorow, Fedorow, Federow
Gerstejn, Gerstein
Grigorij, Grigori
Ignatjew, Ignatiew
Konoplewa, Konopleva, Konopljewa
Koslow, Kozlow
Lew, Lev
Michailowitsch, Michajlowitsch
Murawjew, Murawiew
Nishnij, Nishni
Sawinkow, Savinkow
Semjonow, Ssemjonow, Semenow
Sergejew, Ssergejew
Timofejew, Timofjejew
Utgow, Utgoff
Wolodarskij, Wolodarski

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):