Title: Nietzsche, sein Leben und seine Lehre
Author: Karl Heckel
Release date: February 11, 2018 [eBook #56546]
Language: German
Credits: Produced by The Online Distributed Proofreading Team at
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An
alle Freunde der
UB
»In diesen Zeiten ist die UB mehr noch als früher zum Helfer vieler geworden, die nach gutem Lesestoff dürsten«, schrieb die »Zeitschrift für Deutschkunde«. Der Verlag Reclam will angesichts dieser Tatsache seinerseits alles versuchen, um allen zu helfen, für die Bücher zum unentbehrlichen Lebensgefährten geworden sind und sie immer mehr zu einer großen Gemeinde der Reclamfreunde zusammenzuschließen. Er hat zu diesem Zwecke
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Sein Leben und seine Lehre
von
Karl Heckel
Mit einem Bildnis Nietzsches
Verlag von Philipp Reclam jun. Leipzig
Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranzkrone: euch, meinen Brüdern, werfe ich diese Krone zu! Das Lachen sprach ich heilig; ihr höheren Menschen, lernt mir – lachen!
Also sprach Zarathustra.
Übersetzungsrecht vorbehalten
Copyright 1922 by Philipp Reclam jun., Leipzig
Druck von Philipp Reclam jun. Leipzig
Meine persönliche Berührung mit Nietzsche erfolgte in jungen Jahren im Dezember 1871. Damals leitete Richard Wagner in meiner Vaterstadt Mannheim ein Konzert, das als erstes für die »Bayreuther Bühnenfestspiele« durch den von meinem Vater kurz zuvor begründeten »Wagner-Verein« veranstaltet wurde. Gemeinsam mit Frau Cosima Wagner traf Nietzsche aus Basel schon einige Tage vor dem Konzert in Mannheim ein, um nicht nur dem Konzert, sondern auch den Proben, sowie der Uraufführung des »Siegfried-Idylls«, die vor einem Kreise geladener Gäste stattfand, beizuwohnen. Er befand sich des öfteren in Begleitung Wagners, wenn dieser meinen Vater Emil Heckel besuchte, und ich erfuhr von tiefgründigen Gesprächen, die zwischen Wagner, Frau Cosima und Nietzsche in jenen Tagen stattfanden. Sie betrafen hauptsächlich die Griechen und Schopenhauer, sowie die Kulturverhältnisse in Deutschland und weckten mein Interesse für den Wagner so treu ergebenen Basler Professor, der auch an den Bestrebungen des Wagner-Vereins warmen Anteil nahm.
Als sich nach Wagners Abreise die Nachricht verbreitete, er sei in Tribschen bei Luzern lebensgefährlich am Typhus erkrankt, telegraphierte Nietzsche an meinen Vater: »Gerücht ganz unbegründet; beste Nachrichten aus Tribschen. Herzliche Neujahrswünsche dem Wagnerverein. Professor Nietzsche.«
Und wieder vernahm ich von Nietzsche, als er im Mai des nächsten Jahres mit meinem Vater bei der Grundsteinlegung des Festspielhauses in Bayreuth zusammentraf. Nach derselben fuhren Nietzsche, sein Freund[4] von Gersdorff und mein Vater gemeinsam mit Wagner nach der Stadt zurück. Wagner saß ernst und schweigend und sah, wie Nietzsche es so treffend bezeichnete, »mit einem Blick lange in sich hinein«. In seiner unzeitgemäßen Betrachtung »Richard Wagner in Bayreuth«, der ersten Schrift, die ich von Nietzsche kennen lernte, knüpft er an diese Rückfahrt vom Festspielhügel tiefsinnige Betrachtungen an, die er mit den Worten abschließt: »Was aber Wagner an jenen Tagen innerlich erschaute – wie er wurde, was er ist und sein wird – das können wir, seine Nächsten, bis zu einem Grade nachschauen: und erst von diesem Wagnerischen Blick aus werden wir seine große Tat selber verstehen können – um mit diesem Verständnis ihre Fruchtbarkeit zu verbürgen.« Auch in späteren Jahren gedachte Nietzsche noch mit Wärme der Tage der Grundsteinlegung und »der kleinen zugehörigen Gesellschaft, die sie feierte und der man nicht erst Finger für zarte Dinge zu wünschen hatte«.
Auch in der Folge sollte ich Weiteres über Nietzsche erfahren und mittelbar miterleben. Als mein Vater Wagner den Vorschlag machte, Einzeichnungslisten für Patronatscheine zu den Festspielen in den deutschen Buchhandlungen aufzulegen und gleichzeitig einen Aufruf zu erlassen, bat ihn dieser, wegen Abfassung des Manifestes Nietzsche zu Rate zu ziehen, er habe hierfür »ganz besonderes Zutrauen zu ihm – gerade zu ihm«. Nietzsche entsprach der nun erfolgenden Aufforderung und verfaßte seinen zielbewußten »Mahnruf an die Deutschen«. Vorher schrieb er nach Mannheim:
Geehrtester Herr Heckel,
das was Sie von mir verlangen, wird besorgt. Ihr Entwurf für die Buchhändler scheint mir vortrefflich, wie überhaupt der ganze Plan wieder für seinen Urheber spricht. Lassen Sie mir den Entwurf zu näherer Prüfung[5] noch ein paar Tage1, vielleicht kann ich dann den meinigen mitschicken. Ich komme, falls meine Gesundheit irgendwie es zuläßt, am 30. d. M. nach Bayreuth. Von meinem Entwurfe will ich hier eine Anzahl gedruckte Abzüge machen lassen: er ist dann besser zu übersehen und nötigenfalls zu revidieren.
Treulichst Ihr Nietzsche.
Basel, 19. Oktober 1873.
1 Nein: ich schicke ihn gleich und habe ihn bereits durchgesehen.
Wagner billigte die Fassung des »Mahnrufs« durchaus; aber die Delegierten der Wagner-Vereine waren der Ansicht, daß derselbe wohl allen Freunden aus dem Herzen gesprochen sei, aber Gegner und Gleichgültige nicht bekehren werde.
In einem Briefe an Freiherrn von Gersdorff schrieb Nietzsche hierüber: »Also ich war von Mittwochabend bis Montagmorgen auf der Reise, hinwärts allein, rückwärts mit Heckel zusammen. In Bayreuth war etwa ein Dutzend Menschen zusammengekommen, lauter Delegierte der Vereine und ich der einzige Patron an sich. – Nach der Besichtigung in Dreck, Nebel und Dunkelheit war die Hauptsitzung im Rathaussaal, in der mein »Mahnruf« von seiten der Delegierten artig aber bestimmt abgelehnt wurde; ich selbst protestierte gegen eine Umarbeitung und empfahl Prof. Stern für die schnelle Anfertigung eines neuen Fabrikats. Dagegen wurde Heckels vortrefflicher Vorschlag, bei sämtlichen deutschen Buchhändlern Sammelstätten zu errichten, approbiert.«
– In der Verehrung Wagners aufgewachsen, vertiefte ich mich nach dem Besuch der ersten Bayreuther Bühnenfestspiele in das Studium Schopenhauers, veröffentlichte später philosophische Deutungen des »Parsifal«, unterschied jedoch schon damals zwei Richtungen in Wagners Schaffen: die lebensfreudige des Siegfried und die[6] entsagungswillige des Parsifal. Ich beurteilte die Werke Wagners unter diesem Gesichtspunkte als sich ergänzende Gegensätze. Und nun, als ich Nietzsches Werke aus der Zeit nach der Abkehr von Bayreuth kennen lernte, da sah ich auch in Wagner und Nietzsche selbst Kontrapunkte der kulturellen Entwicklung. Diese Erkenntnis veranlaßte mich zu einer Zeit, da man einerseits bei Nietzsche nur eine willkürliche Abtrünnigkeit von Wagner, anderseits bei Wagner nur einen Abfall von seiner seitherigen Lebensanschauung sah, zu einer Betrachtung aus der Vogelperspektive, die bestrebt war, beiden gerecht zu werden. Und so unternahm ich in einem Aufsatz »Wagner und Nietzsche«, der 1897 in der »Neuen Deutschen Rundschau« erschien, erstmals den Versuch, die Scheidung der beiden Freunde als notwendig aus ihrer innersten Natur und Entwicklung darzustellen und auf die Polarität ihrer Bestrebungen zu verweisen.
Daß diese Auffassung Nietzsches eigener Anschauung entspricht, bezeugt uns sein Aphorismus »Sternenfreundschaft«, worin er im Hinblick auf Wagner schrieb: »Es gibt wahrscheinlich eine ungeheuere Kurve und Sternenbahn, in der unsere so verschiedenen Straßen und Ziele als kleine Wegstrecken einbegriffen sein mögen – erheben wir uns zu diesem Gedanken.«
Mit großer Spannung sah ich der Aufnahme entgegen, die meine Ausführungen sowohl in Wahnfried als im Nietzsche-Archiv finden würden. Aber noch sah man in Bayreuth nur den Abfall Nietzsches von Wagner, nicht seinen eigenen Aufstieg, und so schrieb mir Frau Wagner: Ziele habe Nietzsche nicht gehabt, sondern eine schwere Krankheit, die ihn von Bayreuth trennte; da könne man kaum selbst nur von Meinungsverschiedenheiten sprechen. In vollem Gegensatz hierzu stand die Beurteilung, die mein Aufsatz in Weimar fand. Frau Dr. Förster schrieb an meinen Vater: »Soeben lege ich den Artikel Ihres Herrn Sohnes in der »Neuen Deutschen[7] Rundschau« aus der Hand, und ich kann wohl sagen, daß ich zum erstenmal an einem über meinen Bruder geschriebenen Artikel aufrichtig Freude gehabt habe.«
Gern entsprach ich dem Wunsche von Frau Dr. Förster, sie im Nietzsche-Archiv zu besuchen. Ich hielt daselbst vor einem geladenen Publikum einen Vortrag über Nietzsches Verhältnis zu Wagner und blieb seitdem andauernd in Beziehung zu dem Hause auf dem Silberblick in Weimar, woselbst Nietzsche im Jahre 1900 verstorben war. Gar manche aufklärende Mitteilung wurde mir durch Frau Dr. Förster zuteil, wofür ich an dieser Stelle meinen Dank ausspreche.
Aber auch noch einer anderen Frau darf ich dankbar hier gedenken: der Verfasserin der »Memoiren einer Idealistin« Malwida von Meysenbug, der gemeinsamen Freundin Wagners und Nietzsches. Während eines über mehrere Jahre sich erstreckenden Briefwechsels gab sie mir freundwilligst manche belangreiche Auskunft über Nietzsche.
Die hauptsächlichen Mitteilungen über sein Leben gründen sich vor allem auf Nietzsches Briefe, auf die von der Schwester verfaßten Biographien und auf Erinnerungen, welche von Personen, die mit ihm in Verkehr standen, veröffentlicht wurden. Sie erfuhren Ergänzungen durch persönliche Mitteilungen, die ich meinem Vater, Peter Gast, Freiherrn von Seydlitz, Dr. M. G. Conrad und anderen verdanke.
Mein Aufsatz »Wagner und Nietzsche« in der »Neuen Deutschen Rundschau« bildet gewissermaßen den Ausgangspunkt für das vorliegende Buch. Indem dasselbe durch Betonung der Polarität zwischen Nietzsche und Wagner, Nietzsche und Schopenhauer, Nietzsche und Sokrates, sowie in Nietzsches Verhältnis zum Christentum, die Grundlinien seiner Weltanschauung scharf und deutlich hervorhebt, hofft es der mächtigen Einseitigkeit seines[8] Radikalismus gerecht zu werden und der Gefahr jedes verwischenden Kompromisses zu entgehen, der so manche Schrift der Nietzsche-Literatur unterlag.
Dieses Ziel galt es unter gleichzeitiger Betrachtung seines Lebens und seiner Lehre zu erstreben. Ich sagte mir, je kürzer und knapper es mir gelingt, frei von jedem gelehrten Beiwerk die Grundlinien seines Lebens und Schaffens zu zeichnen und alle anzuführenden Einzelheiten organisch mit ihnen zu verbinden, desto leichter wird es dem Leser, in die Gedankenwelt Nietzsches einzudringen und ihn mit mir zu – erleben. Dann erst, wenn sich uns, was er lehrte und lebte, dachte, dichtete und sah, zu einem Vollbilde der schaffenden Persönlichkeit verdichtet, dürfen wir zu erkennen hoffen, inwiefern mit Nietzsche, diesem Meilensteinmenschen, eine neue Epoche der Kulturgeschichte anhebt, in der nicht die Verächter des Lebens, sondern die Verklärer des Lebens aus schwerbelasteter Gegenwart uns die Wege in das Heil der Zukunft weisen.
Schöngeising bei München, Ostern 1922.
Karl Heckel.
Was für eine Philosophie man wählt, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist.
Fichte.
Zwischen dem Wesen eines Menschen und den Begebenheiten seines Lebens besteht ein tiefer Zusammenhang. Äußere Mächte beeinflussen die organische Entwicklung innerer Kräfte. Umgekehrt entscheidet das Wesen eines Menschen, was an Begebnissen zu Erlebnissen wird und schicksalhafte Bedeutung erlangt. Diese Wechselwirkung von außen nach innen und von innen nach außen bestimmt ebensowohl sein Handeln wie sein Erkennen, sein Leben wie seine Weltanschauung.
Lebensbeschreibungen von Künstlern und Denkern wollen daher nicht nur einer geschichtlichen Darstellung in der Folge der Zeit genügen, sondern Einsichten in Wesen und Wirken erschließen. Sie enthüllen uns nicht nur die Anlässe, die zu bestimmten Problemen führten, sondern auch aus dem Wesen die Voraussetzungen, welche die Gestaltung des Lebens bedingten.
Bei Nietzsche, dem Dichter, Denker und Seher, kommt der Erforschung dieser Zusammenhänge eine ganz besondere Bedeutung zu, weil das Leben selbst das Problem seiner geistigen Tätigkeit bildet. Wie Schopenhauer hat er eine radikale Entscheidung darüber angestrebt, ob das Leben zu bejahen oder zu verneinen sei. Aber während Schopenhauer aus der Erkenntnis der Tragik des Lebens auf die Notwendigkeit einer verneinenden Wertung schloß, hat Nietzsche die Folgerung gezogen: das Leben wird wertvoll durch eine bejahende Wertung. Wir bedürfen keiner Tröstung auf ein Jenseits, das uns für die Leiden des Diesseits entschädigt, sondern der Wert des Lebens hängt davon ab, wie wir seinen Gehalt bestimmen. Darum Nietzsches Mahnung: »Freunde bleibt[10] der Erde treu!« Das Leben will sich, als Organismus betrachtet, im Gegensatz zum Mechanismus der Wirklichkeit, fortgesetzt selbst übertreffen, jedenfalls sich fortgesetzt wandeln. Dieses Werden und Wandeln verlangt von uns andauernd neue Wertungen. Und darum wird der Rang, der dem einzelnen Menschen zukommt, von dem Grad seiner Fähigkeiten entschieden, dem Leben Gehalt zu geben. Wer den Wert des Lebens als an sich vorhanden hinnimmt, wird sich zu ihm vor allem als Genießender verhalten; wer sich berufen fühlt, ihm diesen Wert erst zu verleihen, als Schaffender. »Trachte ich denn nach Glücke? Ich trachte nach meinem Werke.« Und: »Schaffen – das ist die große Erlösung vom Leiden und des Lebens Leichtwerden.« Dem ersteren gilt Tugend als Befolgung autoritativ gegebener Vorschriften, dem zweiten im Sinne der Antike als Tüchtigkeit. Dort die Forderung: Betätigung des Altruismus, hier die Forderung: Läuterung des Egoismus. Jenes das Ideal der massenhaften Schwachen, dieses das Ideal der einzelnen Starken. Dort Herdenmoral, hier Herrenmoral. Dort Herabsetzung der natürlichen Willenskräfte, wie sie das Christentum anstrebt, hier ihre energische Beherrschung, wie sie Goethe fordert mit den Worten: »Des Mannes Vorzug besteht nicht in gemäßigter, sondern in gebändigter Kraft«. Dort als Folgeerscheinung: Sozialismus hier: Individualismus.
Wohl bedingen und fördern Gesamtheit und Individuen einander; aber die Frage steht offen, wem es zukommt, das Ziel zu bestimmen. Liegt dies im größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl, oder darin, daß der Typus Mensch seine größtmögliche Erhöhung erfährt? Wer Wesen und Zweck des Daseins nur im Genuß sieht, den ihm das Glück beut, muß verlangen, daß auch der große Einzelne letzten Endes keine andere Aufgabe kennt, als der Wohlfahrt der Gesamtheit in ihrem Sinne zu dienen; wer dagegen Wesen und Zweck[11] des Lebens in Wachstum und Steigerung sieht, die sich der Entfaltung eines schöpferischen Willens verdanken, wird Nietzsches Worte verstehen: »Das Ziel der Menschheit liegt in ihren höchsten Exemplaren«.
Der Schaffende im Sinne Nietzsches muß die Unterordnung des Schwachen unter den Starken, des Kleinen unter den Großen verlangen. Aber er darf es nur, wenn er sich selbst in den Dienst des Ideals stellt, das in der Richtung des Aufstiegs zu einem höheren Leben leuchtet. Nicht jeder ist zu diesem Aufstieg, der eigene Wege und selbstherrliche Betätigung fordert, berufen; aber jeder kann mittelbar diesem Zwecke dienen, indem er die Bedingungen erfüllt, welche die Entstehung und Entwicklung solcher höheren Menschen fördern. Während der ersten Periode im Schaffen Nietzsches stand in der Perspektive seiner Lehre: das Genie; während der zweiten Periode: der Wissende und während der dritten Periode: der Übermensch, als schöpferischer Gesetzgeber einer solchen Wertlehre.
Was vermögen wir zu tun, daß der Typus des Menschen im Hinblick auf das Ideal des Übermenschen eine Steigerung erfährt? Die Antwort lautet: wir vermögen eine Kulturgemeinschaft zu schaffen, als deren Blüte der höhere Mensch gedeiht. Das Genie war alle Zeit gezwungen, sich im Gegensatz zu der herrschenden Kultur oder Unkultur zu entwickeln; der Weise stellte sich abseits derselben; der Übermensch aber ist als harmonischer Vollmensch gedacht, der aus Kulturverhältnissen erwächst, in die er sich einzuwurzeln vermag. Erhöhung des Typus bedeutet zunächst Erhöhung des Niveau. Wem »Gleichheit« als Parole gilt, wird eine Ausgleichung der Höhenunterschiede anstreben zum Nachteil der Großen; wer die Ungleichheit als gegeben anerkennt, wird im Niederen die Schichten erkennen und ehren, aus denen das Hohe emporsteigt, und sehnsüchtig nach diesem aufschauen. Alle Zukunft wurzelt in der Niederung des Volkes. Aus ihm[12] steigen die Kräfte auf, die sich dereinst zur Blüte entfalten. Diese Einsicht lehrt uns die organische Zusammengehörigkeit von Wurzel und Blüte. Solche Erkenntnis adelt das Verhältnis von Hoch und Nieder.
– Kant hat die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens bestimmt. Wir erkennen nur Erscheinungen. Aber wir folgern aus der Erscheinung, »daß ihr etwas entsprechen müsse, was an sich selbst nicht Erscheinung ist«, sondern das »Ding an sich«. Das Ding an sich bedeutet das unabhängig von unserer Wahrnehmung Vorhandene, also das eigentlich Seiende. Schopenhauer folgerte: Es ist das Innerste, der Kern jedes Einzelnen und ebenso des Ganzen. Für die äußere Wahrnehmung ist es nicht erkennbar, aber die innere Wahrnehmung, das »Selbstbewußtsein«, kann es zwar nicht nackt enthüllen, aber es doch zum großen Teil entschleiern. Gegenstand des Selbstbewußtseins ist allzeit nur das eigene Wollen. Dieses ist uns unmittelbar gegeben, wenigstens als blinder zielloser Drang. Diesen Drang, als etwas, das nicht weiter definierbar sei, nannte Schopenhauer »Wille zum Leben«.
Lange Zeit begnügte sich auch Nietzsche mit dieser Definition. Dann aber gelangte er zu der Überzeugung: das Wesen alles Geschehens ist nicht Wille zum Leben (Schopenhauer), sondern Wille zur Steigerung des Lebens; nicht Kampf ums Dasein (Darwin), sondern Kampf um ein höheres stärkeres Dasein; nicht Trieb zur Selbsterhaltung (Spinoza), sondern Trieb zum Selbstzuwachs. Auch das Prinzip Wille und Streit des Empedokles steigerte sich für ihn zum Wettkampf um Sieg und Übermacht. »Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein.«
Wohl ist der Wille zur Macht allen Menschen gemeinsam; aber nach welcher Art von Macht man verlangt und zu welchem Zwecke, erweist sich als rangbestimmend.[13] Auch den höheren Menschen läßt die erlangte Männlichkeit das größte Maß von Macht über die Dinge anstreben und zwar aus innerster Fülle und Notwendigkeit. Dieser Trieb ist bei Nietzsche nicht mehr blind gedacht, wie bei Schopenhauer, sondern alles Tun soll Sinn bekommen. Er ist nicht zügellos gedacht, denn der Befehlende soll seine Kräfte in der Gewalt haben. Aber er ist auch nicht nachgiebig gedacht, denn der Schaffende der neuen Werte darf humanitären Anwandlungen nicht unterliegen. Die Herrscher-Tugend, die Züchter-Tugend ist die, welche auch über ihr Mitleiden Herr wird, um des fernen Zieles willen. In der Perspektive dieser Anschauung steht: der Übermensch als Herr der Erde, und die Forderung: Aufhebung alles dessen, was der natürlichen Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten entgegenstrebt, und endlich Ablösung des Zufalls durch Zusammenfassung aller Kräfte zu diesem neuen Zweck.
Damit ist die Wegrichtung zur Höherzüchtung der Menschheit gewiesen, die den eigentlichen Sinn der Lehre Nietzsches vom aufsteigenden Leben bestimmt. Er hat der Deszendenzlehre Darwins ebenbürtig eine Aszendenzlehre gegenübergestellt.
Wie seine Worte Herrenmoral, Übermensch, Immoralismus usw., so wurde auch Wille zur Macht im Sinne einer Aufweckung niederer Triebe und brutaler Vergewaltigung auf sozialem Boden mißdeutet. Das darf uns nicht wundern; denn das Schicksal des Genies ist es allezeit gewesen, unverstanden zu bleiben, nicht nur gleich einem Menschen, der in einem fremden Lande seine eigene Sprache spricht, sondern das Genie steht auch mit seinen vorausschauenden Überzeugungen außerhalb seiner Zeit. Dem Nachlebenden mag es erstaunlich erscheinen, daß selbst von jenen, die sich zu ihm als Freunde bekannten, Nietzsches Lehre nicht in ihrer vollen Bedeutung erkannt wurde; aber wir haben kein Recht, sie dieserhalb zu schmähen. Wie Jahre vergehen, ehe das Licht eines[14] neuerstandenen fernen Sternes zu uns gelangt, so bedarf auch das Werk eines Genies Jahre und Jahrzehnte, ehe seine Strahlen das geistige Auge treffen. Unsere historisch gebildete Generation setzt heute vielfach ihren Stolz darein, allem Neuen liberal zuzujubeln, um nicht rückständig zu erscheinen; aber sie irrt sich: sie vermag damit das »Moderne« zu erhaschen, das im Vordergrund der Zeiten lebt, nicht aber ungeahnte Werte zu erschauen.
Indem wir zur Betrachtung von Nietzsches Leben übergehen, zeigt sich, daß nicht nur das Unverständnis für seine Worte und seine Lehre ihn jenseits seiner Zeit stellte, sondern es öffnet sich auch der Abgrund, der allezeit breit und tief klafft zwischen Menschen, die der Idee leben, und jenen, denen der Intellekt nur ein Werkzeug bedeutet, sich in der Wirklichkeit zu behaupten.
Frau Elisabeth Förster, Nietzsches verdienstvolle Biographin, hat mit schwesterlicher Liebe und Verehrung Eigenschaften Nietzsches betont, die auch bei dem Fernstehenden Sympathien für seine Persönlichkeit wachrufen; anderseits wurde versucht, die Lehre Nietzsches in die historische Entwicklung der Philosophie einzuordnen, um so, auf die eine und die andere Weise, die Abstände zu überbrücken, die ihn von unserer Zeit trennen. Als Aufgabe dieses Buches aber möchte ich im Gegenteil bezeichnen, den Gegensatz radikal darzulegen, der Nietzsche und seine Lehre trennt von der Gegenwart und ihrem immer noch selbstgefälligen Optimismus im Hinblick auf die erreichte Zivilisation und Kultur. Wohl ergibt sich dabei auch für uns eine Synthese; aber nicht diejenige mit Weltanschauungen der Vergangenheit oder mit Lebensprinzipien der Gegenwart, sondern mit den Erwartungen der Zukunft.
Im Leben beharrt kein Abgeschlossenes, sondern ein Unendliches ist in Bewegung.
Goethe.
Das Lot unserer Erkenntnis und die Staffel unserer Berechnungen reicht nicht hinab bis zu den Urphänomenen der Natur. Wir können nicht folgern: diese Eigenschaften hat die Mutter, jene der Vater, also wird der Sohn so und so sein. Denn in jedem Individuum verkörpert sich ein eigener schöpferischer Wille, dessen Spontanität wir nicht zu ergründen vermögen. Es geht daher nicht an, einen Menschen nur als die Resultante seiner Vorfahren anzusehen. Wohl aber können wir die Eigenschaften derselben als Voraussetzungen und Beschränkungen betrachten, innerhalb derer die Natur ihr Werk schafft. In diesem Sinne bleibt es immer für die Darstellung eines Lebens von Interesse, Anlagen und Entwicklungen der Vorfahren nachzuforschen. Freilich dürfen wir uns nicht verhehlen, daß es meist nur die offenkundigen Einkleidungen der Psyche sind, deren Bild wir erhaschen, nicht aber das verborgene unbewußte Seelenleben, durch dessen Analyse erst tiefgründigere Schlüsse möglich würden.
Nietzsche spielte schon in jungen Jahren mit dem Gedanken, daß sein Urgroßvater von einem polnischen Grafen Niecki (Niëtzky) abstamme, der 1715 nach Deutschland flüchtete. Gültige Beweise für diese Herkunft waren nicht zu erlangen. Immerhin lassen Physiognomie und bestimmte Charaktereigenschaften Nietzsches einen slawischen Einschlag als wahrscheinlich erscheinen.
Die verbriefte Familiengeschichte Nietzsches setzt ein mit seinem Urgroßvater Gotthelf Engelbert Nietzsche, Akzisinspektor in Bibra. Gesundheit und Frohmütigkeit, Schönheit auch noch im hohen Alter werden ihm nachgerühmt. Er wurde 92 Jahre alt.
Sein Sohn Dr. Friedr. Aug. Ludwig Nietzsche (1756–1826) war Pfarrer in Wollmirstädt in Thüringen und später Pastor und Superintendent in Eilenberg. Gründliche Bekanntschaft mit den Sprachen des Altertums befähigten ihn zur Abfassung als trefflich gerühmter Schriften, die von frommem Sinn zeugten. Jede Freude habe ihn beseelt und jeder Schmerz habe ihm den Wert seines Amtes vermehrt. Auch bei ihm wurde die Würde seines Wesens und seiner Erscheinung betont.
Er war zweimal verheiratet. Seine zweite Frau (Nietzsches Großmutter) Erdmute Krüger, geb. Krause (1778–1859) stammte aus einer Pastorenfamilie, deren Glieder heitere tätige Menschen waren. Sie selbst wird als eine hübsche tüchtige Frau geschildert, erfüllt von dem Willen, Freude zu bereiten. Ihre wundervollste Harmonie von Denken, Sprechen und Handeln konnte sich nicht mit äußerlicher und rigoroser Frömmigkeit befreunden. »Ich weiß nicht, was die Menschen jetzt wollen, früher freuten wir uns über unserer und anderer Leute Tugenden, aber jetzt freut man sich über seine und anderer Leute Sünden. Je sündhafter, desto besser.«
Von Nietzsches Vater Karl Ludwig Nietzsche (1813 bis 1849) wissen wir, daß er seine Examina vorzüglich bestand und als Pfarrer in Röcken (bei Lützen) durch seine begeisterte Tätigkeit die Herzen seiner Gemeinde gewann. Er wird als edle, poetische, auch in der Musik ungewöhnlich begabte Persönlichkeit beschrieben. Nietzsche selbst schilderte ihn als »zart, liebenswürdig und morbid, wie ein zum Vorübergehen bestimmtes Wesen, eher eine gütige Erinnerung an das Leben, als das Leben selbst«.
Als Hauptzüge der meisten Glieder der Familie Nietzsche wird ein lebhafter fröhlicher Geist, strenger Wahrheitssinn, die Liebe zu würdigen, höflichen Formen, aber auch ein Zug zu einsamer Unabhängigkeit bezeichnet.
Die Mutter, Franziska (1826–1897), entstammte der Familie Öhler. Sie besaß offenbar praktischen[17] Sinn, der sich der Welt gern anpaßte. Sie befürchtete frühzeitig, daß ihrem Sohne aus seinem idealen Sinne und aus seinem Verlangen nach Unabhängigkeit Schwierigkeiten erwüchsen. Vermöge ihrer Gottesfürchtigkeit war ihr auch später das Verständnis für seine atheistische Gesinnung verschlossen. Aber Mutter wie Sohn verstanden es, sich die Achtung vor der Gesinnung des anderen zu bewahren.
Die Fürsorge der Schwester für den erkrankten Nietzsche ist allgemein bekannt. Nicht so die mütterliche Betätigung der Mutter. Aus ihren Briefen an Nietzsches getreuen Freund Franz Overbeck ersehen wir, mit welch liebevoller und aufopfernder Hingebung sie für den Erkrankten sorgte, dessen schwierige Pflege sie während der ersten Zeit seiner Umnachtung übernahm. Ihre Briefe legen Zeugnis ab von scharfer Beobachtungsgabe und beweisen in ihrem sprachlichen Ausdruck einen gesunden natürlichen Verstand. Sie eine »bedeutende Natur« zu nennen, und sie mit Goethes Mutter zu vergleichen, liegt jedoch keine Berechtigung vor; dafür war sie nicht eigenartig und selbstherrlich genug, aber ihre natürliche Begabung darf nicht unterschätzt werden.
Friedrich Wilhelm Nietzsche wurde am 15. Oktober 1844 in Röcken geboren; seine Schwester Elisabeth zwei Jahre später; ein drittes Kind, Joseph, starb bereits in seinem zweiten Jahre.
Wir wissen von vielen bildenden Künstlern, daß sie aus Handwerkerfamilien stammten, und gelangten dabei zu der Folgerung, daß sich die handwerkliche Übung mit der Zeit zu freier künstlerischer Betätigung steigerte. Ähnlich mag es sich auch bei Denkern verhalten. »Wo das Bedürfnis, die Not, die Menschen lange gezwungen hat, sich mitzuteilen, sich gegenseitig rasch und fein zu verstehen, da ist endlich ein Überschuß an Kraft und Mitteilung da, gleichsam ein Vermögen, das sich allmählich aufgehäuft[18] hat und nun eines Erben wartet, der es verschwenderisch ausgibt.« Das trifft auch bei Nietzsche zu. Aus dem Umstande, daß seine Vorfahren Theologen und Gelehrte voll Haltung und Würde waren, mag man immerhin Voraussetzungen für seinen philosophischen Beruf ableiten. Aber Nekrologe und Familientraditionen beschränken sich fast nur auf die belichteten Außenseiten. Entwickelte sich bereits bei Nietzsches Vorfahren unter der Schale ein Widerspruch gegen die Strenggläubigkeit, ein Gegensatz zur konventionellen Moral und der Drang, den Kampf mit der herrschenden Weltanschauung aufzunehmen? Das sind Fragen, die zu stellen nahe liegt. Aber eine Antwort mit genügenden Belegen bleibt uns versagt.
Günstiger verhält es sich mit dem Wissen um die Einflüsse der Erziehung und der Verhältnisse, in denen Nietzsche aufwuchs. Von Schopenhauers Eltern ist uns bekannt, daß sie in Unfrieden lebten und dem Sohne keine freudenvolle Jugend bereiteten. Wohl nicht mit Unrecht hat man seine Verbitterung auf diesen Umstand zurückgeführt. Ein ganz anderes Bild bietet sich uns bei einem Blick in das Elternhaus Nietzsches, so daß die schwesterliche Darstellung jener Zeit fast wie eine Idylle anmutet.
Nietzsche war als Philosoph, so gut wie Schopenhauer, alle Zeit Pessimist. Ihn einen Optimisten zu nennen, ist nur bei einer durchaus mißbräuchlichen Anwendung des Wortes möglich. Denn jeder wesenhafte Ausdruck des Schmerzes über die Disharmonie der gewünschten und der wirklichen Welt bedeutet Pessimismus. Der Gegensatz zwischen dem Pessimismus Schopenhauers und Nietzsches liegt weniger in der Erkenntnis als im Temperament. Dort die Folgerung: das Leben ist allezeit mit Unlust gepaart, also gilt es den Willen zum Leben zu verneinen; hier die gleiche Erkenntnis, aber die Folgerung: also gilt es auch aus dem Leiden Kräfte zu[19] gewinnen und auf Grund der »Idealität des Unglücks« sich zu läutern und den Wert des Lebens zu steigern.
Nietzsche war von Kindheit an gesund und kräftig. Er zeigte frühzeitig Leidenschaftlichkeit, aber auch die Fähigkeit der Selbstbeherrschung. Seine Eltern behandelten ihn nicht mit ungestümer Strenge; so blieb er vor jenem Trotz bewahrt, in den jede Eigenart bei Fehlern der Erziehung verfällt.
Nach dem frühen Tode des Vaters übersiedelte die Mutter mit den beiden Kindern nach Naumburg. Fritz besuchte die Bürgerschule. Er wirkte auf die andern Kinder fremdartig. Sie nannten ihn »den kleinen Pastor«. Nach einem Jahre kam er in eine Privatschule, zusammen mit den beiden Freunden Wilhelm Pinder und Gustav Krug, und dann in das Gymnasium. Wilhelm Pinder, mit dem er als Knabe ein Theaterstück »Die Götter im Olymp« schrieb, nennt als Grundzug seines Charakters eine gewisse Melancholie die sich in seinem ganzen Wesen äußerte. »Von frühester Kindheit an liebte er die Einsamkeit und hing da seinen Gedanken nach.« In der Stimme und der Wahl der Ausdrücke habe ein eigentümliches Etwas gelegen, das ihn von seinen Altersgenossen unterschied. Den Freunden gegenüber zeigte er viel Initiative bei Erfindung und Leitung der Spiele und wirkte erzieherisch auf sie ein. Neben seinen dichterischen Produkten versuchte er sich in musikalischen Kompositionen und übte, auch sich selbst gegenüber, eine souveräne Kritik.
Mit achtzehn Jahren kam er in die Landesschule Pforta bei Naumburg, wo er in Paul Deussen und Freiherrn von Gersdorff Freunde fand, von denen der letztere sich hauptsächlich an seinen Improvisationen erfreute. Auf nüchterne Naturen wirkte er als Sonderling, wie ich aus dem Urteil eines früheren Schulgenossen entnehmen konnte, dem ich einmal zufällig in der Schweiz begegnete. Zur Zeit seiner Konfirmation[20] stand er dem Christentum noch durchaus gläubig gegenüber. Erst in seinem zweiundzwanzigsten Jahre wurde er sich eines »freien Standpunktes« bewußt. Beim Verlassen von Schulpforta schrieb Nietzsche ein Gedicht »Dem unbekannten Gotte«, das mit den charakteristischen Worten schließt:
Die Schuljahre zeigten uns bei Nietzsche das typische Bild eines phantasiebegabten Knaben, der in produktiven Arbeiten und ihrer Aufnahme durch wenige sinnverwandte Freunde seine Befriedigung findet, im übrigen aber sich weltfremd verhält. Mit dem Übergang zur Universität in Bonn regt sich jedoch das Verlangen, diese Weltfremdheit zu überwinden und die Wirkungskreise weiter zu ziehen. Er wird Mitglied der Burschenschaft »Franconia«, nimmt lustigen Sinnes an den Äußerlichkeiten des Studentenlebens teil, um in den Strom der Gemeinsamkeit unterzutauchen; erfreut sich auch, besonders durch seine musikalische Betätigung, die damals unter dem Gestirn Schumanns stand, einer Beliebtheit unter seinen Kommilitonen.
Nietzsches vielseitige Anlagen erschwerten ihm die Berufswahl. Er entscheidet sich für die Philologie, läßt sich aber der Mutter zuliebe auch in der theologischen Fakultät einschreiben, um jedoch bald dieses Zugeständnis zurückzuziehen. Sehr bezeichnend für seine späteren Wege, schreibt er schon damals der Schwester: »Suchen wir bei unserem Forschen Ruhe, Frieden, Glück? Nein, nur die Wahrheit, und wäre sie höchst abschreckend und häßlich.«
Er fand in einer Wissenschaft, die kühle Besonnenheit, logische Kälte, gleichförmige Arbeit erheischt, »ohne mit ihren Resultaten gleich ans Herz zu greifen«, ein Gegengewicht für die wechselvollen und unruhigen Neigungen seines Wesens, aber auch die Philologie bedeutete ihm schon damals nicht sein eigentliches Ziel.
Ein für Nietzsche charakteristisches Begebnis erfahren wir aus den Erinnerungen Deussens. Nietzsche war nach Köln gefahren und ließ sich durch einen Dienstmann die Sehenswürdigkeiten zeigen. Dieser führte ihn am Schluß der Wanderung in ein öffentliches Haus. Hierüber berichtete Nietzsche an Deussen: »Ich sah mich plötzlich umgeben von einem halben Dutzend Erscheinungen in Flitter und Gaze, welche mich erwartungsvoll ansahen. Sprachlos stand ich eine Weile. Dann ging ich instinktmäßig auf ein Klavier als auf das einzige seelenhafte Wesen in der Gesellschaft los und schlug einige Akkorde an. Die lösten meine Erstarrung und ich gewann das Freie.«
Daß eine also geartete Natur sich nicht lange in der Rolle »eines flotten Studenten« gefallen konnte, wird uns nicht überraschen. Als seine Kritik am studentischen Treiben einsetzt und der Hauch der Poesie verfliegt, fühlt er sich einsam in der »Franconia« und erklärt seinen Austritt.
Da sein bewunderter Lehrer Friedrich Ritschl in Bonn einen Ruf nach Leipzig annimmt, siedelt auch er dahin über, zugleich von der Hoffnung getragen, sich dort ausgiebiger der Musik widmen zu können. Ein Zufall läßt seinen Blick auf Schopenhauers Hauptwerk »Die Welt als Wille und Vorstellung« fallen. Nur wessen eigene Jugend in die Zeit fällt, in der Schopenhauer wie eine entscheidende Offenbarung begrüßt wurde, kann sich vorstellen, wie mächtig diese Philosophie gerade auf den Lebensernst eines Nietzsche wirken mußte. Aber während andere vieler Jahre bedurften, um sich wieder dem »Weltschmerz« zu entwinden, der sich als depressiver Druck der Gemüter bemächtigte, findet Nietzsche sehr bald in Schopenhauer eine Kraft, die wie Musik erhebe und zu jener zwar wehmütigen, aber glücklichen Stimmung führe, in der man die irdischen Hüllen von sich abfallen sehe. Er beschreibt den unvergleichlichen Aufschwung, den[23] er bei der Betrachtung eines heftigen Gewitters empfand: »Was war mir der Mensch und sein unruhiges Wollen! Was war das ewige: du sollst, du sollst nicht. Wie anders der Blitz, der Sturm, der Hagel: freie Mächte ohne Ethik! Wie glücklich, wie kräftig sind sie, reiner Wille, ohne Trübungen durch den Intellekt!«
Das ist bereits nicht mehr der Pessimismus Schopenhauers, sondern im Kern der Pessimismus Nietzsches, der Schmerz und Leiden bejaht um der Erhebung willen, elementare Mächte bewundert um des Aufschwungs willen, der es ermöglicht, auf Intellekt und Ethik aus der Höhe hinabzusehen.
Mit gleichgesinnten Freunden gründete er einen philologischen Verein. Einen dort gehaltenen Vortrag: »Die letzte Redaktion der Theognidea« übergibt er seinem Lehrer Ritschl, der von nun ab ihm seine besondere Aufmerksamkeit widmet. Auch Ausführungen über die Quellen des Laertius finden dessen volle Bewunderung. Diese und andere Arbeiten gelangten im »Rheinischen Museum« zum Abdruck.
Aus der Leipziger Zeit haben wir Nietzsches schwärmerische Begeisterung für die berühmte Schauspielerin Hedwig Raabe zu erwähnen, vor allem aber auf seine Freundschaft mit Erwin Rohde zu verweisen. Rohde hatte als Student vermöge seiner nervösen Veranlagung wenig Vertrauen zu seinen eigenen Kräften, aber durch Nietzsches Freundschaft wurde diese Leipziger Zeit für ihn »die segensreichste Periode seines ganzen Daseins, die stärkste Stütze seines moralischen Lebens«. Schüchtern hatte er in das Land reinster Freundschaft sehnsüchtig geblickt, »wie ein armes Kind in reiche Gärten« und war Nietzsche aus tiefstem Herzen dankbar, daß er es ihm erschloß. Aber auch dieser fühlte sich glücklich »im steten Umgang mit einem Freunde, der nicht nur Studienkamerad ist oder etwa durch gemeinsame Erlebnisse[24] mit mir verbunden war, sondern dessen Lebensernst wirklich denselben Grad zeigt wie mein eigener Sinn, dessen Wertschätzung der Dinge und der Menschen ungefähr denselben Gesetzen wie die meinige folgt, dessen ganzes Wesen schließlich auf mich eine kräftigende und stählende Wirkung hat«.
Im Herbst 1867 wird Nietzsche bei der reitenden Artillerie in Naumburg Einjährig-Freiwilliger. Es fällt ihm nicht leicht, sich dem geisttötenden Zwang des Militärdienstes einzuordnen. »Mitunter raune ich unter dem Bauch des Pferdes versteckt: Schopenhauer hilf!« Eine Verletzung, die er sich beim Sprung auf sein Pferd zuzog, nimmt ernsten Charakter an und führt ihn nach fünfmonatiger Dienstzeit wieder seinen Büchern und Schriften zu. Sein Plan ist, sich nunmehr die Doktorwürde zu erwerben und zugleich die Habilitation als Privatdozent ins Auge zu fassen, aber zuvor noch mit Freund Rohde ein Jahr in Paris zu verleben.
Nietzsche war mehr beflissen, zu lernen, wie man Lehrer ist, als zu lernen, »was man sonst auf Universitäten lernt«. Zur Erlangung der Kenntnisse vertraute er dem Trieb, nach eigenem System das Wissenswürdige zusammenzuholen. Die unverhoffte Muße während der zweiten Hälfte der Militärzeit begünstigte dieses unabhängige Arbeiten, das schon in Schulpforta eingesetzt hatte. Seiner philosophischen Veranlagung und diesem Trieb zur Selbständigkeit verdankte es Nietzsche, daß er nicht wie so viele Philologen zu nahe vor seiner Aufgabe stand, sondern den archimedischen Punkt außerhalb der Vorgänge gewann, um von dort aus zu bewundern und zu lieben. Philosophie war sein Zweck, Philologie nur das Mittel; das Allgemeinmenschliche zu erkennen, schon während seiner Studienzeit sein Ziel. Weil er sich seinen Aufgaben gegenüber produktiv verhielt und aus eigenem Lebensquell schöpfte, gelangte er zu Ergebnissen, die nicht nur seine Lehrer überraschten.
Als in Basel eine Professur für klassische Philologie neu zu besetzen war, fragte Prof. Wilhelm Vischer, der Nietzsches Aufsätze im »Rheinischen Museum« gelesen hatte, bei Ritschl in Leipzig an, ob er Nietzsche für dieses Amt geeignet halte. Ritschl antwortete, daß Nietzsche nicht habilitiert sei, ja noch nicht einmal promoviert habe, der Schwerpunkt seines Studiums sei bisher in der griechischen Literaturgeschichte mit besonderer Betonung der Philosophie gelegen; aber bei seiner Begabung werde er sich gewiß auch auf anderem Gebiet mit bestem Erfolg einarbeiten; denn »er wird eben alles können, was er will«. Dieses Urteil führte zur Berufung des erst Vierundzwanzigjährigen an die Universität in Basel. Man verlieh ihm die Doktorwürde auf Grund seiner bereits veröffentlichten Arbeiten und erließ ihm auch die mündliche Prüfung.
Nietzsche wurde sich der Gefahren bewußt, die diese Berufung für seine persönliche Entwicklung in sich bergen konnte. »Philister zu sein, Herdenmensch – davor behüte mich Zeus und alle Musen!« schrieb er an von Gersdorff. Er weiß, daß er hierzu keine Veranlagung hat; aber wird er nicht als »Fachmensch« der Gefahr näher gerückt? Wird die allstündliche Konzentration des Denkens auf bestimmte Wissensgebiete und Probleme nicht doch die freie Empfänglichkeit etwas abstumpfen und den philosophischen Sinn in der Wurzel angreifen? Man darf nicht vergessen, daß Nietzsche durch Schopenhauer gelernt hatte, die Würde der Universitätsprofessoren in kritischer Beleuchtung zu sehen, um zu begreifen, daß er solche Fragen an sich stellte. Aber er sagt sich: »zu tief wurzelt schon der philosophische Ernst, zu deutlich sind mir die wahren und wesentlichen Probleme des Lebens und Denkens von dem großen Mystagogen Schopenhauer gezeigt worden, um jemals einen schmählichen Abfall von der ›Idee‹ befürchten zu müssen«.
Er will mehr sein als ein Zuchtmeister tüchtiger Philologen:[26] »die Lehrergeneration der Gegenwart, die Sorgfalt für die nachwachsende Brut, alles dies schwebt mir vor der Seele«. Klingt hier nicht bereits das Thema »Erziehung der Erzieher« und das geheimnisvolle Motiv der »Fernstenliebe« an? Nicht die frühzeitige Berufung, eine so große Seltenheit sie sein mochte, war das Erstaunlichste, sondern die starke Überzeugung von seinem wahren Berufe, die ihn so weit über die Würde seines Amtes erhob.
Übrigens ist mir alles verhaßt, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren, oder unmittelbar zu beleben.
Goethe.
Als Nietzsche sein Amt in Basel antrat, war er entschlossen, sowohl seine künstlerische wie seine ethische Anschauung nicht hinter der Wissenschaft zurücktreten zu lassen, wohl aber eine harmonische Vereinigung anzustreben. Er begann seine Antrittsrede (am 28. Mai 1869) über »Homer und die klassische Philologie« mit der Erklärung, daß die Philologie sowohl auf künstlerischem als auf ethischem Boden imperativistische Elemente in sich birgt und zu allen Zeiten ihrem Ursprung nach auch Pädagogik gewesen sei, und ging dazu über den Optimismus und die Selbstgefälligkeit des modernen Menschen zu geißeln. Es war eine Kriegserklärung gegen den Geist der Zeit, nicht aber gegen den Wert des Lebens. »Das Leben ist wert gelebt zu werden, sagt die Kunst, das Leben ist wert erkannt zu werden, sagt die Wissenschaft.« Man halte diesem Satz den Ausspruch Schopenhauers entgegen: »Der Wert des Lebens besteht gerade darin, daß es uns lehrt, es nicht zu wollen«, um die Gegensätzlichkeit zu erkennen.
Nach der Antrittsrede soll Jakob Burckhardt geäußert haben, Nietzsche sei ebensosehr Künstler wie Gelehrter. Auch sonst wird der Antrittsrede ein günstiger Eindruck nachgerühmt. Daß dieser jedoch allgemein gewesen sei, bleibt zu bezweifeln, ebenso daß in der Folge alle Zuhörer Nietzsches Anschauungen willig beistimmten. Sagte doch ein Schüler seines Nachfolgers diesem zum Ruhme: Niemals hat er, wie es vor ihm Nietzsche getan haben soll, uns Güter vorgespiegelt, die uns damals nur Phantome sein konnten, und niemals über Philosophen extemporiert.
Nietzsche war sich seiner Gegensätzlichkeit zu den Erwartungen seiner Schüler und seiner Kollegen voll bewußt. Um so freudiger begrüßte er in Burckhardt einen Gesinnungsgenossen und war glücklich, seine Zuneigung gewonnen zu haben. Er wohnte dessen Kolleg »Über Studium der Geschichte« und später auch demjenigen über »Griechische Kulturgeschichte« bei.
»Der Geist ist die Kraft, jedes Zeitliche ideal aufzufassen. Er ist idealer Art, die Dinge an sich sind es nicht.«
»Es reicht nicht, daß das Schöne als Durchgangspunkt und Erziehung zum Wahren dargestellt wird; denn die Kunst ist in hohem Grade, um ihrer selbst willen vorhanden.«
»Unser Leben ist ein Geschäft, das damalige (im Mittelalter) war ein Dasein; das Gesamtvolk existierte kaum, das Volkstümliche aber blühte.«
Solche Sätze Burckhardts waren Nietzsche gewiß aus der Seele gesprochen und manche der folgenden mögen anregend auf seine Überzeugungen eingewirkt haben.
»Überhaupt dringt der moderne Geist auf eine Deutung des ganzen Lebensrätsels unabhängig vom Christentum.«
»Das Entscheidende, Reifende und allseitig Erziehende ist viel eher der Machtsinn, der als unwiderstehlicher Drang das große Individuum an den Tag treibt.«
»Das Böse auf Erden ist allerdings ein Teil der großen weltgeschichtlichen Ökonomie: es ist die Gewalt, das Recht des Stärkeren über den Schwächeren.«
»Die Zendreligion kann nur eine einmalige und plötzliche, von einem großen, sehr großen Individuum getragen, gewesen sein, weshalb denn an Zarduschs Persönlichkeit nicht zu zweifeln ist.«
Letztere Stelle scheint mir die Vermutung zu gestatten, daß sie vielleicht Nietzsche unterbewußt beeinflußte, als er den Helden seiner Dichtung Zarathustra[29] nannte. Im persönlichen Verkehr mag nicht nur Burckhardt vielfach anregend auf Nietzsche gewirkt haben, sondern auch von ihm, wie wir später sehen werden, manches erhalten haben. Aber um ihr Freundschaftsverhältnis richtig zu verstehen, muß man den großen Altersunterschied von sechsundzwanzig Jahren und Burckhardts weit umfassenderes Wissen bedenken. Nietzsche war der Aufschauende. Neben seinem Mitteilungsdrang und seiner jugendlichen Begeisterung mußte Burckhardt als zurückhaltend und »unfanatisch« erscheinen. Rohde hat an ihm die Stärke der Hoffnung und die Fähigkeit zu einer lebenwährenden Illusion vermißt, und Nietzsche von seiner Zurückhaltung aus Desperation gesprochen. Sie unterhielten sich gern über Schopenhauer; aber die Stellung zum Pessimismus war doch nicht die gleiche. Obwohl Burckhardt, im Hinblick auf die Griechen, das Wort vom Pessimismus der Erkenntnis und dem Optimismus des Temperaments geprägt hat, lag ihm doch jede leidenschaftliche Lebensbejahung fern. Weit mehr neigte er dazu, die Lösung des Widerspruches im Diogenes-Problem zu suchen, wie ich jene Anschauung nennen möchte, die, bei Geringschätzung der Welt, das Glück eigener Zufriedenheit in unabhängiger Gesinnung und beschaulicher Betrachtung bei souveräner Zurückgezogenheit sucht. Es ist bezeichnend, daß er Diogenes den »rechten heiteren Pessimisten« nannte.
Im Sommer 1870 sprach Nietzsche dreistündig über »Sophokles Ödipus rex«. Da diese und die weiterhin genannten Vorträge seinen Werken nur als »Philologica« angereiht wurden, sind sie wenig bekannt, enthalten aber viele philosophische Gedanken, die über die philologische Aufgabe hinausragen. Entschieden wird betont, daß das Altertum nicht danach fragte, ob Schuld und Leiden in genauen Proportionen standen, und im Unglück keine Strafe sah. Nietzsche verteidigt die Unbewußtheit gegen die sokratischen Prinzipien, die alles[30] auf den Verstand begründen wollen. In seinen Vorlesungen über »das Studium der klassischen Philologie« (Sommer 1871) verurteilte er das bloße Erkennenwollen. »Vor allem nötig: Freude am Vorhandenen. Diese weiter zu tragen ist des Lehrers Aufgabe.« Denn als idealer Lehrer gilt ihm nur, wer sich als Mittler fühlt zwischen den großen Genien und den neuen werdenden Genien, zwischen der großen Vergangenheit und der Zukunft.
Seit Spenglers »Untergang des Abendlands« ist unser Augenmerk darauf gerichtet, daß Geschichte formgewordenes Seelentum ist, daß es also nicht genügt, den gegenständlichen Zusammenhang von Ursache und Wirkung zu verfolgen, sondern daß durch Analogien morphologische Verwandtschaften aufgedeckt werden müssen. Auch Nietzsche lehrte betreffs der Antike: »Wir sind nicht aus demselben Element erwachsen, das hier erklärt werden soll. Wir müssen also mittels Analogien uns zu nähern suchen. Insofern ist unser Verstehen des Altertums ein fortgesetztes, vielleicht unbewußtes Parallisieren.«
In seine späteren Vorlesungen (Geschichte der griechischen Literatur, Rhetorik usw.) sind in den vorausgegangenen Niederschriften seltener philosophische Gedanken skizziert, immerhin begegnen wir manchem, was den Schatz seiner charakteristischen Aussprüche bereichert. Zum Beispiel:
»Die Griechen verkehrten mit ihren Göttern wie eine niedere Kaste mit einer höheren, mächtigeren, edleren, mit der man sich aber von gleicher Abstammung weiß.«
Unter den Freunden, die Nietzsche in Basel fand, haben wir nach Burckhardt vor allen Franz Overbeck zu nennen. Sein Großvater war aus Deutschland nach England, dessen Sohn nach Rußland übersiedelt und erst der Enkel, Sohn einer Französin, nach Deutschland zurückgekehrt. Er schlug die Theologenlaufbahn ein und[31] entwickelte sich zu einem kosmopolitisch veranlagten hervorragenden Kirchenhistoriker. Er besaß keine schöpferische Phantasie, aber aus seinen Briefen an Treitschke ergibt sich eine gesunde Abneigung gegen alles Philiströse, die Einsicht, daß das Christentum die Herrschaft über die modernen Völker eingebüßt habe, warme Teilnahme an den Einigungsbestrebungen in Deutschland, jedoch auch die Überzeugung, daß die Kultur über der Politik zu stehen habe und menschliche Ideale höher als politische zu werten sind. Overbeck folgte 1870 einem Rufe nach Basel und wurde dort Nietzsches Hausgenosse. Es entwickelte sich ein täglicher, andauernd schattenloser Verkehr. Die innere Gemeinsamkeit ergibt sich aus Overbecks Worten: »Wir sind zwei Gelehrtennaturen, die über sich hinaus wollen, nur so vermag ich mir unsere innige Freundschaft zu erklären bei so enormer Ungleichmäßigkeit unserer Begabung und ebenso großem Unterschiede unseres Temperaments.«
Overbeck war sich der geistigen Überlegenheit Nietzsches ohne Neid bewußt. Dessen wahre Größe hat er niemals voll erkannt, aber er hatte ein feinfühliges Verständnis für die Schwere der Aufgabe, die Nietzsche durch seine geniale Veranlagung gestellt war, und gewann ihn lieb. Overbecks gelassene und bedächtige Natur wurde von seinem Freunde wohltätig beruhigend empfunden. In der öfteren Hingabe an eine gemeinsame übermütige Ausgelassenheit mochten beide eine zeitweilige Befreiung vom Drucke einer ihnen fremden Umwelt finden. Wir wollen uns, aber nichts für uns, lautet der Sinn eines tapferen Bekenntnisses Overbecks. Er sah die Kulturverhältnisse im neuen Deutschen Reich nicht »rosig« an, wie Treitschke, sondern empfand einen fast ebenso heftigen Widerwillen gegen »die geleckte Barbarei« wie Nietzsche. Wo es galt, seinen Radikalismus zu bekennen, da hat dieser persönlich-liebenswürdige Mensch und Forscher es ernst und freimütig getan und Nietzsches Hoffnung gestärkt,[32] daß, was sie in »unheimlicher Vereinzelung« wollten, einmal Tat werde.
Bereits ein Jahr nach seiner Berufung wurde Nietzsche in Basel ordentlicher Professor. Als der Krieg ausbrach, ging er als Krankenpfleger nach Frankreich, erkrankte aber bei einem Verwundetentransport an Ruhr und Diphtheritis und nahm, noch ehe seine Genesung sich genügend vollzogen hatte, seine Lehrtätigkeit in Basel wieder auf.
Wenn wir uns Rechenschaft darüber geben, in welcher Einsicht sich Burckhardt, Nietzsche und Overbeck ihrer Übereinstimmung besonders bewußt waren, so gelangen wir zu dem Problem der Bildung.
Wie Schöpfung ursprünglich nur die Erschaffung, noch nicht das Erschaffene bedeutete, so Bildung die Schaffung oder Entstehung eines Gebildes. Aber auch wenn wir das Wort vom Hervorgebrachten gebrauchen, können wir zwischen einer Bildung der Kultur und einer solchen der Zivilisation unterscheiden. Dort Wachstum, Gestaltung und Belebung; hier Anerzogenheit, Abschleifung und Belehrung. Kulturelle Bildung erwirbt, wer die Einsichten früherer Zeiten als geistige Nahrung zu einem Bestandteil seiner eigenen Natur macht; Bildung im Sinne der Zivilisation, wer diese Einsichten nur reflektiert. Das Programm unserer Schulen ist nur auf die letztere gerichtet. Sie erschließt dem Einzelnen damit Wege zum Erwerb, fördert so zivilisatorisch die Gesellschaft und mittelbar die Macht des Staates. Sie ist bestrebt, die Bildung möglichst zu verallgemeinern. Aber dieser Drang zur Erweiterung nötigt den Einzelnen zur Spezialisierung. Die natürliche Folge davon ist eine Verminderung des Wissens; denn die Spezialisierung verbraucht vampyrartig ihre Geschöpfe, wie uns die Enge des Horizontes bei Fachgelehrten beweist. Die unselige Wirkung der Verflachung der Bildung durch übertriebene Verbreitung sehen wir im Chaos unserer literarisch-künstlerischen Öffentlichkeit. Sie[33] hat dazu geführt, daß der Journalist, der Diener des Augenblicks, an die Stelle des großen Genius, des Erlösers vom Augenblick, getreten ist.
Schon in den niederen Klassen unserer Schulen werden Aufsätze verlangt, in denen mit knabenhafter Überlegenheit Kritik an unseren Klassikern geübt wird. Jeden betrachtet man ohne weiteres als ein literaturfähiges Wesen, das über die ernstesten Dinge und Personen eigene Meinungen haben soll, während eine rechte Erziehung den lächerlichen Anspruch auf eine frühreife Selbständigkeit des Urteils zu unterdrücken hätte, um den jungen Menschen an einen strengen Gehorsam unter dem Zepter des Genius zu gewöhnen. Ist doch unter vielen Tausenden kaum einer berufen, sich schriftstellerisch zu betätigen. Man glaubt freie Persönlichkeiten zu erziehen, aber indem man die allernächste praktische Zucht in Wort und Schrift nicht als heilige Pflicht nimmt, gelangt man nicht einmal zur Beherrschung der Muttersprache; und doch beginnt erst mit der richtigen Gangart der Sprache die Bildung. Wir sind von jener Bildungshöhe heruntergesunken, die das deutsche Wesen dank den Bemühungen seiner großen Dichter und Denker erreicht hatte, weil wir nicht an der aristokratischen Natur des Geistes festhielten.
Auch beim Hinblick auf die Universität und die »akademische Freiheit« ergibt sich das gleiche Bild einer Pseudokultur unserer »Jetztzeit«. »Nie haßte man so stark jede Sklaverei, auch freilich die Sklaverei der Erziehung und Bildung.«
Wir haben hiermit den wesentlichen Inhalt der fünf Vorträge wiedergegeben, die Nietzsche 1872 über die »Zukunft unserer Bildungsanstalten« hielt. Es gilt diese Gedanken radikal zu erfassen und sich des Gegensatzes bewußt zu werden zu allem, was uns als moderne Ideen einen kulturellen Aufstieg vortäuscht. Die Grundlage unserer Bildung vermag fruchtbaren[34] Boden nur in einem nachhaltigen philosophischen Erstaunen zu finden über ernste Probleme, die das Leben uns stellt. Führt sie nur zu historischer Ausdeutung und philologischer Abwägung, so ergibt sich nur ein Wissen um das Wissen und an Stelle der Begeisterung das nil admirari, nicht aber die Ansätze, durch die wir zum Gebilde werden. Eine wahre Bildungsinstitution dagegen muß wurzeln in einer innerlichen Erneuerung und Erregung der sittlichen Kräfte.
In welcher Weise ist also wahre Bildung zu lehren und zu fördern? Das Beispiel hierfür bieten uns Nietzsches Vorträge über »Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen«. Wer an großen Menschen überhaupt seine Freude hat, der hat auch seine Freude an ihren philosophischen Systemen, jedoch nur insofern als er daraus das Bild der Persönlichkeit gewinnt. Also keine Vollständigkeit anstreben; denn was nützt uns die bloße Aufzählung aller möglichen, längst widerlegten Systeme, sondern Auswahl und Beschränkung. Nur wenn die Persönlichkeit selbst wieder zu uns spricht, hören wir die Polyphonie der griechischen Natur wieder erklingen.
Thales und Heraklit erstehen durch Nietzsche vor uns als schöpferische Meister voll genialischem Vorgefühl der zukünftigen Fruchtbarkeit ihrer Ideen. Wohl mochte mancher seiner Schüler auch bei Nietzsche, zum Beispiel bei den Ausführungen über Anaximander zunächst nur eine Darlegung des Systems heraushören, aber wie lebendig tritt auch hier in der Folge die Persönlichkeit ans Licht. Den Hauptton legte Nietzsche auf das Wirken von Heraklit und seine Lehre der Polarität, d. h. des Auseinandertretens der Kraft in zwei qualitativ verschiedene, entgegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende Tätigkeiten. Durch Heraklit wird die Schuld in den Kern der Dinge verlegt und so die Welt des Werdens und der Individuen von ihr entlastet,[35] obwohl sie verurteilt bleiben, ihre Folgen zu tragen. Das Leben bedeutet, in diesem Sinne gesehen, nicht mehr die Strafe des Gewordenen, sondern die Rechtfertigung des Werdens. Wer nicht auseinander- sondern zusammenschaut, für den läuft alles Widerstrebende in eine Harmonie zusammen. Solche Erkenntnis verlangt nach keinem ethischen Imperativ: »Du sollst!«, sondern für Heraklit war die Welt das unschuldige Spiel des Äon. Er verkündet uns nicht an der Strickleiter der Logik erkletterte, sondern intuitiv erfaßte Wahrheiten. »Das Werden ist kein moralisches, sondern ein künstlerisches Phänomen.« Man versteht, warum ihn Nietzsche zu seinen Ahnen zählte.
Vom Griechentum schlug Nietzsche Brücken zur jüngsten Vergangenheit, indem er Kant und besonders Schopenhauer zitierte. Aber der Besitz wahrer Bildung zeigt sich vor allem darin, daß wir in der eigenen Gegenwart das Große erkennen. »Man hat mit Recht gesagt, daß ein Volk nicht sowohl durch seine großen Männer charakterisiert werde, als durch die Art, wie es dieselben erkenne und ehre.« Er wäre nicht Nietzsche gewesen, wenn ihn nicht der Drang erfüllt hätte, auch hierin sich in den Dienst der Kultur zu stellen. Solche Entscheidungen erfolgen nicht willkürlich, noch zufällig. Wir dürfen heute sagen, es gehörte zu Nietzsches Schicksal, zur Entfaltung seines Wesens, zur Bewährung seiner Grundsätze, daß er damals dem Manne begegnete, von dem er jubelnd einem Freunde verkünden durfte: »Ich habe einen Menschen gefunden, der wie kein anderer das Bild dessen, was Schopenhauer ›das Genie‹ nennt, mir offenbart und der ganz durchdrungen ist von jener wundersam innigen Philosophie. Dies ist kein anderer als Richard Wagner … In ihm herrscht eine so unbedingte Idealität, eine solche tiefe und rührende Menschlichkeit, ein solch erhabener Lebensernst, daß ich mich in seiner Nähe wie in der Nähe des Göttlichen fühle.«
Die verehrende Kraft in uns ist so wesentlich wie das zu verehrende Objekt.
Burckhardt.
Die Lebensgeschichte Richard Wagners wurde vor allem dadurch zu einer Leidensgeschichte, daß Wagners Streben darauf gerichtet war, das Theater in den Dienst der Kultur zu stellen. Es handelte sich dabei nicht um eine Reformation des Theaters, sondern um eine Regeneration unserer gesamten Kulturverhältnisse im Sinne des Griechentums. Frau Wagner hat mir einmal geschrieben: »Das Wort Reformation der Kunst war in Wahnfried ganz besonders mißliebig. Was wäre da zu reformieren gewesen? hieß es öfter, etwa die Oper?«
Als Wagner 1862 die Dichtung zum »Ring des Nibelungen« veröffentlichte, sah er zwei Wege vor sich, um zur Vollendung und stilgemäßen Aufführung des Werkes zu gelangen. Entweder eine Vereinigung kunstliebender Männer, oder die Unterstützung durch einen Fürsten. Dieser Fürst fand sich in dem jungen Bayernkönig. Ludwig der Zweite berief Richard Wagner zur Verwirklichung seiner Pläne nach München und ebenso dessen Freund Hans von Bülow, der mit Liszts Tochter, Cosima, vermählt war. Der König verkündete: »Von dem Ernste der Kunst muß alles erfüllt werden!« Aber reaktionärer, ultramontaner und philiströser Widerstand erwies sich als übermächtig. Wagner sah seine Pläne scheitern und war gezwungen, München zu verlassen. Er zog sich körperlich und seelisch tief erschüttert nach Tribschen bei Luzern zurück, ohne Aussicht auf eine Errettung. Aber sie sollte ihm dennoch werden durch die Liebe Frau Cosimas. Hans von Bülow hat einmal den Ausspruch getan: »Der Produzierende geht vor dem Reproduzierenden.« Dieses[37] Wort sollte an ihm mit furchtbarer Tragik zur Wahrheit werden. Seine Gattin trennte sich von ihm, um in opferwilliger Hingebung an das Genie Wagners dieses der Welt zu erhalten. Sie schuf Wagner ein Heim in Tribschen, alles Unfreundliche und Störende der Welt fernhaltend, in beglückender Einsamkeit.
Dort suchte ihn Nietzsche im Frühjahr 1869 auf. Er hatte sich längst für seine Werke, vor allem »Tristan und Isolde« begeistert und für die unverwüstliche Energie, mit der Wagner den Glauben an sich »unter dem Hallo der ganzen ›gebildeten‹ Welt aufrecht erhielt«. Bei einer früheren Begegnung in Leipzig hatte er Wagner mit ganz unbeschreiblicher Wärme von Schopenhauer sprechen hören, aber erst der Besuch in Tribschen erlangte eine entscheidende Bedeutung. Die Besuche wiederholten sich, und Briefe flogen hin und her. Nietzsche schrieb an Rohde, der stets von allem Kenntnis erhielt, was ihn tief bewegte: »Was ich dort lerne und schaue, höre und verstehe, ist unbeschreiblich. Schopenhauer und Goethe, Äschylus und Pindar leben noch, glaub' es mir.« Aber auch Nietzsches Arbeiten brachten Wagner und seine geistvolle Frau warmes und eindringendes Verständnis entgegen. Wie ein Bote aus einer besseren und reineren Welt, kam er nach Wagners Wort zu ihnen. Man richtete zwei Zimmer für ihn ein. Wagner erklärte: »Ich habe jetzt niemand, mit dem ich es ernst nehmen könnte als mit Ihnen – die Einzige ausgenommen,« und Frau Wagner konnte ihm mitteilen, daß durch ihn trübgemutete Stimmungen überwunden wurden, weil er heiter anregend auf Wagners schöpferische Tätigkeit wirke. Er nahm innigen Anteil an allen Freuden und Leiden in Tribschen und dachte mehrmals daran, seine Professur aufzugeben, um sich unmittelbar in den Dienst des Genius zu stellen. Aber Wagner war der Überzeugung, daß er auch als Philosoph ihm helfe, die große »Renaissance« der Kultur zustande zu bringen.
Im Jahre 1871 ging Wagner auf den Gedanken zurück, die stilgemäße Aufführung des »Ring des Nibelungen« durch eine Vereinigung von Kunstfreunden zu ermöglichen. Auf seine öffentliche Einladung zur Anmeldung antwortete zunächst allerdings nur mein Vater und leitete durch die Gründung der Wagner-Vereine eine Bewegung ein, die zwar nicht die erhoffte finanzielle Hilfe ausreichend bot, aber doch dem Unternehmen einen volkstümlichen Boden schuf. Raoul Richters Vermutung, die Gründung der Vereine sei auf eine Anregung Nietzsches zurückzuführen, trifft zwar nicht zu, aber Nietzsche begrüßte die Bewegung mit Sympathie. Er wurde nicht nur Mitglied des Mannheimer Wagner-Vereins, sondern beabsichtigte auch in der Schweiz einen solchen zu gründen, schrieb seinen bereits erwähnten »Mahnruf«, veranlaßte Wagner, in einer öffentlichen Mitteilung an die Vereine eine besondere Warnung einzufügen, durch Übereifer der geschäftlichen Propaganda nicht die Idealität des Unternehmens zu verdunkeln, und warb unter seinen Freunden für Bayreuth, wobei er seine Schwester, Rohde und von Gersdorff auch persönlich mit Wagner bekannt machte. Besonders von Gersdorff wurde ein begeisterter Verehrer. Er war, nach Overbecks Zeugnis, der schöne Typus eines echten Edelmanns, voll Haltung und Würde bei einfachen Manieren; ein grundgütiger Mensch, auf den man sich verlassen konnte. Nietzsches größte Tat zugunsten Wagners und seiner Ziele war, daß er ein bereits längere Zeit vorbereitetes Griechenbuch »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« ausklingen ließ in eine Hoffnung auf deren Wiedergeburt und Wagner damit in Verbindung brachte.
Dem Werke liegt die Heraklitische Erkenntnis von der Polarität zugrunde. Wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, von fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung abhängt, so die Fortentwicklung der Kunst von der Duplizität des[39] Dionysischen und des Apollinischen. Wie im Baume die wurzelnährende Wärme der Erde und das blütenentfaltende Licht der Sonne sich vereinigt, so im vollendeten Kunstwerk jene zwei polaren Mächte.
Wenn wir an die Frühlingsfeste ursprünglicher Menschen und Völker denken, bei denen im Rausch geschlechtlicher Erregung alles Subjektive in Selbstvergessenheit schwindet und der Bund zwischen Mensch und Mensch sich erneuert, als gelte es zur Ureinheit zurückzukehren, so gewinnen wir eine Vorstellung vom Zauber des Dionysischen. Wenn wir an die Gestaltungsgabe der dichterisch wirksamen Phantasie im Traume denken, als maßvolle Begrenzung und Befreiung von den wilderen Regungen, so gewinnen wir eine Vorstellung der weisheitsvollen Ruhe des Apollinischen. Dort mystische Selbstentäußerung bis zu dem Gefühl des Einsseins als Genius der Gattung, hier Vision des eigenen individuellen Zustandes, dessen Einheit mit dem innersten Grund der Welt sich in einem gleichnisartigen Traumbilde offenbart.
Das Dionysische kommt vor allem in der Musik, das Apollinische in der Kunst des Bildners, aber auch des Dichters zum Ausdruck. Bei wilden Völkern wurden jene Frühlingsfeste in ihrer Mischung von Wollust und Grausamkeit durch den Überschwang geschlechtlicher Zuchtlosigkeit gekennzeichnet, bei den dionysischen Orgien der Griechen erhielten sie die Bedeutung von Welterlösungsfesten und Verklärungstagen, dank der Gegenwirkung des apollinischen Schönheitstriebes. Grausenhafte Wollust des Seins und verklärende Freude des Scheins, Expressionismus des Gattungwesens und Impressionismus der Einzelerscheinung vermählten sich. Aus ihrem Bunde ist die Tragödie der Griechen erstanden.
Wir begegnen also in der »griechischen Heiterkeit« durchaus nicht einem Optimismus wie in der Selbstgefälligkeit der modernen Zivilisation, sondern diese Heiterkeit[40] war das notwendige Gegenspiel einer tief tragischen Erkenntnis. Lustvolle Illusionen wurden Sieger über eine schreckliche Tiefe der Weltbetrachtung. »Hier erinnert nichts an Askese, Geistigkeit und Pflicht: hier redet nur ein üppiges, ja triumphierendes Dasein zu uns, in dem alles Vorhandene vergöttlicht ist, gleichviel ob es gut oder böse ist.«
In dieser Deutung des Griechentums durch Nietzsche erkennen wir sowohl die Wurzeln seines Illusionismus, der den Menschen selbst den Wert des Lebens bestimmen läßt, als seinen Amoralismus, der das Dasein nicht ethisch, sondern als künstlerisches Phänomen einschätzt.
Wie ist die griechische Tragödie entstanden? Nietzsche antwortet: aus dem tragischen Chor. Um dies zu verstehen, müssen wir auf den Ursprung des Wortes und seine Erweiterung zurückblicken. Aus der eigentlichen Bedeutung des Chores als eines umgrenzten Tanzplatzes entwickelte sich zunächst die übertragene Anwendung auf den Reigentanz der, mit Gesang verbunden, zu Ehren einer Gottheit bei festlichen Anlässen aufgeführt wurde, um dann ganz von diesem Gesang gebraucht zu werden.
Erinnern wir uns an das Bekenntnis Schillers: »Die Empfindung ist bei mir anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand; dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Gemütsstimmung geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee.« Ähnlich haben wir uns bei den Dionysosfesten der Griechen die musikalische Stimmung zu vergegenwärtigen, als eine bis zur Selbstvergessenheit führende Gemeinsamkeit stärkster Gefühle, die ihren Ausdruck zunächst in Tänzen und Gesängen fand und so lange eine Steigerung und Vertiefung erfuhr, bis diese Musik den ergriffenen Dionysosjüngern gleichsam sichtbar wurde. Erst wenn wir den Ursprung der Tragödie im dionysischen Chor[41] sehen, wird uns die Orchestra vor der Szene verständlich; denn Szene und Aktion wurden ursprünglich nur als Vision gedacht. Ähnlich erklärte sich Wagner das Verhältnis von Musik und Aktion; nur daß es jetzt nicht mehr der Chor, sondern das Orchester ist, das die schöpferische Aufgabe der Musik zu erfüllen hat. »Sie tönt, und was sie tönt, möget ihr dort auf der Bühne erschauen.«
Die griechische Tragödie mußte untergehen, als der Geist der Musik aus ihr verschwand. Der Geist der Musik wurde vernichtet durch die optimistische Dialektik. Diese antidionysische Tendenz fand ihren unerhört großartigen Ausdruck in Sokrates. Er ist daher für Nietzsche der Typus des theoretischen Menschen, der nicht mehr in der Unbewußtheit des künstlerischen Schaffens, sondern in der Bewußtheit des wissenschaftlichen Erkennens das Heil sucht. Sobald die Wissenschaft die Grenzen ihrer Möglichkeiten erkennt, muß sie instinktiv in Kunst umschlagen. Denn die Kunst allein vermag die Pforten ins Metaphysische zu erschließen. Nur ein theoretischer Optimismus, wie ihn Sokrates verkörpert, kann in seiner Überhebung an die Ergründlichkeit der Natur der Dinge durch das Wissen glauben.
Kant und Schopenhauer haben uns gelehrt, die Grenzen der Wissenschaft zu erkennen, und die deutsche Musik, wie wir sie vornehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben, verbürgt uns das allmähliche Erwachen des dionysischen Geistes. Wir müssen uns zugestehen, daß seit dem edelsten Bildungskampfe Goethes, Schillers und Winckelmanns wir immer mehr aufgehört haben, auf einer gleichen Bahn zur Bildung und zu den Griechen zu kommen; aber noch bleibt uns die Hoffnung, daß aus dem Geiste der Musik eine Wiedergeburt des hellenischen Altertums erfolge. Die Zeit des sokratischen[42] Menschen ist vorüber, ruft Nietzsche jetzt, wagt es nur, tragische Menschen zu sein; denn ihr sollt erlöst werden!
Zu Neujahr 1872 sandte Nietzsche sein Buch an Wagner, in der Hoffnung, später manches besser machen zu können. »Später nenne ich hier die Zeit der Erfüllung, die Bayreuther Kulturperiode.« Wagner antwortete begeistert: »Schöneres als Ihr Buch habe ich noch nichts gelesen! Alles ist herrlich!« und versicherte ihm: »Tief und weit blicke ich mit Ihnen, und unabsehbar weite Gebiete hoffnungsvollster Tätigkeit eröffnen sich vor mir – vor mir – mit Ihnen zur Seite.«
Noch spricht Nietzsche in seinem Erstlingsbuch nicht ganz und gar seine eigene Sprache, noch hat das Tempo des Stils nicht jede Schwerfälligkeit und Verschleppung überwunden, noch stört der Bilderreichtum zuweilen die Klarheit, aber trotzdem brachte dieses Buch bereits mit großer Bestimmtheit den Abstand einer wahrhaftigen Kultur von der Zivilisation der Zeit zum Ausdruck. In seiner ursprünglichen Anlage mochte dieses Werk, das den Pessimismus der Stärke verherrlicht, die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers, die Kunst aber unter der Optik des Lebens sieht, nicht unmittelbar den Charakter einer Kampfschrift tragen. Aber indem Nietzsche versuchte, es mit Schopenhauer in Einklang zu bringen und von Wagner eine Erfüllung zu erhoffen, griff es unmittelbar in die zeitlichen Bewegungen ein und begegnete daher sowohl parteiischer Zustimmung als parteiischer Ablehnung. Wie Wagner selbst, so begrüßten auch seine Verehrer es mit Begeisterung. Voran Hans von Bülow, der Nietzsche persönlich aussuchte und einmal die ihm zunächst liegende unterbewußte Bewertung verriet, indem er irrtümlich seinen Titel als »Wiedergeburt der Tragödie« zitierte. Eine entgegengesetzte Stellung nahm das Gelehrtentum ein. Ein Bonner Professor erklärte mit Emphase das Buch als »baren Unsinn«; wer so etwas schreibe, sei »wissenschaftlich tot«. Selbst Ritschl[43] befürchtete, es könne die Jugend zu einer unreifen Verachtung der Wissenschaft verleiten, und Ulrich von Wilamowitz fühlte sich berufen, die traditionelle Beurteilung des Griechentums in einer Schrift »Zukunftsphilologie« gegen Nietzsche öffentlich zu verteidigen. Er hatte »von Winckelmann gelernt, das Wesen der hellenischen Kunst allein im Schönen zu sehen«, und erachtete von Nietzsche die Götterbilder in Trümmer geschlagen, »um das Götzenbild Richard Wagners in ihrem Staube anzubeten«.
Rohde, als tapferer Waffengefährte Nietzsches, trat mit einer Gegenschrift auf den Plan, die auf Overbecks Rat den Titel »Afterphilologie« erhielt. Vorher schon hatte Richard Wagner selbst in einem »Sendschreiben« sich mit polemischer Schärfe gegen die Angriffe gewendet und seinen jungen Freund aufgefordert, »aus dem edelsten Quell des deutschen Geistes Aufschluß und Weisung darüber zu geben, welcher Art die deutsche Bildung sein müsse, wenn sie der wiedererstandenen Nation zu ihren edelsten Zielen verhelfen soll«.
Der bleibende Wert von Nietzsches Buch liegt vor allem in der Unterscheidung des Dionysischen und Apollinischen, die zunächst von Burckhardt und Wagner aufgenommen wurde und heute allgemein geläufig ist. Eine weitere Bedeutung erhielt es durch die radikale Gegenüberstellung von Instinkt und Intellekt, von unbewußtem und bewußtem Sein. Wohl hatte schon Goethe gelehrt: »Alles was das Genie tut, geschieht unbewußt«, und es deutlich ausgesprochen: »Das Bewußtsein des Dichters ist eine schöne Sache, aber die wahre Produktionskraft liegt doch am Ende im Bewußtlosen.« Aber erst seitdem Nietzsche mit größter Schärfe bewiesen hat, daß die Sokratik den Instinkt zum Kritiker, das Bewußtsein dagegen zum Schöpfer machen wolle, während doch bei allen produktiven Menschen gerade umgekehrt der Instinkt die schöpferisch-affirmative Kraft sei: sind[44] wir der Einsicht nähergekommen, welche entscheidende Bedeutung dem Unbewußten im Leben des Menschen beizumessen ist, denn auch unsere Erkenntnis wird von unserem Triebleben bestimmt. »Der entfremdetste Kalkül und die höchste Geistigkeit der theoretischen Philosophie bleiben immer nur der letzte blasseste Abdruck einer physiologischen Tatsache.« In allem, was uns bewußt wird, dürfen wir nur Zeichen eines inneren Geschehens erblicken.
Ende April 1879 fand die Übersiedelung Wagners von Tribschen nach Bayreuth statt. Mit Wehmut nahm auch Nietzsche von dort Abschied. »Tribschen hat nun aufgehört zu sein. Wie unter lauter Trümmern gingen wir herum, die Rührung lag überall in der Luft, in den Wolken … ach, es war so trostlos.« Und noch viele Jahre später schrieb er in Erinnerung an seinen intimen Verkehr mit Wagner: »Ich lasse den Rest meiner menschlichen Beziehungen billig; ich möchte um keinen Preis die Tage von Tribschen aus meinem Leben weggeben, Tage des Vertrauens, der Heiterkeit, der sublimen Zufälle … der tiefen Augenblicke.«
Tribschen hatte aufgehört zu sein; aber Bayreuth stand nicht nur am Horizont seiner Hoffnungen, sondern bestimmte damals den Standpunkt, von dem aus er entschlossen blieb, sich der werdenden Kultur tätig zu opfern. Denn Opferwilligkeit war es, wahrlich nicht Streitsucht, was ihn antrieb, den aufreibenden Kampf gegen die Ideenlosigkeit der Zeit aufzunehmen, trotzdem ihm seine sensitive Natur davon abraten mochte. Daß er sich dessen recht wohl bewußt war, scheint mir ein Ausruf in der »Geburt der Tragödie« zu bestätigen: »Ach! Es ist der Zauber dieser Kämpfe, daß, wer sie schaut, sie auch kämpfen muß!«
Wer eine Sache um der Sache willen verteidigt, erfährt im Verlaufe des Streites gar oft, daß es dem Gegner gar nicht um diese zu tun ist, sondern daß ihn irgendwelche persönliche Motive leiten. Richard Wagner hat sich wiederholt über diese enttäuschende Erfahrung ausgesprochen. In der Tat waren gegnerische Angriffe aus verletzter Eitelkeit und anderen unlauteren Motiven weniger gegen seine Kunst als gegen seine Person gerichtet. Er sah sich dadurch gezwungen, auch seinerseits persönlich anzugreifen, um nicht gegen Windmühlen zu kämpfen. Solche Kämpfe wirken auf den Unbeteiligten leicht unerquicklich und mißverständlich.
Anders bei Nietzsche. Er hat keine persönlichen Feinde gehabt, und immer blieb es ihm vergönnt, seine Ideen um der Ideen willen zu verteidigen. Wo er selbst der Angreifende war, da galt der Kampf erst recht nicht einer Person als solcher, sondern einem Typus. In der »Geburt der Tragödie« verdichtete sich ihm Sokrates zu einem solchen Typus des theoretischen Optimisten, und als er sich zu »Bayreuther Horizontbetrachtungen« in der Gegenwart entschloß, ersah er in David Friedrich Strauß, dem Verfasser des »Bierbankevangeliums« vom »alten und neuen Glauben«, den Typus des »Bildungsphilisters«.
»Kultur ist vor allem Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäußerungen eines Volkes.« Der Einsichtige weiß, wie fern wir einer solchen Kultur sind. Nicht so der Bildungsphilister. Sein selbstgefälliger Optimismus fühlt sich wohl in dem chaotischen Durcheinander aller Stile. Er ahnt es gar nicht, daß er[46] Philister ist, sondern wähnt Musensohn und Kulturmensch zu sein. Kein Wunder! Denn für jene, die immer nur die Oberfläche der Dinge sehen, bedeutet er ja den liberalen Vorkämpfer für moderne Ideen. Strauß dringt niemals in die Tiefe. Warum sollte es daher seinem Bekennermut nicht genügen, für Reformgedanken einzutreten, die des Erfolges innerhalb der Gebildeten seiner Zeit gewiß sind? Strauß hat keinen Sinn für elementare Ursprünglichkeit und organisches Wachstum, wie es sich in der Sprache eines Volkes offenbart. Warum sollte daher sein Schriftstellertalent es nicht als ausreichend erachten, wenn es sich in der Schluderei einer phrasenhaften Schreibweise bei Gleichgesinnten verständlich macht? Als Strauß bald nach der Veröffentlichung dieser ersten »Unzeitgemäßen Betrachtung« nach schwerem Leiden verstarb, erschrak Nietzsche heftig über den Gedanken, ihm vielleicht die letzte Lebenszeit erschwert zu haben; denn seine Kriegspraxis lautete: ich greife nur Sachen an, die siegreich sind; ich greife nur Sachen an, wo ich keine Bundesgenossen finden würde, wo ich allein stehe; ich greife nie Personen an.
Wohl dachte Nietzsche daran, außer Strauß auch Schriftsteller wie Auerbach und Freytag, Gelehrte wie Gervinus und Kuno Fischer, Kritiker wie Lübke und Hanslick »unzeitgemäß« zu bekämpfen; aber schon aus den Namen ergibt sich, daß es auch hierbei sich nur um ihre typische Bedeutung für den Geschmack und die Gesinnung der Zeit handelte.
Aus den akademischen Vorlesungen wissen wir bereits, wie sehr Nietzsche jede bloße Belastung des Gedächtnisses, jede ziellose Maulwurfsarbeit verabscheute. Wohl brauchen wir Historie. Aber wir brauchen sie zum Leben und zur Tat, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der Tat. Der historische Sinn unserer Zeit kann ohne diese Zielsetzung uns leicht als hypertrophische Tugend zum Verderben gereichen.
Diese Einsicht, nicht etwa irgendeine gelehrte oder literarische Absicht, bestimmte Nietzsche zu seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung: »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben.« Die Geschichte gehört vor allem dem Tätigen und Mächtigen, der einen großen Kampf kämpft und seine Vorbilder nur in der Vergangenheit zu finden vermag. Dieser Tätige sieht die Geschichte monumentalisch, wohl auch mythisch. Noch weist Nietzsche die Möglichkeit ausdrücklich ab, daß bei dem Würfelspiel der Zukunft und des Zufalls je wieder das Gleiche herauskomme. Er warnt daher vor der Täuschung durch Analogien. Aber noch eine andere Gefahr lauert auf dem Wege: Regiert diese monumentalische Betrachtung, so leidet die Vergangenheit selbst Schaden. Dann werden nur einzelne Fakta gesehen, nicht die Fülle der Geschehnisse. Auch verführt sie zu dem verhängnisvollen Irrtum: seht das Große ist schon da, und der Betrachtende versäumt darüber, die wirkende Größe in der Gegenwart zu suchen.
Die Geschichte bedarf daher auch der Bewahrenden und Verehrenden, deren Pietät dem Leben dient. Aber ihre antiquarische Betrachtung nimmt jedes einzelne ohne Wertunterscheidung zu wichtig, mumisiert oft in blinder Sammelwut wo sie zu konservieren glaubt. Wie sollte es auch anders sein, da sie das frische Leben der Gegenwart weder beseelt noch begeistert. Sie läßt Kenner des Großen, aber keine Könner erstehen; sie bewahrt, aber sie zeugt nicht; denn sie verehrt nur, was war, und unterschätzt, was wird.
Besser steht es hierin um die dritte Betrachtungsweise: die kritische. Aber sie verfällt, wie alle Kritik, leicht in den entgegengesetzten Fehler. Nicht in eine unmäßige Bejahung aber in eine zu weit gehende Verneinung dessen, was war. Sie zeigt uns den Versuch, sich gleichsam nachträglich eine Vergangenheit zu geben, aus der man stammen möchte, im Gegensatz, zu der, aus der man stammt.
Jede dieser Arten der Betrachtung nennt daher Nietzsche heilsam, sofern sie dem produktiven Leben dienen, aber schädlich, sofern sie ihm widerstreben. Gegen die Heilsamkeit versündigt sich die Historik unserer Zeit, gleichviel ob sie sich monumentalisch, antiquarisch oder kritisch verhält, sobald sie die Wissenschaftlichkeit überbetont nach dem Grundsatz: fiat veritas, pereat vita. Die Geschichte lehrt uns dann nicht zu wenig, sondern zu viel. »Man sollte sogar nicht mehr von einer Sache wissen, als man auch schaffen könnte.« Unsere Pädagogen mögen es sich daher gesagt sein lassen: Jedes historische Wissen, das ohne Bedürfnis aufgenommen wird, erweist sich als hemmende Last. Es ist wohl Wissen um die Bildung, aber es erwächst aus ihm kein Bildungs-Gefühl, kein Bildungs-Entschluß.
Ein lebendig wachsendes Volk wird also gegenüber jener Wissenschaftlichkeit instinktiv einen gesunden unhistorischen Sinn bewahren müssen, sonst vermag es keine starken Persönlichkeiten zu züchten, noch neue Erlebnisse im Unbewußtsein zu künstlerischen Ideen ausreifen zu lassen. Die Kunst flieht, wenn ein Volk seine Taten sofort mit dem historischen Zeltdach überspannt. Wirkt hinter dem historischen Trieb kein Bautrieb, dann wird der schaffende Instinkt entkräftet; denn die Geschichte wird nur von starken Persönlichkeiten ertragen, die Schwachen löscht sie vollends aus.
Solche Entkräftung und Lähmung hat dazu geführt, daß heute antiquarische Spätlinge greisenhaft passiv mit Spengler vom »Untergang des Abendlandes« reden, während Nietzsche dem mittelalterlichen memento mori Goethes memento vivere entgegensetzt und in ungebrochener Schaffensfreude fragt: »Was wollen denn ein paar Jahrtausende besagen, um im Anfang einer solchen Zeit noch von ›Jugend‹, am Schlusse bereits vom ›Alter der Menschheit‹ reden zu können?« Wollen wir wissen, wie sich Nietzsche zu einem solchen Fatalismus,[49] der die lebenfördernde Illusion ausschließt, gestellt hätte, so können wir die Auskunft hierüber den Angriffen entnehmen, die er gegen den Verfasser der »Philosophie des Unbewußten« richtete. Ed. von Hartmann spricht von einer Hingabe an den »Weltprozeß«. Ein Wort, das Nietzsche ganz besonders haßte. Auch Hartmann glaubte wie Spengler »Geschichte vorausbestimmen« zu können. Er gelangte dabei zu der Folgerung: die Zeit bedarf nicht mehr der Genies; denn sie schreitet voran zu einem Stadium der sozialen Entwicklung, die jedem Arbeiter genügend Muße läßt, »ein komfortables Dasein« zu führen. Dieser Ausschaltung der Höherentwicklung des Lebens schleuderte Nietzsche als individualistischer Streiter das Wort entgegen: »Nein, das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern nur in ihren höchsten Exemplaren.« Und darum gilt es die »historische Krankheit« zu überwinden, gleichviel ob sie uns optimistisch glauben macht, wir sähen vermöge der sozialen Entwicklung den Höhepunkt unmittelbar vor uns, oder ob sie fatalistisch uns auf den Untergang verweist. Nicht der Gelehrte, der nur ein Gewordenes, ein Historisches sieht, sondern der freie Gebildete, der nach einem Seienden, Ewigen ausschaut, gebraucht die Geschichte im Dienste des Lebens. Nicht cogito ergo sum, sondern vivo ergo cogito! muß unsere Losung heißen.
Es gibt drei Bilder des Menschen, welche unsere Zeit hintereinander aufgestellt hat zur Verklärung ihres eigenen Lebens. In der dritten unzeitgemäßen Betrachtung: »Schopenhauer als Erzieher« widmet sich Nietzsche ihrer Prüfung. Da ist zunächst der Mensch Rousseaus, der gegenüber der zivilisatorischen Verlogenheit in seiner Not die heilige Natur anruft. Nur die Natur ist gut, nur der natürliche Mensch ist menschlich. Aus solcher Erkenntnis vermögen furchtbare Entschlüsse revolutionärer Umgestaltung zu erwachsen.
Da ist ferner der Mensch Goethes (Faust).[50] Dieser könnte als das höchste und kühnste Abbild vom Menschen Rousseaus gelten, wenn er zugleich der eigentliche, gleichsam religiöse und dämonische Genius des Umsturzes wäre, die verneinende Kraft aus Güte. Aber der Mensch Goethes weicht hierin dem Menschen Rousseaus aus; denn er haßt jedes Gewaltsame, jeden Sprung – das heißt aber: jede Tat. Der Goethesche Mensch ist der beschauliche Mensch im hohen Stile, eine erhaltende und verträgliche Kraft. Ein wenig mehr Wildheit und seine Tugenden würden größer sein. Das hat Goethe selbst empfunden. »Sie sind verdrießlich und bitter, läßt er Jarno zu Wilhelm Meister sagen, das ist schön und gut, wenn sie nun einmal recht böse werden, so wird es noch besser werden.«
Man achte auf diesen Gedankengang, um zu begreifen, warum Nietzsche die Verböserung des Menschen verlangte. »Es ist nötig, daß wir einmal recht böse werden, damit es besser wird.« Nicht die Auflehnung des Rousseauschen Menschen gilt Nietzsche als das Ideal, denn in dieser Auflehnung liegt das Rachegefühl der Massen versteckt; aber auch nicht die Beschaulichkeit und Verträglichkeit des Goetheschen Menschen kann das eigentliche Ziel sein, denn hier fehlt die Umsetzung in die entscheidende Tat; wonach Nietzsche verlangt, das ist jene Art zu verneinen und zu zerstören, welche gerade der Ausfluß nach etwas ewig Unzerstörbarem ist. Diese Aufgabe erfüllt der Schopenhauersche Mensch. Dieser ist für sich und sein persönliches Wohl von wundersamer Gelassenheit, in seinem Erkennen voll starken verzehrenden Feuers; hoch emporgehoben über griesgrämige und verdrießliche Betrachtung nimmt er das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit auf sich, erwirbt er jene Art zu vernichten, welche der Ausfluß der Sehnsucht ist nach etwas Ewig-Unzerstörbarem. Er weiß, daß es der Weg des Leidens ist, aber nicht jenes sinnlosen Leidens des Tierlebens, sondern ein heroischer Lebenslauf, der zum Menschen hindrängt, aber als zu einem Etwas, das[51] hoch über uns steht. Alles andere ist Fortsetzung der Tierheit, ist Flucht vor uns selbst. »Denn dein wahres Wesen liegt nicht tief verborgen in dir, sondern unermeßlich hoch über dir, oder wenigstens über dem, was du gewöhnlich als dein Ich nimmst.« Auch über dem größten Menschen erhebt sich sein eigenes Ideal.
Dieser streitbare Mensch, den unser Philosoph den Schopenhauerschen Menschen nennt, ist in Wahrheit der Nietzschesche Mensch.
Wir sehen von jeder Persönlichkeit zunächst nur die Erscheinung ihres Spiegelbildes. Lebendig wird diese Erscheinung erst dann, wenn wir ihr unser eigenes Blut einflößen. Nun wäre gewiß nichts verkehrter, als den innerlich unbeteiligten Zuschauer des Lebens, den zum Beispiel Kuno Fischer in Schopenhauer sah, für irgendwie echter zuhalten, als den aktiven Kämpfer, den Nietzsche erblickte. Nietzsche erschloß sich die Idee Schopenhauer, Fischer ersah nur die Realität, die gegenüber der Idee immer an Würde Einbuße erleidet.
Außer der Ehrlichkeit rühmt Nietzsche als eine hervorragende Eigenschaft an Schopenhauer eine »wirkliche erheiternde Heiterkeit«. Das ist nur dann mißverständlich, wenn man an den wohlfeilen Optimismus eines oberflächlichen Heiterlings denkt, der sich blind gegen die Leiden der Welt verhält. Was dagegen Nietzsche tief auf dem Grunde sieht, das ist die Heiterkeit des Siegers, der, weil er das Tiefste gedacht, gerade das Lebendigste lieben müsse. Auch diese Deutung bekundet uns den subjektiven Anteil Nietzsches an seinem Idealbild Schopenhauers. Nur Nietzsches lebenbejahender Pessimismus konnte dazu gelangen, mit Goethe auszurufen: »Was ist doch ein Lebendiges für ein herrliches, köstliches Ding! Wie abgemessen zu seinem Zustande, wie wahr, wie seiend!« Während Schopenhauer verkündete: »Alles ist schön zu sehen, aber entsetzlich zu sein.«
Und doch wäre es verkehrt zu glauben, Nietzsche habe[52] wohl von Schopenhauer gesprochen, aber dabei bewußt sich selbst gemeint. Jede Größe beginnt damit, daß man Großes liebt und in seinem eigentlichen Wesen erkennt. So empfängt man die erste Weihe der Kultur. In diesem Sinne liebte Nietzsche Schopenhauer und Wagner. Aber die Kultur begnügt sich nicht mit solchem inneren Erlebnis, sondern sie verlangt – das kann nicht oft genug wiederholt werden – zuletzt und hauptsächlich die Tat. Also den Kampf gegen alles, was dem hohen Ziele der Kultur, den wahren Menschen zu finden, widerstrebt, sei es die Selbstsucht der Erwerbenden, die da glauben zwischen Intelligenz und Besitz, zwischen Reichtum und Kultur bestehe ein notwendiges Band, sei es die Selbstsucht des Staates, der die großen Massentriebe als das Wichtige und Hauptsächliche in der Geschichte nimmt, sei es die Selbstsucht aller derer, die sich verstellen und hinter der eleganten Form ihre Barbarei verstecken.
Wir rufen bei so vielen Dingen – und nicht erst seit heute – nach Führern, die uns aus der Irre auf den rechten Weg leiten sollen und sind ohne Widerstand bereit, ihnen zu folgen, nur nicht – in Dingen der Kultur. Daß andere in Wissenschaft und Kunst mehr wissen und können, gestehen wir ihnen mehr oder minder einsichtig zu, aber daß wir auch der Erzieher und Führer bedürfen auf dem Wege zu uns selbst, daß große Denker und Dichter nicht darum denken und dichten, um vor der »öffentlichen Meinung« wie vor einer Prüfungskommission zu bestehen, daß sie ihre Erfolge nicht darin suchen, daß wir ihnen gleich den Schauspielern Beifall spenden, sondern ihnen folgen, indem wir uns nach ihrem Bilde mit wetteifernder Seele wandeln: dagegen ist allezeit ein passiver Widerstand unseres Behagens wach. Nietzsche hat ihn als Trägheit charakterisiert mit dem treffenden Wort: Öffentliche Meinungen – private Faulheiten!
Das Schrecklichste für den Schüler ist, daß er sich am Ende doch gegen den Meister wieder herstellen muß. Je kräftiger das ist, was dieser gibt, in desto größerem Unmut, ja Verzweiflung ist der Empfangende.
Goethe.
Goethes Aufforderung, die Sache der Menschheit als die eigene zu betrachten, ist vielleicht von keinem großen Geiste mit solch leidenschaftlicher Hingebung befolgt worden, wie von Nietzsche. Wenn wir Idealismus das Streben nennen, Ideen und Ideale im individuellen und sozialen Leben zu verwirklichen, so müssen wir vor allem den einen Idealisten nennen, der seine Aufgabe darin sah, das ganze kulturelle Leben in diesem Sinne von Grund aus neu zu gestalten. Als geniale Vorbilder dieses Idealismus verehrte Nietzsche sowohl Schopenhauer als Wagner. Aber während der Vergleich zwischen Idee und Wirklichkeit Schopenhauer zur pessimistischen Verneinung des Lebens selbst führte, verwarf Nietzsche nur den flachen Optimismus, der sich an den Errungenschaften der zeitlich gegebenen Lebensverhältnisse genügt, nicht aber den Willen zum Leben selbst.
Die Abwendung von Schopenhauer konnte also nicht ausbleiben; aber sie mußte nicht notgedrungen auch eine Abwendung von Wagner zur Folge haben; denn als Künstler bejahte auch dieser das Leben. »Die Schöpfungen der Kunst sind das höchste Lustziel des Willens.« Wohl aber ergibt sich die Frage: Vertrug sich Nietzsches Verehrung für Wagner mit seiner Hochschätzung der Antike und der »Gesundheitslehre des Lebens«, die er der Antike entnahm? Vereinigte Wagners Werk in der Tat das Dionysische und Apollinische wie die antike Tragödie? Oder stand Wagner nicht doch auf dem Boden des Christentums, gleichviel ob er sich dessen bewußt war oder nicht?
Antike und Christentum, Renaissance und Reformation, Bejahung des Lebens zugunsten seiner Steigerung und Verneinung des Lebens zugunsten des Seelenheils: das waren für Nietzsche sich ausschließende Gegensätze, die von dem Bekenner eine unbedingte Entscheidung verlangten. Wohl kann der Dramatiker seine Künstlerliebe den Vertretern der beiden Kontraste in gleicher Weise zufließen lassen, wie es bei Wagner in der Tat der Fall ist, und in dem einen Werk den Sieg des selbstherrlichen Individuums – man denke an Walter Stolzing und Siegfried – feiern und im anderen Werk im Gegensatz hierzu – man denke an Tannhäuser und Parsifal – die Aufgebung der Persönlichkeit zugunsten einer metaphysischen Alleinheit darstellen; aber damit wird die Frage nicht ausgeschieden, wozu er und seine Kunst sich letzten Endes bekennen. Nietzsche glaubte bei Wagner an die Bejahung des Lebens im Sinne der Antike. Er vermeinte, seine Kunst könne den Deutschen das »abgestandene Christentum« völlig verleiden, seine deutsche Mythologie könne sich als abschwächend erweisen und an Polytheismus gewöhnen. Aber nicht erst die Einsicht in die christlichen Tendenzen Wagners führte Nietzsches Abwendung herbei, sondern diese vollzog sich auf ästhetischem Gebiet. Kunst im Sinne der antiken Tragödie oder modernes Theater? Das war die entscheidende Frage. Geburt einer apollinischen Vision aus dem dionysischen Geiste der Musik oder naturalistisch wirkender Schein der Szene, der sich die Musik unterwirft? Wird der szenische Vorgang künftig in seinem eigentlichen Wesen nur eine Verbildlichung der tiefinnerlichen Vorgänge sein, wie wir sie in den Symphonien Beethovens erleben, oder bestimmen umgekehrt Szene und Sänger den Charakter der Musik?
Schon als Wagner in der Hinzuziehung des Chorgesanges in der Neunten Symphonie ein feierliches Bekenntnis über die Grenzen der absoluten Musik und eine[55] Erlösung zur allgemeinen Kunst sah, nannte Nietzsche diese Auffassung einen »ungeheueren ästhetischen Aberglauben«; denn nicht nach dem unverständlich bleibenden Wort, sondern nach dem »angenehmeren und freudevolleren« Laut habe der Symphoniker begehrt. Diesem Ausspruch kommt symptomatische Bedeutung zu; denn sie beweist, daß Nietzsche niemals, auch nicht zur Zeit seiner wärmsten Wagnerverehrung, in einer gleichberechtigten Vereinigung der Künste im Theater an sich ein Ziel sah, das den hohen Wert der absoluten Musik überrage.
Während Wagner den Dichter als Erzeuger und die Musik als Gebärerin bezeichnete und somit Dichtkunst und Musik in seinen Werken als gleichwertig anerkannt wissen will, sah Nietzsche in dem Umstand, daß der Text bei Wagner noch bestimmend auf die Musik wirkt, nur eine Nachwirkung der Operntendenz und nannte die Forderung eines dramatischen Sängers, der die Musik alteriere, an sich eine Unnatur.
Nur wenn wir uns Nietzsches entschiedene Antipathie gegen alles Theatralische in voller Deutlichkeit vorstellen, können wir das wahre Bild seiner Anschauung gewinnen. Dann aber lautet das Problem für uns nicht mehr, wie konnte Nietzsche zum Gegner Bayreuths werden, sondern: wie war es möglich, daß er nicht von Anfang an sich seines Gegensatzes bewußt wurde? Die Erklärung hierfür ergibt sich aus fünf Umständen:
Nietzsche wußte sich eins mit Wagner in der Verehrung Schopenhauers.
Er fand bei Wagner die gleiche Geringschätzung für das, was die Gebildeten in Deutschland irrtümlich Kultur nannten und was Wagner als »Kriegszivilisation« bezeichnete.
Er begeisterte sich für »Tristan und Isolde«, als er dieses Werk, das dem Theatralischen am fernsten steht, zunächst aus dem Klavierauszug kennen lernte und dann in München unter Bülows Leitung hörte.
Sein persönlicher Verkehr mit Wagner ließ vor ihm das Bild des Genius erstehen, in dessen Dienst sich zu stellen nach Schopenhauer als vornehmste Aufgabe dessen gilt, der die kulturelle Entwicklung seines Volkes fördern will.
Und endlich: er gab sich dem Glauben hin, in Bayreuth werde eine neue Kunstform als endgültiger Sieg über alle Theatralik erstehen.
Hier ergibt sich für uns die Frage: Wie dachte sich Nietzsche diese Kunstform? Wir wissen bereits, daß er die antike Tragödie als eine aus dem Geiste der Musik erstandene Vision einschätzte. Musik und Mimus erschienen ihm als das Wesentliche. Da auch Wagner den allergrößten Wert auf das Ansich-Verständliche der Handlung, also auf den Mimus, legte, kam Nietzsche zu dem Schluß, Wagner strebe unbewußt eine Kunstform an, in der das Urübel der Oper überwunden sei, nämlich: »die allergrößte Symphonie«, deren Hauptinstrumente einen Gesang singen, der durch die Handlung versinnlicht werden kann.
Deckte sich diese Voraussetzung in der Tat mit dem, was Wagner durch Vereinigung aller Künste als seine Aufgabe erkannt hatte, widersprach diese Unterordnung des Wortes nicht grundsätzlich seinem Ziel? Wir dürfen es uns versagen, von uns aus diese Frage zu beantworten, denn Nietzsche selbst wurde sich der Gegensätzlichkeit seiner Anschauung zu der Wagners mit wachsender Deutlichkeit bewußt. So ergaben sich für ihn nur zwei Möglichkeiten. Entweder er bekehrte sich zu dem Ziel Wagners, oder er gestand sich ein: hier scheiden sich unsere Wege.
Daß seiner Natur nur diese letztere Entscheidung offen stand, wird uns klar, wenn wir beachten, mit welchem Eifer er »den widerwärtigen Anblick des Sängers« betonte, sich gegen »die Falschheit« des Begriffes dramatische Musik auflehnte, und welche symptomatische Bedeutung er dem Widerstand beimaß, dem Wagners[57] Streben begegnete, und darin nicht mehr Unverständnis, sondern instinktive Abneigung sah.
Einsicht und Wunsch lagen längst miteinander im Streite, ehe er sich dessen bewußt wurde. Sein Sehnen und tiefinnerliches Seelenbedürfnis waren darauf gerichtet, in hingebender, wohl aber die Selbständigkeit des Urteils bewahrender Freundschaft gemeinsam mit Wagner den Kampf für eine Regeneration des deutschen Wesens zu führen.
Reichere Lebenserfahrung ließ Wagner viel früher als Nietzsche die Gefahren ahnen, die ihrer Freundschaft aus den unterbewußten Gegensätzlichkeiten ihrer Anschauungen drohten. Immer wieder ergaben sich gelegentliche Mißhelligkeiten, die in den Biographien Nietzsches meist nur als unbegründete Mißverständnisse beurteilt werden. Frau Förster erklärt sie aus einem Hang zum Mißtrauen bei Wagner, aber wenn wir in die Tiefe blicken, ergibt sich uns eine dumpfe Empfindung Wagners für Nietzsches Gegensätzlichkeit zu seiner eigenen Natur und wohl auch zu seinem hohen Ziele.
Wohl ließ auch Nietzsche das Theater als einzige Basis zu einer künstlerischen Regeneration der Massen gelten; aber als das Bayreuther Unternehmen während der nächsten Jahre zu scheitern drohte, da drängte ihn seine leidenschaftliche Wahrheitsliebe dazu, wenigstens sich selbst Rechenschaft darüber zu geben, warum es also sei. Aus seinem Nachlaß wissen wir, daß er sich damals, im Jahre 1874, also zwei Jahre vor den ersten Bühnenfestspielen, zugestand, was alles ihn an Wagner fremd anmutete. Er sah in Wagner einen »versetzten Schauspieler«, der den Menschen nur als den wirksamsten und wirklichsten nachahmen will: im höchsten Affekt, und gelangt in diesen niedergeschriebenen Selbstgesprächen, ungemein charakteristisch für seine antitheatralische Natur, zu dem Ausruf: »Das Berauschende, das Sinnliche, Ekstatische, das Plötzliche, das Bewegtsein um jeden Preis[58] – schreckliche Tendenzen!« Schon sieht er auch in Wagners Theatralik, die tapfer gegen eine kunstwidrige Zeit ankämpft: »Gift gegen Gift«.
Man muß sich diese widerstreitenden Gefühle und Gedanken veranschaulichen, um zu begreifen, wie schwer es Nietzsche fiel, seine vierte unzeitgemäße Betrachtung zu vollenden: »Richard Wagner in Bayreuth«. Wagners Lebenslauf war ihm aus dessen in wenigen Exemplaren für seine Freunde gedruckter Selbstbiographie bekannt, er lernte dort einen heftigen Willen in jäher Strömung kennen und meinte, »mit einem engen Geiste verbunden, hätte ein solcher Wille bei seinem schrankenlosen tyrannischen Begehren zum Verhängnis werden können«; aber er kannte, dank der Werke und seinem persönlichen Verkehr, auch »die schöpferische schuldlose, lichtere Sphäre« im Wesen Wagners und vergegenwärtigte sich den Widerstreit und die erschütternden tragischen Konflikte, die aus Wagners Doppelnatur folgten, um die Ausdauer zu bewundern, mit der er seinem höheren Selbst Treue hielt, das Gesamttaten seines vielstimmigen Wesens verlangte.
Aber immer wieder kommt dabei der Widerspruch seiner eigenen Natur gegen jede Hingebung an den Affekt zum Vorschein und läßt uns die innere Abkehr von Bayreuth auf das stärkste miterleben. Sie bedeutet zugleich Nietzsches Abkehr von seiner seitherigen hohen Einschätzung der Kunst überhaupt. Er fragt sich, welche Aufgabe ist der modernen Kunst zugewiesen, und antwortet: Stumpfsinn oder Rausch! So oder so verlangt die moderne Seele wenigstens für Augenblicke das Gewissen zum Nichtwissen zu bringen. Die Kunst soll ihm nicht etwa zur Unschuld zurückverhelfen, sondern nur über das Gefühl der Schuld hinweghelfen. Wer die unentweihte Heiligkeit der Kunst, wie die Griechen sie besaßen, wiederherstellen wollte, der müßte sich selber erst von der modernen Seele befreit haben. Wie verräterisch[59] über seine aus der Tiefe aufsteigenden Widersprüche klingen die Worte: »Indem der Betrachtende scheinbar der aus- und überströmenden Natur Wagners unterliegt, hat er an ihrer Kraft selber Anteil genommen und ist so gleichsam durch ihn gegen ihn mächtig geworden; und jeder, der sich genau prüft, weiß, daß selbst zum Betrachten eine geheimnisvolle Gegnerschaft, die des Entgegenschauens gehört.«
Noch lehnt er nicht den dithyrambischen Dramatiker ab, noch erachtet er sich hierzu nicht berechtigt, denn zunächst gilt es, Bayreuth zur Tat werden zu lassen, aber schon drängt sich ihm die Frage auf: wieso vermag die Kunst zu einer Gefahr zu werden? Er antwortet: Wenn der Genießende die Kunst so ernst nimmt, wie es nur der Schaffende darf und vermag, liegt die Versuchung nahe, das Leben selbst zu leicht zu nehmen. Die Überschätzung der Kunst steigert die Sehnsucht nach der Höhe, aber sie lähmt die Sehnsucht aus der Höhe nach der Tiefe, das liebende Verlangen zur Erde (»Freunde bleibt der Erde treu!«) und zum Glück der Gemeinsamkeit. Wohl wehrte sich Wagner mit Energie gegen jede Art von Kunst, die sich nur als Luxus gibt, und strebte die Sprache des einzigen bisherigen Künstlers zu sprechen, »des dichtenden Volkes«; wohl gelang es ihm in »Tristan und Isolde« das eigentliche Opus metaphysicum aller Kunst zu schaffen, in den »Meistersingern« die wahre deutsche Heiterkeit aufsprießen zu lassen, die der Gegenwart fehlt, aber Werk um Werk wurde von der Zeit nur als Mittel zur Befriedigung ihrer Scheinbedürfnisse genommen; wohl schienen ernsthafte Freunde eine unterirdische Bewegung vieler Gemüter anzukündigen und damit vielleicht den Keim einer in ferner Zukunft vollendeten wahrhaft menschlichen Gesellschaft.
Wird diese Bewegung sich wirklich als mächtig genug erweisen, die Kunst in den Dienst eines neu zu gestaltenden Lebens zu stellen? Davon, wie sich diese Frage[60] beantworten wird, hängt für Nietzsche nicht nur die Bedeutung Bayreuths, sondern auch der Kunst als solcher für unsere Zeit ab. Jedes Kunstwerk widerspricht sich selbst, wenn es sich nicht in seinem wahren Sinne zu verstehen geben kann. »Damit ein Ereignis Größe habe, muß zweierlei zusammenkommen: der große Sinn derer, die es vollbringen, und der große Sinn derer, die es erleben.« Bleibt dieser Zusammenklang aus, so ist auch das Werk verurteilt, denn »an sich hat kein Ereignis Größe«. Erst indem es seinen gewollten Zweck erreicht, wird es Erfüllung. Nur wenn in Bayreuth der aus dem Geiste der Musik heraus miterlebende Zuhörer, nicht aber der sentimentalische Zuhörer, der als moralisches Wesen dem Affekt gehorcht, über den Erfolg entscheidet, nur dann erfüllt es seinen Zweck. Denn jedes Theater als solches bedeutet als ein für die Massen Zurechtgebogenes ein Unterhalb der Kunst. Das Theater darf nicht Herr über die Künste werden!
Also glaubend und zweifelnd, hoffend und fürchtend, fühlte sich Nietzsche verpflichtet, für Bayreuth mit warmherziger Beredsamkeit, mit tiefgründiger Begeisterung werbend und fördernd einzutreten und seinem Bedenken, ob vom Theater aus die Kunst zu regenerieren sei, ein »fünfjähriges pythagoreisches Schweigen« aufzuerlegen. Erst mußte das Werk zur Tat werden, mußte es von der Bühne herab in voller Lebendigkeit zeigen, ob es nicht doch die berufene Zuhörerschaft fände und sich als Morgenweihe des Kampfes um die Kultur zu bewähren vermöge.
Krankheit verhinderte Nietzsche, 1875 Wagners Einladung zu folgen und den Studien und ersten Proben beizuwohnen. So kam er erst 1876 zu den ersten Bühnenfestspielen nach Bayreuth – und fand sich auf das tiefste enttäuscht! Nein, das war nicht das von ihm in höchster Idealität erhoffte Fest, dem nur Berufene, unzeitgemäße Menschen, ideale Zuschauer beiwohnten, sondern Wagner[61] hatte, durch die finanziellen Nöte gezwungen, die Pforten des Hauses auch den Neugierigen und Schlechtgesinnten öffnen müssen. Diese gaben in Nietzsches Augen dem Fest das Gepräge. Auch zu Wagners Leidwesen. »Das ursprünglich projektierte Unternehmen ist also eigentlich vollkommen gescheitert,« schrieb er schmerzerfüllt schon vor den Festspielen an meinen Vater im Hinblick auf die Notwendigkeit, außer den Patronen auch Neugierige zuzulassen. Wagner vermochte einen Trost darin zu finden, daß es ihm trotz aller Mißgunst der Verhältnisse gelungen war, das große Beispiel einer stilgemäßen Aufführung seines Werkes zu ermöglichen (»O Freund Heckel, es war doch gut!«) Nietzsche aber sah nur das Scheitern seiner aufs höchste gespannten kulturellen Hoffnungen. Nun bedeutete auch das Werk selbst nicht mehr für ihn »die allergrößte Symphonie«, sondern die »große Oper«. Wagner vermochte sich immerhin der Wirkung auf die wahrhaft Berufenen erfreuen, Nietzsche sah nur die Heftigkeit der Nervenwirkung auf die Unberufenen. Der berauschende Einfluß der Musik, den er schon vorher als verhängnisvoll befürchtete, entsprach in keiner Weise der Mäßigung der Alten, welche ihm als der menschlichen Natur gemäß galt. Er schauderte vor dem Naturalismus der Gebärde, des Gesanges im Vergleich zum Orchester. Gewiß, Wagners Werk blieb das höchste, was die moderne Kunst zu bieten vermochte, aber es bedeutete nicht ein allgemeines Bad der Seelen. »Dort erwacht der neue Genius, dort entfaltet sich ein Reich der Güte!« hatte Nietzsche als Idealist in glühender Begeisterung verkündigt, und nun sah er seine Erwartungen enttäuscht, seine schönsten Hoffnungen vernichtet, vorzeitig reiste er von Bayreuth ab … »sein Auge war mit Tränen erfüllt«.
Die innere Tendenz, unmittelbar eine völlige Harmonie zwischen dem spekulativen und dem tätigen Leben herzustellen, muß schließlich als das glückliche Vorrecht des positiven Geistes betrachtet werden.
Comte.
Wo wir liebend verehren, erscheint es unserem Gefühl als Frevel, nüchtern erkennen zu wollen. Das ist gut so. Denn zur Liebe gehört die Scham und Achtung vor der Atmosphäre, welche die verehrte Person oder Sache umgibt. Was dem Enthusiasten als Wahrheit erscheint, gilt dem Zyniker als Illusion. Aber vielleicht nur darum, weil ihm das Organ zu wesenhafter Einfühlung, das die Liebe besitzt, mangelt. Wir können und dürfen nicht immer so werten, wie wir ohne Ehrfurcht erkennen; denn solche Erkenntnis erweist sich unter Umständen als lebensfeindlich. Der Duft einer Blume läßt sich nur zerstören, indem wir die Blume selbst vernichten. Den Wert der Illusion für das Leben mit gutem Gewissen zu verteidigen, bleibt also eine Aufgabe für jeden, der das Leben als solches schätzt.
Wie aber nun, wenn unsere höchste Liebe und Verehrung der Erkenntnis selbst gilt? Müssen wir dann nicht aus Liebe jedem anderen Gefühl verehrender Illusion zu Leibe rücken, also doch die Atmosphäre durchbrechen? Wir müssen es sowohl in der Erforschung des Nicht-Ichs als auch gegenüber uns selbst. Ein Zwang voll verhängnisvoller Tragik: »Selbstkenner – Selbsthenker«. Bei Nietzsche hat sich diese Tragik in erschütternder Weise vertieft; denn seine Liebe gilt nicht nur der Idee der Erkenntnis, sondern gleichzeitig der Illusion des Lebens.
Nur wer das Problem, das dieser Zwiespalt darbietet, in seiner Tiefe fühlt und denkt, begreift, welche Anforderung es an Nietzsche stellte. Der unreinlich denkende Mensch hilft sich durch Kompromisse; der reinlich[63] scheidende muß seine Meinungen wechseln, wie man abgetragene Kleidungsstücke wechselt. Aber gerade dieser Wechsel von Überzeugungen aus Überzeugung, diese Untreue aus Treue bleibt den meisten Menschen versagt. Nur wo dieser höchste Heroismus einer radikalen Entscheidung vorhanden ist, erblickt Nietzsche Seinesgleichen. Das ist der tiefe Sinn seines Wortes: »Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt.« Glaube daher niemand, Nietzsche, den Menschen und Denker, zu kennen, dem sich nicht in voller Bedeutung dieser Heroismus erschließt, der Nietzsche zu einer tragischen Erscheinung von seltener Größe machte.
Nach Protagoras ist der Mensch das Maß aller Dinge. Die Wahrheit ist etwas Relatives. Das heißt: sie ist nur gültig im Verhältnis und im Vergleich zu etwas. Es gibt keine absolute, von solchen Vergleichen unabhängige Wahrheit. Die einzige Möglichkeit, die blind schauende Liebe und die sehend geblendete Erkenntnis zu einer Einheit zu verbinden, bot sich Nietzsche durch die Einsicht in die Relativität aller menschlichen Wertungen. Radikaler Relativismus, so paradox diese Bezeichnung klingen mag, wurde sein Ziel. Sein Ziel, aber nicht etwa die gegebene Voraussetzung. Und darum erforderte es Kämpfe, die sich in seinem Wesen erschütternd abspielten und in seinen Werken mit wuchtiger Leidenschaft zum Ausdruck gelangten.
Er hat, solange die idealistische Verehrung in ihm die Übermacht hatte, Schopenhauer und Wagner im ganzen bejaht und im einzelnen verneint, und er hat, als der positivistische Erkenntnistrieb die Übermacht erlangte, Schopenhauer und Wagner im ganzen verneint, aber im einzelnen bejaht. Darin lag keinerlei friedsam vermittelnde Willkür, sondern eine kriegerisch entscheidende Notwendigkeit, um seinem relativistisch wertenden Selbst den Sieg zu bereiten. Man verwechsle jedoch Relativismus nicht mit Objektivität. Diese will die[64] Stimme des Subjekts ausschalten, jener will beide Stimmen harmonisch vereinigen.
Man macht es sich zu leicht, wenn man nur zwei polar verschiedene Perioden, jene der Verehrung und jene der Erkenntnis, bei Nietzsche unterscheidet und nicht da wie dort das vorherrschende Streben nach dem Indifferenzpunkt der beiden Pole erkennt, also das Verlangen nach einem Bogen über den Gegensätzen, im Auge behält. Sein Verhältnis zu Schopenhauer und Wagner bietet die auffälligsten, aber nicht die einzigen Beispiele freundlich-feindlich abwägender Urteile.
Im Jahre 1870 erhielt Nietzsche von seiner Schwester die Werke von La Bruyère und Vauvenargues und von Frau Wagner die Werke von Montaigne zum Geschenk. Die Wirkung der französischen Moralisten auf ihn war eine außerordentliche. Nicht nur daß er bei ihnen den Aphorismus schätzen lernte, sondern er fühlte sich bei den Genannten unter Einschluß von Fontenelle und Chamfort dem Altertum näher als bei irgendwelcher Gruppe anderer Völker. Sie bedeuteten ihm ein wichtiges Glied der großen und fortdauernden Kette der Renaissance. Nietzsche schätzte ihre Helligkeit und zierliche Bestimmtheit, sowie den französischen Witz des Ausdrucks. Sie haben ohne Zweifel den kristallhellen Stil seiner Aphorismen günstig beeinflußt.
Bereits in seiner dritten Unzeitgemäßen Betrachtung schrieb Nietzsche: »Ich weiß nur noch einen Schriftsteller, den ich betreff der Ehrlichkeit Schopenhauer gleich, ja noch höher stelle: das ist Montaigne. Daß ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust auf dieser Erde zu leben vermehrt worden.« Montaigne war Relativist, so gut wie Goethe. Als Relativist bewährt sich auch Nietzsche in seiner Beurteilung der französischen Moralisten. Bei aller Achtung vor ihrer feinsinnigen Behandlung subtiler Probleme, tritt doch seine Gegensätzlichkeit,[65] besonders in der Frage des Pessimismus, zutage. Bei La Bruyère empfand er widerstrebend eine aus der untergeordneten gesellschaftlichen Stellung entspringende Gedrücktheit, bei Fontenelle bezweifelte er, ob dem Autor nicht selbst seine unsterblichen Totengespräche als Parodien eines unbedenklichen Witzes galten, bei Chamfort beklagte er, daß der Instinkt der Rachsucht, als mütterliches Erbe, sich stärker erwies als seine Weisheit und ihn in der Revolutionszeit das Gewand des Pöbels anziehen ließ, als seine Art von härener Kutte, und bei dem vornehmsten aller Menschenverächter, bei La Rochefoucauld, schätzte er wohl die klare Erkenntnis der Triebfedern der menschlichen Seele, verwarf aber ihre »christlich verdüsterte Beurteilung«.
Diese Aussprüche sind zum Teil im Buch für freie Geister »Menschlich-Allzumenschliches« enthalten, dessen Betrachtung dieses Kapitel gewidmet ist. Sie zeigen uns Nietzsche als den feinen Psychologen, der sich jeder absoluten Wertung gegenüber skeptisch verhält und stets fragt, wahr – inwiefern? frei – wozu? gut – für wen und was?
Das Buch ist in der Hauptsache in Sorrent entstanden. Dort verlebte Nietzsche bald nach den Bayreuther Festspielen mehrere Monate gemeinsam mit Malwida von Meysenbug, der Verfasserin der »Memoiren einer Idealistin«, mit Dr. Paul Rée, dem Autor der »Psychologischen Beobachtungen«, und dem jungen Dichter Albert Brenner. Er hatte sich aus Rücksicht auf seine Gesundheit, die fortgesetzt durch heftige Migräneanfälle beeinträchtigt wurde, von der Baseler Universität ein Jahr Urlaub gewähren lassen. Ein in Bayreuth neu gewonnener Freund, Freiherr von Seydlitz, kam ebenfalls nach Sorrent. Ferner besuchte ihn dort Dr. Michael Georg Conrad, der bei seiner Witterung für unabhängige Geister auch Nietzsche frühzeitig entdeckte.
Im »Menschlichen-Allzumenschlichen« vollzieht sich die Abkehr Nietzsches vom Genie zum Weisen, von der monarchischen Kunst zur republikanischen Wissenschaft, von der idealistischen Metaphysik zum realistischen Positivismus. Der Positivismus beschränkt sich, wie schon sein Name besagt, auf das, was erfahrungsmäßig als »positiv« gegeben ist. Er läßt keinen Raum für religiöse und metaphysische Hintergründe. Er hat vor allem in Frankreich durch Comte und in England durch Mill und Spencer seine philosophische Bedeutung erlangt.
Mit unerbittlicher Strenge prüfte Nietzsche als Positivist sich selbst und alles, woran sein Herz hing. Aber nicht die Freude an der Forschung allein befriedigte ihn, sondern es verlangte ihn nach »Vogel-Freiheit«, »Vogel-Umblick«, »Vogel-Übermut«.
Er sagt Schopenhauers Willen zur Moral und Wagners Romantik die Gefolgschaft auf und sucht sich hoch über alle Unbedingtheit zu erheben und sich von aller ausschließenden Verehrung zu befreien. Als das »Wegstoßen des Angenehmsten, oft des Verehrtesten« interpretierte er später dieses Vorgehen.
Die Vorstellung der Entwicklung auf den Spuren Darwins gewinnt nunmehr Macht über Nietzsche. Er fordert ganz im Sinne der Naturwissenschaft historisches Philosophieren. Dieses soll grundsätzlich von aller Metaphysik absehen und uns lehren: was jetzt uns Menschen Leben und Erfahrung heißt, ist allmählich geworden und noch vollständig im Werden begriffen. Es hat sich bisher unbewußt entwickelt und seine Förderung vor allem bei der Religion und der Kunst gesucht. Nun aber, indem Nietzsche die Bedeutung der Wissenschaft für die Kultur betont, stellt er uns vor eine wichtige Entscheidung. Er sagt: die Menschen können und sollen nunmehr mit Bewußtsein beschließen, sich zu einer neuen Kultur fortzuentwickeln. Um das zu vermögen, müssen sie volle Klarheit gewinnen, was der kulturellen[67] Steigerung des Lebens schadet, was ihr nützt. Die ungeheuere Aufgabe der großen Geister der Gegenwart und Zukunft liegt darin, die Bedingungen der Kultur zu erkennen. Die Philosophie soll also die Religion ablösen. Vermag sie das? Nietzsche sagt: sie kann es, indem sie deren berechtigte Bedürfnisse erfüllt und deren irrtümliche beseitigt, wie christliche Seelennot, Seufzen über innere Verderbtheit, Sorge um das ewige Heil. Die Kunst vermag dabei nur den Übergang zu vermitteln, indem sie das mit Empfindungen überladene Gemüt erleichtert. Worte wie Pessimismus und Optimismus verlieren vor diesem Forum ihre Berechtigung, denn sie entstammen einer theologischen Auffassung der Welt. Sowohl der schimpfenden wie der verherrlichenden Weltbetrachtung müssen wir uns enthalten; dafür aber bewußt forschen und fachlich prüfen wie der Chemiker. Die psychologische Beobachtung wird von Nietzsche nunmehr als Notwendigkeit erkannt, denn die größten philosophischen Irrtümer sind nur darum entstanden, weil die psychologische Analyse bisher fehlte. Es gilt das Menschliche-Allzumenschliche bloßzulegen, um so zu dem Ursprung unserer Gesinnungen und Handlungen zu gelangen.
Solche Prüfungen befähigen uns nicht nur, das Schädliche zu meiden, sondern sie führen auch zu positiven Ergebnissen, die geeignet erscheinen, uns aufzurichten. Wir gelangen auf diesem Wege zu einer souveränen Beurteilung des Lebens. So wenn uns Nietzsche lehrt: die Bosheit hat nicht den Schmerz des andern an sich zum Ziele, sondern die beiden Gesichtspunkte Notwehr und Selbsterhaltung genügen, um uns zu erklären, daß auch der Mensch, der uns als boshaft erscheint, im Grunde nur für sich Lust will oder Unlust abzuwehren strebt. Sagen wir uns, daß alles mit Notwendigkeit geschieht, so führt uns die Folgerung der Unverantwortlichkeit des Menschen dazu, über die Begriffe der Schuld und Sündhaftigkeit[68] umzulernen. Bei solchem Umlernen gelangen wir zu der Einsicht: böse Handlungen lassen sich mit gleichem Recht als vergröberte gute bezeichnen, wie wir uns gute als sublimierte böse erklären müssen. Aber auch wo der Einblick in die Untergründe fehlt, sind wir nicht zur Resignation verurteilt; denn bei einem Übel, dessen Ursache wir nicht zu heben vermögen, bleibt unserem Lebensmut immer noch die Möglichkeit, es in ein Gut umzudenken, dessen Nutzen vielleicht erst später ersichtlich wird.
Aber solche Lebensweisheit, verbunden mit der Energie, sie in die Tat umzusetzen, erwirbt sich nur, wer sich die Zeit nimmt, über sich und das Leben nachzudenken. Beamte, Kaufleute, Gelehrte sind meist nur als Gattungswesen tätig, nicht als ganz bestimmte einzelne und einzige Menschen; als solche sind sie faul. Auch gilt es nicht nur die Selbsterkenntnis zu pflegen, sondern auch zielbewußt den Willen nach der Entfaltung des eigenen Selbst zu richten. Höher noch als das Wort: »Erkenne dich selbst!« muß uns die Mahnung stehen: »Wolle dich selbst!«
Durch die Muße, die sie uns gewährt, gewinnt selbst eine Krankheit Wert; denn sie fördert das Nachdenken über uns selbst und bestimmt uns so, unsere Anschauungen zweckmäßig zu gestalten. Man muß feste ruhige Linien am Horizonte seines Lebens haben, gleichsam Gebirgs- und Waldlinien, sonst hat man kein Glück und gibt kein Glück. Aber selbst gegen das Glück wehrt sich gar oft unsere Lebensverkennung. Wir schätzen in unserer Eitelkeit die Auszeichnung, welche im Unglück liegt, so hoch, daß man gewöhnlich protestiert, wenn uns jemand glücklich nennt, als ob es ein Zeichen von Flachheit, Anspruchslosigkeit, Gewöhnlichkeit sei, sich glücklich zu fühlen.
Zur bewußten Prüfung unserer Lebensführung gibt uns Nietzsche in seinen Aphorismen in dieser Weise eine Fülle von Hinweisen, die uns lehren, wie wir uns von[69] unseren seelischen Hemmungen zu befreien vermögen, um jenen Kosmopolitismus des Geistes anzustreben, welcher ohne Anmaßung sagen darf: nichts Geistiges ist mir mehr fremd.
Wir suchen dabei vergeblich nach einer Anpreisung der Kunst; denn die leidenschaftliche Hinwendung zu ihr auf Kosten anderer Faktoren der Kultur ließ den Pendelschlag seiner Schätzung nach der Krisis von Bayreuth in entgegengesetzter Richtung zur kritischen Abwendung von der Kunst gelangen. Doch dürfen wir hierin keinen widerspruchsvollen Umschlag seiner wesenhaften Anschauung sehen, wie es bei oberflächlicher Betrachtung so oft geschieht. Sein Blick war und blieb auf die Kultur gerichtet. Der nunmehr erworbene höhere Standpunkt ließ ihn nach einer als Heilmittel gegen die Gefahren der Kunst dienenden Ergänzung ausschauen. Er fand sie in einem Kultus der Kultur, welche auch dem Stofflichen, Unvollkommenen, ja dem Bösen und Furchtbaren eine verständnisvolle Würdigung und das Zugeständnis, daß dies alles nötig sei, zu schenken weiß. Die Melodie kann des Grundbasses nicht entbehren, lehrt uns Nietzsche als Musiker und Denker.
Behalten wir die Tendenz solcher Ausbalancierung im Auge, so sehen wir der vertikal aufsteigenden Strenge im Ideale des Schopenhauerschen Menschen nunmehr eine horizontal sich ausbreitende Duldsamkeit, etwa im Sinne Goethes, zugesellt. Die subjektive Bewegtheit gefühlsmäßiger Intuition vor der Bayreuther Krisis wird durch die objektive Geruhsamkeit der historischen Kritik ausgeglichen, die Glut instinktiven Erfassens am Eise intellektueller Prüfung gekühlt. Nietzsche will durchaus nicht verlästern, was er ehemals verehrte, sondern nur die Relativität solcher Wertungen durch historische Beleuchtung feststellen. »Man muß Religion und Kunst wie Mutter und Amme geliebt haben – sonst kann man nicht weise werden.«
Zuweilen, wenn er trotzdem zu einseitiger Beurteilung gelangt, fordert er den Leser selbst zur Ergänzung auf. So fügt er der Behauptung, das Fortbestehen der Kunst sei für uns nur von Nachteil, denn ohne die Kunst würden die Menschen mehr Muße haben, über ihre Arbeit nachzudenken und über Freuden, die sie erweisen könnten, die Worte hinzu: »Es gibt gewiß manchen kraft- und sinnvollen Leser, der hier einen guten Einwand zu machen versteht.« Goethe hätte ihm vielleicht geantwortet, was er Karoline Herder auf eine ähnliche Bemerkung geschrieben hat: »Warum soll man nicht alles verehren, was das Gemüt erhebt und uns durchs mühselige Leben hindurchhilft! Wenn ihr das Salz wegwerft, womit soll man salzen?« Und gewiß hätte Nietzsche auch die Antwort gelten lassen, daß wir vermittels der Kunst nicht etwa nur von uns weg, sondern im Gegenteil zu uns hin und über uns hinaus streben.
»Menschliches-Allzumenschliches« enthält neben seiner Fülle unvergänglicher Weisheitssprüche ohne Zweifel noch viele unreife Früchte, wie sich bei einem Buche, das erst den Übergang von einem unkritischen Enthusiasmus anbahnt, von selbst versteht. Noch erscheint uns Nietzsche hier vorherrschend als Suchender. »Das Pathos, daß man die Wahrheit habe, gilt jetzt sehr wenig im Verhältnis zu jenem freilich milderen und klangloseren Pathos des Wahrheit-Suchens, welches nicht müde wird, umzulernen und neu zu prüfen.« Daß Nietzsche sich selbst bewußt war, daß alle erfahrungsmäßige Erforschung nur eine Ergänzung und Berichtigung seiner früheren Anschauungen bedeuten könne, bekunden uns die in seinem Nachlaß vorgefundenen Worte, welche er einer Vorrede einzuverleiben gedachte: »Nötig, den ganzen Positivismus in mich aufzunehmen und nun doch noch Träger des Idealismus zu sein.«
Man tut das Wahrste, wenn man unter den jedes Mal vorhandenen Zielen das höchste verfolgt.
Burckhardt.
Man darf nicht alle Einfälle, die Nietzsche außerhalb systematischer Zusammenhänge veröffentlichte, im eigentlichen Sinne Aphorismen nennen. Nur die in einer ganz bestimmten ziselierten Kunstform sich darbietenden Gedanken, die ihre selbstherrliche Abrundung oder Zuspitzung gefunden haben, sind als solche zu bezeichnen. Der erste Teil von »Menschliches-Allzumenschliches«, in welchem hauptsächlich Einfälle, die Nietzsche ursprünglich unter dem Titel »Die Pflugschar« sammelte, eine fast systematisch zu nennende Zusammenstellung fanden, enthält viel weniger eigentliche Aphorismen als der zweite Teil, der zwei ursprünglich selbständige Sammlungen »Vermischte Meinungen und Sprüche« und »Der Wanderer und sein Schatten« umfaßt. Im ersten Teil begegnen wir einer Anordnung nach Hauptstücken, in die sich die einzelnen Ausführungen zwanglos einfügen, während die Aphorismen des zweiten Teils, obwohl sie vielfach parallel jener Einteilung des ersten zusammengestellt wurden, sich viel selbständiger geben und den Charakter von Sentenzen und Maximen tragen.
Sie zeigen uns Nietzsche vor allem als feinsinnigen Erforscher der menschlichen Triebe und Gefühle. Vielleicht hat die Psychologie seinen Anregungen weit mehr zu danken, als sie sich dessen bewußt ist. Erst durch Nietzsches Erkenntnis, wie sehr alles relativ gewertet sein will, wurde jene Atmosphäre geschaffen, in der sie sich zu ihrer heutigen Entwicklung zu entfalten vermochte. Der Psychoanalytiker begegnete bei Nietzsche bereits Aussprüchen, die ihm heute als Dogmen gelten. So wenn Nietzsche in dem Aphorismus: »Aus dem Traume[72] deuten« sagt: »Was man mitunter im Wachen nicht genau weiß und fühlt – ob man gegen eine Person ein gutes oder schlechtes Gewissen habe – darüber belehrt völlig unzweideutig der Traum.«
Zur Prüfung des Tatsächlichen, wie sie die zweite Periode seines Schaffens aufweist, wurde Nietzsche jedenfalls in hohem Grade durch F. A. Langes »Geschichte des Materialismus« angeregt. Ihm verdankte er vielerlei. Voran die tiefere Einsicht in Kants Entdeckung unserer Anschauungsformen. Schon als Student faßte er, was ihm Lange hierüber sagte, in einem Briefe an von Gersdorff in drei Sätze zusammen. Die Sinnenwelt ist das Produkt unserer Organisation. Aber dies gilt auch von unseren Organen selbst. Unsere wirkliche Organisation bleibt uns daher ebenso unbekannt wie die wirklichen Außendinge; denn wir haben stets nur das Produkt von beiden vor uns.
Diese Erkenntnis mußte mit der Zeit dazu führen, Schopenhauers Ansicht, das Selbstbewußtsein übermittle uns einen metaphysischen Aufschluß, zu verwerfen und Nietzsche auf die positivistische Prüfung der Organisation verweisen. Die Aufgabe, die er sich im »Menschlichen-Allzumenschlichen« stellte, ist daher so zu kennzeichnen: Es gilt, um zum Ursprung und der Entwicklung der Begriffe zu gelangen, die physischen und psychischen Voraussetzungen unserer Organisation zu prüfen, und zwar nur im Hinblick auf ihre Tatsächlichkeit, die Frage nach ihrem individuellen und sozialen Wert aber außer acht zu lassen.
Die Nennung F. A. Langes bietet uns Veranlassung, die umstrittene Frage zu prüfen: hatte Nietzsche Stirner gelesen, also dessen Hauptwerk »Der Einzige und sein Eigentum« gekannt? Erwähnt hat er Stirner weder in seinen Werken noch in seinen Briefen. Auch liegt kein gültiges Zeugnis vor, daß er je in Gesprächen seinen Namen nannte. Dagegen ermittelte Overbeck die Tatsache, daß er seinen Schüler Baumgartner auf Stirner[73] aufmerksam gemacht hat. Nietzsche wußte also doch von Stirner. Wahrscheinlich wohl durch Lange. Aus dessen Buch erfuhr er, daß Stirner »am rücksichtslosesten und konsequentesten den Egoismus gepredigt hat«, und weiterhin, daß Stirner nicht nur jede sittliche Idee verwarf, sondern alles, was sich als äußere Gewalt, als Glaube oder als bloßer Begriff über das Individuum und seine Willkür stellt. Das also wußte Nietzsche. Aber dieses Wissen um Stirners Existenz und seine Verherrlichung des Egoismus beweist noch nicht, daß Nietzsche auch das Werk Stirners selbst in Händen gehabt hat. Wir müssen also schon nach inneren Beweisgründen ausschauen. Vielleicht daß sie die Frage entscheiden.
Stirner und Nietzsche sind die bedeutendsten bewußten Förderer geistiger Unabhängigkeit. Es besteht zwischen ihnen eine typische Geistesverwandtschaft. Sie allein haben die äußersten Konsequenzen ihrer Ideen über die Selbstherrlichkeit des Individuums gezogen. Es ergeben sich daher viele Berührungspunkte. Trotzdem ist nirgends ein Ausspruch Nietzsches zu finden, der auf eine Vaterschaft Stirners verwiese. Aber nicht nur die geistigen Übereinstimmungen, sondern auch die Gegensätzlichkeiten sind augenfällig. Stirner läßt durchaus nur den Einzelnen als Wirklichkeit gelten. Kein Mensch ist einem anderen gleich. Jeder ist einzig. Jedem steht von Natur das Recht zu, die Welt als sein Eigentum anzusehen und mit ihr und allen anderen Menschen gemäß seiner Natur und seinem Ermessen zu verfahren. Mag jeder sich dagegen wehren, so gut er es eben vermag. Nietzsche geht von einer ganz anderen Überzeugung aus. Der Mensch ist von Ursprung an sozial veranlagt. Erst durch die Kultur entwickelt er sich zu einer selbstherrlichen Persönlichkeit. Für Nietzsche gilt somit das, was Stirner als natürliche Voraussetzung annimmt, nicht als Voraussetzung, sondern als kulturelles Ziel. Das ergibt einen großen Unterschied. Stirner verwirft den Staat mit[74] radikaler, aber durchaus einseitiger Konsequenz für jeden Menschen, ohne die Frage nach der Fähigkeit zur Selbstbeherrschung und Selbstbestimmung zu stellen. Wie anders Nietzsche. Dieser weist gerade dem Staate die Aufgabe zu, das Tier im Menschen zu bändigen, damit der Mensch im Menschen sich zu entfalten vermag. Nietzsche ist es um Rangunterscheidungen zu tun, bestimmt durch den Persönlichkeitswert des Einzelnen und den typischen Wert der Klassen; Stirner dagegen anerkennt keinerlei Rangordnung. Stirner gelangte auf seinem Wege zu einer hochgesinnten Verherrlichung der Anarchie. Nietzsche gelangte zu einer ebenso hochgesinnten Verherrlichung des Herren- und Herrschertums, das berufen ist, die Zügellosigkeit ungebändigter Naturen niederzuhalten.
In ihren Negationen begegnen sie sich zuweilen. So wenn Stirner schreibt: »Nenne die Menschen nicht Sünder: du, der du die Menschen zu lieben wähnst, du gerade wirfst sie in den Kot der Sünde … Ich aber sage dir, du hast niemals einen Sünder gesehen, du hast ihn nur … geträumt.« So dachte auch Nietzsche. Aber bei dem Vergleich ihrer positiven Forderungen ergibt sich nicht nur keinerlei Übereinstimmung, sondern eine entschiedene Gegensätzlichkeit. In keinem Falle aber lassen sich Belege dafür finden, Nietzsche müsse Stirner gelesen haben.
Vielleicht gelingt es uns aber, einen Indizienbeweis für die gegenteilige Behauptung zu führen. Immer hat Nietzsche sich die Größten als würdige Feinde erkoren. Nicht Hinz oder Kunz hat er als Bildungsphilister gebrandmarkt, sondern David Friedrich Strauß; nicht irgendeinen beliebigen Universitätsprofessor hat er angegriffen, um den Rationalismus zu treffen, sondern Sokrates, und als es ihm darauf ankam, sein Hellenentum gegen das Christentum auf dem Gebiete der Kunst ins Feld zu führen, da hat er mit blutendem Herzen sich Wagner zum Gegner umgewertet.
Und dieses typische Verlangen Nietzsches nach einem würdigen Gegner sollte in diesem einen Falle sich in das Gegenteil verkehrt haben? Als Nietzsche den Pessimismus und Anarchismus als verwandte Ohnmachts- und Verzweiflungslehren bekämpfte, als er wörtlich sagte: man darf zwischen Christ und Anarchist eine vollkommene Gleichung aufstellen: ihr Zweck, ihr Instinkt geht nur auf Zerstörung, da soll er nicht dem charakteristischen Repräsentanten des Anarchismus den Kampf angesagt haben, trotz Bekanntschaft mit seinem Werke? Das widerspräche jeder psychologischen Voraussetzung. Nein, Nietzsche hat wohl von Stirner gewußt, aber niemals sein Buch gelesen.
– Nietzsche wollte »Menschliches-Allzumenschliches« ursprünglich anonym veröffentlichen, um eine sachliche Diskussion zu ermöglichen und das Zartgefühl seiner Freunde zu schonen, vor diesen selbst aber seine Urheberschaft bekennen. Die offene Redlichkeit, mit der er sich selbst analysierte, gab ihm das Vertrauen ein, daß auch seine Freunde sich groß genug erweisen würden, die gleiche Freimütigkeit über sich ergehen zu lassen. So bezieht sich, nach Bernoulli, der folgende Ausspruch auf Overbeck. »Die meisten Denker schreiben schlecht, weil sie nicht nur ihre Gedanken, sondern auch das Denken der Gedanken mitteilen.«
Besonders reich ist das Buch an solchen Analysen Wagners. Nietzsches Abreise aus Bayreuth – wir wissen es bereits – bedeutete für ihn noch keine Abwendung von der Person Wagners. Auch Wagner hielt sich nach den Festspielen in Sorrent auf und es fanden etwa sechs Zusammenkünfte statt. Bei der letzten soll Wagner dem Freund seinen Plan des«Parsifal« entwickelt haben; zum Schrecken Nietzsches, der ihn seither auf dem Wege zum »deutschen Heidentum« glaubte. Jedenfalls hat auch diese Unterredung nicht zu einem offenen Bruch geführt, denn Wagner schickte später seine Dichtung des[76] »Parsifal« an Nietzsche mit der Widmung: »Meinem teueren Freunde Friedrich Nietzsche. Richard Wagner, Oberkirchenrat.« Der humoristische Zusatz läßt wahrlich nicht an ein persönliches Zerwürfnis glauben! Auch Nietzsche begleitete seine Übermittlung von »Menschliches-Allzumenschliches« an Wagner mit einer freundschaftlichen Widmung in Versen.
Und doch führte diese Zusendung zur Klärung und – Scheidung. Die Zusendungen erfolgten nicht gleichzeitig. Nur in Nietzsches späterer Erinnerung haben sie sich »gekreuzt«. Dieser Gedächtnisfehler wird bedeutsam, wenn wir ihn im Sinne der Psychoanalyse betrachten. Er verrät uns, wie sich Nietzsches Unterbewußtsein zu der Entscheidung stellte: sie war für beide Teile notwendig geworden, weder durch ein willkürliches Verschulden von der einen noch von der anderen Seite; sie erfolgte »gleichzeitig«, als ihre neuen Werke sich »kreuzten«, wie die Degen zweier Duellanten sich kreuzen.
Die Trennung war nicht beabsichtigt worden, aber es gehörte wirklich die volle Naivität und ideale Gesinnung eines Genies dazu, um Nietzsche glauben zu lassen, Wagner werde seine Aphorismen günstig aufnehmen. Auch die Freimütigkeit hat ihre Grenzen, wo es sich um den Bestand des eigenen Lebenswerkes handelt. Wagner wußte sich mitten im Kampf für die Erhaltung seines gefährdeten großen Unternehmens. Wie sollte er da Kundgebungen eines Freundes, die es in seinem Werte so entschieden bekämpften, gelten lassen? Er antwortete nicht unmittelbar. Aber in einem Aufsatze der Bayreuther Blätter »Publikum und Popularität« kam seine Ablehnung deutlich und scharf zum Ausdruck, obwohl er es vermied, einen Namen zu nennen. Auch in einem weiteren Aufsatz »Wollen wir hoffen?« streifte er ein ihm mißliebiges Urteil Nietzsches über Luther.
Nietzsches Schwester versuchte in einem nach Wahnfried[77] gerichteten Brief vergeblich eine Verständigung anzubahnen. Frau Wagner antwortete ihr, daß man Nietzsches neues Werk nur als krankhaft entschuldigen könne, aber in keiner Weise als wertvoll anerkenne. So war jeder persönliche Verkehr unmöglich geworden. Nur ein wehmütig freundschaftliches Gedenken bestand noch als Unterströmung fort; denn wie Schönes und Großes hatte man gemeinsam gewollt, welches Glück voll seliger Hoffnungen in Tribschen gemeinsam erlebt!
Wagner betrübte es, daß er fernerhin »so gänzlich davon ausgeschlossen sein solle, an Nietzsches Leben und Nöten teilzunehmen«, und so ersuchte er Overbeck herzlich um Nachrichten über den gemeinsamen Freund. Er schrieb: »Hatte ich auch stets ein Gefühl davon, daß Nietzsche bei seiner Vereinigung mit mir von einem geistigen Lebenskrampfe beherrscht wurde, und mußte es mich nur wunderbar bedünken, daß dieser Krampf in ihm so seelenvoll leuchtendes und wärmendes Feuer erzeugen konnte, wie es sich aus ihm zum Staunen aller kundtat, und habe ich an der letzten Entscheidung seines inneren Lebensprozesses mit wahrhaftem Entsetzen zu ersehen, wie stark und endlich unerträglich jener Krampf ihn bedrücken mußte: so muß ich endlich wohl auch ersehen, daß mit einem so gewaltsamen psychischen Vorgange nach sittlichen Annahmen gar nicht zu rechten ist und erschüttertes Schweigen einzig übrigbleibt.«
Nietzsche seinerseits ließ sich immer wieder von Malwida von Meysenbug über Wagner berichten und schrieb an Freiherrn von Seydlitz, daß es ihm sehr lieb und erwünscht sei, daß einer seiner Freunde Wagnern Gutes und Freundliches erweise, wozu er selbst nicht mehr imstande sei. »Seine und meine Bestrebungen laufen auseinander. Dies tut mir wehe genug – aber im Dienste der Wahrheit muß man zu jedem Opfer bereit sein.«
Ein um jene Zeit geplantes Buch »Der neue Umblick« sollte die Worte enthalten: »Über Wagner[78] wie über Schopenhauer kann man unbefangen reden, auch bei ihren Lebzeiten – ihre Größe wird, was man auch gezwungen ist, in die andere Wagschale zu legen, immer siegreich bleiben. Um so mehr ist gegen ihre Gefährlichkeit in der Wirkung zu warnen.«
Die Trennung von Wagner traf Nietzsche um so schmerzlicher, als auch die meisten seiner übrigen Freunde sich ablehnend zu »Menschliches-Allzumenschliches« verhielten. Außer Burckhardt, der es wiederholt »das souveräne Buch« genannt hat, haben nur Dr. Rée und Peter Gast es voll gewürdigt. Rohde und manche andere erfreuten sich an Einzelheiten, aber die Zahl durchaus mißverstehender Briefe war groß.
Trotzdem Nietzsches Gesundheitszustand sich fortgesetzt verschlimmerte, nahm er doch im Winter 1877 seine Kollegien in Basel wieder auf und mutete sich damit mehr zu, als seine körperliche Widerstandskraft zu ertragen vermochte. Nach Ostern 1879 verschlimmerte sich sein Befinden so sehr, daß seine Schwester durch Overbeck nach Basel gerufen wurde. Er legte nunmehr seine Professur endgültig nieder und begab sich zunächst nach Bremgarten bei Bern und dann nach St. Moritz im Engadin. Er hatte, von Todesahnungen erfüllt, in Briefen Abschied von seinen Freunden genommen. Bald aber konnte er schreiben: »Das Engadin hat mich dem Leben wiedergegeben.«
Nietzsche hat »Menschliches-Allzumenschliches«, das über seine weiteren Lebenswege entschied, nicht umsonst »ein Buch für freie Geister« genannt. Er hatte sich mit ihm unabhängig gemacht von aller unkritischen Verehrung und sich zum freien Geiste durchgerungen. Wie ein Auftakt zu der nun erkannten Aufgabe klingen seine Worte: »Ich will den Menschen die Ruhe wiedergeben, ohne welche keine Kultur werden und bestehen kann. Ebenso die Schlichtheit. Ruhe, Einfachheit und Größe!«
Wer vor zwanzig oder dreißig Jahren oder noch früher zu Nietzsche kam, war gegenüber dem heutigen Leser in wesentlichen Punkten im Vorteil. Vorausgesetzt daß er an der Kulturbewegung seiner Zeit ernsten Anteil nahm. Wie war es doch? Man besinne sich. Sahen wir nicht in Schopenhauer und Wagner Genien, die unserer Sehnsucht nach Kunst und Kultur ein Ziel wiesen? So war es. Und Nietzsche, während seiner ersten Schaffensperiode, war ihr berufener Fürsprecher. Und dann, als Wagner und Schopenhauer uns in Sinn und Blut übergegangen waren, als wir ihre Macht im Guten und Schlimmen an uns erfuhren, als wir vom Pessimismus Schopenhauers uns bedrückt fühlten, als wir in der Übermacht Wagners eine Gefahr witterten für die selbstherrliche Entwicklung der apollinischen Künste, als wir das Bedürfnis fühlten gegen den uns erschlaffenden Quietismus des Einen, gegen die berauschende Nervenwirkung des Anderen ein Gegengewicht zu finden: da war es wiederum Nietzsche, der uns zum Befreier aus einem unkritischen Enthusiasmus wurde. Auch wir bedurften, gleich ihm, einer Überwindung. Und so erlebten wir Nietzsche mit der Seele. Dort, wo der heutige Leser nur Bestätigungen findet oder mit dem Philosophen auch in sich etwas zu überwinden glaubt, dessen ausschließende Heftigkeit für ihn gar nicht besteht.
Das war das eine. Eine freudige Bundesgenossenschaft! Aber noch einen anderen Vorteil hatten wir voraus. Gefühle und radikale Gedanken, die heute jedem ernsten Menschen schon irgendwie vertraut sind, waren uns damals durchaus neu und fremdartig. So ergab sich eine leidenschaftliche innere Abwehr. Ganz im Sinne[80] jeder typischen Sehnsucht nach Empfängnis. Wir verlangten unbewußt von Nietzsche überzeugt zu werden, aber wir hatten ebenso unbewußt das Bedürfnis, ihm Widerstand zu leisten. Der Empfangende – das ist das Geheimnis aller Liebe – will nicht wehrlos Fremdes in sich aufnehmen, sondern er will besiegt und erobert werden. So etwa standen wir zu dem Immoralismus Nietzsches. Indem wir uns zur Wehr setzten, fanden wir erst den bewußten Weg zu unseren Gründen, aber auch, so wenig wir dessen Wort haben wollten, zur Sehnsucht nach ihrer Überwindung. So wurde uns Nietzsche wahrhaft zum Erlebnis und Ereignis.
Dem heutigen Leser ist, wie gesagt, diese Erfahrung erschwert. Gerade weil ihm Nietzsche bereits aus der Ferne vertrauter ist. Und doch muß auch er, um nicht durch temperamentlose, rein historische Bewertung der fruchtbaren Empfänglichkeit verlustig zu gehen, einen ähnlichen Weg einschlagen. Er muß sich seiner Einzelheit gemäß ihm widersetzen; dann erst, im Unterliegen wird seine Sehnsucht nach einer neuen Lehre wahrhaft befriedigt. Der Biograph kann dem Leser diesen Widerstand, den dessen eigene Natur zu leisten hat, nicht abnehmen, sondern nur den kritischen Willen zeitweilig wachrufen. So etwa will Nietzsche gelesen sein. Er hat es selbst oft in Worten und ohne Worte ausgesprochen. Denn vieles wird erst wahr, wenn man dem Lehrenden widerspricht, also durch ergänzende Gegenüberstellung die Relativität der Wahrheit aufdeckt.
Die »Morgenröte«, jenes Werk, in dem sich unser Philosoph vorherrschend skeptisch verhält, also sehr oft von letzten Entscheidungen absieht, bietet zu solchen Betrachtungen besonderen Anlaß. Zum Beispiel: Nietzsche polemisiert gegen den Ausspruch »Vertraue deinem Gefühle!« Gefühle sind nichts Letztes, Ursprüngliches, sondern hinter den Gefühlen stehen Urteile und Wertschätzungen, welche in der Form von Gefühlen (Neigungen,[81] Abneigungen) uns vererbt sind. Die Inspiration, die aus dem Gefühle stammt, ist das Enkelkind eines Urteils. Seinem Gefühle vertrauen, sagt Nietzsche, das heißt also seinen Vorfahren mehr gehorchen als den Göttern, die in uns sind: unserer Vernunft und unserer Erfahrung. Ganz recht. Aber sind in uns wirklich nur ererbte Gefühle wirksam? Ist das Gefühl nicht zugleich die Reaktion des Bewußtseins auf Vorstellungen, die unsere Vernunft und unsere Erfahrungen uns übermitteln? Bedeutet die Inspiration des Gefühls nicht die Sprache dessen, was wir hiervon uns einverleibten und was sich nun instinktiv geltend macht? Nietzsche wollte gewiß nicht sagen: folge nur deinem Intellekt. Also gilt es seinen Ausspruch kritisch zu lesen. Dann stellt er uns die Frage: Was wirkt in deinem Gefühl nur atavistisch nach, was steht davon mit deiner Vernunft und Erfahrung in Einklang? Er warnt uns also vor falsch angewandter Pietät, nicht aber vor dem instinktiven Gefühl an sich.
Freunde, die Nietzsches neue Anschauungen nicht teilten und ihm doch wohl wollten, haben es sich leicht gemacht – ach man macht es sich immer leicht! – indem sie die neuen Gedanken als Produkte seiner Erkrankung hinstellten. Diese hat in der Tat auf seine Philosophie bestimmend eingewirkt. Aber anders als man noch immer vermeint. Sein schweres Leiden hat ihn zu keinerlei krankhaften Phantasien über das Leben verführt, sondern es erwies sich in entgegengesetztem Sinne als fruchtbringend. Wohl barg es die Gefahr einer Verdüsterung der Lebenswertung, aber dieser Gefahr begegnete Nietzsche mit bewunderungswürdigem Heroismus. Er versuchte zunächst mit einer »entsetzlichen Kälte« als Skeptiker hinaus auf die Dinge zu schauen. Alle jene kleinen lügnerischen Zaubereien, in denen sie für gewöhnlich schwimmen, sie verschwanden für ihn. Auch er selbst lag vor sich da ohne Flaum und Farbe. Er erhob sich über sein individuelles Leben und Leiden,[82] um das Leben gegen die Tyrannei des Schmerzes zu verteidigen. Es war ein wahrer Krampf des Stolzes, in einem solch verzweifelten Kampf zu stehen. Dieser Zustand bedurfte einer Gegenwirkung, und Nietzsche fand sie in dem Verlangen eigener Entfremdung und Entpersönlichung, wie sie sich dem Psychologen in der nüchternen Erforschung und Erkenntnis darbietet, um wahnlos auf alle Gründe und schwindelfrei auf alle Grundlosigkeit hinabzusehen. Aus dem Erlebnis des eigenen Leids erstand ihm das typische Bild einer Menschheit, die tiefer als am Leide selbst an dessen Begründungen und Ausdeutungen leidet. Der Anblick körperlicher Martern läßt uns vor Empörung aufschreien. Aber wo bleibt diese Einfühlung gegenüber den Seelenmartern, die das uns beherrschende Christentum bereitet durch seine Lehre von Sünde und Verdammnis? »Ja, welche entsetzliche Stätte hat das Christentum schon dadurch aus der Erde zu machen gewußt, daß es überall das Kruzifix aufrichtete und dergestalt die Erde als den Ort bezeichnete, wo der Gerechte zu Tode gemartert wird.«
Wie hat man es verstanden, dem Gewissen aus den geschlechtlichen Erregungen Martern zu bereiten. »Ist es nicht schrecklich, notwendige und regelmäßige Empfindungen zu einer Quelle des inneren Elends zu machen?« Liegt nicht, heißt er uns fragen, eine Kehrseite des christlichen Mitleidens in der tiefen Beargwöhnung aller Freuden der Nächsten? Aller gerechten Beurteilung durch Erkenntnis unserer Konstitution wurde entgegengearbeitet aus religiösem und moralischem Fanatismus.
Nietzsche hat, wie sich von selbst versteht und wie er für kurzsichtige Menschen trotzdem hervorhebt, nicht geleugnet, daß viele Handlungen, welche unsittlich heißen, zu vermeiden, viele, welche sittlich genannt werden, zu fördern sind, aber – das eine wie das andere aus anderen Gründen als bisher. »Wir haben umzulernen – um endlich, vielleicht sehr spät, noch mehr zu erreichen:[83] umzufühlen.« Vor allem müssen wir einsehen, daß das Mitleiden, mag es hie und da auch ein Leiden wirklich vermindern, doch, wo es als Schwäche auftritt, wie jedes Sichverlieren an einen Affekt, nur schädigend wirkt. Wer sich alles Elend, dessen er in seiner Umgebung habhaft werden kann, immer vor die Seele stellt, wird unvermeidlich krank und melancholisch. Vor allem, wer als Arzt in irgend einem Sinne der Menschheit dienen will, darf ihm nicht unterliegen. Denn wenn wir uns durch den Jammer und das Leiden der anderen Sterblichen verdüstern lassen, dann können wir ihnen weder hilfreich noch erquicklich sein. Das Wesen des wahrhaft Moralischen liegt somit nicht darin, nur die nächsten und unmittelbarsten Folgen unserer Handlungen ins Auge zusammenzufassen, sondern entferntere Zwecke unter Umständen auch durch das Leid des anderen zu fördern. Schon wenn wir das allgemeine Gefühl der menschlichen Macht stärken, so erreichen wir damit eine positive Vermehrung des Glücks. Fort also mit der Überschätzung altruistischer Handlungen, geben wir den Menschen den Mut wieder zu den als egoistisch verschrienen Handlungen. Wir nehmen damit dem Bilde des Lebens seinen bösen Anschein! »Dies ist ein sehr hohes Ereignis! Wenn der Mensch sich nicht für böse hält, hört er auf, es zu sein!«
Hinter dem Lob der gemeinnützigen unpersönlichen Handlungen steht die Furcht vor allem Individuellen. Auch unser übertriebenes Lob der Arbeitsamkeit stammt aus dieser unterbewußten Furcht. Arbeite, arbeite, dann hast du keine Zeit zu dem so gefährlichen Nachdenken, Sorgen, Lieben und Hassen! Moral will den Einzelnen ungefährlich machen. Ehemals forderte sie von ihm, alle Zweifel niederzuhalten und die Wege seiner Regierung gutzuheißen, heute die seiner Partei. Was dabei verdrängt wird, ist stets das: Wolle dich selbst! Nietzsche dagegen fordert: »So wenig als möglich Staat!« Daß[84] wir doch endlich mit dieser Forderung Ernst machten! Aber wir haben für die ehemalige deutsche Bildung – man denke an Goethe – heute politischen und nationalen Wahnsinn eingetauscht. Durch den sozialen Staat wird das Übel nur vermehrt. »Pfui! einen Preis zu haben, für den man nicht mehr Person bleibt, sondern Schraube wird!«
Wir täuschen nicht nur uns selbst, wenn wir unsere egoistischen Triebe fälschlich als altruistisch auslegen, sondern in der moralischen Verzärtelung liegt auch eine große Gefahr für unser Wohlbefinden. »Es gibt zart moralische Naturen, die bei jedem Erfolge Beschämung und bei jedem Mißerfolge Gewissensbisse haben.« Findest du den Mut, deine eigenen Zweifel über die Herkunft nicht nur deiner Abneigungen, sondern auch deiner Zuneigungen ernstlich zu prüfen und deinen Zweifeln standzuhalten, so wirkst du kräftigend der Verzärtelung deines Gewissens entgegen. Einsamkeit ist zuweilen nötig, um Zeit zur Selbstbesinnung zu gewinnen. Der Geist muß sich beflügeln. Nur dann kommen wir, wo es not tut, von uns selbst los und erlangen das reine, reinmachende Auge, das frei in mildem Widerspruch auf das eigene Temperament hinabblickt. Dann wird uns die Fähigkeit, mit uns selbst zu experimentieren. Aber wir dürfen uns nicht zu pathetisch nehmen; das Gegenteil ist guter Ton bei allen höheren Menschen. Wer das große dritte Auge hat, mit dem er als Zuschauer durch die zwei andern in die Welt schaut, gewinnt damit auch dann noch ein Pförtchen zur Freude, wenn die eigenen Leidenschaften über ihn herfallen. Nur unter solchen, die nicht nach Expansion lüstern sind, begegnen wir dem Stillen, Sichselbstgenügenden innerhalb einer allgemeinen Verknechtung. Nietzsche singt der Erkenntnis ein hohes Lied. Mag die Wirklichkeit häßlich sein, die Erkenntnis auch der häßlichsten Wirklichkeit ist schön. Das Glück der Erkennenden mehrt die Schönheit der Welt.
– Die »Morgenröte« ist in fünf Bücher eingeteilt.[85] Ihr symbolischer Titel läßt sich auch auf das Werk selbst anwenden. Im ersten Teil findet sich noch viel schattenhafte Dämmerung, silhouettenhafte Umrisse, zuweilen verschwommen ungewiß; dann aber gewinnen die erschauten Gedanken schärfere Konturen und plastische Formen. Die Skepsis herrscht auch in der Ausdrucksweise vor. Vieles hat nur Geltung als Fiktion, anderes nur als Mittel, um Perspektiven zu erschließen. Schon steigen am Horizont neue Gedanken auf, die für zeitliche Betrachtung noch in der Ferne liegen. Vor allem der »Wille zur Macht«, dessen Bedeutung für die späteren Erkenntniswege sich wiederholt ankündigt. Der Schlußteil des Buches endlich – er wurde erst nachträglich beigefügt – ist voll mildem Farbenglanz. Er gleicht dem freundlichen, sonnig beglückenden Morgen eines Genesenden in seliger Einsamkeit.
Kant sagt einmal: »Der Skeptizismus ist ein Ruheplatz für die menschliche Vernunft, da sie sich über ihre dogmatische Wanderung besinnen und den Entwurf der Gegend machen kann, wo sie sich befindet, um ihren Weg fernerhin mit mehrerer Sicherheit wählen zu können.« Er fügt hinzu: »aber nicht ein Wohnplatz zum beständigen Aufenthalt«. So empfand ihn auch Nietzsche. Die Skepsis bedeutet für ihn die peinliche Inquisition gegen unsere Triebe und deren Lügnerei, sowie gegen den Intellekt als Werkzeug der Triebe und wird von ihm als die Nachgeburt des Stolzes bezeichnet. Er läßt die Skepsis nur für den Beschaulichen gelten. Wer handeln will, muß die Tür zum Zweifel schließen. Nietzsche aber will auf unseren Willen wirken, also handeln. Bedeutsam für seine persönliche Stellung zum Skeptizismus ist ein kleiner Dialog: »Du hast eben aufgehört, Skeptiker zu sein! Denn du verneinst! – Und damit habe ich wieder Jasagen gelernt.«
Wie sein Idealismus durch die positivistische Betrachtung nur eine kritische Ergänzung erfuhr, so auch seine Weltbejahung durch den Skeptizismus.
Gedenke nicht Heiligkeit zu setzen auf ein Tun, Heiligkeit soll man setzen auf ein Sein; denn nicht die Werke heiligen uns, sondern wir wollen die Werke heiligen.
Meister Eckardt.
Aus der Zeit der »Morgenröte« sind uns wertvolle Ausführungen Nietzsches über den Sozialismus erhalten. Man hat sie unter dem Titel: »Blicke in die Gegenwart und Zukunft der Völker« aus dem Nachlaß veröffentlicht.
Ehe wir nun diese Gedanken Nietzsches über den Sozialismus betrachten, wollen wir prüfen, wie sich die Verfechter sozialistischer Tendenzen ihrerseits zu Nietzsche stellten. Als die Kunde seiner Philosophie in weitere Kreise drang, da bemerkte man vor allem seinen radikalen Widerspruch gegen die zeitlich bestehenden Verhältnisse. Wer immer gegen diese opponierte, für den lag es nahe, in ihm einen Gesinnungsgenossen zu vermuten. Von dieser Versuchung blieb auch die Sozialdemokratie nicht frei. Man las Kalthoffs »Zarathustra-Predigten«, veranstaltete in freireligiösen Arbeitervereinigungen regelmäßige sonntägliche »Zarathustra-Andachten« und fand bei dem »Antichristen« Religiosität und Ewigkeitsliebe als Ersatz für die konfessionellen Religionen (»in jeder Religion ist der religiöse Mensch eine Ausnahme«), bei dem »Immoralisten« ethische Ziele und Wertungen als Gegensatz zur bestehenden Moral, bei dem »Individualisten« revolutionäre Ablehnung der herrschenden Gesellschaft.
Aber seine aristokratischen Rangwertungen, voran seine Unterscheidung von Herren- und Herdenmoral, seine Warnung vor dem Mitleiden, seine gänzlich mißverstandene Betonung des »Willens zur Macht«, rief gar bald einen Umschlag der anfänglichen Einschätzung hervor.[87] Und damit auch ein Nachlassen des kaum erwachten Interesses.
Immerhin wurde auch fernerhin Nietzsche in Arbeiterkreisen mehr gelesen, als man bei der mangelnden Vorbildung zunächst vermutete. Gelegentlich einer Massenuntersuchung über die sozialpsychologische Seite des modernen Großbetriebs durch Adolf Levenstein, die ungefähr zwölf Jahre nach Nietzsches Tode stattfand, ergab sich, daß 37 Metallarbeiter, 16 Textilarbeiter, 2 Bergleute und 54 Arbeiter anderer Berufe sich mit Nietzsches »Zarathustra« beschäftigt hatten, was zum Briefwechsel mit diesen und zur Veröffentlichung einer Anzahl Antworten führte. Man begrüßte, daß er bestrebt sei, Kraftpersönlichkeiten Platz zu schaffen, nannte aber seine Ranglehre eine Verachtung alles »Tiefenlebens«, vermeinte etwas zu sagen mit der Behauptung, eine Menschen-Erneuerung könne nur fruchtbar sein, wenn sie zugleich eine Menschheits-Erneuerung sei, ein Edelmensch müsse in der »wirtschaftlichen« Kraft seines Volkes wurzeln; nur mit der Erfüllung des Sozialismus breche daher der Morgen des Nietzsche-Menschen an.
Ganz vereinzelt nur erkannte man auch im sozialistischen Lager, Nietzsche tue wohl daran, gegen »den Unsinn der Gleichmacherei« ins Feld zu ziehen, weil doch kein Mensch im Ernste an die Gleichheit glaube, tröstete sich aber damit: indem der Sozialismus Bildungs- und Entwicklungsfähigkeiten für viele schaffe, setze er die Ungleichheit der körperlichen und geistigen Veranlagung wieder in ihr ursprüngliches Recht ein, während für Nietzsche die Menschen doch »nur Ziffern« seien. So kam man zum Schluß: eine Vereinigung von Marx und Nietzsche bedeute das wahre Heil.
Von anderen allerdings wurde das Bekanntwerden mit Nietzsches Werken als ein persönliches Erlebnis geschildert. Zuweilen mit schlichtem Mutterwitz und einmal – bei einem Schlosser und früheren Hausierer –[88] mit entschiedener dichterischer Begabung und intuitiver Anschauung. Er fragt: »Blüht eine Blume so schön und strahlend, ein Bild der Gesundheit, blüht sie etwa aus Tugend?« und folgert aus der unausgesprochenen Antwort: auch der Mensch, wenn es ihn dränge, sich zu erneuern wie der stets abfließende Bach, um klar zu sein, um Neues hervorsprudeln zu können, handle nicht aus Tugend, sondern dies alles sei: »lediglich Drang nach Leben, nach Blühen, nach Früchte tragen, weil wir von Natur dazu geschaffen sind«.
Ein Spinner freilich verdankt Nietzsche nur »einige angenehme Stunden«, etwas besonderes habe er ihm damit nicht gegeben; die Herde könne wohl ohne den Übermenschen, dieser aber nicht ohne die Herde existieren. Ein Färber dagegen schätzt vor allem die goldenen Worte über die Bedingungen einer guten Ehe, und einem Taglöhner ist Nietzsche zum Wendepunkt seines Lebens und seiner geistigen Entwicklung geworden. Er erkannte als Kernpunkt seiner Philosophie die Aufpeitschung des Willens bis zum äußersten, zur Selbstüberwindung, zur Selbsterziehung im Dienste einer Idee, zur Hingabe an ein Werk. »Nicht woher ihr kommt, mache fürderhin euere Ehre, sondern wohin ihr geht!« Unsympathisch ist ihm jedoch »der brutale Herrenmensch«.
Gegen den Vorwurf, daß er das Recht des Stärkeren gegen den Schwächeren predige, verteidigt ein Metallarbeiter Nietzsche; denn sein Kampf richte sich viel mehr gegen den modernen Staat, der den Menschen in ein vorgeschriebenes Schema rubriziere. Dagegen erklärt ein Berliner Dreher: »Wohl empfinden wir Menschen alle subjektiv, aber es wäre verkehrt, vom Durchschnittsarbeiter zu verlangen, er solle in Nietzsche nicht den Herrenmenschen, sondern den Idealisten erblicken.« Ein einziger endlich wendet sich vom Sozialismus ab, vor allem von dessen Theoretikern, die alles auf eine politische Karte setzen; denn Nietzsche hat ihn gelehrt: »Das Leben erhöhen[89] und vermehren wir durch Verinnerlichung und Vergeistigung.«
So vielfältig auch die Meinungen sind, die sich auf die Frage »Was gab dir Nietzsche?« in diesen Antworten der isoliert Emporstrebenden aus der Arbeiterklasse spiegeln, so findet sich doch – wie sollte es auch anders sein – keine darunter, die sachlich Nietzsches Stellung zum Sozialismus aufdeckt. Jeder geht nur von der Frage aus, wie sich Nietzsche zum Wohlergehen der Masse gestellt habe, ohne zu erkennen, daß er den Sozialismus einzig im Hinblick auf die Ziele der Menschheit beurteilte.
Mit wohlbegründetem Zweifel fragte Nietzsche, ob sich in sozialistisch geordneten Zuständen ähnliche große Resultate der Menschheit ergeben können, wie in der Freiheit und Wildnis vergangener Zeiten. Die unvermeidliche Verneinung dieser Frage entschied bereits seine Stellung zur Sozialdemokratie, denn große Menschen und große Werke zu erzeugen, galt ihm alle Zeit als das höchste Ziel.
Was die Leiden der niederen Schichten betrifft, so ist es nach seiner Überzeugung ein Fehler, mit den Maßen der eigenen Empfindung des Höheren zu messen, wie als ob man selber mit seinem höchst reizbaren und leidensfähigsten Gehirn in die Lage jener versetzt werde. Die Leiden und Entbehrungen nehmen mit dem Wachstum der Kultur des Individuums zu. Die niedersten Schichten sind die stumpfesten; ihre Lage verbessern heißt also zugleich, sie leidensfähiger zu machen. Deshalb bleibt sein Haupteinwand gegen den Sozialismus bestehen, daß er den gemeinen Naturen im Übermaß den Müßiggang schaffen will. Das kann sich nur als verhängnisvoll erweisen, denn: »Der mäßige Gemeine fällt sich und der Welt zur Last«.
Wiederum tritt die Forderung auf: »So wenig als möglich Staat!« Ohne den herkömmlichen staatlichen Zwang würde der Einzelne viel Kraft sparen, die durch[90] das Losringen vergeudet wird. Wer individuell veranlagt ist, erfährt es immer wieder an sich, wie dieser staatliche Zwang durch unzählbare wesenlose Dinge auf seine Persönlichkeit drückt. Doch liegt die Ursache der staatlichen Bevormundung nach Nietzsches Überzeugung nicht bei den Sozialisten allein; denn vor allem sind es die Kaufleute, die diesen »Ofensorgenstuhl Staat« so einladend wie möglich machen möchten. Nietzsche opponiert daher gleichzeitig gegen alle politischen Parvenus, als ob er die Gefahren vorausgesehen hätte, denen wir nach dem Weltkrieg anheimfallen sollten. Nur wo sich von Geschlecht zu Geschlecht eine vornehme Gesinnung vererbt, Güte und Größe gewirkt hat, finden wir die Voraussetzungen für jenen höchsten Stolz, der sich väterlich und gütig zu den andern beugt. Aber Nietzsche denkt dabei nicht an Reaktion, im Gegenteil er versichert: »Wir wollen Todfeinde derer von den unseren sein, welche zur Verlogenheit Zuflucht nehmen und Reaktion wollen! … Was gehen uns die Fürsten und Priester der Gegenwart an, welche durch den Selbstbetrug leben müssen und wollen!«
Fast trifft er doch noch einmal auch im Positiven mit Stirner zusammen, wenn er von einer Gemeinschaft freier Einzelner spricht und sie erklären läßt: 1. Es gibt keinen Gott. 2. Keinen Lohn und Strafe für Gutes und Böses (sittliche Weltordnung). 3. Gut und Böse gilt je nach dem Ideal und der Richtung, in der wir leben. Auch Nietzsche denkt bei dem Worte Ideal, so wenig wie Stirner, an einen geheiligten Begriff, sondern Ideal bedeutet ihm die Vorwegnahme der Hoffnungen unserer herrschenden Triebe. Eine solche Gesinnung – machen wir es uns mit vollem Ernste klar – bedeutet einen Vorschritt weit über allen »Fortschritt« hinaus.
Bei den Sozialisten anerkennt Nietzsche: hier sind ebenfalls wirkliche Triebe und Willenskraft vorhanden. Assoziation und unerhörter Einfluß Einzelner. Es kommt[91] durch sie eine Zeit der Wildheit wieder, aber auch der Kraftverjüngung.
Nietzsches Hoffnung auf eine Gemeinschaft freier Einzelner an Stelle des unfreien Staatsbegriffes steht dem industriellen Staat ebenso ferne wie dem sozialistischen. Er ist der Frage nach der praktischen Ermöglichung dieser Gemeinschaft selten nachgegangen; auch hierin galt es für ihn, nur die grundlegenden Ideen zu erkennen. Von einer Verachtung der niederen Schichten, wie sie sozialistische Fanatiker ihm vorwarfen, kann nicht die Rede sein. Er dachte vielmehr sehr ernst an deren Wohl und war der Überzeugung, daß eine einsichtige Fürsorge ihnen bei bescheidenen Anforderungen ein Leben in Zufriedenheit ermöglichen könnte. Er will, daß sie es leicht haben, indem man ihnen nicht Unmögliches vorspiegelt. Schwer solle es nur der haben, um seiner selbst und der Menschheit willen, der berufen ist, neue Wege zu erschließen; denn nur aus seiner tiefsten Unzufriedenheit mit den Zeitverhältnissen erwachsen seine höchsten Ziele.
Nietzsche hatte selten Gelegenheit, mit dem Volke zu verkehren. Wo sie sich aber fand, da offenbarte sich sofort seine vornehme Art. So erzählte seine Genueser Wirtin aus der Zeit, da er dort an der »Morgenröte« arbeitete, wie freundlich er mit allen Hausgenossen verkehrte und wie gütig er an allen ihren kleinen Leiden und Freuden teilnahm. Sie nannten ihn »il santo« oder auch »il piccolo santo«. Ein Wort, das sein wahres Wesen im Verhältnisse zum Volke weit treffender kennzeichnet als die Auslegungen seiner Gedanken durch Parteipolitiker. Wo seine Persönlichkeit sich unmittelbar äußern konnte, da wurde die Fülle ihrer inneren Güte warm empfunden. Man bewunderte seine rührende Standhaftigkeit im Ertragen seiner Leiden, erzählte die Antwort, »sono contento«, die er mit Vorliebe auf die Frage nach seinem Befinden gab, und schätzte[92] ihn ein als eine Verkörperung jener Gesinnung, die er damals in den Worten zum Ausdruck brachte: »Eine nicht das Auge beleidigende Unabhängigkeit, ein gemildeter und verkleideter Stolz, ein Stolz, welcher sich abzahlt an die anderen, dadurch daß er nicht um ihre Ehren und Vergnügungen konkurriert und den Spott aushält. Dies soll meine Gewohnheiten veredeln: nie gemein und stets leutselig, nicht begehrlich, aber stets ruhig strebend und aufwärts fliegend; einfach, ja karg gegen mich, aber milde gegen andere.«
Wohl war diese Zeit in seinem Leben, die so ganz und gar von dem tiefen Dankgefühl eines Genesenden beherrscht wurde, am meisten geeignet, die persönliche Milde Nietzsches zum Ausdruck kommen zu lassen, die sich durchaus mit der Strenge seiner Ideale vertrug. »Dies ist die rechte idealische Selbstsucht: immer zu sorgen und zu wachen und die Seele still zu halten, daß unsere Fruchtbarkeit schön zu Ende gehe! So, in dieser mittelbaren Art, sorgen und wachen wir für den Nutzen aller; und die Stimmung, in der wir leben, diese stolze und milde Stimmung, ist ein Öl, welches sich weit um uns her auch auf die unruhigen Seelen ausbreitet.«
Aus einem seiner Notizbücher aus jener Zeit ergibt sich, daß er sich des Wortes »il santo« aus dem Munde jener einfachen Leute herzlich freute und es dankbar hinnahm, wenn sie ihm Kerzen für seine einsamen Abendstunden spendeten. Er schrieb: »Ich glaube, daß viele von uns, wenn sie mit ihren enthaltsamen, mäßigen Sitten, ihrer Sanftmut, ihrem Sinn fürs Rechte in die Halbbarbarei des 6. bis 10. Jahrhunderts versetzt würden, als Heilige verehrt werden würden.«
Ich hoffe nicht mißverstanden zu werden, wenn ich in dieser Weise Nietzsche mit einem Heiligen vergleiche. Wohl hat er den Ursprung dieses »seltenen Stück Menschentums« auf jene unheilbaren Selbstverächter zurückgeführt,[93] die aus unterbewußten Rachegefühlen zu großen Moralworten griffen und sich als geborene Feinde des Geistes erwiesen; aber daß er mit dem Worte auch andere Male die Vorstellung milder Güte verband, beweist uns sein Spruch, den Erwin Rohde einmal anführte, als es galt, das edle Wesen Nietzsches durch wenige Worte zu kennzeichnen. Er lautet:
Jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von Wert, denn er ist ein Repräsentant der Ewigkeit.
Goethe.
Befragen wir die Briefe Nietzsches aus der Zeit nach der Loslösung vom Lehramte in Basel über den äußeren Verlauf seines Lebens, so erfahren wir, daß er den Winter 1879 auf 1880 in Naumburg bei sehr schlechter Gesundheit verbrachte, aber trotzdem an Malwida von Meysenbug schrieb: »Kein Schmerz vermochte und soll vermögen, mich zu einem falschen Zeugnis über das Leben, wie ich es erkenne, zu verführen.« Immer lebhafter erwachte in ihm die Sehnsucht nach Süden und Sonne. Sie führte ihn von Naumburg nach Riva und dann nach Venedig. Venedigs wunderbarer Zauber gab ihm neue Schaffensfreude. »Hundert tiefe Einsamkeiten bilden zusammen die Stadt Venedig – dies ihr Zauber.« Als ihn die Sommerhitze und die Mosquitos aus der Lagunenstadt vertrieben, entschied er sich für eine leider erfolglose Kur in Marienbad.
Wer Nietzsches Briefe liest, erlebt mit ihm Kämpfe, die Herz und Hirn unter schweren körperlichen und seelischen Leiden miteinander ausfechten, ehe der Geist seine Siege und Überwindungen erzielt. Besonders in Marienbad bedrückte es ihn schwer, daß er durch die Neuheit seiner Gedanken und ihre radikale Fassung die Sympathie so mancher ehemals vertrauter Menschen verlor, an deren Liebe ihm doch so viel gelegen war. Manchmal nach sympathischen Unterhaltungen, auch mit wildfremden Menschen, übermannte ihn das Gefühl, daß es wohl töricht sei, Recht haben zu wollen um den Preis von Liebe. Dann drängte es auch ihn, der so tapfer jedes Seelenleid in sich verschloß, zur Klage, daß er den wenigen Menschen seines persönlichen Umgangs sein[95] Wertvollstes nicht mitteilen könne, um nicht die Sympathie aufzuheben.
Von Marienbad begab er sich im Frühherbst wiederum zu Mutter und Schwester nach Naumburg und dann nach Stresa am Lago Maggiore, um endlich in Genua die »Morgenröte« zu vollenden. Das gewitterreiche Frühjahr 1881 verbrachte er in Ricoaro bei Vicensa. Es erwies sich für sein Befinden höchst ungünstig. Um so beglückender gestaltete sich sein Sommeraufenthalt im Engadin. Entdeckte er doch nunmehr »den lieblichsten Winkel der Erde«, das »heroische Idyll« Sils-Maria.
Wie man Segantinis Landschaften am besten versteht, wenn man das Engadin und seine Eigenartigkeit der optischen Wirkung kennt, welche in der klaren sonnigen Höhenluft uns das Fernste nahe bringt, so kann man aus der Atmosphäre Sils-Marias, »wo Italien und Finnland zum Bunde zusammengekommen sind und die Heimat aller silbernen Farbentöne der Natur zu sein scheint«, das unvergleichliche Nahgefühl des Glückes bei Nietzsche verstehen, das als Lebensfreude aus schöpferischer Erkenntnis aufjauchzt, als Lichtfreude der unerschrockensten Redlichkeit emporleuchtet, als Höhenfreude frei von allem Nebel überlieferter Illusionen aufatmet und als Ewigkeitsfreude sich offenbart.
In Sils-Maria erlebte jener Gedanke seine Geburt, der Nietzsche so ungeheuer erschütterte, ihn so unsagbar überglücklich machte, daß er in Verzückung Tränen des Jauchzens weinte und unter die erste Niederschrift die Worte setzte: »Anfang August 1881 in Sils-Maria, 6000 Fuß über dem Meere und viel höher über allen menschlichen Dingen.« Es war der Gedanke der Ewigen Wiederkunft des Gleichen.
Wie kam es, daß ihn gerade dieser Gedanke gleich einer Offenbarung so beglücken konnte? Wir sind wohl auf der rechten Spur, wenn wir annehmen, daß durch[96] diesen Einfall ein unterbewußter Widerspruch gegen seine eigene Lehre eine Lösung für ihn erfuhr. Er bedeutete für seine Lehre nichts geringeres als die Möglichkeit, ohne Metaphysik bestehen zu können.
Während seiner ersten Schaffensperiode stand Nietzsche bewußt im Banne der Metaphysik Schopenhauers, während der zweiten Periode wollte er sich nur an das erfahrungsmäßig Gegebene halten. Aber dieser Verzicht seines Denkens auf alles, was wesenhaft hinter der Erscheinung liegt, konnte ihn unmöglich auf die Dauer befriedigen, noch seinem Ewigkeitsdrang genügen. Die Metaphysik erschien ihm auf ihren seitherigen Wegen als eines freien Geistes unwürdig, der Positivismus als unzulänglich für eine ernste Philosophie. Diese zwiefache Verneinung hüllte jeden Ausweg in Finsternis. Da leuchtete ihm plötzlich die Möglichkeit einer Errettung aus dieser Nacht wie ein Gestirn auf. Eine Lehre erstand vor ihm, die ohne religiösen Unsterblichkeitsglauben doch nicht von ihm verlangte, daß er sich in die Einsicht der Vergänglichkeit des Individuums finde, sondern dessen Fortdauer verkündete durch Einfügung in den Kreislauf der Ewigkeit, eine Lehre, die trotzdem von keinem Jenseits fabelte, sondern das wahre Geheimnis der Welt nicht im Unsichtbaren, sondern im Sichtbaren sah, eine Lehre, die verkündete: »Dieses Leben – dein ewiges Leben!« In diesen fünf Worten ist der entscheidende Sinn der Lehre der Ewigen Wiederkunft des Gleichen enthalten, ein Sinn, der auch dann noch bestehen bleibt, wenn uns Nietzsches theoretische Begründung nicht überzeugt.
Nietzsche hat einmal gesagt: »Je abstrakter die Wahrheit ist, die man lehren will, um so mehr muß man erst die Sinne zu ihr verführen.« Beherzigen wir diese Mahnung, um zunächst einmal die Denkbarkeit seiner Lehre vorzubereiten. Beim Schachspiel sind außerordentlich viele Kombinationen möglich; immerhin aber ist ihre[97] Zahl begrenzt. Daraus folgt, daß bei unendlich vielen Spielen das gleiche Spiel notwendigerweise wiederkehren muß. Das gilt nicht nur vom einzelnen Spiel, sondern auch von der Reihenfolge sämtlicher möglichen Spiele, so daß wir zum Schlusse kommen, daß die gleiche Reihe, in der alle, aber auch rein alle Möglichkeiten enthalten sind, sich wiederholen und immer wieder wiederholen muß, sobald wir an eine unendlich große Zahl von Spielen denken. Es ergibt sich somit beim Schachspiel für uns die Ewige Wiederkunft des Gleichen für den ganzen Ring der Möglichkeiten. Ich glaube, diese Notwendigkeit ist unserem Denken vorstellbar. Was folgt hieraus für die Frage nach dem Weltenlauf? Wenn die Allkraft, wie Nietzsche annimmt, nichts Unendliches, sondern in ihrem Maße Bestimmtes ist, so ist auch die Zahl der Lagen, Veränderungen, Kombinationen dieser Allkraft zwar ungeheuer groß und praktisch unermeßlich, aber eben doch der Zahl nach bestimmt, wie die Zahl der Möglichkeiten beim Schachspiel bestimmt ist.
Gelingt es unserer Phantasie, eine unendliche Zeit uns vorzustellen, so können wir mit Nietzsche folgern: also müssen alle möglichen Kombinationen schon einmal dagewesen sein. Daraus folgt dann, daß auch die augenblickliche Entwicklung eine Wiederholung ist und daß diese gleiche Wiederholung derselben Kombination auch in alle Ewigkeit stattfindet.
Dieser Beweisführung ist logisch nicht zu widersprechen, so sehr sich unsere Phantasie gegen eine solche Vorstellung auflehnt. Die Frage ist jedoch, ob Nietzsches Voraussetzung zutrifft. Ob wir ihm zugestehen, daß die Zeit zwar unendlich, die Allkraft aber endlich zu denken ist. Nur dann müssen wir mit ihm folgern: »Alles ist unzählige Male dagewesen, insofern die Gesamtlage aller Kräfte wiederkehrt.«
Die Lehre der Ewigen Wiederkunft taucht nicht etwa bei Nietzsche erstmals auf, sondern die Idee einer Wiederkehr[98] des Gleichen ist uralt. Man begegnet ihr bei den Orphikern, bei Pythagoras, bei Heraklit, Anaximander und Empedokles; dann bei Plato und den Stoikern.
Öhler hat uns das wiederholte Auftauchen dieses Gedankens in der Antike eingehend nachgewiesen, und Lichtenberger seine Wiederkehr bei den beiden Franzosen L. A. Blanqui und Gustave Le Bon; Simmel hat Nietzsches Theorie mathematisch widerlegt, Lou Salomé auf sie als eine Umkehrung der indischen Lehre der Wiedergeburt verwiesen; »nicht Befreiung von dem Wiederkunftszwange, sondern freudige Bekehrung zu ihm«; Oskar Ewald hat ihren tiefen Zusammenhang bei Nietzsche mit der Lehre vom Übermenschen aufgedeckt und Ernst Horneffer die Schicksale der Veröffentlichung durch das Nietzsche-Archiv kundgegeben.
Für Nietzsche bedeutete die Lehre der Ewigen Wiederkehr die extremste Form des Fatalismus. Sie steht daher in innigem Zusammenhang mit der Frage der Willensfreiheit. Als tätig erlebende Menschen glauben wir an einen freien Willen, weil wir unausgesetzt das Nebeneinander verschiedener Triebe und den Sieg des einen über die anderen in unserem Bewußtsein erleben. Als positiv erkennende Menschen dagegen sind wir von der Determiniertheit alles Geschehens überzeugt, also auch davon, daß die Taten der Menschen aus ihrem Charakter und den wirkenden Motiven mit Notwendigkeit hervorgehen. So ergibt sich das Paradoxon: alles ist notwendig vorausbestimmt, aber auch das ist vorausbestimmt, daß wir als Handelnde nicht daran glauben.
Diesem Widerspruch bleibt auch Nietzsches Lehre unterworfen. Nur die Metaphysik, die uns lehrt, Freiheit ist ein negativer Begriff, sie bedeutet soviel wie Grundlosigkeit, Ursprünglichkeit, hebt den Widerspruch zwischen Notwendigkeit und Freiheit auf, indem sie besagt, die Notwendigkeit betrifft das Wirken und Tun, die Freiheit das Sein und Wesen. Sie führte notgedrungen[99] zur Unterscheidung einer Erscheinungswelt und einer Welt als Willen. Diese Zweiheit aber leugnete Nietzsche, als er Begriffe wie unendlich und ewig auf die Welt als Erscheinung anwandte.
Auch bei rein logischer Betrachtung läßt sich in Nietzsches Theorie eine Widersinnigkeit nachweisen. Wenn ich etwas, das ich heute erlebe, schon einmal oder viele Male erlebt habe, so unterscheidet es sich schon dadurch von dem vorangegangenen Erlebnis, daß es eine soundsovielte Wiederholung ist. Da die Vergangenheit in der Gegenwart und Zukunft fortlebt, wird schon durch die Wiederholung eine Verschiedenheit gegeben. Der Begriff Ewige Wiederkunft des Gleichen erfährt somit schon in sich selbst eine Widerlegung.
Am besten jedoch widerlegen wir Nietzsches Lehre, wenn wir ihr eine andere Lösung als Ideal gegenüberstellen.
Wenn wir nicht wie die mythologische Metaphysik an eine einmalige Schöpfung glauben, dagegen aber in allem, was in uns und um uns vorgeht, eine andauernde Schöpfung sehen, dann gelangen wir auf unserem Wege zu dem gleichen Resultat, um das es Nietzsche zu tun war. Auch wir fragen nicht, indem wir uns ehrfürchtig des andauernden Werdens erfreuen, nach einer nie zu erlangenden Ursache der Ur-sache, auch wir lassen die Allkraft als gegeben gelten und definieren die Natur als »gebärende Macht«. Wenn wir dies tun:
Mit diesen Worten Goethes wird genau dasselbe gesagt, was Nietzsche in die fünf Worte faßte: »Dieses Leben – dein ewiges Leben«.
Die Lehre einer ewigen andauernden Schöpfung steht nicht nur in Übereinstimmung mit Meister Eckardt, Silesius, Cardanus, Helmont, Descartes und Leibniz,[100] sondern auch unter Verzicht auf jeden mythologischen Hintergedanken mit Goethe. Er glaubte, wie unter anderem aus einem Briefe an Tauscher hervorgeht, an eine »innere fortdauernde Schöpfung«, sowie an »eine ursprüngliche gleichzeitige Verschiedenheit«. Auch Henri Bergson verkündet uns in seinem Buche »Schöpferische Entwicklung«: alles im Begriff des Schöpferischen bleibt dunkel, solange man, wie wir gewohnt sind, an Dinge denkt, die geschaffen werden, und an ein Ding, das schafft. Sehen wir dagegen ab von einem Gott als etwas Abgeschlossenem und setzen dafür eine ursprüngliche, andauernd schöpferisch aussprühende Kraft, die Vorstellung eines unaufhörlichen Lebens, das Tat und Freiheit ist, so verschwindet für uns das Wunder; dann erfahren wir die Schöpfung in uns selbst, sobald wir frei handeln.
Diese Vorstellung einer fortdauernden Schöpfung, die wir durch Goethes Aussprüche und Bergsons Lehre in Übereinstimmung mit Nietzsches Atheismus gewinnen, erfüllt in überzeugender Weise die Aufgabe, zeitliches Leben untrennbar mit dem Begriff der Ewigkeit zu verbinden. Sie ermöglicht uns, Nietzsches Lehre abzulehnen, ohne das Ergebnis zu verlieren, auf das es ihm ankam.
Die Unbeweisbarkeit seiner Theorie hat Nietzsche selbst eingesehen, nachdem er vergeblich aus Robert Mayers »Lehre von der Erhaltung der Kraft«, aus Bahnsens Schrift »Zur Philosophie der Geschichte« und anderwärts nach ausreichenden physikalischen Feststellungen für sie gesucht hatte. Doch hoffte er seine Lehre wenigstens als Hypothese retten zu können mit den Worten: »Wenn die Kreiswiederholung auch nur eine Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit ist, auch der Gedanke einer Möglichkeit kann uns erschüttern und umgestalten, nicht nur Empfindungen und bestimmte Erwartungen. Wie hat die Möglichkeit der ewigen Verdammnis gewirkt!«
Man hat Nietzsches Lehre auch als Fiktion bezeichnet.[101] Aber auch diese Bezeichnung möchte ich zurückweisen. Unter Fiktion verstehen wir nach Vaihinger nur einen Kunstgriff des Geistes, also eine Aussage, die wir zu bestimmtem theoretischen oder praktischen Zweck machen, obwohl wir von der Unwirklichkeit oder gar Unmöglichkeit überzeugt sind. Das trifft bei Nietzsche nicht zu. Die Lehre sollte nach seiner Absicht ursprünglich als Dogma oder zum mindesten als Hypothese wirken. Zum Glück für uns versagte sie diesen Dienst. Denn nunmehr kam Nietzsche zu der Überzeugung, daß ihr Wahrheitsgehalt nur dichterisch mitzuteilen sei, wie es denn auch im »Zarathustra« geschah. Es ist ungemein vielsagend, daß sich in seinem Unterbewußtsein die Entstehung der Lehre der Ewigen Wiederkunft und die Geburt des Zarathustra vereinigten, so daß sie später in seiner Erinnerung in eins zusammenfielen. Die betreffende Stelle in »Ecce homo« lautet: »Ich erzähle nunmehr die Geschichte des Zarathustra. Die Grundkonzeption des Werkes, der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke, diese höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann, gehört in den August des Jahres 1881: er ist auf ein Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift: »6000 Fuß jenseits von Mensch und Zeit«.
Wir verfahren daher durchaus frei von Willkür, wenn wir letzten Endes uns nur an die symbolische Bedeutung des Gedankens halten. Der Ort, uns hierüber auszusprechen, kann nur das Kapitel sein, das dem Zarathustra gewidmet ist. An dieser Stelle aber muß es uns genügen, nochmals zu betonen, daß Nietzsches Bewußtsein darauf gerichtet war, fernab von allen unzugänglichen Regionen eine antimetaphysische Lehre zu verkünden, daß er jedoch vom Aufleuchten seiner Lehre nur deshalb so beglückt wurde, weil die praktische Bedeutung, die er ihr beilegte, ihn vom Positivismus zur Philosophie zurückführte.
»Der religiöse Glaube nimmt ab und der Mensch[102] lernt sich als flüchtig begreifen und als unwesentlich, er wird endlich dabei schwach, er übt sich nicht so im Erstreben, Ertragen, er will den gegenwärtigen Genuß, er macht's sich leicht.« Aber, verkündete Nietzsche in der »Fröhlichen Wissenschaft«, »wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei allem und jedem: ›willst du dies noch einmal und noch unzählige Male?‹ würde als das größte Schwergewicht auf deinem Handeln liegen!« So gelangt er zu der Aufforderung: »Drücken wir das Abbild der Ewigkeit auf unser Leben! Dieser Gedanke enthält mehr als alle Religionen, welche dies Leben als ein flüchtiges verachteten und nach einem unbestimmten anderen Leben hinblicken lehrten.« Der neue Glaube soll »die Religion der freiesten, heitersten und erhabensten Seelen sein – ein lieblicher Wiesengrund zwischen vergoldetem Eise und reinem Himmel«.
Es kann kein Zweifel bestehen: der Gedanke der Ewigen Wiederkunft stieg bei Nietzsche als ein plötzlicher Einfall auf. Aber damit ist nicht gesagt, daß er nicht schon lange vorher nach einem solchen Gedanken suchte. Merkwürdig, daß man diese Frage noch nicht geprüft hat. Seine Briefe ergeben keine Andeutungen. Aber wie verhält es sich mit dem letzten Aphorismus der »Morgenröte«, dem gerade als Schlußwort besondere Bedeutung zukommt? »Wir Luftschiffahrer des Geistes« ist er überschrieben. Sein Anfang fragt: Alle diese kühnen Vögel, die am weitesten hinausfliegen, irgendwo werden sie nicht mehr weiter können und sich auf einen Mast oder eine kärgliche Klippe niederhocken. Wollen sie denn über das Meer? Und sein Schluß lautet: »Wohin reißt uns dieses mächtige Gelüste, das uns mehr gilt als irgendeine Lust? Warum doch gerade in dieser Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit untergegangen sind? Wird man uns vielleicht[103] einstmals nachsagen, daß auch wir, nach Westen steuernd, ein Indien zu erreichen hofften, daß aber unser Los war, an der Unendlichkeit zu scheitern? Oder, meine Brüder? Oder?«
Bedeutsam ist dieser Schluß gewiß. Darauf hat Nietzsche selbst später hingewiesen mit den Worten: »Dieses Buch schließt mit einem Oder? – es ist das einzige Buch, das mit einem ›Oder‹ schließt …« Bedeutsam wofür? Ist es unser Los, an der Unendlichkeit zu scheitern? Als Nietzsche auf diese Frage mit einem »Oder« antwortete, da verriet er uns doch wohl, daß er nach einer Lehre suchte, die diese Gefahr eines Scheiterns an der Unendlichkeit aufheben solle. Ist dem so, dann verstehen wir, wie sehr ihn der Augenblick beglücken mußte, der ihm diese Lehre schenkte. Wie bedeutsam erscheinen uns dann auch die Verse, die er Lou Salomé in ein Widmungsexemplar der »Fröhlichen Wissenschaft« schrieb:
Der helle hehre Klang dieses Gedichtes entspricht der heiteren A-Dur-Tonart jenes Buches, in dem Nietzsche als Anti-Metaphysiker – so hat er selbst sich genannt – erstmals seine Lehre von der Ewigen Wiederkunft verkündigte und in dem er seine heroische Lebensbejahung am entschiedensten zum Ausdruck brachte. Wir dürfen daher das folgende Kapitel, das der Betrachtung der »Gaya Scienza« gewidmet ist, »Der Ja-Sager« überschreiben und ihm Verse Gottfried Kellers voranstellen, die Nietzsche selbst einmal als treffenden Ausdruck seiner Lebensbejahung wählte.
Gottfried Keller.
Die Morgenröte ist ein jasagendes Buch, tief, aber hell und gütig. Dasselbe gilt noch einmal und in höchstem Grade von der gaya scienza: fast in jedem Satz derselben halten sich Tiefsinn und Mutwillen zärtlich an der Hand,« schrieb Nietzsche in »Ecce homo«. Mit dem provençalischen Begriff gaya scienza – so nannten die Troubadours ihre Kunst – wollte er an die Einheit von Sänger, Ritter und Freigeist erinnern, mit der sich jene wunderbare Frühkultur der Provençalen gegen alle zweideutigen Kulturen abhebt.
Die »Fröhliche Wissenschaft« oder »Gaya Scienza« wurde in der Fassung, welche die Urausgabe bietet, im Winter 1881 auf 1882 in Genua geschrieben. Dorthin hatte sich Nietzsche bereits im Herbst vom Engadin aus begeben. Sie war ursprünglich als Fortsetzung der »Morgenröte« gedacht, ehe sie ihren eigenen Titel erhielt. Nietzsches Produktivität setzte hellsten Himmel voraus und vollste Freudigkeit des Geistes und Leibes. Den hellsten Himmel ließ ihm Genua zuteil werden und die vollste Freudigkeit verdankte er dem bezaubernden Gefühl der Genesung, das ihm die wechselvollen Zustände seiner Gesundheit immer wieder bescherten. Während der Krankheitsanfälle enthielt er sich jeder Arbeit. »Ich traue keinem Gedanken, der bei bedrückter Seele und betrübten Eingeweiden entstanden ist, und was nun gar bei Kopfschmerzen geschrieben sein sollte, wird sicherlich vernichtet«, berichtete er einmal seiner Schwester, die sich frühzeitig als sein tapferer Kamerad entwickelte.
Bei ihrer Darstellung seines Lebens kommt man zu der Annahme, daß es sich bei ihrem Bruder ursprünglich um eine Migräne handelte, die sich nur durch geistige Überarbeitung[105] bei sehr schonungsbedürftigen Augen, falsche Diät und unmäßige Anwendung von Medikamenten verschlimmerte. Andere vertreten die Ansicht, daß man bei Nietzsche, wenn man seine brieflichen Krankheitsberichte verfolgt, schon sehr frühzeitig den Eindruck eines tiefgründenden schweren Leidens erhält, gegen das seine kräftige Natur und vorsichtig prüfende Lebensweise mit ungeheuerer Willensstärke und großer Zweckmäßigkeit ankämpfte.
Der »Fröhlichen Wissenschaft« gehen eine Anzahl Sprüche voran, die sie unter dem Titel »Scherz, List und Rache« einleiten. Diese Bezeichnung ist dem gleichlautenden Singspiel Goethes entnommen, das Peter Gast in Musik setzte. Als charakteristisch möchte ich erwähnen, daß mehrere der kleinen Gedichte, die zweifellos in ihrer Fassung durch Goethe und Hans Sachs beeinflußt wurden, mit dem Ausruf Ja! beginnen. So auch das folgende:
»Licht wird alles, was ich fasse!« Verwandte Gedanken kehren auch im Buche selbst wieder. In reiner Luft fühlt sich Nietzsche als Nebenbuhler des Lichtstrahls. »Der Erde Licht bringen, das Licht der Erde sein! Und dazu haben wir unsere Flügel und unsere Schnelligkeit und Strenge, um dessentwillen sind wir männlich und selbst schrecklich gleich dem Feuer.«
Auch wo er negieren muß, fügt er jetzt meist die Bejahung hinzu. So wenn er in dem Aphorismus »Gegen die Verleumder der Natur« jenen unangenehmen Menschen, bei denen jeder natürliche Hang sofort entstellt wird, die vornehmen Naturen gegenüber sieht, die sich ihren Trieben mit Anmut und Sorglosigkeit überlassen[106] dürfen, die vor sich keine Furcht haben, jene freigeborenen Vögel, die mit ihm singen dürfen: »wohin wir auch kommen, immer wird es frei und sonnenlicht um uns sein«. Unter ihnen findet man wohl am ehesten solche Glückliche, die sich auf die Improvisation des Lebens verstehen und auch den zufälligsten Ton in das thematische Gefüge einzuordnen vermögen und dem Zufalle einen schönen Sinn und eine Seele einhauchen. Aber auch jene Stolzen, die das Mißlingen einer Absicht nicht niederdrückt, sondern die sagen dürfen: »Ich weiß mehr vom Leben, weil ich so oft daran war, es zu verlieren, und eben darum habe ich mehr vom Leben als ihr alle.« Solche Menschen weisen die negativen Tugenden von sich, jene Tugenden, deren Wesen das Verneinen und Sichversagen selber ist. Ihr Ziel bestimmt nicht nur ihr Tun, sondern auch ihr Lassen; denn indem wir tun, lassen wir auch.
Es ist bezeichnend für Nietzsches hohe Einschätzung aller natürlichen Anmut, daß er nunmehr die Epikuräer, die den eigenen Garten haben, unter den geistigen Arbeitern den Stoikern vorzieht. »Ihnen wäre es nämlich der Verlust der Verluste, die feine Reizbarkeit einzubüßen und die stoische harte Haut mit Igelstacheln dagegen geschenkt zu bekommen.«
Seine Abwendung von Angriff und Verteidigung kommt auch unmittelbar in sympatisch berührenden Worten zum Ausdruck. »Ringen wir nicht im direkten Kampfe! – und das ist auch alles Tadeln, Strafen und Bessernwollen. Sondern erheben wir uns selber um so höher! Geben wir unserem Vorbilde immer leuchtendere Farben! Verdunkeln wir den andern durch unser Licht!« Aber selbst dieser eigene Ausspruch erscheint ihm nunmehr zu tadelnd. Darum fügt er als unbedingter Jasager hinzu: »Nein! Wir wollen nicht um seinetwillen selber dunkler werden gleich allen Strafenden und Unzufriedenen! Gehen wir lieber beiseite! Sehen wir weg!«
Möge der Leser hinter solchen Worten nicht Kampfmüdigkeit vermuten. Aus ihnen spricht nur jenes Geltenlassen, dem wir auch in Goethes Heiterkeit begegnen. Denn Nietzsche war nicht vom Leben enttäuscht. »Das Leben ein Mittel der Erkenntnis – mit diesem Grundsatze im Herzen kann man nicht nur tapfer, sondern sogar fröhlich leben und fröhlich lachen! Und wer verstünde überhaupt gut zu lachen und zu leben, der sich nicht vorerst auf Krieg und Sieg gut verstände?«
Erst aus dieser tapfer heiteren Lebensbejahung heraus konnte Nietzsche auch der von ihm so oft angegriffenen Religion des Mitleidens die Mitfreude entgegenhalten. Man hat zwar mit gutem Willen und bester Gesinnung, aber doch mit Unrecht versucht, seinen scharfen Worten gegen das Mitleiden die Spitze abzubrechen, indem man gleichsam zur Entschuldigung sagte, Nietzsche sei weichherzig und allzu sensibel gewesen, er habe daher für sich selbst der Mahnung bedurft: werde hart! um nicht am Mitleiden zugrunde zu gehen; wie man überhaupt gern die Subjektivität seiner Lehre betonte, die sozusagen Lebensvorschriften umfasse zugunsten seines Wunsch-Ichs, nicht aber seinem eigentlichen Wesen entspräche. Aber solche subjektive Erklärungen sind nur soweit zulässig, als dadurch die objektive Bedeutung seiner Lehre und sein Radikalismus nicht verkleinert werden.
Wohl versagte sich Nietzsche nicht im Leben dem praktischen Mitleiden, wo er dadurch einen Schmerz mildern konnte; aber eine solche Hilfsbereitschaft steht in keiner Weise in Widerspruch mit seiner Abwehr der Gefahren des intellektuell verherrlichten Mitleids. Ist das, frug er sich, woran wir am tiefsten und persönlichsten leiden, nicht fast allen anderen unverständlich und unzugänglich, wird unser Leiden nicht immer zu flach ausgelegt? Es gehört zum Wesen der mitleidigen Affektion, daß sie das fremde Leid des eigentlich Persönlichen entkleidet. Meist liegt etwas Empörendes in der intellektuellen Leichtfertigkeit,[108] mit der da der Mitleidige das Schicksal spielt. Er will helfen und denkt nicht daran, daß es eine persönliche Notwendigkeit des Unglücks gibt. Und nun gar das Mitleiden mit sich selbst, diese »Religion der Behaglichkeit«, die da nicht weiß, daß Glück und Unglück Zwillinge sind, die miteinander groß wachsen, oder aber wie bei den Behaglichen miteinander – klein bleiben.
Wie oft ist es leichter, dem Mitleiden nachzugeben, statt sich ihm zu verschließen, wo es gilt auf dem eigenen Wege zu beharren in gewollter Unwissenheit über das, was den Zeitmenschen als das wichtigste dünkt. Helfen? Ja! Aber dort nur, wo man auf Grund verwandter Art sich in die bestehende Not wahrhaft einfühlt und sie versteht. Helfen auf die Weise, auf die man auch sich selbst am besten hilft: die Freunde mutiger, aushaltender, einfacher, fröhlicher machen! Also das lehren, was jetzt so wenige verstehen und jene Prediger des Mitleidens am wenigsten: – die Mitfreude!
Auch Goethe fragte: »Vermagst du, wenn deiner Freunde innere Seele von einer ängstigenden Leidenschaft gequält, vom Kummer zerrüttet ist, ihnen einen Tropfen Linderung zu geben?« und antwortete: »Du vermagst nichts auf deine Freunde, als ihnen ihre Freude zu lassen und ihr Glück zu vermehren, indem du es mit ihnen genießest!«
Nietzsche hat durch seine mächtige Betonung der Mitfreude gewiß schon vielen Menschen die Widerstandskraft gegen die Unbilden des Lebens gestärkt. Wer seine Gedanken sich einverleibt, wird gewissermaßen immun gegen die Gefahren der Depression. Schicksalsschläge vermag niemand abzuwenden. Aber indem wir die Freude in der Welt mehren, erhöhen wir die Fähigkeit, Leiden ungebrochener und würdiger zu tragen. Daß Nietzsches Lebensbejahung nicht im Sinne eines zügellosen »Auslebens« zu verstehen ist, das erst zu beweisen, erscheint[109] heute kaum mehr erforderlich. Wie sollte er, der so eifrig darauf aus war, unserem Leben den Stempel der Ewigkeit aufzudrücken, in seiner Verherrlichung der Lebensfreude auch nur von ferne an den Taumel flüchtiger Menschen in gemeinem Genuß gedacht haben! Nur wen der heilige Ernst erfüllt, der ihn mit der Ewigkeit verknüpft, erwirbt sich die Tiefe, aus der allein wahre Freude und heiterste Lebensbejahung aufzusteigen vermag.
Man hat mich oft gefragt, welches Werk von Nietzsche ich als dasjenige empfehle, das man in erster Linie lesen solle. Ich empfehle die »Fröhliche Wissenschaft«. Es ist nicht nur »das liebenswürdigste Buch« Nietzsches, sondern auch dasjenige, das am unmittelbarsten Freude bringt und also in den Geist seiner Lehre einführt. »Ich will immer mehr lernen, das Notwendige an den Dingen als das Schöne sehen: – so werde ich einer von denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe!«
Amor fati, als Liebe zum Schicksal, das war die Verkündigung, die zugleich auch ihm, dem schwer Leidenden, nicht nur Trost bereitete, sondern auch den Mut und den Stolz stärkte, in keiner Lebenslage zu verzweifeln. Der nur ist der wahre Jünger Nietzsches, der ihm hierin nicht die Nachfolge versagt. Wenn wir unser persönliches Ungemach aufbauschen, beklagen und beseufzen, wäre es auch nur im Selbstgespräch, so vermehren wir damit die Verdrossenheit und zumeist auch die das Leben vergiftende moralische Entrüstung. Wie leicht müssen wir alle unser privates Ungemach finden, sobald wir es wägen mit dem Gewicht der schmerzerfüllten wahrhaftigen Fernstenliebe Nietzsches. Sein Genius lehrte ihn, überpersönlich das große Leid der Menschheit in sich aufzunehmen, um der Verdüsterung des Lebens durch kleines Leid entgegenzuwirken. Nicht damit er den Opfertod suche, sondern trotz alledem und alledem zu leben wisse und durch den Stolz des Ertragens und[110] weise Sinngebung ewiger Bedeutung den Wert des Lebens in Freude wandle, erfüllt von dem tapferen Entschlusse: »alles in allem und großem: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-Sagender sein!«
– Das letzte Buch der »Fröhlichen Wissenschaft« ist ebenso wie die Vorrede der zweiten Auflage erst vier Jahre später entstanden. Wohl schließt es sich in seinen Gedankengängen den ersten Teilen unmittelbar an, doch erkennen wir aus ihm, wie recht wir hatten, in der »Fröhlichen Wissenschaft« einen Übergang aus den Eisgefilden analytischer Wissenschaft auf den fruchtbaren Boden Werte bestimmender Philosophie zu erwarten. Mit bewußter Entschiedenheit spricht der Philosoph es nunmehr aus, daß die großen Probleme sich nicht von denen fassen lassen, die sie nur mit den Fühlhörnern des kalten neugierigen Gedankens antasten. »Die Selbstlosigkeit hat keinen Wert im Himmel und auf Erden; die großen Probleme verlangen alle die große Liebe, und dieser sind nur die starken, runden, sicheren Geister fähig, die fest auf sich selber sitzen.«
Auch das Verlangen nach Gewißheit, »welches sich heute in breiten Massen wissenschaftlich-positivistisch entladet«, wird nur als Instinkt der Schwäche bezeichnet. Der Spezialist kommt bei fast allen Büchern von Gelehrten irgendwo zum Vorschein, und »jeder Spezialist hat seinen Buckel«. Aber auch dieser Verneinung wird sofort von Nietzsche ehrfürchtig als Bejahung die Wertschätzung jeder Art Meisterschaft und Tüchtigkeit zur Seite gestellt.
Die Kunst tritt wieder in die Rechte ihrer Beachtung ein. Auch die Kunst, wie die Philosophie, setzt Leidende voraus. Aber es gibt zweierlei Leidende, solche die an der Verarmung des Lebens leiden und um Erlösung von sich oder Berauschung suchen, und solche, die an der Überfülle des Lebens leiden und darum eine dionysische Kunst wollen und ebenso eine[111] tragische Ansicht und Einsicht in das Leben. Eine Kunst dieses Ursprungs, in der der Wille zum Verewigen aus Dankbarkeit und Liebe kommt, wird immer eine Apotheosenkunst sein, »dithyrambisch vielleicht mit Rubens, selig-spöttisch mit Hafis, hell und gütig mit Goethe und einen Homerischen Licht- und Glorienschein über alle Dinge breitend«.
Neben den Problemen des Lebens, der Erkenntnis, des Bewußtseins, der Religion und der Moral – schon wird »Jenseits von Gut und Böse« genannt, und wiederum der »Wille zur Macht« erwähnt – vernehmen wir Klänge, die den Zarathustra präludieren. Der Halkyonier, der Heimatlose, der gute Europäer, der freie Geist, der Gottlose und die Argonauten des Ideals stehen dem Humanitarier und dem modernen Menschen gegenüber und künden uns als Vorläufer des Übermenschen die Erhöhung des Typus Mensch an. Das Ideal »eines menschlich-übermenschlichen Wohlseins und Wohlwollens, das oft genug unmenschlich erscheinen wird«, steigt in der Perspektive auf, und zwar ganz und gar im Geiste der Verheißung, welcher die »Fröhliche Wissenschaft« erfüllt, als freudigste schöpferische Lebensbejahung.
Freundschaft kann sich bloß praktisch erzeugen, praktisch Dauer gewinnen. Neigung, ja sogar Liebe hilft alles nichts zur Freundschaft. Die wahre, die tätige, produktive besteht darin, daß wir gleichen Schritt im Leben halten, daß er meine Zwecke billigt, ich die seinigen, und daß wir so unverrückt zusammen fortgehen, wie auch sonst die Differenz unserer Denk- und Lebensweise sein möge.
Goethe.
Wir besitzen kein Generalregister zu Nietzsches Werken. Das Nietzsche-Archiv trug sich mit der Absicht, es auszuführen, kam aber zu der Erkenntnis, daß diese Aufgabe kaum in befriedigender Weise zu lösen sei. Eher wäre vielleicht ein Nietzsche-Lexikon zu denken, in der Art wie Frauenstädt sein Schopenhauer-Lexikon zusammenstellte. Richard M. Meyer hatte ein solches geplant, starb aber vor seiner Ausführung. Freilich, auch ein Wörterbuch bliebe ein zweckloses Unterfangen, wenn es nur das Gerippe von Nietzsches Philosophie darböte. Wir können bei Nietzsche nicht der seelischen Schwingungen entbehren, die sich in Wort, Ton und Farbe seiner Aphorismen offenbaren, nicht die Musik seiner Sprache, die sie unserem Gefühlsverständnis übermittelt.
Nun, auch ohne ein solches Hilfsbuch dürfen wir hoffen, daß uns kein wesenhafter Ausspruch seiner Ansichten über die Freundschaft entgeht. Nicht systematisches Suchen, wohl aber instinktives Finden muß sie uns zuführen; denn wo es nicht an der Einfühlung fehlt, da erweist sich »Majestät Zufall« stets als huldvoll.
Der Glorienschein, der heute die Geschlechtsliebe umgibt, verdankt sich dem christlichen Mittelalter. Die Antike kannte ihn nicht. Um so höher schätzte sie die Freundschaft. Und wie die Antike, so tat auch Nietzsche. Zur Zeit da er mit Vorliebe analysierend dem triebhaften Ursprung der Gefühle nachging, sah er in der[113] Liebe vor allem den Drang nach neuem Eigentum. Der Liebende will den unbedingten Alleinbesitz der von ihm ersehnten Person, er will allein geliebt sein und als das Höchste und Begehrenswerteste in der anderen Seele wohnen und herrschen. Wie kann man also in der Liebe den Gegensatz des Egoismus sehen?! Wohl aber, sagt Nietzsche, gibt es hier und da auf Erden eine Art Fortsetzung der Liebe, bei der jenes habsüchtige Verlangen zweier Personen nach einander »einem gemeinsamen hohen Durste nach einem über ihnen stehenden Ideale gewichen ist: aber wer kennt diese Liebe? wer hat sie erlebt? Ihr rechter Name ist Freundschaft«. – »Die Liebe vergibt dem Liebenden sogar die Begierde«, heißt es ein andermal. Aber das bestätigt uns nur, daß Nietzsche nicht die Begierde, auch wo sie sublimiert als Liebe erscheint, für das Höchste galt, sondern die Freundschaft, und zwar die Freundschaft, die aus dem Sehnen nach einem gemeinsamen Ideal erwächst. Ja, wer hat sie erlebt? Er mußte schon nach der Antike ausschauen, um Beispiele ihrer höchsten Einschätzung zu finden.
Daß das Gefühl der Freundschaft dem Altertum als das höchste Gefühl galt, höher selbst als der gerühmteste Stolz der Selbstgenügsamen und Weisen, dafür wird von Nietzsche als Beweis die Frage angeführt, die jener mazedonische König stellte, als ein weltverachtender Philosoph Athens sein Geschenk zurückwies: »Wie? hat er denn keinen Freund?« Denn mit dieser Frage wollte der König sagen: »ich ehre diesen Stolz des Weisen und Unabhängigen, aber ich würde seine Menschlichkeit noch höher ehren, wenn der Freund in ihm den Sieg über seinen Stolz davongetragen hätte. Vor mir hat sich der Philosoph herabgesetzt, indem er zeigte, daß er eines der beiden höchsten Gefühle nicht kennt – und zwar das höhere nicht«.
Vielleicht dachte Nietzsche schon an diese Anekdote, als er in der »Morgenröte« bemerkte, nur in der Antike[114] wäre der Einwand gegen das philosophische Leben möglich gewesen, daß man mit ihm seinen Freunden unnützlich werde. Dieser Einwand wäre nie einem Modernen gekommen. Denn wir haben nur die idealisierte Geschlechtsliebe aufzuweisen, während alle großen Tüchtigkeiten der antiken Menschen darin ihren Halt hatten, daß Mann neben Mann stand. Charakteristisch für sein Ideal einer männlichen Kultur tut Nietzsche den Ausspruch: »Vielleicht wachsen unsere Bäume nicht so hoch, wegen des Efeus und der Weinreben daran.«
Unter den Menschen, die eine besondere Gabe zur Freundschaft haben, unterscheidet Nietzsche zwei Typen. Der eine fortwährend Aufsteigende findet für jede Phase seiner Entwicklung einen genau zugehörigen Freund, der andere übt eine Anziehungskraft auf sehr verschiedene Charaktere und Begabungen aus, so daß er einen ganzen Kreis von Freunden gewinnt, die auch unter sich in freundschaftliche Beziehungen treten. »Der beste Freund wird wahrscheinlich die beste Gattin bekommen, weil die gute Ehe auf dem Talent zur Freundschaft beruht.« Die gute Ehe ist für Nietzsches hohe Auffassung vor allem eine Seelenfreundschaft zweier Menschen verschiedenen Geschlechts. »Mitfreude – nicht Mitleiden macht den Freund.« Der Mangel an Freunden läßt auf Neid und Anmaßung schließen. Sowohl sklavische als tyrannische Naturen besitzen keine Freunde. »Bist du ein Sklave? So kannst du nicht Freund sein. Bist du ein Tyrann? So kannst du nicht Freunde haben.« Sehr fein ist die psychologische Erkenntnis, daß Mangel an Vertraulichkeit unter Freunden ein Fehler ist, der nicht gerügt werden kann, ohne unheilbar zu werden. Leute, welche uns ihr volles Vertrauen schenken, haben dadurch noch keinen Anspruch auf das unsrige; denn »durch Geschenke erwirbt man kein Recht«.
Sah Nietzsche die Geschlechtsliebe nicht in der idealistischen Beleuchtung, an die wir uns gewöhnt haben,[115] so hatte er doch – im Gegensatz zu Schopenhauer – auch keine Veranlassung, sie zu verlästern. Er hat wohl nie unter der Übermacht des sexuellen Triebs heftig gelitten. So ward es ihm leicht – denn »Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht bis in die letzten Gipfel seines Geistes hinauf« – sich auch in den Fragen des Geschlechtsverkehrs die größte Freimütigkeit zu bewahren und jede »Verteufelung der Natur« abzuwehren. »Was ist Keuschheit am Manne?« fragt er einmal und antwortet: »Daß sein Geschlechtsgeschmack vornehm geblieben ist; daß er in eroticis weder das Brutale, noch das Krankhafte, noch das Kluge mag!« Wie groß er jedoch von jeder wahren Liebe dachte, auch wenn sie sich außerhalb der Sitte stellte, besagen uns seine Worte: »Was aus Liebe getan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse.«
Diese Erkenntnis ließ ihn mit den modernern französischen Romanciers sympathisieren. Er hat Bourget, Loti, Meilhac, Anatole France, Lemaître als delikate Psychologen gewürdigt; Merimée stand ihm außerdem vermöge seines ehrlichen Atheismus nahe. Besonders hoch aber schätzte er Stendhal, dessen Ausspruch: »Dans le vrai Amour c'est l'âme qui enveloppe le corps« er als das züchtigste Wort bezeichnete, das er je gehört habe.
Selten begegnen wir im Leben Nietzsches Zeiträumen, in denen die Liebe zu einer Frau Einfluß auf ihn gewann. Seine Schwärmerei für den »blonden Engel« Hedwig Raabe wurde bereits erwähnt; gedenken wir noch seiner jugendlichen Begeisterung für eine liebenswürdige Berlinerin Fräulein Anna Rethel, mit der er einige Zeit musizierte, so bleibt uns eigentlich nur noch der Hinweis übrig, daß er sich während der Bayreuther Festspiele in eine schöne Französin, Mdme. O. verliebte und an sie Briefe voll persönlichem Reiz schrieb; denn seine spätere Neigung zu einer Holländerin ging wohl kaum[116] tief. Ihre Ablehnung seines Heiratsantrags, der offenbar etwas unvermittelt erfolgte, hat ihn jedenfalls nicht erschüttert.
Um so größer ist die Zahl der Namen, wenn wir der Frauen gedenken, für die Nietzsche freundschaftliche Gefühle hegte, obwohl er als das »einzige Weib größeren Stiles« Frau Cosima Wagner anerkannte. Er schätzte sie nicht nur als die erste Stimme in Fragen des Geschmacks, sondern nannte sie auch später noch die bestverehrte Frau, die es für sein Herz gab, und die sympathischste Frau, der er im Leben begegnet sei. So in einem Briefe an Malwida von Meysenbug, seine »mütterliche Freundin«, deren innige Zuneigung zu ihrer Pflegetochter Olga von Herzen ihn eines der schönsten Motive erahnen ließ: »das der Mutterliebe ohne das physische Band von Mutter und Kind«, als eine der herrlichsten Offenbarungen der Caritas. Ihr mütterlich-liebevolles Wesen und ihr Idealismus galt ihm als ein Spiegel für jeden tüchtigen Menschen. Aber wenn er sie auch einmal »die beste Freundin der Welt« nennt, seine Beziehung zu ihr wies nur während der Zeit der Wagnerverehrung die Gemeinsamkeit eines hohen Zieles als Voraussetzung der vollkommenen Freundschaft auf. Es mangelte ihr als »Idealistin« letzten Endes die Tiefe der tragischen Erkenntnis, ohne die es jeder Freude an Wurzelkraft fehlt. Seitdem Nietzsche in seiner Höhe wandelte, war es eigentlich nur noch der Dank für warme Anteilnahme an seinem Leben, der ihre Beziehungen andauern ließ.
So wertvoll vorübergehend die Beziehungen zu Frau Geheimrat Ritschl, Frau Professor Overbeck, Frau Marie Baumgartner und Verehrerinnen aus dem Bayreuther Kreise für Nietzsche sein mochten, so anregend sich der Verkehr mit geistvollen Frauen verschiedener Nationen in Sils-Maria gestaltete, von Freundschaft im hohen Sinne Nietzsches kann dabei ebensowenig[117] die Rede sein wie gegenüber Meta von Salis, die Erinnerungen an ihn veröffentlichte, welche eine Einfühlung in seine aristokratische Gesinnung aufweisen, oder bei Freifrau von Ungern-Sternberg, welche mit feinem psychologischen Verständnis Graphologisches über seine Handschrift veröffentlichte. Die Gattin seines Freundes von Seydlitz wirkte auf Nietzsche so sympathisch, daß er sich einmal als Gattin ein tapferes kleines Wesen à la Irene Seydlitz wünschte. Dem Ideale einer Freundschaft kam unter den Frauen, mit denen er verkehrte, tatsächlich die Schwester am nächsten. »Eine Schwester ist für einen Philosophen eine sehr wohltätige Einrichtung, vorzüglich wenn sie heiter, tapfer und liebevoll ist.« Daß es auch im Verkehr mit ihr zuzeiten Mißhelligkeiten gab, das einzusehen bedarf es für uns nicht erst Bernoullis Polemik, sie selbst hat wiederholt auf solche verwiesen. Aber sie war, wie eine Französin von ihr sagte, »espiègle«. Seine Verneinung der optimistisch genügsamen Umwelt, seine Bejahung einer im Ideal erschauten Wirklichkeit spiegelte sich in ihren Gefühlen und Gedanken, so daß die örtliche Trennung von ihr durch ihre Auswanderung nach Paraguay mit ihrem Gatten Dr. Förster für Nietzsche ein schwerer Verlust war.
Mutter, Schwester und Fräulein von Meysenbug blieben mit Eifer bestrebt, für Nietzsche eine würdige Frau zu finden; denn so ernstlich er sich selbst ein gutes Weib wünschte, seine philosophischen Lebensziele galten ihm stets mehr als die persönlichen Lebenswünsche; bekennt er doch: »Man hat immer etwas Nötigeres zu tun als sich zu verheiraten: Himmel, so ist mir's immer ergangen.« Viel Geist galt bei einer Frau für ihn immer noch sehr wenig. Eher wollte er sich noch mit einer guten wirtschaftlichen Gattin begnügen, sie müsse jung sein, sehr heiter, sehr rüstig und wenig oder gar nicht gebildet. Einmal, als ihm auf einem Spaziergang ein reizendes[118] braunäugiges Mädchen begegnete, deren herzliches Lachen ihn an seine Schwester gemahnte, und das ihn sanft wie ein Reh anschaute, da wurde es ihm warm ums Herz. »Gewiß, es würde mir wohltun, etwas so Holdes um mich herum zu haben – aber würde es ihr wohltun? Würden sie meine Ansichten nicht unglücklich machen und würde es mir nicht das Herz brechen (vorausgesetzt, daß ich sie liebte), ein so liebliches Wesen leiden zu sehen?«
Gegenüber solchen Bedenken mußte eine Entschließung schwerfallen. Zu einer Heirat aber nach der Wahl Goethes – auch daran dachte er einmal – konnte es wohl deshalb nicht kommen, weil hierzu Nietzsches Sinnlichkeit nicht stark genug war. So beharrte sein Bedürfnis nach Aussprache und Gemeinsamkeit im idealen Streben nach Freundschaft.
Nietzsche hat während jeder Epoche seines Lebens warmherzige Freunde besessen. Nach den ersten Jugendgenossen Pinder und Krug, in Schulpforta: Deussen, von Gersdorff, Mushacke. Als Student außer seinem Lehrer Ritschl vor allem Erwin Rohde. Dann während seiner Lehrtätigkeit in Basel außer Wagner und Burckhardt Overbeck und den Kantianer Dr. Heinr. Romundt. Nach seiner Loslösung von Wagner: Dr. Paul Rée, Freiherrn von Seydlitz und Peter Gast. Daneben feinsinnige Versteher und Verehrer in den Musikern Carl Fuchs und Hans von Bülow, in Georg Brandes, Carl Hillebrand, Max Heinze, Hugo von Senger, Hippolyte Taine und anderen.
Gerade weil die meisten seiner Freunde selbstherrliche Persönlichkeiten waren, konnten sie nicht mit Nietzsche jene Metamorphosen durchmachen, die sich bei ihm so radikal als Erlebnisse vollzogen. Am meisten hat ihn wohl Rohde geliebt. So traf es Nietzsche besonders schwer, daß auch Rohde, mit dem er sich in jungen Jahren in voller Harmonie bei seinen idealen Zielen wußte,[119] ihm bei seinen Wandlungen nicht folgte. Mochte die Welt stumm bleiben, weil seine Lehre noch nicht zu ihrem Ohre drang, wenn nur das Echo der Freunde nicht fehlte. An diese dachte er, wenn er schrieb, sie bestimmten sogar seinen Stil nach der von ihm aufgestellten Regel der doppelten Relation. »Der Stil soll dir angemessen sein in Hinsicht auf eine ganz bestimmte Person, der du dich mitteilen willst.« Er vermißte Rohdes Zustimmung um so schmerzlicher, weil auch sein Briefwechsel mit Freund Gersdorff eine Unterbrechung erfuhr, als er bei einem Zerwürfnis des Freundes mit Malwida von Meysenbug deren Partei ergriff. So blieb ihm zu einer Zeit, da er der zustimmenden Begeisterung der Freunde am meisten bedurfte, einzig und allein Peter Gast.
Heinrich Köselitz – der den Namen Peter Gast annahm – hörte seit 1875 in Basel, obwohl er sich in der Musik ausbildete, Nietzsches Vorlesungen, nachdem er sich schon früher durch die »Geburt der Tragödie« und die »Unzeitgemäßen Betrachtungen« für ihn begeistert hatte. Schon in Basel erwies er sich ihm hilfreich, indem er die vierte Unzeitgemäße Betrachtung für ihn abschrieb. Später, bei Nietzsches zunehmender Kurzsichtigkeit, schrieb er oft nach dessen Diktat, las die Korrekturen seiner Schriften und erfreute den Einsamen durch sein Klavierspiel. Längere Zeit zögerte Nietzsche trotzdem, ihn tiefer in seine Philosophie einzuführen. Er war überzeugt, wie eine Briefstelle bekundet, daß diese bereits große Reife voraussetze. »Heinrich von Stein ist noch zu jung für mich. Den würde ich verderben. Gast hätte ich bald verdorben, ich habe tausend Rücksichten gegen ihn nötig.«
Erst beim Korrekturenlesen lernte Gast den »Zarathustra« kennen und schrieb Nietzsche einen begeisterten Brief voll feinem Verständnis. Nun erst wurde der stets dienstbereite Schüler und Jünger, dieser Mann »mit dem[120] goldenen Herzen und dem ausdrucksvollen Musikerkopfe« (von Ungern-Sternberg) sein Freund. Nietzsche blieb darauf bedacht, ihn nicht seinem eigentlichen Berufe zu entziehen. Mancherlei, was Gast musikalisch ausführte, ist auf Nietzsches Anregung zurückzuführen, der es nie an ermunterndem Lob fehlen ließ. »Die Einsamen werden ohne frohen ermutigenden Zuruf leicht düster, verlieren ihre Tüchtigkeit und ihre Werke mit ihnen.« Auch praktisch suchte er ihn möglichst zu fördern, so als er sich bei Hans von Bülow um die Aufführung von Gasts Oper »Der Löwe von Florenz« bemühte.
Nietzsche hat, wie aus seinen Briefen an Peter Gast hervorgeht, in der Tat dessen Musik außerordentlich hoch eingeschätzt. Nicht nur deren Heiterkeit, sondern auch die Geschlossenheit ihres Stiles entsprach in hohem Grade dem, was er von der Musik der Zukunft erhoffte. Gasts Kompositionen waren für ihn ein großes Labsal. Daß ihnen, objektiv gewertet, nicht diese außerordentliche Bedeutung zukommt, ist jedoch nicht zu bezweifeln. Die Wirkung auf das Publikum blieb seiner Musik versagt. Aber Gast durfte sich damit trösten, daß sie ein gut Teil ihres Zweckes trotzdem erfüllte, indem sie Nietzsche beglückte. Sie hat damit mehr getan, als wenn sie, trotz der Begrenztheit ihres Wertes, einem unbedürftigen Konzertpublikum flüchtige Unterhaltung gewährt hätte.
Das mochte wohl Gast selbst empfunden haben. Denn als mein Freund Dr. Oskar Grohé in Mannheim, der verdienstvolle Förderer Hugo Wolfs, sich auf meine Anregung in späteren Jahren an Gast wandte, um ihm den Konzertsaal zu erobern, da lehnte Gast dieses Angebot ab mit der Begründung, daß er entschlossen sei, jeder öffentlichen Aufführung seiner Werke zu widerstreben. Es genügte ihm, daß er für Nietzsche nicht nur ein Freund – »wahrer Freund meiner Freunde« – geworden war, sondern ihn auch als sein »Maestro Pietro Gasti« durch seine Musik erfreut hatte. Er sah[121] seine Lebensaufgabe darin, sich ganz und gar Nietzsche und seinen Werken zu weihen. Und wahrlich, er hat damit Großes geleistet. Er allein von dreien, die Nietzsche berufen erachtete, aus Schülern und Jüngern Freunde zu werden, erwies sich dieses Rufes würdig. Die beiden anderen, Lou Salomé und auch Heinrich von Stein, haben Nietzsche bitter enttäuscht. Alle drei hatte er in seiner Einsiedler-Sehnsucht nach Freundschaft in ihren Fähigkeiten überschätzt. Aber nur Gast hat diese Überschätzung verdient und in stolzer Bescheidenheit noch am Grabe Nietzsches die Worte gesprochen: »Wie konnten wir deine Freunde sein? Doch nur, indem du uns überschätztest.«
»Durch die tägliche Not sich und andere höher heben, mit der Idee der Reinheit vor den Augen, immer als ein Exzelsor – so wünsche ich mein und meiner Freunde Leben.« Man veranschauliche sich, was dies heißt und heischt. Dann wird man verstehen, wie leicht hierbei die Hoffnung trügt und der Erfolg enttäuscht. Logisch vorgetragene Gründe überzeugen unseren Verstand, mit Wärme dargestellte Gefühle gewinnen unser Herz, beredt entfaltete Überzeugungen unterwerfen sich unsere Gesinnung, aber mit solcher Macht auf Sinn und Seele einzuwirken, daß unser Wille neue Bahnen einschlägt, das mag zu Zeiten religiöser Erhebung im Bann der Suggestion als blinde Nachfolge in die Erscheinung treten, denn alles Bestimmte hat (nach Burckhardt) ein Königsrecht gegenüber dem Dumpfen, Unsicheren und Anarchischen, aber den Einzelnen zu sich selbst führen, daß er aus eigener Kraft nach einem hoch und fern über ihn gestellten Ziel strebt, das verlangt nicht nur große autoritative Kraft vom Führenden, sondern auch eine verwandte Artung bei dem hierfür Ausersehenen.
Und eben nach solchen Fischen, und nur nach solchen warf Nietzsches Sehnsucht die Angel aus. Er begrüßte es daher freudigst, als Rée und Meysenbug ihm von einer jungen Finnländerin Lou Salomé berichteten, sie sei berufen, im schönsten Sinne seine Schülerin und Jüngerin zu werden. Wenn die Schilderung ihrer persönlichen Erscheinung die ich einem Freunde verdanke, zutrifft, so ging von ihr kaum jener Reiz aus, der unmittelbar[123] die Sinne gefangen nimmt. Aber das konnte bei Nietzsche nur die Hoffnung stärken, daß dauernd ein schönes freundschaftliches Verhältnis zwischen ihnen möglich sei. »Frauen können recht gut mit einem Manne Freundschaft schließen; aber um diese aufrechtzuerhalten – dazu muß wohl eine kleine physische Antipathie mithelfen.«
Die erste Begegnung fand bei seiner Rückkehr aus Messina nach Deutschland in Rom in der Peterskirche statt. Lou Salomé erwies sich in der Tat als eine außerordentliche Intelligenz. Sie folgte seiner Einladung nach Tautenburg in Thüringen, wo er mit seiner Schwester den Sommer 1882 verbrachte. Sein Verkehr mit Salomé währte etwa fünf Monate. Während dieser Zeit versuchte er, sie in seine Lehre einzuführen. Die wenigen Briefe, die Nietzsche an sie schrieb, enthalten einige Stellen überschwenglicher Freude. Wie hätte es ihn auch nicht beglücken sollen, ihr Gedicht »An den Schmerz« zu lesen, das er unter dem Titel »Hymnus an das Leben« ursprünglich für eine Singstimme mit Klavierbegleitung und dann für Chor und Orchester in Musik setzte. Nicht nur die Schlußverse, die das Leben anrufen und die den Höhepunkt der Vertonung bilden:
sondern das ganze Gedicht atmet Nietzsches Geist. In diesen Versen hat sein schöner Gedanke, auch durch die tägliche Not sich und andere höher zu heben, einen edlen Nachklang gefunden. Entsprach das wahre Wesen der Dichterin dieser Gesinnung, war das Gedicht mehr als intellektuelle Anpassung und reproduktive Anempfindung, so war für Nietzsche wirklich die berufene Schülerin gefunden.
Man hatte ihm, wie seine eigenen Worte bezeugen, Lou Salomé als ein Wesen geschildert, das fast zu gut[124] für diese Welt sei, eine Märtyrerin der Erkenntnis von Kindesbeinen an, jedes Glück und jedes Behagen des Lebens, ja die Gesundheit hingebend für das eine: Wahrheit. Als vollkommen selbstlos und bewährt in einer langen Schule der Aufopferung war sie ihm geschildert worden. Sein eigenes Urteil erkannte bald, daß sie dieser Schilderung nicht entsprach. Aber vielleicht konnte sie vermöge ihrer geistigen Anlagen so werden. Das wenigstens scheint Nietzsche gehofft zu haben. »Wie arm sind Sie in der Verehrung, der Dankbarkeit, der Pietät, der Höflichkeit, der Bewunderung – von hohen Dingen nicht zu reden …« So schreibt man als Mann an ein fünfundzwanzigjähriges Mädchen doch wohl nur dann, wenn man glaubt, sie durch größte Offenheit erziehen zu können. Hierin aber irrte sich Nietzsche. Ohne Zweifel besaß sie in hohem Grade die Fähigkeit, die Lehren seiner positivistischen Periode zu verstehen, nicht aber die Fähigkeit, seine Ideale zu erleben. Was ihm eine Frage seiner wesenhaften Persönlichkeit war, blieb für sie nur eine Sache des Intellekts. In einem Buche, das sie später als Frau Lou Andreas-Salomé veröffentlichte, »Friedrich Nietzsche in seinen Werken«, ist der Satz zu lesen: »Der einzige wahrhaft wertbestimmende Unterschied zwischen den Menschen liegt ausschließlich in der Art und dem Grade ihres intellektuellen Vermögens; die Menschen veredeln heißt demnach nichts anderes, als Einsicht unter sie tragen.«
Dieser Ausspruch ist bei seiner Einseitigkeit viel weniger für Nietzsche charakteristisch – auch wenn er nur für seinen Positivismus gelten sollte – als für die Schreiberin selbst. Der einzige Unterschied liegt im Intellekt! So urteilt nur ein Mensch, der kein Gefühl für den Adel des Seins durch die Vererbung seit Generationen, noch für die unbewußte Triebkraft des Wachsens und Werdens besitzt. Damit hat sich nicht nur die Verfasserin selbst gerichtet, sondern unbeabsichtigt[125] auch in typischer Weise den Beweis geliefert, daß ein Nietzsche nicht im Positivismus aufgehen, nicht in einer Betrachtungsweise beharren konnte, die für eine solche Lebenswertung immerhin Belege darbot. »Man soll das Leben auf das Sicherste, Beweisbarste hin einrichten: nicht wie bisher auf das Entfernteste, Unbestimmteste, Horizontal-Wolkenhafteste hin.« Ein solcher Ausspruch stand in Widerspruch zu dem wahren Wesen Nietzsches, das sich am treffendsten gerade in seiner Fernstenliebe aussprach, in deren Perspektive der Übermensch steht.
Nietzsche hätte sich mit der Zeit von Salomé und von Rée losgelöst – soviel dürfen wir schon mutmaßen – auch ohne den Zwang der von außen kommenden Enthüllungen, und zwar von dem Augenblicke an, da er sich nicht mehr als der Don Juan der Erkenntnis fühlte.
Salomés Buch enthält manche geistreiche Auslegung. Es zeigt auch, daß einzelne von Nietzsches Mahnungen, die er unter dem Titel »Zur Lehre vom Stil« für sie niederschrieb, von ihr beherzigt wurden. »Das erste was not tut, ist Leben: der Stil soll leben.« Ihre Gestaltungsgabe ist durchaus nicht gering zu achten. Um so schlimmer, daß ihr das intellektuelle Gewissen fehlt.
Wer so maßlos flunkert, nicht nur wo es sich um das eigene Verhältnis zu Nietzsche handelt, sondern auch betreffs der Distanz zwischen Nietzsche und Rée, verdient auch bei durchaus objektiver Prüfung schärfste Zurechtweisung. Selbst wenn die Behauptung, daß sie eine bewußte Fälschung beging, als sie Nietzsches Aphorismus »Sternenfreundschaft« auf Rée bezog, nicht zutreffen sollte, so bedeutet dies jedenfalls, psychologisch betrachtet, einen groben Mißgriff aus Oberflächlichkeit. Ob Lou Salomé tatsächlich mit Rée über Nietzsches Ernst und begeisterte Hingebung an seine Ideale im geheimen spottete, können wir nicht entscheiden, aber ihr Verhalten[126] spricht dafür. Ob die Anklagen, die Frau Förster gegen sie erhob und die durch Frau Overbecks matte Verteidigung eher bekräftigt als abgeschwächt werden – sie selbst hat dazu geschwiegen – in vollem Umfang zutreffen, darüber haben wir nicht zu richten, aber aus Nietzsches eigenen Worten gewinnen wir die Überzeugung, daß ihre »Menschlichkeit« ihm ein Erlebnis bereitete, dessen Atmosphäre nicht in den Stil seines Lebens hineinpaßte. Wie tief Nietzsche darunter litt, bezeugt uns sein schmerzlicher Ausruf: »ein gräßliches Mitleid, eine gräßliche Enttäuschung, ein gräßliches Gefühl verletzten Stolzes quält mich – wie halte ich's noch aus? Wo ist noch ein Mensch, dem man vertrauen, den man verehren könnte!« Es wurde ihm unmöglich gemacht, seinem Grundsatze zu folgen: »Wo man nicht mehr lieben kann, da soll man – vorübergehen«, denn die Verletzung seines Stolzes verlangte eine scharfe Zurechtweisung durch ihn. Sie ist Lou Salomé in den Worten zuteil geworden: »Ich mache Ihnen heute nichts zum Vorwurf, als daß Sie nicht zur rechten Zeit über sich gegen mich aufrichtig gewesen sind. Ich gab Ihnen in Luzern meine Schrift über Schopenhauer – ich sagte Ihnen, daß da meine Grundgesinnungen drin stünden und daß ich glaubte, es würden auch die Ihrigen sein. Damals hätten Sie lesen und Nein! sagen sollen (in solchen Dingen hasse ich alle Oberflächlichkeit) – es wäre mir viel erspart geblieben! Ein solches Gedicht, wie das ›An den Schmerz‹ ist in Ihrem Munde eine tiefe Unwahrheit.« Er war eifrigst bestrebt, die Erinnerung an sie in seinem Leben durchzustreichen; denn »Ihr dürft nur Feinde haben, die zu hassen sind, aber nicht Feinde zum Verachten. Ihr müßt stolz auf euere Feinde sein«.
Ganz anders verhält es sich mit einer zweiten Enttäuschung, die Nietzsche zwei Jahre später erfuhr, als er abermals hoffte, einen befähigten Jünger zu gewinnen, in dem seine Lehre fortleben sollte. Bereits im Jahre[127] seiner Bekanntschaft mit Lou Salomé schickte Nietzsche an Heinrich von Stein, der ihn in Leipzig aufgesucht aber nicht angetroffen hatte, die »Fröhliche Wissenschaft«. Er erhielt als Gegengeschenk von ihm zwölf Gespräche zugesandt, die Stein unter dem Titel »Helden und Welt« mit einem Briefe Richard Wagners als Vorwort veröffentlichte. Mehrere Briefe wurden gewechselt, durch die sich beide bald näherkamen.
Heinrich von Stein war Nietzsche nicht geistverwandt. Geistverwandt war er viel eher Richard Wagner, von dem er auf Empfehlung von Malwida von Meysenbug als Hauslehrer berufen wurde. In Wagners Sinne, wohl auch auf dessen Anregung schrieb er den Aufsatz, »Shakespeare als Richter der Renaissance«. Der Geist der Reformation, nicht aber der Geist der Renaissance, wie bei Nietzsche entsprach Steins Gesinnung. Ursprünglich Theologe, im Christentum erzogen, löste er sich vom Dogma los, nicht aber von der Moral des Christentums.
»Kopf und Herz müssen zusammenklingen, wenn es einen Akkord geben soll.« Das ist ein charakterisierendes Wort Steins. Er meinte es mit dieser Forderung ernst und ehrlich. Damit bewies er seine Wesens-Verwandtschaft zu Nietzsche. Stein litt schwer unter den Dissonanzen des Lebens, dem Widerspruch von Wahn und Wirklichkeit. Ein solcher Mensch, eng befangen im Mitleiden, voll ritterlicher Gesinnung, zum großen freien Gehorsam geschaffen, harrte des berufenen Führers. Die Umstände führten ihm diesen in Richard Wagner zu. Er war ihm tief ergeben, wie ich mich einmal selbst überzeugen konnte. Es geschah bald nach der ersten Aufführung des »Parsifal«. Die Patrone der Festspiele hielten in Bayreuth eine Versammlung ab. Der Verein hatte seine Aufgabe, soweit es ihm möglich war, erfüllt und sollte sich auf Wagners Wunsch auflösen. Man sprach hin und her. Da fuhr eine edle[128] schlanke Erscheinung in die Höhe und rief in die Versammlung etwa folgendes hinein: »Was soll das alles?! Hier gilt es doch nur eine Frage zu beantworten: Soll der Verein sich auflösen oder nicht? Wagner sagt ja, wollen Sie nein sagen?« – Nach diesen wenigen Worten nahm Stein wieder seinen Platz ein; aber sie genügten, um Klarheit in die Verhandlung zu bringen.
Das war in der Tat eine aufrechte entschiedene Persönlichkeit, wie sie ein Genius als Jünger bedarf, damit sein Wille radikal verwirklicht werde. Aber dieser Mann gehörte Wagner an. Für immer? Das war die Frage, die Nietzsche beschäftigte. In seinem ersten Brief an Stein stehen die Worte: »Man hat mir erzählt, daß Sie, mehr als jemand sonst vielleicht, sich Schopenhauern und Wagnern mit Herz und Geist zugewendet haben. Dies ist etwas Unschätzbares vorausgesetzt, daß es seine Zeit hat.« Da Stein sich im Banne des Pessimismus unglücklich fühlte und sehnsüchtig Aussprüche tat wie: »Freude ist die Leidenschaft, durch die wir besser werden. So viel du dir und anderen Freude stiehlst und verdirbst, daran tust du Sünde«, durfte sich Nietzsche wohl berufen fühlen, Stein aus dem Banne der Schopenhauerschen und Wagnerschen Metaphysik zu befreien, und sich der Hoffnung hingeben, daß er ihm vorbehalten sei.
Er sprach Stein zunächst seine Verwunderung darüber aus, daß er in seinen Dichtungen lauter Probleme der Grausamkeit wähle und nicht nach einer Höhe strebe, von wo aus gesehen das tragische Problem unter uns liegt. Er bekannte ihm: »Ich möchte dem menschlichen Dasein etwas von seinem herzbrecherischen und grausamen Charakter nehmen.« Noch hielt er es nicht an der Zeit, ihn zu den Tiefen und Höhen seiner Lehre zu führen. Aber das wenige, was er ihm mitteilte, genügte, um in Stein die Ahnung zu erwecken, daß der[129] Ruf zur Befreiung aus seinen selbstquälerischen Gedanken an ihn ergangen sei, und daß er dort, als der »Mutige, der sich vor seinem tiefsten Inneren nicht zu schämen hat«, das finden dürfte, was ihm am meisten not tat: »das Vertrauen zu dem eigenen Atem«. Und so reiste er nach Sils-Maria, nicht um des Engadins, sondern um Nietzsches willen.
Die drei Tage, die er dort im August 1884 verbrachte, bedeuteten für ihn und Nietzsche ein Erlebnis, wie es sich selten ereignet. Hier fanden und verstanden sich zwei Menschen, die miteinander – lachen konnten. Das Wort buchstäblich und symbolisch genommen. Stein schrieb begeisterte Ausrufe in sein Tagebuch: »Großartiger Eindruck seines freien Geistes, seiner Bildersprache!« Auch Nietzsche war auf das tiefste ergriffen. Nur mit einem solchen Menschen konnte er moralische Probleme besprechen. Bei den anderen lese er so leicht in den Mienen, daß sie ihn mißverstehen und nur das Tier in ihnen sich freut, eine Fessel abwerfen zu dürfen. »Stein ist eine stolze und reine Herrennatur; er paßt nicht zu diesen niederen Sklavenseelen.«
Stein beklagte es, seinen Besuch nicht länger ausgedehnt zu haben, denn »in der Tiefe lauscht und wacht eine unendliche Sehnsucht nach wirklichem freien Leben«. Nietzsche antwortete ihm tief beglückt, von geheimen Hoffnungen erfüllt: »Von nun an sind Sie einer der wenigen, deren Los im Guten und Schlimmen zu meinem Lose gehört.« Ebenso entschieden erwiderte ihm Stein: »Daß ich Ihnen nichts geben kann, was Sie nicht reicher und besser schon besäßen, ist ja ganz offenbar. Was also kann ich Ihnen bringen: treues herzliches Mitgehen und Verstehen. Und hiermit sei alles gesagt.« Was noch zu sagen übrig blieb, das schien sich fast dem Worte zu entziehen. Aber Nietzsche fand auch hierfür den Ausdruck in einem seiner schönsten Gedichte »Einsiedlers Sehnsucht«, das er für Stein[130] dichtete und ihm als Brief zusandte. Er beklagte vor Stein das Unverständnis der alten Freunde für seine neuen Ziele und ließ zum Schluß an ihn, den neuen Freund, den warmen Ruf ergehen:
Stein war ohne Vermögen und an seinen Beruf gebunden. Es ist uns daher begreiflich, daß er nach Empfang von Nietzsches Gedicht erwiderte: »Wiederum auf einen solchen Anruf bliebe mir nur eine Antwort: zu kommen; mich dem Verständnis des Neuen, was Sie zu sagen haben, zunächst einmal ganz und gar als einem edelsten Berufe zu widmen. Dies ist mir versagt.«
Nietzsche mochte diese Antwort beklagen, aber sie war nicht dazu angetan, seine Freundschaft für Stein zu erschüttern. Anders freilich stand es um die Worte, die folgten. Nietzsche hatte ihm unausgesprochen gesagt: Löse dich von Wagner, komme zu mir! Und was antwortete ihm Stein? Er antwortete ihm: Verlasse du dich und komme zurück zu Wagner! So und nicht anders mußte Nietzsche Steins überraschende Aufforderung verstehen, nach Berlin zu kommen und sich an Steins »Wagner-Lexikon« durch Mitarbeit zu beteiligen.
Die Erklärung für eine solche Zumutung liegt darin, daß Stein wenn nicht im Auftrage, so doch – wie ich aus persönlichen Mitteilungen weiß – unter Mitwissenschaft Wahnfrieds nach Sils-Maria gereist war, in der[131] Hoffnung, Nietzsche wieder für Bayreuth zu gewinnen. Dort hatte er sich ganz dem Zauber Nietzsches hingegeben, aber nun aus der Ferne erinnerte er sich wohl wieder jener ursprünglichen Absicht. Er hatte Nietzsche bewundernd verehrt, aber seine Blickkraft (ein von ihm selbst geprägtes Wort) war doch nicht groß genug gewesen, um ihm die unvergleichliche Selbstherrlichkeit Nietzsches zu offenbaren, sonst hätte er ihm eine solche Kärrnerarbeit im Dienste Bayreuths unmöglich zugemutet.
Hatte Lou Salomé Nietzsche eine Enttäuschung bereitet, weil ihre Menschlichkeit nicht auf der Höhe ihres Intellektes stand, so bereitete ihm Stein eine Enttäuschung, weil seine Erkenntnis nicht auf der Höhe seiner Menschlichkeit stand. Wer Steins Schriften liest, wird auch dann, wenn er mit seinen Gedanken einer anzustrebenden »Kultur des Gefühls« sympathisiert, doch kaum den Zweifel abwehren können, ob Stein geistig so hoch stand, wie Nietzsche wohl annahm. Er war »ein ganz ernster Mensch«, aber die radikale Erkenntnis für die Unvereinbarkeit sich aufhebender Gegensätze war ihm nicht gegeben. Jedenfalls noch nicht in jener entscheidenden Stunde. Nietzsches Seele war abermals auf das schmerzlichste verwundet. »Was hat mir Stein für einen dunklen Brief geschrieben! und das als Antwort auf ein solches Gedicht! Es weiß niemand mehr, wie er sich benehmen soll!«
Ist das Lou-Erlebnis bedeutsam, weil es uns zeigte, welcher Sphäre Nietzsche nicht angehörte, so ist das Stein-Erlebnis typisch für die Schicksale eines Denkers, dessen Größe ihn zur Einsamkeit verurteilte.
Amor fati! Auch dieses Mal blieb Nietzsche diesem Worte treu. Das für Stein bestimmte Gedicht erhielt nicht nur einen neuen Titel »Aus hohen Bergen«, sondern auch sein Schluß erfuhr eine Umarbeitung. Der[132] trotz aller schmerzlichen Erfahrungen immer wieder zum Leben Ja-Sagende feierte die Erfüllung seiner Einsiedlersehnsucht als Fest der Feste. Nicht in Stein hatte er den so innig ersehnten Genossen gefunden, sondern er schuf ihn sich einzig aus sich selbst.
Übelacker.
Wir haben den Grundsatz befolgt, nur Überschriften zu wählen, die Nietzsche selbst bezeichnen. Wir müssen es uns daher versagen, dieses Kapitel »der Übermensch« zu nennen, so lebhaft sich auch die Versuchung einstellt. Als Seher hat Nietzsche den Übermenschen erschaut, als Dichter hat er den Verkünder des Übermenschen, hat er Zarathustra geschaffen.
Die Popularisierung durch unberufene Deuter hat die Kristallisation der Idee in unserer Vorstellung weit mehr gehemmt als gefördert. Mag der Industrielle beim Übermenschen an eine brutale Energie denken, die sich, ledig jedes Gewissenszwanges, über das Niveau der bürgerlichen Geschäftsbetätigung erhebt, oder der literarisch und historisch Gebildete sich etwas wie eine Addition von Goethe und Napoleon vorstellen, so ist damit der Sinn der Nietzscheschen Lehre ebensowenig in ihrem Kern getroffen wie durch die naturwissenschaftliche Auffassung des Übermenschen als Vertreters einer künftigen Überart in darwinistischem Sinn. Aber auch dort, wo man solche willkürlichen Auslegungen bekämpft, weil man tiefer in das Verständnis des einsamen Philosophen eingedrungen ist, fehlt es an einer endgültigen Antwort auf die Frage: Was verstand Nietzsche unter dem Übermenschen?
Die Schwester und Biographin Nietzsches schreibt: »Das Wort Übermensch erscheint mir nur als ein zusammenfassender Ausdruck für den höchst gearteten und stärksten Menschen, als eine Bezeichnung für Wesen, die uns das Dasein rechtfertigen.« Also als ein Superlativ. Eine Erklärung, die uns die unterscheidende Gegensätzlichkeit zum Begriff Mensch vermissen läßt. Für Peter[134] Gast ist der Übermensch ein Symbol, das für verschiedene Menschen verschiedene Deutungen zuläßt, für Oskar Ewald dagegen kein Symbol, sondern eine Emanation. Aber auch Ewald gelangt, obwohl er den Sinn des Übermenschen im historischen Menschen, der Vergangenheit und Zukunft verbindet, zu finden glaubt, zu dem Verlegenheitsausspruch: »Der Übermensch ist bei Nietzsche selber nicht eins, sondern ein schillerndes Allerlei, nicht klar abgehoben, sondern buntfarbig und polyphon. Der ostelbische Junker, der Franzose des ancien régime, Napoleon, Goethe, Cesare Borgia, der hellenische Philosoph und der römische Cäsar streiten um den gleichen Anspruch.« Vielleicht liegt die Schuld an dieser Undeutlichkeit »eines schillernden Allerlei« weniger bei Nietzsche als bei seinen Interpreten, unter denen mir Ewald als der bedeutendste gilt.
Um zunächst den Spuren der Entstehung nachzugehen, dürfen wir uns nicht auf Nietzsches unmittelbare Aussprüche beschränken, sondern müssen den Gedankengang verfolgen, auf dem sich allmählich das Bedürfnis nach einer Bezeichnung einstellte, die aus dem gewohnten Wortschatz nicht zu decken war und ihn das Wort »Übermensch« wählen ließ. Kommen wir so zu einer Vorstellung, die durch kein anderes Wort erschöpft würde, dann (aber auch nur dann) dürfen wir unsere Aufgabe als bewältigt betrachten.
Den Ausgangspunkt bildet der Mensch als ethischer Begriff. Aber nicht im Sinne christlicher Einschätzung, sondern im Sinne antiker Humanität. Die moderne Humanität, die nicht verstehen will, daß es keine wahrhaft schöne Fläche ohne eine schreckliche Tiefe gibt, gilt es durch eine deutsche Wiedergeburt der antiken Welt zu überwinden. Den berufenen Führer im Kampf um diese Wandlung sah Nietzsche im Genie. Hinweg mit dem stumpfen Widerstand gegen die Erzieher auf kulturellem Gebiet, auf daß der deutsche Genius nicht länger entwürdigt[135] und entfremdet von Haus und Heimat lebe! So ungefähr lautete Nietzsches Wahrspruch während seiner ersten Schaffensperiode, als er Schopenhauer und Wagner verehrte.
Stand bisher das Genie, über alle Menschen hinausragend, als ideale Erfüllung in der Perspektive seines Bildes der Zukunft, so erfährt diese allerhöchste Schätzung nun einen Umschlag. Was die Welt Genie nennt, erscheint Nietzsche mit einmal als Karikatur. Schmerzlicher noch als die körperliche und geistige Unzulänglichkeit in der Welt empfindet er die Disharmonie im Wesen der Größten. Er nennt sie Krüppel, die an allem zu wenig und an einem zu viel haben. Auch bei den Ersten und Größten findet er »Menschliches, Allzumenschliches«, das es nicht zu reformieren, sondern zu überwinden gilt. Glaubte er ehemals, als Anhänger Wagners, an die unbedingte Macht der Leidenschaft, so folgte nun, nach dieser hohen Schätzung des Dionysischen mit der Verherrlichung der nächtlichen Tiefe im Wesen des Menschen, die Lobpreisung Apolls. Damit begann eine neue Epoche in Nietzsches Lebensanschauung.
Wir Kinder der Zukunft, ruft Nietzsche um jene Zeit aus, wie vermöchten wir in diesem Heute zu Hause zu sein! Wir sind keine Humanitarier! Wir reden nicht von unserer Liebe zur Menschheit! Die verlogene Rassen-Selbstbewunderung, die besonders in Deutschland Ideale verengt, ist ihm ein Greuel und er hält ihr zunächst das Wort entgegen: »Wir guten Europäer!« Eine Ehrenbezeugung für uns verpflichtete Erben von Jahrtausenden, aber kein letztes Ziel. Denn auch »Europa« bedeutet noch eine Summe von kommandierenden alten Werturteilen, die uns in Fleisch und Blut übergegangen sind und einer Höherentwicklung widerstreben. Und so unterscheidet er auch noch von diesen kosmopolitischen Europäern in abhebendem und ehrendem Sinn: Heimatlose, gleichsam als zweite Stufe seiner Aszendenzlehre.[136] Heimatlose sind ihm solche Kultur-Individuen, die sich nicht nur jenseits von Gut und Böse stellen, sondern auch sich bewußt abwenden von dem Verlangen nach einem menschlichen, mildesten, rechtlichen Zeitalter, weil sie in diesem Verlangen den Ausdruck der tiefen Schwächung und absinkenden Kraft sehen. Diese Heimatlosen müssen, wenn sie ihre Lebensaufgabe richtig erkennen, sich nicht nur als Freigebige und Reiche des Geistes fühlen, sondern als Eroberer. Denn nur dann haben sie ein Recht, sich als heimatlos, als nicht mehr zugehörig zu dieser humanitären Welt zu betrachten, wenn in ihnen das Verlangen lebt »nach einer Verstärkung und Erhöhung des Typus Mensch«.
Wer entspricht dem Ideal dieser unzeitgemäßen, heimatlosen Nicht-Humanitarier? Das Genie? Seine erkannte Disharmonie heißt uns Nein sagen. Der positiv Erkennende? Nietzsches plötzliche Verherrlichung der Wissenschaft an Stelle der Kunst scheint auf ihn hinzuweisen. Aber bald gestand er sich: Nein, auch die Wissenden haben des Volkes Karren gezogen, dem Aberglauben und nicht der Wahrheit gedient. Und ist die Wahrheit selbst mehr als ein Restbestand unwiderlegter Irrtümer? So gelangt Nietzsche zu der Frage: Ist es vielleicht nur der Unglaube, jede Art Unglaubens, wofür die Heimatlosen kämpfen? Aber da er nicht in der Verneinung noch im Zweifel sein Genüge fand, so antwortet er als berufener Ja-Sager, als seine dritte Schaffensperiode einsetzt: Das wißt ihr besser, meine Freunde! das verborgene Ja in euch ist stärker als alle Neins und Vielleichts, an denen ihr mit euerer Zeit krank seid; und wenn ihr aufs Meer müßt, ihr Auswanderer, so zwingt dazu auch euch ein Glaube.
Diese Sätze, die sich zumeist in den Nachlaßveröffentlichungen befinden, entstammen einer Zeit, in der Nietzsche für das fernste, höchste Ziel noch nicht das entscheidende Wort gefunden hatte, sondern um einen Namen verlegen[137] war. Wohl aber wird uns bereits Richtung und Weg zu diesem neuen Ideal deutlich gewiesen: Aufhebung alles dessen, was der natürlichen Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten entgegenstrebt, und Ablösung des Zufalls durch eine Zusammenfassung aller Kräfte zu diesem neuen Zweck. Das feminine Ideal der Mitleidsmoral ist dieser größten Erhöhung des Kraftbewußtseins, diesem freudig bejahenden männlichen Ideal entgegengesetzt. Die Fürsorge der Humanität ist nicht der Höherentwicklung als solcher gewidmet, nicht der Gipfelung in seltenen Einzelnen, sondern ihre Fürsorge dient an erster Stelle dem Glückseligkeitsstreben der Allgemeinheit, das immer eine negative Fassung voraussetzt. Die Aspirationen der Kunst mit ihrem Theaterschrei der Leidenschaft zielen nach dem Verschrobenen; die Philosophie will Selbstentfremdung. Der Weg der modernen Humanität führt daher nicht an ein Ziel, auf dem der Mensch über sich selbst hinauswächst, sondern zum resignierten, aus Klugheit friedsam mäßigen, aller Umgebung anpassungsfähigen, behäbigen »letzten Menschen«, der lange und langsam lebt. Also zu einem Ende ohne Ehre.
Diesem drohenden Niedergang gegenüber fordert Nietzsche, daß der Mensch den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinaussende, daß er weniger ans Erhalten und Hegen denke, sondern daran, den Keim seiner höchsten Hoffnungen zu pflegen, geleitet von der Erkenntnis: der Mensch ist etwas, das überwunden werden muß. Die Wegrichtung zur Höherzüchtung der Menschheit ist damit von Nietzsche deutlich gewiesen. Aber auch die Frage, wie wir uns praktisch die Aufgabe jener als heimatlos bezeichneten Nicht-Humanitarier zu denken haben, bereitet uns keine Schwierigkeit. Ihr kultureller Beruf ist die Gründung einer Oligarchie über den Völkern und ihren Interessen. Also eine Vorherrschaft der höheren Menschen, die wir uns jedoch nicht im[138] Sinn unserer bestehenden politischen Verhältnisse auszulegen haben.
Verlangte Nietzsche schon vom guten Europäer, daß ihn die Tapferkeit von Kopf und Herz auszeichne, so erwartet er vom höheren Menschen, daß die erlangte Männlichkeit ihn das größte Maß von Macht über die Dinge anstreben lasse; alles aus innerster Fülle und Notwendigkeit. An die Stelle des alten Imperativs »Du sollst!« hat ein neuer zu treten: das »Ich muß« des Übermächtigen, Schaffenden. Dieser Instinkt ist nicht blind gedacht, sondern alles Tun soll Sinn bekommen. Er ist nicht zügellos gedacht, denn der Befehlende soll seine Kräfte in der Gewalt haben. Aber er ist auch nicht nachgiebig gedacht, denn der Schaffende der neuen Werte darf humanitären Anwandlungen nicht unterliegen. Die Herrscher-Tugend, die Züchter-Tugend ist die, welche auch über ihr Mitleiden Herr wird, um des fernen Zieles willen.
Zahl und Mächtigkeit dieser Kraftentladungen bestimmen den Wert eines Lebendigen. Wir haben uns diese Kraft nicht homophon zu denken; denn der Mensch hat gegensätzliche Triebe und Impulse in sich großgezüchtet. Wir erkennen mächtig gegeneinander treibende Instinkte und wir nennen den stark, der sie gebändigt umspannt. Der höchste Mensch ist uns einer, der die größte Vielheit der Triebe und in relativ größter Stärke in sich vereinigt. Vermöge dieser Synthesis ist er der Herr der Erde.
Nur diese Art gesetzgeberischer Menschen ist zur typischen Ausgestaltung des Menschen berufen. Sie sind die Bildner; und der Rest ist, gegen sie gehalten, nur Ton. Wer die Werte bestimmt und die auserwähltesten Naturen lenkt, ist der höchste Mensch. Dieses Idealbild einer anzustrebenden Zukunft, dieser über alle Forderungen eines menschlichen, mildesten, rechtlichsten Zeitalters, über alle moderne Humanität hinausgewachsene[139] Herr der Erde, der neue Werte nicht nur findet und schafft, sondern vermöge seiner Stärke und Größe zum Gesetz erhebt: das ist der Übermensch.
Der Übermensch ist das Genie, das an keiner Disharmonie leidet, der Weise, der keine Selbstentfremdung kennt, der Seher, der in keinen Fanatismus verfällt, also ein Mensch, der trotz seiner intuitiven Kraft, trotz seiner ethischen Ziele, trotz seiner Geistigkeit ein harmonischer Vollmensch bleibt. Nicht schwer, sondern leicht; denn auch das Halkyonische ist als wesentlich zu dieser Größe gedacht.
Dem Übermenschen ist alles Wissen nur ein Mittel zum Schaffen. Aber auch den Affekt des Schaffenden müssen wir uns als auf die Höhe gebracht denken. »Nicht mehr Marmor behauen!« ruft Nietzsche. Der Übermensch gestaltet am Menschen selbst als Künstler.
Kein humanistisches Zeitalter kann auf die Hervorbringung dieser höchsten Blüte der Männlichkeit hoffen, sondern nur eine höhere Kultur, die einen höheren Typus Mensch entwickelt hat. Freilich: Erhöhung des Typus bedeutet zunächst Erhöhung des Niveau. Aber darüber hinaus gibt es noch eine letzte Steigerung: die Hervorbringung seltener Einzelner, unter Kulturverhältnissen, in denen sie sich einzuwurzeln vermögen. Erst wenn wir uns dieser Aszendenz bewußt sind, verstehen wir, in welchem Sinn Nietzsche verkündete: Seht, ich lehre euch den Übermenschen!
Steht das Genie im schärfsten Widerspruch zur Unkultur seiner Zeit und deren Tendenzen, so haben wir im Gegensatz hierzu den Übermenschen in seiner harmonischen Verbundenheit bei aller Ursprünglichkeit und aller Gegenwirkung im einzelnen, als naturgerechtes Produkt einer zukünftigen höheren Kultur zu denken. Im Übermenschen vereinigen sich harmonisch individuelle und kommunistische Kräfte: die kommunistischen Kräfte einer zukünftigen Herrscherkaste. Hier liegt das Neue in[140] der Vorstellung Nietzsches gegenüber dem Genie- und Heroenkult früherer Zeiten. Und hier liegt vor allem auch ein Vorzug, den die Nietzschebekenner so wenig beachten: der, daß ihr Meister nicht im Individualismus stecken blieb.
Die Gefahr des Mißverstehens liegt viel weniger dort, wo der Übermensch allzu konkret in darwinistischem Sinne aufgefaßt wird, als in der Verflüchtigung jeder definierbaren Vorstellung. Nein, der Übermensch ist für Nietzsche nicht »nur ein Mahnruf«, nicht nur die unendliche Möglichkeit einer Entwicklung oder ein Postulat in Permanenz, sondern ein ethisches Ideal. Ein Ideal, das, wie jedes, als Phantasieerzeugnis uns voranschwebt. Nichts, was zwischen Tür und Angel steht, aber auch nichts, was die Ziellosigkeit zum Ziel erhebt und gleichsam die Unendlichkeit der Entwicklung objektiviert, sondern ein Bild, das unserer Vorstellungskraft auf einer bestimmten Kulturstufe als realisierbar gilt. Sagt doch Nietzsche ausdrücklich: »Der Übermensch ist unsere nächste Stufe«.
War dieser höherwertige Typus noch niemals da? Gewiß, antwortet uns Nietzsche, aber als ein Glücksfall, als eine Ausnahme, nicht als gewollt. Man hat ihn als das Furchtbare empfunden und aus der Furcht den umgekehrten Typus gezüchtet: »das Haustier, das Herdentier, das kranke Tier Mensch, den Christ«. Nietzsche aber war schon früh überzeugt, daß man durch glückliche Erfindungen das große Individuum noch ganz anders und höher erziehen könne, als es bis jetzt durch die Zufälle erzogen wurde. Er verkannte durchaus nicht, daß die Menschheit heute eine ungeheuere Kraft moralischer Gefühle in sich hat, aber immer mehr verschärfte sich seine Erkenntnis dahin, daß ihr das Ziel fehle, an dem alle Kraft verwendet werden könnte.
Wo liegt dieses Ziel? Im Gegensatz zu dem Amerikaner Draper, der verkündete, große Menschen[141] könne, ja dürfe es nicht mehr geben, blieb Nietzsche bei seiner früh ausgesprochenen Überzeugung: »Das Ziel der Menschheit liegt in ihren höchsten Exemplaren«. Er ging später so weit, die Möglichkeit der Erzeugung einzelner großer Menschen als eigentliche Aufgabe der Menschheit zu bezeichnen. »Dies und nichts anderes sonst.« Können wir da auch nur einen Augenblick im Zweifel sein, daß für ihn der Übermensch nicht etwa eine jedermann erreichbare Stufe, sondern den höchsten Gipfel in der Perspektive der heute vorstellbaren Zukunft bildete? Seine Forderung lautet niemals: Werde ein Übermensch! Sondern: Trage bei zur Gestaltung einer Kultur, die die Möglichkeit des Werdens einzelner großer Menschen erhöht, »handle so, als ob du den Übermenschen aus dir erzeugen wolltest«.
Nietzsches Lehre bezweckt, daß das Fernste die Ursache des Heute werde. Ob er vom Weibe verlangt, daß seine Hoffnung heiße: »Möge ich den Übermenschen gebären,« oder ob er sagt: »Der Freund sei euch ein Fest der Erde und ein Vorgefühl des Übermenschen«, immer klingt seine Lehre in der Forderung aus: Ihr sollt Vorfahren werden des Übermenschen.
Das ist die Aszendenzlehre Nietzsches.
Zarathustra ist nicht nur der Verkünder des Übermenschen, sondern er lebt auch seine Lehre als Schaffender am Menschen. In diesem Sinne wurde in Zarathustra der Begriff Übermensch höchste Realität; denn »in einer unendlichen Ferne liegt alles das, was bisher groß am Menschen hieß, unter ihm«.
Wer weiß, ob nicht auch der Mensch wieder nur ein Wurf nach einem höheren Ziele ist.
Goethe.
Hüte dich Nietzsches tiefstes und persönlichstes Werk »Also sprach Zarathustra« mit dem bloßen Verstande erkennen zu wollen! Diese Mahnung sollte man jedem Leser zurufen. Denn in diesem Werke spricht und singt ein Dichter. Wer mit den Augen zudringlich ist als Erkennender, wie sollte der von allen Gründen mehr als ihre vorderen Gründe sehen, gemahnt uns Nietzsche. »Manche Seele wird man nie entdecken, es sei denn, daß man sie zuvor erfinde.« Das gilt nicht nur von der Seele eines Menschen, sondern auch von der Seele einer Dichtung. In jeder Mahnung, daß ein Kunstwerk erschaut, erfühlt, erlebt werden müsse, liegt die Forderung, daß es in uns zeugen soll, damit die nachschaffende Phantasie zu einem Gebilde von symbolischer Bedeutung gelange.
Wenn man der Dichtung des »Zarathustra«, wie es meist geschieht, nur poetisch umkleidete Lehrsätze entnimmt, so gelangt man nur zu den Vordergründen, nicht aber zu der Seele. Läßt man dagegen Zarathustra selbst und alle Gestaltungen des Werkes lebendig vor den Augen der Phantasie erstehen, so erfaßt man gefühlsmäßig den mythischen Sinn. Wir bedürfen keiner schulmeisterlichen Kommentare, wie Naumann und Weichelt sie lieferten, um in den Geist des Werkes einzudringen. »Also sprach Zarathustra« ist kein Lehrgebäude für Dogmatiker. Es ist auch kein Roman, der unsymbolisch genossen werden kann. »Mich ekelt davor, daß Zarathustra als Unterhaltungsbuch in die Welt tritt; wer ist ernst genug dafür?« schrieb Nietzsche an Gast. Aber das Buch will auch nicht als das Evangelium einer neuen geoffenbarten Religion verstanden werden. »Hier redet kein[143] Prophet, keiner jener schauerlichen Zwitter von Krankheit und Willen zur Macht, die man Religionsstifter nennt.« Es ist auch keine Predigt. »Hier redet kein Fanatiker, hier wird nicht gepredigt.«
Was aber ist »Also sprach Zarathustra«? Nietzsche hat uns auf diese Frage eine Antwort gegeben, der mehr als bildliche Bedeutung zukommt. Er hat gesagt: »Man darf vielleicht den ganzen Zarathustra unter die Musik rechnen; – sicherlich war, eine Wiedergeburt zu hören, eine Vorausbedingung dazu.« Und schon früher, bald nach der Entstehung des ersten Teils hatte er an Gast geschrieben: »Unter welche Rubrik gehört eigentlich dieser Zarathustra? Ich glaube beinahe unter die Symphonien.« Nach der Fertigstellung des dritten Teiles fragte er den treuen Mithelfer: »Sind Sie zufrieden auch mit dem Finale meiner Symphonie?« Und ein Jahr danach bezeichnete er mit den gleichen Worten den vierten Teil in einem Briefe an Paul Heinrich Widemann. Aber auch viel später, nämlich in seiner autobiographischen Skizze »Ecce homo« heißt es: »Man muß vor allem den Ton, der aus diesem Munde kommt, diesen halkyonischen Ton richtig hören, um dem Sinn seiner Weisheit nicht erbarmungswürdig Unrecht zu tun«, und weiterhin: »Es ist ein Vorrecht ohnegleichen, hier Hörer zu sein.« Fast könnte man von »Zarathustra« sagen, was Nietzsche einmal vom Buch eines Musikers sagte: es sei nur zufällig nicht mit Noten, sondern mit Worten geschrieben. Der Phönix Musik war mit »leichterem und leuchtenderem Gefieder« an ihm vorübergeflogen, ehe er den »Zarathustra« dichtete.
»Die Musik ist die Melodie, zu der die Welt der Text ist«, sagt Schopenhauer. Gehen wir unsererseits von der Welt, der dichterisch erschauten Welt Zarathustras aus, so gilt es also, die Melodie zu finden, zu der sie der Text ist. Da es uns nicht gegeben ist, sie ertönen zu lassen – eine solche Musik würde die erschöpfendste[144] Interpretation des »Zarathustra« sein –, so müssen wir versuchen, durch das Wort wenigstens den wesenhaften Charakter der Melodie zu erschließen.
Ich bin mir der Schwierigkeiten bewußt, die eine solche Betrachtung bietet, aber ich wage sie trotzdem; denn Nietzsche selbst hat uns den Weg gewiesen. In seinem frühesten Plane des Werkes stehen als Disposition des ersten Buches die bedeutungsvollen Worte: »Im Stile des ersten Satzes der Neunten Symphonie. Chaos sive natura: Von der Entmenschlichung der Natur.« Entmenschlichung der Natur will in diesem Falle sagen: Rückkehr zu Dionysos, dem schöpferischen Willen der Natur, der sich aus dem Chaos entwickelt.
Rufen wir uns nochmals das Bekenntnis Schillers in das Gedächtnis: »Die Empfindung ist bei mir anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand; dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Gemütsstimmung geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee.« Diese Worte hat Nietzsche in der »Geburt der Tragödie« zittert, um aus der ursprünglichen Identität des Lyrikers mit dem Musiker die Entstehung der griechischen Tragödie zu erklären, in der die Musik gleichsam sichtbar wurde. Die dionysisch-musikalische Verzauberung sprühte, von Apollo berührt, Bilderfunken um sich, lyrische Gedichte, die in ihrer höchsten Entfaltung Tragödien und dramatische Dithyramben heißen. So auch haben wir uns die Entstehung des »Zarathustra« zu erklären.
Welche Sprache war einer solchen Dichtung gemäß? Man gefällt sich noch immer darin, eine stilistische Verwandtschaft mit der Bibel zu behaupten. Aber so zahlreich die Anklänge an einzelne Bibelworte sein mögen, meist als Umkehrungen, es lag Nietzsche ebenso fern, stilistisch von der Bibel auszugehen, als von ihrem Geist. Zarathustra ist nichts weniger als eine Parallelerscheinung zu Jesus, wie Weichelt doziert, sondern er ist aus[145] dem Geiste der Antike entstanden. Welche Sprache war also einer solchen Dichtung gemäß? Nietzsche selbst hat uns die Antwort gegeben: »Die Sprache des Dithyrambus. Der Dithyrambus ist ein Hoch- und Festgesang zu Ehren des Schöpferwillens der Natur, ein Preisgesang zu Lob und Verherrlichung des Dionysos. Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt.«
Wie haben wir »Also sprach Zarathustra« zu verstehen? Antwort: symbolisch. »Alles was geschieht ist Symbol, und indem es vollkommen sich selbst darstellt, deutet es auf das übrige,« sagt Goethe, der uns immer wieder am sichersten in Nietzsches Geisteswelt einführt, wenn es gilt, aus den Mysterienpfaden innerer Erlebnisse und Umkehrungen des einsamen Philosophen mit ihm zu sonniger Höhe zu gelangen. Symbolisch also und nicht dogmatisch haben wir »Zarathustra« zu verstehen. Es bedeutet daher einen entschiedenen Fehlgriff, wenn Richard M. Meyer ihn ein »dramatisch-didaktisches Epos« nennt.
Symbolisch verstanden, verkündet uns Zarathustra als notwendige Voraussetzung für die Steigerung des Lebens: die Zusammengehörigkeit von Lust und Leid und die Heiligsprechung dieses Bundes durch die Liebe zur Ewigkeit. »Ich, Zarathustra, der Fürsprecher des Lebens, der Fürsprecher des Leidens, der Fürsprecher des Kreises …!« Mit diesem Satz, sind die drei ersten Teile des »Zarathustra« gekennzeichnet, aus denen ursprünglich das Werk bestand und auf die wir uns zunächst beschränken.
Als Fürsprecher des Lebens, des zur Höhe des Übermenschen aufstrebenden Lebens lernen wir Zarathustra im ersten Teile kennen. Als Fürsprecher des Leidens, das im Schaffenden sich selbst überwindet, kehrt er im zweiten Teil zu seinen Jüngern zurück. »Schaffen, das ist die große Erlösung vom Leiden und des Lebens[146] Leichtwerden. Aber daß der Schaffende sei, dazu selber tut Leid not und viel Verwandlung.« Und als Fürsprecher des Kreises bejaht er im dritten Teil Leid und Lust. »Alles geht, alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, alles blüht wieder auf; ewig läuft das Jahr des Seins.«
Öffnen wir weit die Augen, um die Vision der Zarathustra-Symphonie als Dichtung zu schauen! Wir sehen Zarathustra, den rüstigen Mann von vierzig Jahren, als Wanderer vom Gebirge herabsteigen. Dorthin in Vergessenheit trug er einstmals die Asche der fremden metaphysischen Gedanken seiner Jugend. In der Bergeinsamkeit erstand ihm seine Lehre vom schöpferischen Willen. Ihr Feuer bringt er nunmehr in die Täler. Nicht zu den Gottesfürchtigen, für die der alte Gott noch lebt, denn sie bedürfen seiner nicht, wohl aber zum Volke, das den alten Glauben verloren hat. Ihm verkündet er: alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus. Auch der Mensch, der heutige Mensch ist etwas, das überwunden werden muß. Seht ein Ideal über euch! Ich lehre euch den Übermenschen! Aber das Volk verlangt nach Glück im Behagen, das nur im klugen Verzicht auf jedes höhere Wachstum erreicht werden kann.
Da erkennt Zarathustra: nicht zum Volke darf ich reden, um verstanden zu werden, sondern nur zu einzelnen berufenen Gefährten. Ihnen verkündigt er, daß der in Ehrfurcht tragsame Geist sich mit Löwenmut zunächst sein »ich will!« erobern muß, dann aber noch einer weiteren Verwandlung bedarf, damit eine neue erste Bewegung, ein heiliges Ja-Sagen erstehe. Das Motiv der Entmenschlichung der Natur, chaos sive natura, ertönt in geheimnisvollen Akkorden. Es erheischt: Rückkehr zur Unschuld des Kindes! Wie das Kind in Unschuld spielt, so muß das Schaffen des Menschen, der neue Werte setzt, ein Spiel der Unschuld sein. »Das schaffende Selbst schuf sich Achten und Verachten,[147] es schuf sich Lust und Weh. Der schaffende Leib schuf sich den Geist als eine Hand seines Willens.«
Zarathustras Reden verweisen die Freunde auf die Gefahren, die dem schöpferischen Willen drohen: durch Genügsamkeit, Verlästerung der Natur und des Leibes, Verebbung der Tugend, Verflachung der Bildung und auch durch Wachstum des Gutseins ohne gleichzeitige Kräftigung der Triebe. Je mehr ein Baum hinauf in die Höhe und Helle will, um so stärker müssen seine Wurzeln erdwärts streben, abwärts ins Dunkle, Tiefe – ins Böse. Das gleiche Motiv, das sich zu Anfang verheißungsvoll aus dem Schöpfungsmotiv entwickelte, beschließt auch den ersten Teil: »Tot sind alle Götter: nun wollen wir, daß der Übermensch lebe.«
Also belehrt Zarathustra seine Jünger und läßt sie dann allein, damit der ausgestreute Samen, unbeeinflußt durch ihn selbst, aufgehen möge. Er wandert zurück in das Gebirge und in die Einsamkeit seiner Höhle.
Monde und Jahre vergehen. Eines Morgens aber kommt die Kunde zu ihm, daß seiner Lehre Bildnis entstellt wurde und ihm der Verlust seiner Freunde droht. Wiederum sehen wir ihn in die Täler hinabsteigen und über weite Meere zu den glückseligen Inseln fahren, wo seine Freunde wohnen.
»– und erst, wenn ihr mich alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren. Wahrlich, mit andern Augen, meine Brüder, werde ich dann meine Verlorenen suchen; mit einer andern Liebe werde ich euch dann lieben.« Nietzsche hat diese Worte des ersten Teils als Motto des zweiten verwendet; aber aus diesem Motto »ergeben sich, was dem Musiker zu sagen fast unschicklich ist, andere Harmonien und Modulationen als im ersten Teile«, heißt es in einem Briefe an Gast. Andre Harmonien und Modulationen! Aber das Leitmotiv des schöpferischen Willens beherrscht auch diesen zweiten Teil der Zarathustra-Symphonie. Zu ihm gesellt sich das Thema des Leidens.
Bewußte seelische Leidensfähigkeit ist ein Maßstab der kulturellen Höhe eines Menschen. Der niedere Mensch leidet stumpf und dumpf. Die bewußte Leidensfähigkeit erstreckt sich auch auf das Mitleiden am Schicksal anderer. Wer Nietzsches Philosophie kennt, weiß bereits, welche Gefahren Nietzsche für die Höherentwicklung im Mitleiden sah. Auch hierin, wie sonst, kommt durch Zarathustra die eigene Gesinnung und Lebensanschauung des Dichters zum Ausdruck. Er verkündet den »höheren« Menschen, die allein er nunmehr als seine Jünger ansieht: »Wehe allen Liebenden, die nicht noch eine Höhe haben, welche über ihrem Mitleiden ist.« Denn erst diese große Liebe opfert sich und den Nächsten dem Aufstieg zum Ideal. Darin müssen alle Schaffenden hart sein. Hart vor allem gegen sich selbst, streng gegen sich auch gegenüber der Hingebung an metaphysische Trosthintergründe. Denn, lehrt Zarathustra anti-metaphysisch im zweiten Teile des Werkes den höheren Menschen: »Gott ist eine Mutmaßung: aber ich will, daß euere Mutmaßung begrenzt sei von der Denkbarkeit.«
Überall, wo diese Grenzen überschritten werden, sieht Nietzsche Gefahren für den Aufstieg. Das gilt vom religiösen Glauben an Rache, Strafe, Lohn, Vergeltung. Das gilt aber auch von der Erkenntnis, die Selbstzweck bleibt, von der Moralität, die nicht die Bedingtheit aller Wertungen einsieht, von der Erhabenheit, der die Schönheit mangelt, von der atavistisch überladenen Bildung, von der untätigen Beschaulichkeit und Menschenverachtung, wenn sie in unproduktiver Resignation auf Illusionen verzichtet, die für das schöpferische Leben unentbehrlich sind. »Damit das Leben gut anzuschauen sei, muß sein Spiel gut gespielt werden: dazu aber bedarf es guter Schauspieler.«
In Illusionen wiegen sich vor allen die Eitlen. Ihr Spiel gilt Nietzsche als eine Arznei gegen die Schwermut. Und darum schont er die Eitelkeit. Im Spiel des Lebens müssen wir die Furchtsamkeit überwinden, die[149] vor dem Gedanken erschrickt, daß die Verknüpfung von Lust und Leid sich niemals löst, sondern ewig währt, wo immer Leben waltet. »Großes vollführen ist schwer: aber das Schwerere ist, Großes befehlen.« Nicht bedarf es des Pathos hierzu; denn »die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen. Gedanken, die mit Taubenfüßen kommen, lenken die Welt«. Noch wagt Zarathustra nicht den abgründigsten dieser Gedanken auszusprechen, und so sehen wir ihn nochmals in die Einsamkeit zurückkehren.
Errichtete der erste »Zarathustra« den Menschen ein Ideal als Ziel ihres Strebens über sich selbst hinaus: den Übermenschen, lehrte der zweite »Zarathustra«, was auch am Guten noch unzulänglich, noch feige, also schlecht ist, so enthüllt der dritte »Zarathustra«, was am Bösen schöpferisch und stark, also gut ist: Wollust als Gartenglück der Erde, als aller Zukunft Dankesüberschwang an das Jetzt, Herrschsucht als Machtlust des Hohen, Selbstsucht, die das Ich heil und heilig spricht in gesunder Liebe. Der Wille zur Vernichtung wird verherrlicht; denn wer radikal denkt und fühlt und das Starke will, muß das Schwache verwerfen. Soll der Weizen blühen, müssen wir das Unkraut ausjäten. Und darum zerbricht Zarathustra die alten Tafeln, die Weichherzige beschrieben haben, und stellt neue Tafeln auf, die bestimmen: »Das Beste soll herrschen, das Beste will auch herrschen! Und wo die Lehre anders lautet, da – fehlt es am Besten.« Zu diesem Besten aber ist dem Menschen auch sein Bösestes nötig.
Zarathustra ist reif für seine Früchte geworden. Nun erst ist ihm die Kraft des Befehlenden gegeben, nun erst vermag er den Freunden seine höchste Wahrheit zu verkünden, die da besagt: dieses Leben ist zugleich dein ewiges Leben. Nicht Beifall und Zustimmung der Erkenntnis genügen, sondern es bedarf der entschlossenen Tatkraft, um das ungeheuere, unbegrenzte Ja- und Amensagen zum Leben in Wirksamkeit treten zu lassen. Nicht[150] der Geist allein, sondern der Mut zum eigenen Selbst muß sprechen: »War das das Leben? Wohlan! Noch einmal!« Auch der Überwindung des Ekels bedarf es, damit der ewige Lebenswille bewußt seinen Sieg feiere. Nun verkündet Zarathustra die Lehre der Ewigen Wiederkunft des Gleichen. »Alles bricht, alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, alles grüßt sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins.«
Man achte darauf, wie oft in aller Beredsamkeit Zarathustras sich nun die Sehnsucht des Dichters ankündigt, mit der Macht der Musik zu sprechen und wie seine Sprache sich auf das innigste dem Klang unmittelbar vermählt. »Mit Tönen tanzt unsere Liebe auf bunten Regenbögen.« Er will den Singe-Vögeln das Singen ablernen und verkündet seinen Tieren: »Daß ich wieder singen müsse – den Trost erfand ich mir und diese Genesung.« Seine Tiere antworten ihm: »Sprich nicht weiter, mache dir zuerst eine Leier zurecht, eine neue Leier.« Und er spricht zu seiner Seele: »Aber willst du nicht weinen, nicht ausweinen deine purpurne Schwermut, so wirst du singen müssen, o meine Seele! – singen, mit brausendem Gesange, bis alle Meere still werden, daß sie deiner Sehnsucht zuhorchen …« Und nun folgt jener wunderbare »Das andere Tanzlied« überschriebene Dithyrambus der in den unsterblichen Tönen ausklingt:
Nietzsche hat uns später diese Worte dahin erläutert: so reich ist Lust, daß sie nach Wehe durstet; weil sie sich selber will, darum will sie auch Herzeleid! »Schmerz ist auch eine Lust, Fluch ist auch ein Segen, Nacht ist auch eine Sonne!«
Aber selbst nach diesen Klängen fand Nietzsche noch eine Steigerung in dem »Ja- und Amenlied: Die sieben Siegel« mit dem siebenmal wiederkehrenden Refrain: »Denn ich liebe dich, o Ewigkeit!«
So wurde im dritten Satz der Zarathustra-Symphonie der Ewigkeitsgedanke zum herrschenden Leitmotiv.
Man behauptete immer wieder, zwischen der Lehre des Übermenschen und der Lehre der Ewigen Wiederkunft klaffe ein Widerspruch. Aber dieser schließt sich von selbst, wenn wir beides im Sinne Nietzsches in symbolischer Bedeutung verstehen.
»Der Übermensch ist unsere nächste Stufe.« In diesen Worten Nietzsches ist gesagt, daß wir den Übermenschen nicht etwa nur als Maximum im Menschen latenter Fähigkeiten zu betrachten haben, sondern recht wohl als ein Ideal, das organisch und sozial zur Entfaltung kommen soll, ohne daß durch seine Realisierung das ideale Streben sein Ende erreicht. »Um die Mitte der Bahn entsteht der Übermensch.« Er bedeutet diejenige Stufe, auf welcher der Mensch sich selbst und dem Leben in dem Maße gut wird, daß er Lust wie Leid bejaht; denn alle Dinge sind verkettet. Diese unbedingte Lebensbejahung findet ihr Symbol in der Lehre der Ewigen Wiederkunft.
Nicht das also entscheidet, daß diese Lehre als Dogma geglaubt, sondern daß der Gedanke als eine Möglichkeit nicht nur ertragen wird, sondern gewollt wird, um so den Ewigkeitswert alles Tun und Lassens zu besiegeln. Wir haben es bereits ausgesprochen, daß diese wesenhafte Bedeutung auch dann gewahrt bleibt, wenn wir[152] nicht an eine gleichmäßige Wiederholung, sondern an Wandlungen der andauernden Schöpfung denken.
Ob wir uns diese Ewigkeitsbewertung als Kreis oder als Spirale vorstellen, in beiden Fällen sind wir nicht etwa an die Lehre der Metamorphose (der Seelenwanderung), wohl aber an die der Palingenesie gebunden. Vortrefflich hat Schopenhauer beide definiert. »Sehr wohl könnte man unterscheiden Metamorphose als Übergang der gesamten sogenannten Seele in einen anderen Leib – und Palingenesie als Zersetzung und Neubildung des Individui, indem allein sein Wille beharrt und die Gestalt eines neuen Wesens annehmend, einen neuen Intellekt erhält.«
Sehr richtig sagt Oskar Ewald: »Der vulgäre Mensch sieht Phänomene kommen und gehen, der höhere Mensch sieht seine Kontinuität hinter den Phänomenen.« Dieser Glaube an eine Kontinuität wird durch Nietzsches Lehre der Ewigen Wiederkunft symbolisiert.
Fragen wir uns zum Schlusse, welches ist also die Idee, die in der Dichtung des »Zarathustra« als Wiederspiegelung einer dionysisch-musikalisch empfundenen Willenskundgebung zum Ausdruck kommt, so können wir sie imperativistisch in die Worte fassen: Fühle, denke, wolle, handle so, daß unter der Oligarchie höherer Menschen eine Kultur möglich wird, in der sich der harmonische Vollmensch, gesund an Körper und Geist, der zum Gesetzgeber berufene Übermensch wurzelhaft zu entwickeln vermag, der nicht des Ausblicks auf ein anderes Leben bedarf, sondern dieses Leben als sein ewiges Leben lebt und seine höchste Bejahung in dem Verlangen findet: Ist dies das Leben? Wohlan noch einmal! Denn ich liebe dich, o Ewigkeit!
Wenn ich mein Leben noch einmal beginnen sollte, so würde ich ebenso leben, wie ich gelebt habe.
Montaigne.
Der erste Teil des »Zarathustra« ist im Februar 1883 in Rapallo geschrieben. »Die Schlußpartie wurde genau in der heiligen Stunde fertig gemacht, in der Richard Wagner in Venedig starb.« Also am 13. Februar. Der zweite Teil ist zwischen dem 26. Juni und dem 6. Juli des gleichen Jahres in Sils-Maria geschrieben. »Im Sommer, heimgekehrt zur heiligen Stelle, wo der erste Blitz des Zarathustra-Gedankens mir geleuchtet hatte, fand ich den zweiten ›Zarathustra‹. Zehn Tage genügten; ich habe in keinem Falle, weder beim ersten noch beim dritten und letzten mehr gebraucht.« Der dritte Teil wurde Ende Januar 1884 in Nizza geschrieben.
In zehn Tagen! Es fällt schwer, sich dies vorzustellen bei der Fülle des Werkes, auch wenn wir uns sagen, daß gewiß Vieles längst vorbedacht war. Zu Dr. Paneth aus Wien äußerte Nietzsche einmal zur Zeit, da der dritte »Zarathustra« entstand, er glaube in sich dichterische Kräfte bis zu jedem Grade zu haben; er habe sie so lange zurückgedrängt, daß er jetzt nur die Schleusen zu öffnen brauche. Seine gleichzeitige Mitteilung, er wolle auch einige Kompositionen fertigbringen und hinterlassen als Ergänzung seiner Schriften, denn er könne in Tönen manches sagen, was in Worten nicht auszusprechen sei, bestätigt die innige Verbundenheit von Wort und Musik bei Nietzsche.
Von der Entzückung, in der er seinen »Zarathustra« schuf, gewinnen wir eine überzeugende Vorstellung, wenn wir in »Ecce homo« lesen, wie er die Macht der Inspiration empfand. Nämlich als eine Offenbarung in dem Sinne, daß plötzlich mit unsäglicher Sicherheit und[154] Feinheit etwas sichtbar, hörbar wird, was einen im tiefsten erschüttert, jede Willkür und Wahl ausschließt und in Bild und Gleichnis unmittelbar den nächsten, richtigsten, einfachsten Ausdruck darbietet.
Nur aus der Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit der schöpferischen Intuition erklärt es sich, daß das Werk innerhalb einer Frist entstehen konnte, die uns bei einem verstandesmäßig dem Bewußtsein abgerungenen Werk als unmöglich erscheinen müßte. Und dies außerdem unter der mißlichsten Ungunst der Verhältnisse. Gesundheitliche Störungen, Schwierigkeiten mit dem Verleger, Ausbleiben sympathischer Zustimmungen, zufällige Mißhelligkeiten verschiedenster Art vermochten nicht den Fluß seiner Arbeit zu hemmen. Am schwierigsten aber erwies sich dabei wohl, die zeitweise auftretende eigene Depression zu überwinden. Auch an Nietzsche trat, wie an andere Menschen, die Versuchung heran, im Mitleiden eine Tugend zu sehen, der man seine höhere Erkenntnis opfern müsse. Dann versuchte die Einsicht, daß auch der Schaffenswille dem Willen zur Macht, also der Herrschsucht, entstammt, ihm ein Halt zuzurufen; dann zweifelte auch er, ob es eine »Pflicht zur Wahrheit« geben könne, da doch niemals die unbedingte Richtigkeit feststehe. Zweifel überkamen auch ihn, den liebend Hoffenden, ob, wer den Menschen den Genuß am Vorhandenen so gründlich erschüttert, nicht damit die große Müdigkeit der Kulturmenschheit noch mehre, statt sie zu heben, ob diese nicht an Kräften Einbuße erleide, wenn er allem, was heute als Tugend anerkannt wird, die Scheinherrlichkeit raube; denn das Leben bedarf der Illusionen. Aber er überwand diese Versuchung, erfüllt von der Überzeugung, daß seine Lehre der Menschheit das biete, was sie am nötigsten hat: ein neues Ziel!
Heute sind wir uns wohl darüber einig, daß Nietzsches Lehre dies vermag. Gleichviel, ob wir als Individualisten es im harmonischen Vollmenschen sehen, dem Gesetzgeber[155] der Zukunft, der einen Gipfel unserer Entwicklung bedeutet, oder ob wir als Gemeinschaftswesen den Übermenschen nur als Blickpunkt werten, der uns die Richtung zu einer höheren Kultur weist. Heute ja, aber damals beim Erscheinen seines Werkes, da fand sich niemand oder doch fast niemand, der diesen Glauben mit Nietzsche teilte. Kein Wunder also, daß Bedenken in ihm aufstiegen, Versuchungen an ihn herantraten, die er nur durch die Stärke seines Glaubens an sich selbst und seine Hoffnung auf die Zukunft überwinden konnte. Der innere Kampf zwischen Zweifel und Hoffnung wurde für ihn zu einem neuen Erlebnis. Diesem Erlebnis verdanken wir die Dichtung des vierten »Zarathustra«.
Ursprünglich sollte er nicht als Schlußteil seines unsterblichen Werkes erscheinen, sondern unter dem Titel: »Mittag und Ewigkeit« mit dem Zusatz: »Erster Teil: Die Versuchung Zarathustras«. Zwei weitere Teile sollten sich ihm anschließen, wozu wohl Dispositionen vorhanden sind, jedoch ohne daß wir dadurch ein übersichtliches Bild der geplanten Fortsetzung gewinnen. Wäre es Nietzsche vergönnt gewesen, sie auszuführen, so besäßen wir ein selbständiges zweites Buch von »Also sprach Zarathustra«. So aber lag es nahe, es nach seinem Tode – er hatte »Mittag und Ewigkeit« nur in einer kleinen Anzahl für einige Freunde drucken lassen – als vierten Teil seinem Werke einzuverleiben. Dieser vierte Teil ist im Winter 1884/85 in Mentone geschrieben.
Wir verstehen ihn wohl dann am besten, wenn wir davon ausgehen, daß er Nietzsches Überwindung der depressiven Versuchungen durch den festen Glauben des Hoffenden widerspiegelt. In der Zeit vor der Entstehung des vierten »Zarathustra« schrieb Nietzsche die Worte nieder: »Um schaffen zu können, müssen wir selber uns größere Freiheit geben, als je uns gegeben wurde; dazu Befreiung von der Moral und Erleichterung durch Feste (Ahnungen der Zukunft! Die Zukunft feiern,[156] nicht die Vergangenheit! Den Mythus der Zukunft dichten! In der Hoffnung leben!). Selige Augenblicke! Und dann wieder den Vorhang zuziehen und die Gedanken zu festen, nächsten Zielen wenden!«
Im vierten Teile steigt Zarathustra nicht abermals in die Täler hinab, sondern »höhere Menschen« kommen zu ihm in ihrer Not. Wen bezeichnet Nietzsche als höhere Menschen? Vor allem solche, die sich nicht an dem Heute des Pöbels genügen lassen, die lieber verzweifeln als sich in Resignation ergeben. »Daß ihr verachtetet, ihr höheren Menschen, das machte mich hoffen. Die großen Verachtenden nämlich sind die großen Verehrenden.« Ihr Leid, ihre Verzweiflung bedeuten für Zarathustra eine Versuchung zum Mitleiden, das er nur schwer überwindet, ja dem er zu unterliegen droht. Noch sind sie nicht auf ihrer Höhe, aber sie sind unterwegs zur Höhe. Da ist der Wahrsager, der in seiner Enttäuschung verkündet: »Alles ist gleich, es lohnt sich nichts, Welt ist ohne Sinn, Wissen würgt.« Zarathustra aber widerspricht ihm: »Es gibt noch glückselige Inseln.« Den beiden Königen, die es davor ekelt, daß sie nicht die ersten sind und es doch bedeuten müssen, belächelt er ihre Friedfertigkeit. Der Gewissenhafte des Geistes, der als Gelehrter zwar eines gründlich wissen will, aber auf alles andere verzichtet, kann ihm in seiner engen Genügsamkeit nicht genügen. Der alte Zauberer und Künstler, der den Büßer des Geistes spielt, der der Bezauberer aller wurde, aber sich selbst entzaubert ist und nun sehnsüchtig nach einem Großen sucht, heißt er gern bei sich willkommen, aber wie sollte er ihm als groß und echt gelten?!
Sowohl der schwarze lange Mann mit einem hageren Bleichgesicht, der letzte Papst, dessen schöne Hand, die immer Segen ausgeteilt hat, Ehrfurcht verdient, und der in seiner Schwermut nach Trost sucht, wie der häßlichste Mensch, der sich selbst und zugleich das[157] Mitleiden der Menschen verachtet, aber unter seiner rachsüchtigen Entrüstung schwer leidet: bedürfen Zarathustras Hilfe. Sie alle verweist er für den Abend in seine Höhle. Ebenso den freiwilligen Bettler, der seinen Reichtum wahllos von sich warf, ohne die Kunst des Schenkens zu üben, denn er soll Stolz und Klugheit von Zarathustras Adler und Schlange lernen. Und endlich Zarathustras Schatten, der viel schon hinter ihm herging, der als sein Nachfolger immer unterwegs war, aber nicht sein Gebot fand: auch ihn kann er nur als Gast in seine Höhle laden, nicht aber als gleichberechtigten Freund anerkennen. »Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt.«
Haben wir so die Zarathustra aufsuchenden höheren Menschen als Typen erschaut, so gelüstet es uns kaum, darüber belehrt zu werden, wer zu einzelnen Zügen von ihnen Modell gestanden hat. Was liegt daran?! Ehe ihre gemeinsame Begrüßung in Zarathustras Höhle erfolgt, beschenkt uns Nietzsche wiederum mit einem unmittelbar aus der Musik erstandenen Wortgesange, einem Schlaflied, »Mittags« genannt. Wie sich in jenem Dithyrambus »Das andere Tanzlied« der Rhythmus der Bewegung in Worten entfaltet, so hier der Rhythmus allmählicher Beruhigung. »Scheue dich! Heißer Mittag schläft auf den Fluren. Singe nicht! Still! Die Welt ist vollkommen.« Wiederum gilt es, Hörer zu sein, Hörer des Mittags und Hörer der Ewigkeit.
Als am späten Nachmittag Zarathustra zu seiner Höhle zurückkehrt, wo er seine Gäste versammelt findet, liest er von neuem ihre Seelen ab. Sie sind Verzweifelnde, aber sie haben erkannt: unsere Rettung liegt bei Zarathustra. So gelten sie ihm als Vorzeichen, daß Bessere, Höhere noch als sie kommen werden. Einer der Könige verkündet: Der letzte Rest Gottes unter den Menschen ist zu Dir unterwegs. Das ist: »alle die Menschen der großen Sehnsucht, des großen Ekels, des großen[158] Überdrusses. Alle, die nicht leben wollen, oder sie lernen wieder hoffen – oder sie lernen von Dir, o Zarathustra, die große Hoffnung«. Aber Zarathustra weiß, die Sehnsucht allein genügt nicht. Er wartet: »auf Höhere, Stärkere, Sieghaftere, Wohlgemutere, Solche, die rechtwinklig gebaut sind an Leib und Seele: lachende Löwen müssen kommen«. Das erst sind Menschen, bei denen starker Wille und heitere Lebensbejahung sich vereinigen. »Was gäbe ich nicht hin, daß ich eins hätte: diese Kinder, diese lebendige Pflanzung, diese Lebensbäume meines Willens und meiner höchsten Hoffnung!«
Das Fest des »Abendmahls«, das in Zarathustras Höhle gefeiert wird, ist kein Fest der Demut und der Ermüdung, sondern ein Fest des Stolzes und der Erhebung. Von den Schaffenden wird bei diesem Feste gesprochen, die alles Trübsal-Blasen und alle Pöbel-Traurigkeit vergessen, die tanzen lernen und lachen lernen. »Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranzkrone: euch, meinen Brüdern, werfe ich diese Krone zu! Das Lachen sprach ich heilig; ihr höheren Menschen, lernt mir – lachen!«
Wohl wissen seine Gäste zu lachen. Aber ihr Lachen ist noch nicht sein Lachen. Es entstammt der Parodie und Verhöhnung. Auch als solches ist es ein Zeichen der Genesung und Befreiung, denn »nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tötet man«. Und auch aus der Narrheit kann die Zufriedenheit mit dem Leben und der Wunsch aufsteigen, es noch einmal zu leben. Daher darf ihnen Zarathustra mit dem »trunkenen Lied« antworten, das sein Mitternachtslied »O Mensch! Gib acht!« tief und doch zugleich übermütig umschreibt.
Gleichwohl bleibt bei ihrem Behaben für Zarathustra die Überzeugung bestehen: das sind noch nicht meine rechten Gefährten. Sein Schritt am Morgen ist für sie noch kein Weckruf. Wohl aber begegnen ihm Zeichen,[159] welche ihn sprechen lassen; »meine Kinder sind nahe, meine Kinder«! Diese Hoffnung befreit ihn von den Gefahren der Versuchung durch Leid und Mitleiden, sowie von der Gefahr, um des eigenen Glückes willen auf sein Ziel zu verzichten. »Mein Leid und mein Mitleiden – was liegt daran! Trachte ich denn nach Glücke? Ich trachte nach meinem Werke!« Mit diesem Gedanken schließt der vierte »Zarathustra« und läßt uns noch einmal das Thema des ersten Satzes in der Erinnerung aufsteigen: das Motiv des schöpferischen Willens, aber noch nicht die Erfüllung selbst.
Die drei ersten Teile des Buches bilden ein in sich abgerundetes Werk; der vierte Teil ist, wie wir bereits erwähnten, der Anfang eines zweiten Buches, dem noch zwei Teile folgen sollten. Wie dachte sich Nietzsche diese Fortsetzung? Nur Mutmaßungen auf Grund vereinzelter Aufzeichnungen können uns auf diese Frage Antwort geben. Der Dichter plante ursprünglich die Einführung Panas, welche Zarathustra liebt und aus Mitleid den Dolch nach ihm zückt. »Im Augenblick wo sie den Dolch führt, versteht Zarathustra alles und stirbt am Schmerz über dieses Mitleiden.« Aber diesen Gedanken hat Nietzsche wohl fallen lassen; denn er kehrt in den späteren Dispositionen nicht wieder.
Indem wir uns streng an seine hinterlassenen Aufzeichnungen halten, wollen wir uns nunmehr ein Bild machen, wie sich Nietzsche wohl die Fortsetzung des »Zarathustra« dachte. Die Lehre der Ewigen Wiederkunft erweist sich zunächst als zerdrückend für die Edleren, ja scheinbar sogar als ein Mittel sie auszurotten, so daß gerade die geringeren, weniger empfindlichen Naturen übrigbleiben würden. Es erhebt sich daher der Gedanke: »Man muß diese Lehre unterdrücken und Zarathustra töten.« Zarathustra aber erwidert: Ihr kennt mich nicht. Ich gab euch diese schwerste Last, daß die Schwächlinge daran zugrunde gehen. – Sanftmut und Milde sind[160] Zeichen der noch nicht ihrer selbst sicheren Kraft. Mit der Genesung Zarathustras von seinen Versuchungen steht Cäsar da, unerbittlich gütig – zwischen Schöpfersinn, Güte und Weisheit ist nunmehr die Kluft vernichtet. Helle und Ruhe zeichnen Zarathustra aus. Keine übertriebene Sehnsucht beherrscht ihn, sondern er sieht sein Glück im recht angewendeten verewigten Augenblick. So erscheint er als der Typus, wie der Übermensch leben muß, nämlich: wie ein epikuräischer Gott. Die »dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens« bleibt an Stelle einer utopischen Erfüllung Ziel und Inhalt seiner Lehre. Aber die Züchtung der besseren Menschen verlangt schwere Opfer: Verlassen von Heimat, Familie, Vaterland. Ein unentwegbares Leben unter der Verachtung der herrschenden Sittlichkeit.
Große Menschen wollen sich hineingestalten in große Gemeinden. Man beachte diesen kulturell wichtigen kommunistischen Zug! Sie wollen eine Form dem Vielartigen, Ungeordneten geben, es reizt sie, das Chaos zu sehen und zu gestalten. Wer die Werte bestimmt und den Willen von Jahrtausenden lenkt, dadurch daß er die höchsten Naturen lenkt, ist der höchste Mensch. Von dieser Überzeugung erfüllt, ruft Zarathustra zum Ringkampf auf und zur Verwendung der Macht, welche die Menschheit präsentiert.
So ungefähr dachte sich Nietzsche nunmehr Zarathustra. Der vierte Teil hatte mit der Ankündigung geschlossen, daß seine Kinder zu ihm unterwegs sind, das heißt jene Menschen, die sich auf Grund seiner Lehre entwickelten. Er nimmt daher Abschied von seiner Höhle, Abschied für immer, und zieht ihnen mit seinen Tieren, also seinem Stolze, seiner Klugheit, seinem Mute, entgegen bis zur Stadt. Die Vereinigung mit ihnen bedeutet einen Siegeszug. Die Stadt heißt ihm die Peststadt. Die Bemerkung: »Ein Scheiterhaufen. Die alte[161] Kultur verbrannt«, läßt uns auf einen dramatisch lebensvollen Höhepunkt schließen. Ein Frühlingsfest sollte sich diesem Ereignis anschließen. Ein Frühlingsfest mit Chören. Zarathustra verlangt Rechenschaft. Er fragt: »Was tatet ihr?« Die Art der neuen Gemeinschaft kommt zur Darstellung. Neue Fragen werden von Zarathustra gestellt und von ihm selbst beantwortet. Sie betreffen die Wahl der Wohnorte, den Entschluß, Versuche zum besten der Kultur mit Verbrechern an Stelle von Bestrafungen anzustellen, die Erlösung des Weibes im Weibe, die Vermehrung der Maschinen, aber auch deren Umgestaltung ins Schöne, sowie die Einteilung des Tages. Die Unschuld des Werdens muß gewahrt bleiben, die Weihung auch des Kleinsten muß erfolgen, das Heraufbeschwören des Feindes wird nötig, damit der neue Adel und die neuen Könige, als Vorbild und Lehrer, sich bewähren.
Dem neuen Typus droht eine äußerste Gefahr, denn die »Guten« nehmen jetzt gegen den höheren Menschen, gegen die Ausnahmen Partei. Das Kleinwerden und Schämen der Mächtigen bleibt das drohende Verhängnis der aufwärtsstrebenden Menschheit. Bei dem Mangel, erhebende Menschen zu sehen, wird die Häßlichkeit, der Neid und die Kleinlichkeit des Plebejers, die moralische Tartüfferie zur Gefahr, daß alle hohen Naturen ersticken und die Weltregierung in die Hände der Mittelmäßigen fällt. Zarathustra reizt daher seine Jünger zur Erderoberung auf. Nicht die Mittelmäßigen sollen regieren, sondern zu Gesetzgebern der Zukunft sind nur solche berufen, die einen großen Tatbestand von Wertschätzungen neu feststellen und als Befehlende diese Wertschätzungen in Wirklichkeit verwandeln.
Zarathustra selbst bewährt sich als ein solcher Gesetzgeber. Die Stunde seines Sieges ist gekommen. Er fragt bei dem dionysischen Frühlingsfeste die ganze Masse – und führt dadurch die letzte Entscheidung herbei: Wollt[162] ihr das alles (Freud und Leid des Lebens) noch einmal?, und als alle mit Ja! antworten, da stirbt er vor Glück.
Ahnungsvoll, heiter, schauerlich wollte Nietzsche diesen entscheidenden Vorgang gestalten. Der Himmel heiter, tief. Tiefste Stille. Die Tiere um Zarathustra. Er hat sterbend das Haupt verhüllt, die Arme über die Felsplatte gebreitet. So scheint er zu schlafen. Furchtbare Stille tritt ein. Etwas Leuchtendes geht allen über ihre Gedanken hinweg.
Den Abschluß des Werkes bilden Worte der Gelobenden. Wir erfahren: der große Mittag ist zum Wendepunkt geworden. Die höchste Entfaltung des Individuums bedeutet die Überwältigung des »Menschen«, die Überbietung aller bisherigen Moral. Der Tod ist seiner Zufälligkeit entkleidet. Am Schaffen selbst stirbt der Schaffende, der Schöpfer aus Güte und Weisheit.
Wenn wir so – trotz großer Vorsicht vielleicht manches verfehlend – aus den andeutenden Aufzeichnungen auch nur vage Umrisse erhalten, wie ungefähr Nietzsche die beiden letzten Teile des »Zarathustra« zu gestalten dachte: so gewinnen wir damit doch eine Ahnung, daß das Werk damit bedeutsam zum Abschluß gekommen wäre. Im Jahre 1885 faßte Nietzsche jedoch, wie uns ein Vermerk in seinem Notizbuch besagt, endgültig den Entschluß, auf die Ausführung zu verzichten. »Ich will reden und nicht mehr Zarathustra.« Eine Vorstellung des Stiles, in dem die plastische Ausgestaltung der Schlußteile sich bewegen sollte, gibt uns wohl ein glücklicherweise erhaltenes Fragment.
Da es nur in die große Ausgabe seiner Werke aufgenommen wurde, in allen anderen Ausgaben aber fehlt, ist es wenig bekannt. Ich bringe es mit freundlicher Erlaubnis von Frau Förster-Nietzsche als Abschluß unserer Zarathustra-Betrachtung zum Abdruck, und zwar in der Fassung in der es erstmals in der Zeitschrift »Pan« veröffentlicht wurde.
»Es ist nicht mehr die Zeit für Könige: die Völker sind es nicht mehr wert, Könige zu haben.
Du hast es gesagt, König: das Bild, das vor dem Volke hergeht, das Bild, an dem sie alle zu Bildnern werden: das Bild soll dem Volke der König sein.
Vernichten, vernichten sollst du, o König, die Menschen, vor denen kein Bild herläuft: das sind aller Menschheit schlimmste Feinde!
Und sind die Könige selber solche, so vernichte, o König, die Könige, so du es vermagst!«
»Meine Richter und Fürsprecher des Rechts sind übereingekommen, einen schädlichen Menschen zu vernichten; sie fragen mich, ob ich dem Rechte seinen Lauf lassen wolle oder die Gnade vor dem Rechte.«
»Was ist das Schwerere zu wählen für einen König, die Gnade oder das Recht?«
»Das Recht,« antwortete der König; denn er war milden Sinnes.
»So wähle das Recht und laß die Gnade den Gewaltmenschen als ihre eigne Überwältigung.«
»Ich erkenne Zarathustra, sagte der König mit Lächeln: wer verstünde wohl gleich Zarathustra auf eine stolze Weise sich zu erniedrigen? Aber das, was du aufhobst war ein Todesurteil.«
Und er las langsam daraus und mit halber Stimme, wie als ob er mit sich allein sei: »Des Todes schuldig – Zarathustra, des Volkes Verführer.«
»Töte ihn, wenn du die Macht dazu hast« – rief Zarathustra auf eine furchtbare Weise abermals; und seine Blicke durchbohrten die Gedanken des Königs.
Und der König trat nachsinnend einige Schritte zurück, bis hinein in die Nische des Fensters; er sprach[164] kein Wort und sah auch Zarathustra nicht an. Endlich wandte er sich zum Fenster.
Als er aber zum Fenster hinausblickte, da sah er etwas, darob die Farbe seines Angesichtes sich verwandelte.
»Zarathustra,« sagte er mit der Höflichkeit eines Königs, »vergib, daß ich dir nicht gleich antwortete. Du gabst mir einen Rat: und wahrhaftig, ich hörte gerne schon auf ihn! – Aber er kommt zu spät!«
Mit diesen Worten zerriß er das Pergament und warf es auf den Boden. Schweigend gingen sie voneinander.
Was der König aber von seinem Fenster aus gesehen hatte, das war das Volk: das Volk wartete auf Zarathustra.
Hermann Hesse.
Auch unter den Philosophen gibt es solche, die ihr Bild gleichsam als Maler von einem gegebenen Standpunkt aus auf die Fläche projizieren, und solche, die gleich dem Bildhauer ihr Problem von den verschiedensten Seiten prüfen und auf diese Weise ihr Werk gestalten. Wer sich hier wie dort auf eine Plastik so einstellt, wie es nur dem Gemälde gegenüber angebracht ist, wird notgedrungen zu einem verurteilenden Mißverstehen gelangen.
Was alles ist nicht schon über die »Widersprüche« bei Nietzsche geschrieben worden! Wohlwollende halfen sich damit, sie aus seiner Entwicklung zu erklären. Sie betonten die Gegensätzlichkeit seiner verschiedenen Schaffensperioden, um günstigenfalls einen geheimen Zusammenhang, dank seiner Persönlichkeit zu entdecken. Aber auch innerhalb der einzelnen Schaffensperioden ergibt sich keine Einheitlichkeit, wenn wir seine Werke nach der Art eines Gemäldes und nicht nach der Art einer Plastik beurteilen. Nietzsches Lehre aber muß mit den Augen eines Plastikers gesehen werden; denn er anerkennt keine unbedingten Wahrheiten, die von vornherein nur einen Standpunkt zulassen. Nicht der Hinweis auf Metamorphosen, wie sie jeder Mensch schon in seiner Wandlung vom Jüngling zum Mann erlebt, genügt, um das Beharrende in Nietzsches Schaffen zu erkennen, sondern es gilt, ihm auf den geheimen Wegen seines inneren Erlebens zu folgen, um die Einheit in der Vielfältigkeit zu erschauen.
Man muß verstehen, daß bei dem Trieb, alles unentwegt zu Ende zu denken, bei jedem Wort »immer[166] auf den extremsten Ausdruck« bedacht zu sein, so mancher Superlativ in Bejahung und Verneinung die Gegenüberstellung eines ausgleichenden Gegenwerts erforderte, man muß verstehen, daß Nietzsche trotz seiner Einseitigkeit als Kämpfer die verschiedensten Probleme umschließt. Er erklärt die Lust aus dem Leid und das Leid aus der Lust, den Pessimismus als Weltschmerz aus der Schwäche und den Pessimismus als tragische Erkenntnis aus der Stärke; denn Sprache und Begriffe sind nicht eindeutig. Er verherrlicht den Positivismus als Beschränkung auf das erfahrungsmäßig Gegebene und verurteilt ihn wiederum als einseitige Kritik der Spezialisten; er sieht im Zweifel bald eine blutaussaugende Spinne und verherrlicht wiederum die Skepsis als verwegene Männlichkeit. Nicht aus Mangel an Konsequenz, sondern aus der Folgerichtigkeit der notgedrungen wechselnden Anschauung und Beleuchtung. Darum sei es noch einmal gesagt: wir müssen Nietzsches Lehre so besehen, wie wir eine Plastik besehen.
Ein Philosoph, der nicht an absolute Wahrheiten glaubt, die unabhängig von der wirklichen Welt bestehen, sondern dessen Problem das vielgestaltige Leben selbst ist unter Einschluß seiner notwendigen Widersprüche, kann nur zu einer Einheit gelangen, indem er wie der Musiker Kontrapunkte setzt, wie der Architekt Horizontale und Vertikale sich ausbalancieren läßt. Nietzsche regt als Dichter die Phantasie an, daß sie zusammenschaut, was für den nüchternen Verstand getrennt besteht, Nietzsche als Denker erhebt den Widerspruch selbst zum Prinzip des Lebens.
Da für Nietzsche nicht die begriffliche Erkenntnis allein, nicht die logische Ableitung mittels Vernunftgründen, nicht die Vereinheitlichung in einem System das Ziel seiner Weltanschauung bildet, sondern die Lehre ihm aus dem Erlebnis erwächst, so ist eine gleichzeitige Betrachtung von Leben und Lehre unumgänglich notwendig,[167] damit wir den organischen Zusammenhang von Wesen und Wille bei ihm erkennen. Von Wille: denn für Nietzsche ist der Philosoph letzten Endes nicht zum beschaulichen Weisen, sondern zum schöpferischen Gesetzgeber der Menschheit berufen. Wie Goethe als Dichter nicht bestrebt war, Poesien aus der Wirklichkeit zu schöpfen, sondern Wirklichkeit selbst zu poetisieren, so will Nietzsche nicht Wertlehren aus dem Leben abstrahieren, sondern das Leben selbst in Werte umsetzen.
Jede Philosophie läßt sich als Bekenntnis ihres Urhebers deuten, und zwar sowohl hinsichtlich Start als Ziel. Sein Wesen, aber auch die Sehnsüchte seines Werdens, das instinktive Wollen in Tun und Lassen verrät sich in philosophischen Wertungen. Aber während uns die Geschichte der Philosophen hierfür sonst nur Beispiele bietet, die es erst analytisch aufzudecken gilt, war Nietzsche sich dieser Tatsache voll bewußt. »Die Wertschätzungen eines Menschen verraten etwas vom Aufbau seiner Seele und worin sie ihre Lebensbedingungen, ihre eigentliche Not sieht«, sagt Nietzsche. Auch Goethe hat erklärt: »Alles was von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession.«
Wir erleichtern uns das Verständnis für Nietzsches Entwicklungsgang und das Sprießen, Blühen und Reifen seiner Lehre, wenn wir nach einem charakteristischen Zug forschen, der von Ursprung an in seinem Wesen lag. Nur auf einen bedeutsamen Zug kommt es uns dabei an; weder interessiert es uns, was ein Bernoulli auch an Nietzsche Menschliches-Allzumenschliches entdeckt, noch kommen für diesen Zweck die zahlreichen sympathischen Einzelzüge in Betracht, welche uns die Biographie der Schwester anführt. Als einen solchen bedeutsamen Zug bei Nietzsche dürfen wir seine aristokratische Veranlagung und Gesinnung hervorheben. Aristokratie bedeutete für die Griechen zunächst die Herrschaft der Besten, Fähigsten, Wackersten. Diese Abkunft des Wortes[168] erhält sich in Nietzsches Anwendung lebendig, wobei er immer wieder betont, daß die Züchtung von vornehmen Instinkten erst durch den Verlauf von Generationen erreicht wird.
Schon in der Betrachtung seiner Jugend begegnen wir bei Nietzsche einer Gesinnung, die ihn von den »Viel zu Vielen« absonderte, und je weiter wir seine Entwicklung verfolgen, desto mehr erkennen wir, daß er nur unter seinesgleichen frei zu atmen vermochte. »Er hatte eine geräuschlose Art zu sprechen, einen vorsichtigen, nachdenklichen Gang, ruhige Züge und nach innen gekehrte, nach innen wie in die weite Ferne blickende Augen. Man konnte ihn leicht übersehen, so wenig Auffallendes bot seine Erscheinung. Er war im gewöhnlichen Leben von großer Höflichkeit, einer fast weiblichen Milde, einem stetigen wohlwollenden Gleichmut; er hatte Freude an vornehmen Formen im Umgang, und bei erster Begegnung fiel das gesucht Formvolle an ihm auf.« So schildert ihn Alois Riehl, allerdings nicht nach eigener Anschauung, sondern nach den Mitteilungen seiner Freunde.
Auch Meta von Salis-Marschlins, mit der Nietzsche zwischen 1884 und 1887 wiederholt in Zürich und Sils-Maria persönlich verkehrte, erwähnt seine ruhige Sprechweise mit leiser Stimme voll Weichheit und Melodie und den nach innen gewandten Blick. Sie betont das vorsichtige Zögern, mit dem er alle ins Auge faßte, die sich ihm näherten. Er zeigte sich zuweilen sehr heiter und zu harmlosen Scherzen aufgelegt. Erhellte ein Lächeln sein wettergebräuntes Gesicht, so gewann es einen rührend kindlichen, Teilnahme heischenden Ausdruck. Sie sagt: Mitfreude hat Nietzsche wie wenige empfunden und an den Tag gelegt. Ungemein sympathisch wurde sie berührt von seiner angeborenen Höflichkeit, dem Takt des Herzens und den feinen Umgangsformen. Zu weit getriebene Gebundenheit sagte ihm immer noch eher zu[169] als rohes Wesen und Formlosigkeit. Bezeichnend ist der im Gespräche mit ihr gefallene Ausspruch: »Alles Illegitime ist mir eigentlich entsetzlich.« Sie überschrieb ihre Erinnerungen »Philosoph und Edelmensch« und nannte ihn den »Philosophen des Aristokratismus«.
Freiherr von Seydlitz, mit dem Nietzsche in Sorrent längere Zeit in persönlichem Verkehr stand, sagt: »Seines innersten Wesens kristallheller Kern war der höchste Adel, den der Geist erringen kann: wahre Urbanität.« Er erklärt keinen – keinen! – vornehmeren Menschen je gekannt zu haben als ihn. »Das wahrhaft Neue an Nietzsche ist, daß er zwischen allen Zeilen seiner Werke eine zukünftige Aristokratie verkündet – nicht nur des Geistes, sondern, was weit mehr ist, des Charakters.« Rücksichtslos war er nur den Ideen gegenüber, nicht den Menschen als Trägern dieser Ideen.
Als Georg Brandes 1887 als erster, der aus der Ferne sich ernstlich mit Nietzsche beschäftigte, an der Universität zu Kopenhagen Vorlesungen über seine Philosophie hielt, da begrüßte es Nietzsche ganz besonders freudig, daß Brandes seiner aristokratischen Gesinnung gerecht wurde. »Aristokratischer Radikalismus, das gescheiteste Wort, das ich bisher über mich gelesen.«
Brandes war auf seine tiefere Bedeutung aufmerksam geworden durch den Empfang von »Jenseits von Gut und Böse« und die »Genealogie der Moral«. Ehe wir aus diesen Werken die Berechtigung Nietzsches erlesen, sich einen »Immoralisten« zu nennen, wollen wir die Voraussetzungen hierfür in »Jenseits von Gut und Böse« verfolgen.
In der prähistorischen Zeit wurde der Wert oder Unwert einer Handlung nur aus ihren Folgen abgeleitet. Nietzsche nennt sie daher die vormoralische Periode der Menschheit. Erst aus der unbewußten Nachwirkung von der Herrschaft aristokratischer Werte und des Glaubens an die »Herkunft« erstand die moralische[170] Periode. Nun erst wurde in der Beurteilung einer Handlung der Ton nicht mehr auf die Folgen, sondern mit moralischem Nachdruck auf die Motive gelegt. Gegen diese Wertung, die Ungleichheit voraussetzt, kämpften die Nivellierer an als beredte Verfechter des demokratischen Geschmacks und seiner »modernen Ideen«. Wer sklavisch gesinnt ist, will Unbedingtes. Er versteht nur die Tyrannei. Auch in der Moral. Am typischsten tritt dies in der Französischen Revolution zutage, die Nietzsche, wo immer er sie erwähnt, auf das schärfste verurteilt. Daß sich die Französische Revolution gegen die Religion wandte, und zwar um der Demokratie willen, darf uns nicht verwundern. Denn für die Starken, Unabhängigen, zum Befehlen Vorbereiteten und Vorherbestimmten ist Religion ein Mittel mehr, um Widerstände zu überwinden, um herrschen zu können. Religion gilt ihnen als ein Band, das Herrscher und Untertanen gemeinsam bindet. Ihnen ist sie ein Ausweg von der Mühsal gröberen Regierens. Den gewöhnlichen Menschen vermag sie zugleich eine unschätzbare Genügsamkeit mit ihrer Lage und Art zu bieten, vielfachen Frieden des Herzens, eine Veredelung des Gehorsams, etwas von Verklärung und Verschönerung. Aber der demokratische Fortschritt widerstrebt dieser Verklärung.
Neben der moralischen und vormoralischen Wertung verweist Nietzsche bei dieser historischen Betrachtung zugleich auf die außermoralische Schätzung. Solange die Nützlichkeit und die Erhaltung der Gemeinde in den Werturteilen allein entscheidet, gibt es noch keine »Moral der Nächstenliebe«. Altruistische Tugenden begegnen noch einer gewissen Geringschätzung. So in der besten Römerzeit. Erst als man die Gefährlichkeit starker Triebe, wie Unternehmungslust und Herrschsucht als verhängnisvoll empfand, kamen gegensätzliche Triebe und Neigungen zu moralischen Ehren. Die Furcht ist die Mutter dieser Moral. Was den Einzelnen über die[171] Masse erhebt, wurde von ihr gebrandmarkt und das Mittelmaß der Begierden verherrlicht.
Diese Betrachtung hat uns bereits den Gegensatz von antiker und christlicher Anschauung erschlossen. Aristokratische Gesinnung bleibt jener verwandt, aber »die demokratische Bewegung macht die Erbschaft der christlichen«. Sehr bezeichnend fragt daher Nietzsche, zur Gegenwart übergehend: »Wir, die wir eines andern Glaubens sind –, wir, denen die demokratische Bewegung nicht bloß eine Verfalls-Form der politischen Organisation, sondern als Verfalls- nämlich Verkleinerungs-Form des Menschen gilt, als eine Vermittelmäßigung und Wert-Erniedrigung: wohin müssen wir mit unseren Hoffnungen greifen?« Die Antwort lautet: Nach neuen Philosophen, nach Geistern, die stark und ursprünglich genug sind, um die Anstöße zu entgegengesetzten Wertschätzungen, zu einer Umwertung der Werte zu geben.
Vernehmen wir so schon bei der historischen Darbietung des Problems der Moral die melodische Führung, welche Nietzsche der aristokratischen Gesinnung zuerteilt, so kommt ihre Bedeutung noch deutlicher zu Gehör, wo seine persönliche Empfindungsweise unmittelbar zum Ausdruck gelangt. Dann erscheint das Problem der Moral als ein Problem des Ranges. »Es gibt einen Instinkt für den Rang, welcher mehr als alles, schon das Anzeichen eines hohen Ranges ist; es gibt eine Lust an den Nuancen der Ehrfurcht, die auf vornehme Abkunft und Gewohnheiten schließen läßt.«
In dieses Problem des Ranges ist zugleich die Frage nach der Möglichkeit der »Größe« eingeschlossen. Wo die »Gleichheit der Rechte« allzu leicht sich in die Gleichheit im Unrechte umzuwandeln droht, wie es heute der Fall ist, da müssen wir mit Nietzsche befürchten, daß diese Bewegung immer mehr anwächst zu gemeinsamer Bekriegung alles Seltenen, Fremden, Bevorrechteten. »Heute gehört das Vornehm-sein, das Für-sich-sein-wollen,[172] das Anders-sein-können, das Allein-stehen und Auf-eigene-Faust-leben-müssen zum Begriff Größe.« Dem Plebejer-Ehrgeiz sind die Türen zu solcher Anschauung verschlossen. Wohl steht ihm der Weg zur Wissenschaftlichkeit, nicht aber zur – Philosophie offen. »Viele Geschlechter müssen der Entstehung des Philosophen vorgearbeitet haben; jede seiner Tugenden muß einzeln erworben, gepflegt, fortgeerbt, einverleibt worden sein, und nicht nur der kühne leichte zarte Gang und Lauf seiner Gedanken, sondern vor allem die Bereitwilligkeit zu großen Verantwortungen …«
Erkennen wir an, daß Nietzsche damit das Bereich der Gelehrten, der »wissenschaftlichen Arbeiter« scharf abgegrenzt hat, daß er ihnen das Gebiet gewiesen hat, wo sie den Tatbestand ehemaliger Wertsetzungen feststellen und sie ins Formale drängend, handlich machen können, wo sie Segen zu stiften vermögen, aber gestehen wir uns auch ein, daß er damit allen Kärrnern Bescheidenheit auferlegt gegenüber den Großen seiner Art, die mehr zu tun haben als nur zu erkennen, »nämlich etwas Neues zu sein, etwas Neues zu bedeuten, neue Werte darzustellen«. Schauen wir mit Nietzsche hinein in die Kluft, die zwischen Wissen und Können klafft! »Der Könnende im großen Stil, der Schaffende wird möglicherweise ein Unwissender sein müssen.«
Nietzsches aristokratische Gesinnung findet sich ferner in Übereinstimmung mit seinem tapferen Bestreben, der Erde treu zu bleiben und alle Vertröstung auf eine metaphysische Herkunft und Bedeutsamkeit der Moral zu verwerfen. Hatte er es sich im »Zarathustra« zur Aufgabe gesetzt, die Entmenschlichung der Natur zu fordern, das Chaotische in der Natur zu betonen, so trat er in »Jenseits von Gut und Böse« an die Aufgabe heran, »den Menschen zurückzuübersetzen in die Natur«. Er ist damit zum Vater der Psycho-Analyse geworden. Wie er auch die Passion der Liebe aus der Herrschsucht der[173] Wollust erklärte, wie er selbst die Willensart der Erkenntnis aus der geschlechtlichen Veranlagung deutete, wie er im Guten das sublimierte Böse, im Bösen das vergröberte Gute sah, wie er gegenüber Glaubenssätzen dem Verdachte Worte lieh, daß ihnen eine unterirdische Feindschaft zugrunde liege, die »nicht einmal über die Schwelle des Bewußtseins gelangt ist«: so führt er auch alle moralischen Wertungen auf unterbewußte Triebe zurück, um, wo immer er als Seelenforscher in diese Verborgenheiten hinableuchtet, dem Willen zur Macht zu begegnen.
Im Nachlasse Nietzsches haben sich Antworten über die Frage »Was ist vornehm?« gefunden. Sie besagen u. a., vornehm ist: die Sorgfalt im Äußerlichsten in Wort, Kleid, Haltung, insofern diese Sorgfalt abgrenzt, vornehm ist selbst der frivole Anschein, der vor unbescheidener Neugierde schützt, die langsame Gebärde, auch der langsame Blick, der die Dinge an sich herankommen läßt, das Ertragen der Armut und der Dürftigkeit, auch der Krankheit, das Ausweichen vor kleinen Ehren, die Einsamkeit, die Lust an den Formen, das Mißtrauen gegen alle Arten des Sichgehenlassens, eingerechnet alle Preß- und Denkfreiheit, weil unter ihnen der Geist bequem und tölpelhaft wird, der Ekel am Demagogischen, an der pöbelhaften Vertraulichkeit, das Vermeiden jeder Verallgemeinerung. Er schloß diese Niederschriften mit den Worten ab:
»– Wir schätzen die Guten gering als Herdentiere: wir wissen, wie unter den schlimmsten bösartigsten härtesten Menschen oft ein unschätzbarer Goldtropfen von Güte sich verborgen hält, welcher alle bloße Gutartigkeit der Milchseelen überwiegt.
– Wir halten einen Menschen unserer Art nicht widerlegt durch seine Laster, noch durch seine Torheiten. Wir wissen, daß wir schwer erkennbar sind, und daß wir alle Gründe haben, uns Vordergründe zu geben.«
Welche entscheidende Bedeutung Nietzsche der Frage »Was ist vornehm?« beimaß, das beweist uns ferner der Umstand, daß er diese Frage als Überschrift dem letzten Hauptstück von »Jenseits von Gut und Böse« voranstellte und in nicht mißzuverstehender Weise verkündete: »Jede Erhöhung des Typus ›Mensch‹ war bisher das Werk einer aristokratischen Gesellschaft – und so wird immer wieder sein …«
Lao-Tse.
Wir alle nennen gut, was uns nützt und unsere Ziele fördert. Wie aber nennen wir, was uns schädigt und unseren Zielen entgegenwirkt? Schlecht oder böse? Die einen nennen es schlecht, die andern nennen es böse. Wer nennt es schlecht? Die Herrschenden. Wer nennt es böse? Die Beherrschten. Also gibt es zweierlei Moral. Eine Moral der Mächtigen und eine Moral der Ohnmächtigen. »Es gibt Herren-Moral und Sklaven-Moral.«
Allerdings in allen höheren und gemischteren Kulturen, auch sogar im selben Menschen besteht das Nebeneinander und Durcheinander beider Moralen. Wo die Herrschenden die Werte bestimmten, hat auch der Begriff »gut« eine andere Bedeutung als bei den Beherrschten. Dort heißen gut die erhobenen stolzen Zustände der Seele, welche als das Auszeichnende und die Rangordnung Bestimmende empfunden werden. Hier dagegen werden gut die Eigenschaften benannt und mit Licht übergossen, welche dazu dienen, Leidenden das Dasein zu erleichtern. Dort bestimmt das Gefühl der Fülle, der Macht, der Selbstbeherrschung, der Vornehmheit und Tapferkeit, der Glaube an sich selbst und der Stolz auf sich selbst im Vordergrunde die Schätzung. Hier dagegen führt der pessimistische Argwohn gegen die ganze Lage des Menschen zur Verherrlichung des Mitleidens, des warmen Herzens, der Geduld, des Fleißes, der Demut und Bescheidenheit, der Freundlichkeit, der Selbstlosigkeit.
Besinnen wir uns einen Augenblick, so werden wir sofort zu der Erkenntnis gelangen, daß wir Tugenden, die sich um die Selbstherrlichkeit gruppieren, zwar[176] ethisch hoch einschätzen, daß wir jedoch längst gewohnt sind, als moralisch nur solche Eigenschaften zu benennen, die den Kreis um die Selbstlosigkeit schließen. Die populäre Sprache und Denkweise kennt daher nicht zweierlei Moral, sondern sie spricht nur von der einen Moral, die voran das Mitleiden und die passiven Tugenden höher einschätzt, als die harte Konsequenz, welche die kulturelle Rangordnung zur Erhaltung und Steigerung des Lebens fordert.
Nietzsche war somit voll berechtigt, sich, als Werte setzender Philosoph, der seine Hoffnungen für die Zukunft auf eine männliche Kultur richtete und nicht im Banne jener »Moral« genannten Einschätzungen stand, sondern jenseits ihrer Wertungen von Gut und Böse beharrte, einen Immoralisten zu nennen. Man hat es beklagt (besonders geschah es durch seine Schwester), daß Nietzsche nicht statt dessen »Amoralist« schrieb, weil er durch das Wort Immoralist Mißverständnisse erzeugt habe. Aber das hieße, seinem Radikalismus die Spitze abbrechen. Amoralisch werten wir dort, wo wir sowohl die Frage nach gut und böse, als nach gut und schlecht im moralischen Sinne ausschalten.
Amoralisch müssen wir uns gegenüber der Kunst und der Wissenschaft verhalten; denn ihre inneren Gesetze unterliegen nicht der Frage, was unsere sittlichen Interessen erheischen. Als Immoralist aber urteilt derjenige, der sich in Widerspruch setzt zu dem, was der nivellierenden Gesellschaft im Gegensatz zu dem rangbestimmenden Individuum als Moral gilt. Nietzsche hat es wiederholt ausgesprochen, daß er nicht davor zurückschrecke, sich durch seine Ansichten zu kompromittieren, ja, daß er diese Gefahr herausfordere, um nicht verwechselt zu werden; wie hätte er also in diesem Falle zum Leisetreter werden sollen, nur weil es bösem Willen frei stand, immoralistische Gesinnung mit dem Mangel an Ethik zu verwechseln. Moral betrifft das Verhältnis von Mensch[177] zu Mensch, Ethik das Verhältnis von Mensch zu Menschheit und ihren höchsten Zielen. Daß Nietzsche nicht die Moral in Bausch und Bogen ablehnte, sondern nur ihre nivellierende Tendenz, die sich gegen das Eigenartige, Seltene, Hohe richtet, wie sollten wir das verkennen, auch wenn er es uns nicht gesagt hätte!
In dem »Wir Immoralisten« überschriebenen Aphorismus in »Jenseits von Gut und Böse« heißt es: »Diese Welt, die uns angeht, in der wir zu fürchten und zu lieben haben, diese beinahe unsichtbare unhörbare Welt feinen Befehlens, feinen Gehorchens, eine Welt des ›Beinahe‹ in jedem Betracht, häklisch, verfänglich, spitzig, zärtlich: ja, sie ist gut verteidigt gegen plumpe Zuschauer und vertrauliche Neugierde!«
»Jenseits von Gut und Böse« sollte ursprünglich eine Art Glossarium zu »Also sprach Zarathustra« bilden. Es wurde während der Entstehung dieses Werkes in den Jahren 1883–85 niedergeschrieben und 1886 in Nizza fertiggestellt. Mittlerweile hatte Nietzsche eine Überarbeitung von »Menschliches-Allzumenschliches« in Angriff genommen. Das neue Werk gedachte er nunmehr als dessen zweiten Band erscheinen zu lassen. Es wurde aber als selbständiges Werk veröffentlicht, als jene Umarbeitung unterblieb. Ein Glossarium zum »Zarathustra« ist das Werk in dem Sinne, in dem Nietzsche seine früheren Werke als vorausgegangene Kommentare zu seiner Dichtung bezeichnen durfte.
Es folgte, 1887 verfaßt, die Streitschrift »Zur Genealogie der Moral« als umfassende Darstellung des bereits mitgeteilten Aphorismus aus »Jenseits von Gut und Böse«, der die Theorie der Herren- und Sklavenmoral skizzierte. Man versäume es nicht, die Vorrede zu beachten; denn sie belehrt uns, wie bedeutsam Nietzsche bereits in seinen früheren Schriften die Frage nach dem Werte der Moral, oder richtiger gesagt, nach dem Unwerte der Mitleidsmoral aufwarf.[178] Hierin sah er von Anfang an eine gegen das Leben sich wendende Müdigkeit.
Da man den Wert der Moral als a priori, als vor aller Erfahrung gegeben erachtete, obwohl schon Lao-Tse, fünfundzwanzighundert Jahre vor Nietzsche ihre Entstehung aus menschlichen Urteilen erkannte, schwankte man keinen Augenblick, den »Guten« für höherwertig als den »Bösen«, auch für die Höherentwicklung des Lebens anzusetzen. »Wie, wenn das Umgekehrte die Wahrheit wäre? Wie? wenn im ›Guten‹ auch ein Rückgangssymptom läge, ingleichen eine Gefahr, eine Verführung ein Gift, ein Narkotikum, durch das etwa die Gegenwart auf Kosten der Zukunft lebte? Vielleicht behaglicher, ungefährlicher, aber auch in kleinerem Stile, niedriger? … So daß gerade die Moral daran schuld wäre, wenn eine an sich mögliche höchste Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch niemals erreicht würde? So daß gerade die Moral die Gefahr der Gefahren wäre? …«
Die Frage nach der Herkunft der Moral war bei Nietzsche schon früher durch seinen persönlichen Verkehr mit Dr. Rée angeregt worden. Dessen Schrift »Der Ursprung der moralischen Empfindungen« wurde von Nietzsche zwar geschätzt, aber, da sie altruistisch auf den englischen Psychologen fußte, als antipodisch empfunden. Nietzsche versagte es sich, sie zu widerlegen – »was habe ich mit Widerlegungen zu schaffen!«, sondern entschied sich, – »wie es einem positiven Geiste zukommt«, – an Stelle des Unwahrscheinlichen das Wahrscheinlichere zu setzen. Er gelangte zu der Überzeugung, daß der Begriff »gut« ursprünglich nicht von denen herrührt, welchen Güte erwiesen wurde, sondern daß die Vornehmen, Mächtigen selber sich als »die Guten« galten, im Gegensatz zu allem Niedrigen und Gemeinen. Nicht von der Frage nach dem Werte der Handlung, sondern von der Beurteilung des Menschen selbst ging die Moral aus.[179] Sie knüpfte also nicht von Anfang her an unegoistische Handlungen an. Moral, »diese Zeichensprache der Affekte«, ist kein Urphänomen, sondern etwas Gewordenes, und da nur den Vornehmen das Herrenrecht zukam, Namen zu geben, ursprünglich etwas ganz anderes, als was heute als Sittlichkeit gilt. Aber »die Herren sind abgetan, die Moral des gemeinen Mannes hat gesiegt«.
Womit hat diese Revolution in den Wertschätzungen begonnen, dieser Sklavenaufstand in der Moral? Damit, antwortet Nietzsche, daß das Ressentiment selbst schöpferisch wurde. Was bedeutet Ressentiment? Wir müssen uns über diesen Begriff durchaus klar werden, um Nietzsche richtig zu verstehen. Alle vornehme Wertungsweise agiert und wächst spontan, sie sagt Ja zu sich selbst. Wo sie von außen her zur Rache bestimmt wird, da setzt sie diese unmittelbar in die Tat um. Die Wertungsweise der Unterdrückten aber kennt diese Spontaneität nicht. Sie bedarf immer erst einer Gegen- und Außenwelt, um überhaupt zu agieren. Da ihr die unmittelbare Tat als Vergeltung und Ausgleichung versagt ist, behilft sie sich mit einer imaginären Rache. Dieser zurückgetretene Haß, dieses unterirdische Rachegefühl der Ohnmächtigen, der Minderwertigen, welches das Bild des Gegners fälscht: das eben ist Ressentiment. »Alle Instinkte, welche sich nicht nach außen entladen, wenden sich nach innen.«
Die Wohlgeratenen fühlen sich in ihrer Aktivität als die Glücklichen; ihr Glück liegt im Lustgefühl der Betätigung; die Gedrückten, an giftigen und feindseligen Gefühlen Schwärenden aber verstehen als passive Naturen unter Glück: Betäubung, Ruhe, Sabbat. Dem Menschen des Ressentiments fehlt die naive Freudigkeit, seine Seele schielt, sein Geist liebt Schlupfwinkel, er sucht vor allem die Geborgenheit. Ach, er kann nicht seinen unbewußten Instinkten vertrauen, sondern er bedarf auf Schritt und[180] Tritt der Klugheit. Ehrfurcht vor dem Feinde? Nein, die kennt er nicht, sondern er sieht voll Mißtrauen und vergeltungslüstern immer nur den »bösen Feind«.
Voll Widerwillen ruft daher Nietzsche aus: »Man mag im besten Rechte sein, wenn man vor der blonden Bestie auf dem Grunde der vornehmen Rasse die Furcht nicht los wird und auf der Hut ist: aber wer möchte nicht hundertmal lieber sich fürchten, wenn er zugleich bewundern darf, als sich nicht fürchten, aber dabei den ekelhaften Anblick des Mißratenen, Verkleinerten, Verkümmerten, Vergifteten nicht mehr loswerden können?«
Der geheime Rache-Instinkt der Niedrigen verschwärzt nicht nur die Triebe der Starken, sondern er vergüldet auch die Triebe der Schwachen. Dieses Truggold heißt ihm: Moral. Die Ohnmacht, die nicht vergelten kann, nennt er: Güte, das Zuwarten aus Feigheit: Geduld, die Unfähigkeit zum Kampfe: Friedfertigkeit, das Verlangen nach Schonung: Gerechtigkeit. Sie verkünden nicht: Jedem das Seine, sondern: Gleiches Recht für alle. Aber was begehrt ihre Gerechtigkeit? Den Sieg Gottes, des gerechten Gottes als Fluch über die Gottlosen, die Rache an allen, die anders fühlen, hoch und frei denken; denn nur die Gottesfürchtigen heißen ihnen: die Gerechten.
Gewissen? Das bedeutet dem selbstherrlichen Individuum: das stolze Wissen um seine Verantwortlichkeit. Der Mensch des Ressentiments kennt nur das »schlechte Gewissen«. Es entspringt unterbewußten Gefühlen, die nicht den Weg in die Freiheit fanden und daher auf Umwegen ihre Befriedigung suchen. Nietzsche nennt es eine Krankheit, »das Leiden des Menschen am Menschen an sich, als die Folge einer gewaltsamen Abtrennung von der tierischen Vergangenheit«.
Das Schuldgefühl der Gläubigen, die »Sünde« und andererseits die Art zweiter Unschuld beim Atheisten werden von hier aus von Nietzsche geprüft. Er wendet[181] sich gegen jede Selbst-Tierquälerei durch lebensfeindliche Ideale und unterscheidet zwischen dem heiteren Asketismus dessen, der seine tierischen Triebe einem höheren vorherrschenden Instinkt unterwirft und dem düsteren Asketismus als Verleumdung der natürlichen Triebe des Lebens. Wohl urteilt auch die vornehme Wertungsweise, welche das Vorrecht der Wenigsten, aber biologisch Wertvollsten gegenüber den Ansprüchen der Meisten vertritt, ungerecht, wenn sie unter Umständen die von ihr verachtete Sphäre verkennt; aber ihre Plötzlichkeit, ob es sich um Zorn, Liebe, Ehrfurcht, Dankbarkeit oder Rache handelt, vollzieht sich in sofortiger Reaktion, ihr Verhalten vergiftet daher nicht.
Die schärfste Gegensätzlichkeit zwischen gesund bejahendem Instinkt und verneinenden Trieben aus Vergeltungssucht sieht Nietzsche im Kampf zwischen »Rom gegen Judäa, Judäa gegen Rom« und ihren Widerschein im Gegensatz der Renaissance und der Reformation. Als Immoralist verherrlicht er die Nachwirkung der Renaissance und verurteilt die Reformation, welche die Kirche, die im Begriffe stand, unterzugehen, wiederherstellte. Als Immoralist fragt er »wert wozu«; denn was der Dauerhaftigkeit der Rassen dient, kann das Gegenteil dessen sein, was der Erhöhung des Typus Mensch dient.
Für wen und gegen wen Nietzsche sich einstellt, darüber kann nach alledem kein Zweifel aufkommen. Er bejaht ebenso entschieden die Selbstherrlichkeit der wohlgeratenen Einzelnen, wie er das unterirdische Gefühl der rachelüsternen Auflehnung der Masse und die demokratische Nivellierung zurückweist. Aber Nietzsche ist kein Parteimann! »Je mehr Augen, verschiedene Augen wir uns für die selbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser Begriff dieser Sache, unsere ›Objektivität‹ sein.« Dieser Ausspruch Nietzsches gilt auch von seiner eigenen perspektivisch zu erkennenden Persönlichkeit.[182] Wer so deutlich wie Nietzsche jede Borniertheit der Reaktionäre ablehnte, ihren Chauvinismus, ihr Rassevorurteil, ihre Rückständigkeit geißelte, wer den Antisemiten ebenso wie den Anarchisten als Menschen des Ressentiments zurückwies, den müssen wir alle Zeit von einer höheren Warte als derjenigen einer Partei einschätzen. Wir müssen – vorausgesetzt, daß wir solche Leser sind, die er gelten ließe – zu einem Ausblick in die zu erwünschende Zukunft kommen, die keine einseitige politische Betrachtung verträgt.
Nietzsche hat die Selbstbejahung der zum Befehlen Berufenen als rangbestimmend erklärt und verherrlicht; aber nichts liegt ihm ferner, als deshalb den niedrig gestellten Menschen an sich zu entwürdigen. Dem Volke ist eine andere Moral und Gesinnung gemäß, als jenen, die sich über die Niederung erheben. Die dem Volke angemessene Moral und Gesinnung soll ihm erhalten bleiben. Sie muß bekämpft werden, soweit sie unberufenerweise die Rangordnung aufheben will, sie muß gehegt und gepflegt werden, sofern sie der Erhaltung der Rangordnung dient.
Vergegenwärtigen wir uns eines: alle Zukunft wurzelt in der Niederung des Volkes. Aus ihm steigen die Kräfte auf, die sich zur Blüte entfalten sollen. Wir Menschen der Kultur verlangen, daß man uns als Blüte einschätze. Wir haben dazu nur dann ein Recht, wenn wir auch die Wurzel ehren, die uns verjüngende Kräfte zuführt. Nur dann können wir hoffen, daß wir die Niedriggestellten überzeugen, daß es ein unsinniges Beginnen ist, wenn sie die Kulturpflanze ausreißen wollen, um nunmehr die Blüte zu unters in die Erde zu stecken, damit die Wurzel der Sonne genieße, die sie verdorren muß. Nur blinde Fanatiker begehren eine Umkehrung von Hoch und Nieder oder eine absolute Gleichstellung. Jeder gesund Empfindende strebt letzten Endes nach einer Rangordnung, innerhalb der er zu seinem[183] Rechte, aber eben nur zu seinem Rechte gelangt als Teil eines Organismus.
Goethe sagt: »Indem der Mensch auf einen Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er sich wiederum als eine ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat … Dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt, aufjauchzen und den Gipfel seines eigenen Wesens und Werdens bewundern.« Als ein solcher Gipfel ist der Übermensch gedacht. Immer wieder sei es betont, daß er nicht ein individualistisches Phantasma ist, sondern von Nietzsche als das mögliche Erzeugnis einer höheren einheitlichen Kultur gedacht wurde. Daß eine solche Kultur von Nietzsche nicht von einer brutalen Vorherrschaft der Mächtigen erwartet wurde, sondern von der Erfüllung der hohen Aufgabe einer sinn- und zielbewußten Führung, bezeugen seine Worte: »die Gerechtigkeit muß in allem größer werden und die gewalttätigen Instinkte schwächer«. Wer bei ihm nur die Verherrlichung der »blonden Bestie« sieht, dem sind seine Worte entgegenzuhalten: »zweimal lieber untergehen, als sich hassen und fürchten machen«.
Es gilt nicht, Berge abzutragen, um Täler auszufüllen, wie die Gleichheitsfanatiker vermeinen, sondern politisch und kulturell Zustände zu schaffen, in denen Hoch und Nieder, jedes seiner Art gemäß, bewußt und unbewußt einem höchsten Lebensziele dienstbar werden. Dann wird weder demagogisches, noch reaktionäres Strebertum seine Weide finden, sondern die schöpferische Persönlichkeit wird erstehen, in der die Wurzelkräfte zur Blüte gelangen. Im Sinne dessen, was Goethe einen neuen Gipfel, Nietzsche den Übermenschen nannte.
Die Gefahr der Gefahren, der Feind der Feinde einer solchen Lebenssteigerung ist die Vorherrschaft einer »Moral«, welche die Schwäche höher einschätzt als die Stärke, die Passivität als Glück wertvoller erachtet als[184] die Aktivität im Lustgefühl des bewußten Wollens, die Entselbstung fördert, statt dem Mut und stolzen Glauben an das eigene Selbst, die Mitfreude unterdrückt zugunsten eines weichlichen Mitleidens, aus Ressentiment sich über die Natürlichkeit des Menschen entrüstet, statt aus der Fülle der Kraft die starken Triebe zu verklären, somit hegt, was das Leben erniedrigt, und bekämpft, was das Leben erhöht.
Also lehrt uns Nietzsches Immoralismus.
Es gibt nur ein Heldentum auf der Welt: die Welt zu sehen, wie sie ist, und sie zu lieben.
Romain Rolland.
Nietzsche hat den Weltkrieg vorausgesagt. Über den Gegensätzen der Nationen will sich Europa zu einer großen Einheit gestalten. Napoleon, »der erste und vorangehendste Mensch neuerer Zeit«, war der Vertreter und Vorkämpfer dieses Gedankens. Aber indem er ihn gewaltsam verwirklichen wollte, rief er die mächtige Gegenwirkung des neunzehnten Jahrhunderts hervor. Der Prozeß des werdenden Europäers bedurfte der Anpassungskunst. Diese wurde gestört. Dank der krankhaften Entfremdung, welche der Nationalitätswahnsinn zwischen die Völker Europas legte, traten wir in »das klassische Zeitalter des Krieges« ein. Freilich nicht nur des Krieges der Waffen, sondern auch des Krieges »der Mittel, der Begabungen, der Disziplin«. So mußte die Krisis zum Ausbruch kommen, die Europa nunmehr zur Überwindung der früheren Ideale und zu neuen Zielsetzungen führen kann.
Auch die demokratische Bewegung, welche die Anähnlichung der verschiedenen Nationen fördert, beschleunigt die Erschütterung und Zersetzung der seitherigen kulturellen Werte. Und auch die moralische Entwicklung hat diesen Auflösungsprozeß genährt. Sie hat durch eine seit Jahrtausenden anerzogene Wahrhaftigkeit bewirkt, daß sich diese Wahrhaftigkeit gegen die Moral selbst wendet und sie skeptisch prüft.
Aber nicht nur den Weltkrieg hat Nietzsche vorausgesagt, sondern auch das Anwachsen jener Bewegung, die wir heute erleben. Auf die selbst gestellte Frage, was die nächste Folge sei der krisenhaften Vernichtung dessen, was seither am höchsten geschätzt wurde, lautet seine[186] bedeutsame Antwort: die Heraufkunft des Nihilismus.
Wenn von Nihilisten die Rede ist, denken wir an Zerstörungswütige, an Vernichter der zivilisatorischen Errungenschaften. Das tut auch Nietzsche. Aber nicht diese »ungesundeste Art Mensch in Europa« allein hat er im Auge. Er faßt den Begriff viel weiter und damit kultureller. Nicht aus sozialen Mißständen ist der Nihilismus erstanden, sondern seine Wurzeln gründen tiefer. Sowohl der aktive Nihilismus der Zerstörung als auch der passive Nihilismus der Ziellosigkeit entspringen der gleichen Ursache. Diese Ursache sieht Nietzsche in der Entwertung der alten Ideale.
Da ergibt sich nun eine überraschende Selbsterkenntnis. Insofern wir freieren Menschen – voran Nietzsche selbst – diese Entwertung in uns erleben, sind auch wir Nihilisten. Daran läßt sich nichts deuteln. Wir bleiben es, sofern wir das Nein-Sagen nicht überwinden. Das aber vermögen wir nur, indem wir uns neue Ziele setzen. Unser passiver Nihilismus – das sei den Allzufriedfertigen zwei- und dreimal gesagt – ist ein Zeichen von Schwäche. Mag er ein Heilmittel im Buddhismus und der Mystik suchen oder in heilloser Zwiespaltigkeit auf jede Art Sinngebung verzichten: er entstammt dem Mangel an Instinktsicherheit.
Diese Schwäche lehrt uns Nietzsche bekämpfen. Ihr tritt er schöpferisch als Anti-Nihilist, als neue Werte setzender Philosoph, als Gesetzgeber der Zukunft, als Verherrlicher alles dessen, was stark macht, entgegen in einer selbstherrlichen Mächtigkeit, wie sie die Menschheit nur selten erlebte. Die Entwertung der alten Ideale erfaßte er als seine negative Aufgabe, die Umwertung in neue Ideale bedeutet sein positives Ziel. Auch er mußte verneinen und zerstören, aber nur um neu zu bejahen, neu aufzubauen.
Als »eine Umwertung aller Werte« bezeichnete Nietzsche daher das große, unvollendet gebliebene Werk »Der Wille zur Macht«, das er hauptsächlich in den Jahren 1884–88 niederschrieb.
Sein erstes Buch zeigt uns nach Nietzsches Plan den europäischen Nihilismus als die Gefahr der Gefahren. Ungeheuere Gewalten sind entfesselt, die sich widersprechen und sich gegenseitig vernichten, weil die positive Richtung nach einem zweckbestimmenden Ziele fehlt. Das zweite Buch des »Willens zur Macht« zeigt uns in seiner Kritik der bisherigen höchsten Werte die überall zutage tretende Disharmonie zwischen den Idealen und den Bedingungen ihrer Verwirklichung. Im dritten Buche wird uns alsdann das Problem des Gesetzgebers aufgedeckt und das Prinzip einer neuen Wertsetzung gezeigt und im letzten Buch, »Zucht und Züchtung«, gesagt, wie diejenigen Menschen beschaffen sein müssen, die alle Eigenschaften der modernen Seele haben, aber stark genug sind, sie in lauter Gesundheit umzuwandeln.
Nach diesem vorgefundenen Plan wurden die in vielen Heften erhaltenen Einträge Nietzsches nachträglich geordnet. Wir dürfen sie nur zum Teil als Aphorismen bezeichnen, da sie noch nicht ihre endgültige Form erhielten. Aber der mit den früheren Werken vertraute Leser findet in dieser Unvollendetheit eine Anregung mehr, wenn er erratend und mitschaffend veranlagt ist. Er versteht, daß hier eine Gegenbewegung zum Ausdruck kommt, bestimmt, in irgendeiner Zukunft den Nihilismus abzulösen.
Vergegenwärtigen wir uns zunächst nochmals das eine: Nietzsche will nicht dem Volke, noch allen, die mit diesem zu glauben vermögen, Religion und Moral nehmen, sondern er wendet sich ausschließlich an jene, die diesen Glauben verloren haben und einer neuen Sinngebung bedürfen.
Der Pessimismus ist die Vorstufe des Nihilismus. In seinem moralischen Verurteilen liegt bereits die Abkehr vom Willen zum Dasein. Jede rein moralische Wertsetzung endet mit Nihilismus, sobald ihr Glaube an eine überweltliche Autorität erschüttert wird. Mag diese Autorität als Gott, Gewissen oder Vernunft bezeichnet werden, immer bleibt ihr Zweck, um das Wollen eines eigenen Zieles herumzukommen und die Verantwortung von sich selbst abzuwälzen. Damit, daß die Moral die Natürlichkeit, die mächtigsten und zukunftvollsten Triebe des Lebens verleumdete, führte sie notgedrungen zu einer Schwächung aller lebenerhaltenden und lebensteigernder Kräfte. Sie hat es getan und tut es noch heute. Und darum lehrt Nietzsche als ihr grundsätzlicher Gegner: das Nein zu Allem, was schwach macht, was erschlafft, das Ja zu Allem, was stärkt, was Kraft aufspeichert, was das Gefühl rechtfertigt. Das aber heißt den Willen zur Macht als segensreich anerkennen. »Das Leben ist nicht Anpassung innerer Bedingungen an äußere, sondern Willen zur Macht, der von innen her immer mehr ›Äußeres‹ sich unterwirft und einverleibt.« Diese Definition gilt es festzuhalten. Der Nihilismus bedeutet im Gegensatz hierzu: Wille ins Nichts.
Als Stärkste erweisen sich heute jene, die keine extremen Glaubenssätze nötig haben, die, welche einen guten Teil Zufall, auch Unsinn nicht nur zugestehen, sondern lieben, die, welche vom Menschen mit einer bedeutenden Ermäßigung seines Wertes denken können. Denn das sind Menschen, die ihrer Macht sicher sind und die erreichte Kraft des Menschen mit bewußtem Stolze repräsentieren.
Die äußere Beweglichkeit des modernen Menschen ist trotz ihrem Prestissimo im Tempo kein Zeichen der Stärke. Sie entspringt allzusehr der Reaktivität und gibt ihre Kräfte teils in zweckloser Aneignung, teils in zielloser Abwehr aus. Dadurch erfolgt eine tiefe Schwächung[189] der Spontaneität. Auch die extreme Bewußtheit des modernen Menschen, die Selbstdurchschauung, Selbstzergliederung sind Zeichen einer ungeheueren Dekadence; denn starke Rassen, starke Naturen sind nicht auf das unbegrenzte Begreifen, noch auf die bloße Spiegelung eingestellt, ihre Kraft liegt im Unbewußten. Die moderne Toleranz ist Unfähigkeit zu Ja und Nein, die moderne Objektivität Mangel an Person, Mangel an Wille, Unfähigkeit zur Liebe. Nicht die Verderbnis des Menschen, sondern seine Verzärtelung und Vermoralisierung sind der Fluch, wie uns die allgemeine Verdüsterung beweist.
Und doch gelangt Nietzsche bereits im ersten Buch des »Willens zur Macht« – vorausgesetzt, daß die Anordnung seinen letzten Absichten entspricht – dazu, hoffnungsvoll auf Anzeichen der Erstarkung auszublicken. Die Gesundheit nimmt zu, die wirklichen Bedingungen des starken Leibes werden heute besser erkannt und allmählich geschaffen, die frühere Rangordnung wird umgekehrt, nicht mehr die Priester, sondern die Immoralisten als Fürsprecher des Lebens bestimmen die Wegrichtung, eine freudigere wohlwollendere Goethischere Stellung zur Sinnlichkeit wurde erreicht, unser Verhältnis zur Erkenntnis, zur Moral, zur Politik, zur Kunst, zur Natur selbst ist natürlicher geworden. Es gibt Anzeichen dafür, daß man sich weniger als früher seiner Instinkte schämt und diese »Verböserung« als etwas Höheres empfindet. Die Zivilisation als Tierzähmung des Menschen verliert an Einfluß zugunsten der Kultur, die eine Entwicklung der Willenskraft für ihr Wachstum voraussetzt.
Das zweite Buch des »Willens zur Macht« beginnt mit einer Kritik der Religion. Außer Stirner hat kein Philosoph mit solchem Radikalismus alle mit großen Worten gepriesenen Idealvorstellungen, all die Schönheit und Erhabenheit, die wir den wirklichen und eingebildeten Dingen geliehen haben, als Eigentum und Erzeugnisse der Menschen zurückgefordert.
Wenn wir heute jemanden fragen, wie kommt es, daß wir dies oder jenes vermögen, und er erwidert: kraft eines Vermögens, so erscheint uns diese Antwort lächerlich. Aber wenn wir auf die Frage, was die Ursache sei, daß wir denken und fühlen, die Antwort hören: der Geist, die Seele, so ist diese Erklärung, weil sie uns mit einem Wort anderen Stammes dient, deshalb nicht weniger naiv. Nach dieser Methode aber verfährt der Christ, wenn er die Hoffnung, die Ruhe, das Gefühl der Erlösung usf. auf ein Inspirieren Gottes zurückführt. Er wagt es nicht, sich selbst als Ursache starker Affekte, noch des Gefühles der Macht zu setzen; er setzt dafür eine stärkere Person, eine Gottheit ein. Diese psychologische Logik haben Moralisten und Philosophen eben so ausgenutzt wie die Priester. Immer handelt es sich dabei um eine nihilistische Verminderung des Lebens.
Fragen wir uns ohne alle Voreingenommenheit: inwiefern nützt die aus dem Christentum erstandene Moral dem Leben, inwiefern schadet sie ihm? Ohne Zweifel hält sie den maßlosen Menschen, der der Selbstbeherrschung unfähig ist, in Zaum. Das ist ihr Segen. Aber was tut sie andererseits? Sie untergräbt den Genuß des Lebens, die Dankbarkeit gegen das Leben; sie wirkt seiner Verschönerung, seiner Veredelung auch seiner ehrlichen Erkenntnis entgegen. In eins zusammengefaßt: die Moral hemmt die Entfaltung des Lebens. Und da das Leben Willen zur Macht ist, da es – wohl uns, daß es so ist! – die höchste Erscheinung zu verwirklichen strebt im höheren Menschen der eigenen Wertsetzung, tritt Nietzsche immer wieder der Gemeingültigkeit der christlichen Moral entgegen. Sie selbst verfährt geradeso unmoralisch wie jedwedes Ding auf Erden. Der höhere Mensch darf sich nicht verleiten lassen, ihr das rangbestimmende Gesetz seines Wesens unterzuordnen. Er begeht ein psychologisches Verbrechen, wenn er Unlust und Unglück in Unrecht und Schuld umfälscht, starke[191] Lustgefühle als sündhaft verlästert, sich entpersönlichen läßt; denn sein Höchstes ist: der Mut zu sich selbst, die Liebe zur unidealisierten Natur und Wirklichkeit.
Die Herkunft der Moral wurde von Nietzsche bereits in der »Genealogie der Moral« in genialer Weise neu erkannt, die Prüfung ihrer Wertschätzungen unternahm er, bis ins einzelnste vordringend, im »Willen zur Macht«. Das Wort »Ideal« wird von Nietzsche in zweierlei Bedeutung angewandt, die wir streng auseinanderhalten müssen. Wo es Sinn und Ziel bezeichnet, die der Einzelne auf Grund seines Wesens sich setzt, wo es auf das Bild hinweist, das seinem Selbst vorschwebt, bekennt sich Nietzsche nach wie vor zu ihm; aber insofern es nur ein Produkt der »Wünschbarkeiten« ist, die Religion und Moral heilig gesprochen haben, wird es von ihm seines Zaubers entkleidet. Jenes Ideal bestimmt den Weg zum Wachstum, zu einem höheren Typus Mensch, dieses bedeutet die Wahnvorstellung einer abstrakten Vollkommenheit. Jenes führt zur Selbstbejahung, dieses zur Selbstverneinung. Mit jenem lebt man in positiven, mit diesem in negativen Gefühlen. Nie soll man sein Ideal als das Ideal wahllos verallgemeinern wollen. So bestimmte es Goethes hohe Selbsteinschätzung, so auch Nietzsches aristokratischer Radikalismus. Denn damit hebt man die natürliche Rangordnung der Geister auf.
Der Starke anerkennt, daß Gut und Böse sich gegenseitig bedingen, genau so wie Lust und Schmerz sich komplimentär ergänzen; sein Ideal der Tüchtigkeit umschließt den ganzen Menschen. Der Schwache dagegen will nur das Gute gelten lassen, wie er das Glücksgefühl auch ohne die notwendige Voraussetzung eines Gegensatzes für möglich hält; sein Ideal der Tugendhaftigkeit begnügt sich mit dem halben Menschen. Tugendhaftigkeit in seinem Sinne entmannt den Menschen.
Wir Immoralisten, so lernen wir mit Nietzsche verkünden, wollen nicht die Macht der Moral vernichten,[192] aber wir wollen Herr über sie werden; denn der wirkliche Mensch stellt einen viel höheren Wert in unseren Augen dar, als der »wünschbare« irgendeines seitherigen Ideals.
Vielleicht gelangen wir durch Nietzsche dazu, den Willen zur Macht auf eine Lust am Schaffen als seinen Ursprung zurückzuführen, obwohl sich diese immer nur an dem Quantum gesteigerter und organischer Macht mißt, also an der Erhöhung des Lebensgefühls. Vielleicht, denn »erst die Unschuld des Werdens gibt uns den größten Mut und die größte Freiheit« und lehrt uns »die Welt als ein sich selbst gebärendes Kunstwerk« betrachten.
Versuchen wir Nietzsches Philosophie unter dieser Optik zu schauen. Der Egoismus des Künstlers ist der Trieb nach seinem Material. Der Künstlerwille, der am Typus Mensch arbeitet, sieht die niedere Art als Unterbau an, auf der eine höhere erst stehen kann. Damit jedoch Wesen von höchstem Werte wirklich erstehen, müssen günstige Zufälle zu Hilfe kommen. Was der künstlerische Erzieher von sich aus zu steigern vermag, das ist: Mut, Einsicht, Härte, Unabhängigkeit, Gefühl der Verantwortlichkeit. Auch ein göttliches Jasagen zu sich aus animaler Fülle und Vollkommenheit. Und ferner, nein zu allererst: die Achtung vor sich selbst. Dann wird er die Wehr- und Waffentüchtigkeit auch im Geistigen zu wahren wissen. Der Künstler am Menschen verlangt die Herrschaft über die Leidenschaften, nicht deren Schwächung oder Ausrottung. Denn der große Mensch ist groß durch den Freiheits-Spielraum seiner Begierden. Höher als: Du sollst! steht: Ich will! Höher als ich will, steht: Ich bin!
Es ist ein großer Irrtum, in diesem Ideal eine Steigerung dessen zu sehen, was man bisher einen freien Geist nannte, denn diese Freiheit strebte in die Breite; der heroische Künstler-Tyrann aber will den Menschen ins Hohe statt ins Bequeme und Mittlere züchten, er[193] ist im Verkehr mit Menschen immer darauf aus, etwas aus ihnen zu machen. Aus Liebe? Ja! Aber nicht aus sklavischer Liebe, sondern aus jener göttlichen Liebe, welche zugleich verachtet und liebt und das Geliebte umschafft, hinaufträgt.
Der wahre »königliche Philosoph« ist ein solcher Künstler am Menschen, ein Gesetzgeber solcher Wertbestimmungen, ein Befehlender, ein Schaffender; denn alles Wissen ist ihm nur ein Mittel zum Schaffen. Dazu aber taugt keine Schwäche-Moral, sondern nur eine leiblich-geistige Disziplin, welche stark macht. Ein solcher Philosoph ist einsam, nicht weil er allein sein will, sondern weil er nicht seinesgleichen findet. »Les aigles ne volent point en compagnie«, sagte Galiani. Er hat es schwer, sich oben zu erhalten inmitten der niederziehenden gefährlichen Stromschnellen der Zeit. Er darf mit weit größerem Rechte von sich sagen, als es Christian Morgenstern so witzig bemerkte: »Ich möchte nicht leben, wenn Ich nicht lebte«; denn er hat nur sich und seinen Schaffenswillen, verbunden mit der Hoffnung, daß es an der Zeit ist: im großen Stil die widersinnliche Moral des latenten Christentums zu überwinden, diesen Todfeind der Höhensteigerung des Menschen. »Macht ist an sich böse.« Dieses Wort Schlossers sollte die Macht verurteilen. »Macht ist an sich böse.« So klingt es auch aus Nietzsche uns entgegen, aber als Rechtfertigung des Bösen. »Der mächtigste Mensch, der Schaffende müßte der böseste sein, insofern er sein Ideal an allen Menschen durchsetzt gegen ihre Ideale und sie zu seinem Bilde umschafft. Böse heißt hier: hart, schmerzhaft, aufgezwungen.« Die theoretische Philosophie gelangt zu der Erkenntnis: »es ist alles nur subjektiv«. Auch Nietzsche urteilt nach dieser Erkenntnis, aber sie gewinnt bei ihm einen helleren Klang, eine freudigere Farbe, sie lautet bei ihm: »es ist auch unser Werk! – seien wir stolz darauf«!
Der »Wille zur Macht« zeigt uns im Entwurf, wie sich Nietzsche seine Philosophie der Zukunft dachte. Nur der eigene Wunsch, die eigene Unentschiedenheit ist der Vater des Gedankens bei jenen, die da glauben, Nietzsche wäre bei längerem Leben und Schaffen am Ende doch wieder zum Christentum zurückgekehrt. Nichts, aber auch rein gar nichts weist auf diese Möglichkeit hin. Er fühlte und dachte hellenisch und ist diesem Gefühl treu geblieben. Will man seine Philosophie auf eine konzentrierte Formel bringen, so darf man sagen: Der Sinn der Welt liegt im Werden, der Sinn des Lebens liegt im Werten. Wir kennen keine »wahre Welt« des Seins als Gegensatz einer Welt des Scheins. Jene würde eine Welt ohne Aktion und Reaktion bedeuten, aber die Welt, die wir lebend erfühlen und erkennen, ist fortdauernd das Ergebnis von Betätigung und Widerstand im Lichte unseres Schätzens und Wertens. Und wahrlich mit dieser Erkenntnis läßt sich tapfer leben, mit ihr kann man »allen Gewalten zum Trotz, sich erhalten«. Und nicht nur sich erhalten, sondern wachsen und sich entfalten.
Weder zu Lande noch zu Wasser wirst du den Weg zu den Hyperboreern finden.
Pindar.
Die Vorstellung eines sagenhaften Volkes, von dem nicht zu sagen sei, wo es lebe, griff Nietzsche auf, um sein Jenseits aller modernen Ideen zu charakterisieren. Ein Jenseits des Nordens, des Eises, des Todes … ein Jenseits aller Rachegefühle und Ressentiments, ein Diesseits des zu züchtenden höheren Typus Mensch, gegen welchen das Christentum, indem es alle Grundinstinkte in Bann tat und die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Mißratenen nahm, einen Todkrieg führte.
Gegen diesen Todfeind seines Hyperboreer-Ideals hat Nietzsche zu einem heftigen Schlag ausgeholt in seiner leidenschaftlichen Schrift »Der Antichrist, Versuch einer Kritik des Christentums«, die 1888 entstand als erstes Buch der »Umwertung aller Werte« und hauptsächlich den Entwürfen zum »Willen zur Macht« entnommen wurde. Gegen diesen Todfeind hat Nietzsche die Erhaltungs-Instinkte des starken Lebens verteidigt. Von sonnenbeleuchteter Höhe aus gesehen, erscheint ihm das Christentum als Multiplikator des Elends, als Konservator alles Elenden. Denn durch seine Mitleids-Moral wirkt die Depression, die das Leiden hervorruft, ansteckend und verführt nihilistisch zur Verneinung des Lebens, weil sie ihm einen düsteren und fragwürdigen Aspekt gibt.
Es erhält, was zum Untergange reif ist; es kreuzt dadurch das Gesetz der Entwicklung, das auf dem Gesetz der Selektion beruht, und bedroht um der Schwachen und Matten willen alles Starke und Lebensfreudige. In unerschrockener Entschlossenheit spricht Nietzsche es aus: »Hier Arzt sein, hier unerbittlich sein, hier das Messer führen – das gehört zu uns, das ist unsre Art[196] Menschenliebe, damit sind wir Philosophen, wir Hyperboreer!«
Mit dem »Antichrist« erklärte er vollbewußt den Krieg allem, »was Theologenblut im Leibe hat«, also auch der ganzen vom offensichtigen und verborgenen Christentum beeinflußten Philosophie und ihren Idealen. Hierbei fällt uns Flauberts Ausspruch ein: »Was die Philosophie geleistet hat? Nichts, sie hat von Jahrhunderten zu Jahrhunderten Gott größer gemacht.«
Nicht gegen Mißbräuche und Entgleisungen innerhalb des kirchlichen Christentums, sondern zunächst wider die höchsten Vertreter einer christlich orientierten Lebensauffassung richtet Nietzsche seine Waffen. Der Mut zum extremsten Ausdruck steigert sich ins Maßlose; kein mildernd vermittelndes Wort will die Halbheit, irgendwelche Art von Halbheit, zu sich hinüberziehen, sondern er wagt es allein – noch sind ihm keine Mitstreiter geboren – den Kampf aufzunehmen: »Dies Buch gehört den Wenigsten. Vielleicht lebt selbst noch keiner von ihnen.«
Wer dem Glauben an ein Jenseits, Gott, oder das wahre Leben, oder Nirvana, Erlösung, Seligkeit … anhängt, wer nach Unterwerfung seines schöpferischen Willens, seiner Persönlichkeit unter irgendein Abstraktum verlangt um des »Friedens der Seele« willen, wer aus Ohnmacht auf die männlichsten Tugenden und Triebe verzichtet und sich zum »Guten an sich« bekennt, aus dem alles Starke, Tapfere, Herrische, Stolze ausgeschieden wurde, wer immer offen oder geheim einen Gott glaubt, der dem Leben widerspricht, wer also das Nichts vergöttlicht, den Willen zum Nichts heilig spricht: der segelt auf anderen Gewässern als jenen, die zum Lande der Hyperboreer führen.
Nietzsche unterscheidet streng zwischen dem Christentum als historischer Realität und der Person seines Stifters. Was hat Christus verneint? »Alles, was heute christlich heißt«, antwortet Nietzsche. »Christlich ist die[197] vollkommene Gleichgültigkeit gegen Dogmen, Kultus, Priester, Kirche, Theologie.«
Die Innerlichkeitslehre Christi wird von Nietzsche mit entschiedener Achtung betont. Das Himmelreich ist ein Zustand des Herzens. Jesus gebietet: Man soll dem, der böse gegen uns ist, weder durch die Tat noch im Herzen Widerstand leisten. Man soll sich gegen niemanden erzürnen, man soll niemanden gering schätzen. Man soll nicht richten. Man soll sich versöhnen, man soll vergeben. Die »Seligkeit« ist nichts Verheißenes: sie ist da, wenn man so und so lebt und handelt. Aber durch Paulus wurde dieser naive Ansatz zu einer buddhistischen Friedensbewegung zu einer heidnischen Mysterienlehre umgedreht, so daß sich das Christentum endlich – ganz und gar im Gegensatz zum Willen seines Stifters – mit der ganzen staatlichen Organisation vertragen lernt … und Kriege führt, verurteilt, foltert, schwört, haßt. Erst das paulinische Christentum brachte den Begriff Schuld und Sühne in den Vordergrund. Nur gegen dieses ist der »Antichrist« gerichtet.
Das Urchristentum, so gut wie der verwandte Buddhismus stehen als nihilistische Religionen der Lebensbejahung fern, aber Nietzsche achtet an ihnen, daß sie nicht »Kampf gegen die Sünde« lehren, sondern, der Wirklichkeit das Recht gebend, »Kampf gegen das Leiden«. Buddha ging gegen psychologische Folgen übergroßer Reizbarkeit der Sensibilität und verhängnisvoller Übergeistigung, die sich als Depression geltend machten, hygienisch vor. Seine entschiedene Abneigung gegen jedes Rachegefühl (»Nicht durch Feindschaft kommt Feindschaft zu Ende«) ließ ihn in einem milden Klima unter sanftmütigen und liberal gesinnten Menschen das selbe Ziel anstreben, das Nietzsche unter anderen Voraussetzungen, anderen Möglichkeiten auf anders geartete Weise zu erlangen trachtet: die Überwindung der unterbewußten Unzufriedenheit des Menschen mit sich selbst[198] und als Siegeskranz dafür: die Heiterkeit. Das paulinische Christentum aber hatte, als es unter Barbarenvölkern auf Macht ausging, nicht müde Menschen vor sich, sondern innerlich verwilderte und sich zerfleischende, also starke Menschen, aber mißratene; es wollte über Raubtiere Herr werden, und sein Mittel dazu ist, sie krank zu machen zwecks Schwächung und Zähmung. Das paulinische Christentum gilt für Nietzsche nicht als eine Gegenbewegung gegen den jüdischen Instinkt, sondern als dessen Folgerichtigkeit, als einen Schluß weiter in dessen furchteinflößender Logik.
Auch Heinrich Heine gelangte zu der Überzeugung, wenn auch aus anderen Erwägungen, nicht Judentum und Christentum seien Gegensätze, sondern der Gegensatz liege zwischen jüdisch-christlicher Moral und hellenischer Gesinnung. Was ist jüdische, was ist christliche Moral? frägt Nietzsche in einem Atem und antwortet: »Den Zufall um seine Unschuld gebracht; das Unglück mit dem Begriff ›Sünde‹ beschmutzt; das Wohlbefinden als Gefahr, als Versuchung; das physiologische Übelbefinden mit dem Gewissenswurm vergiftet …«
Als Antichrist kämpft Nietzsche in seinem also betitelten Werk gegen die Entnatürlichung des Menschen, gegen die Verlästerung und Schwächung der animalischen Triebe, gegen den Pessimismus der Moral, den Nihilismus der Gesinnung, gegen die Flucht ins Unfaßliche und Unbegreifliche, wie es seine gesamte Philosophie tut, nur daß diesmal der mächtigste, verhängnisvollste Feind der Freude am Dasein in Unschuld, an der Bejahung des Lebens, an Wohlgeratenheit des höheren Menschen und an der Steigerung des Lebens aus schöpferischer Willensmacht unmittelbarer, entschiedener, extremer im Ausdruck bekämpft wird.
Gegen das Vergangene ist Nietzsche, gleich allen Erkennenden, mit großmütiger Selbstbezwingung tolerant; er will die Menschheit nicht für ihre Krankheiten und[199] Irrtümer verantwortlich machen, aber die Feigheit jener geißelt er um so heftiger, die heute, obwohl wissend geworden, sich und andere belügen, indem sie die Worte Jenseits, Jüngstes Gericht, Unsterblichkeit der Seele noch immer im Munde führen, trotzdem ihr Instinkt und ihre Vernunft dem widersprechen.
Das echte ursprüngliche Christentum dagegen gilt Nietzsche auch heute noch möglich, für gewisse Menschen sogar notwendig, denn es bedeutet für sie nicht ein Glauben, sondern ein Tun, ein Vieles-nicht-tun, vor allem ein anderes Sein. Christus konnte mit seinem Tode nichts wollen, als öffentlich die stärkste Probe, den Beweis seiner Lehre zu geben, die Lehre von der Überlegenheit über jedes Gefühl von Feindschaft in lieblicher Ruhe des Herzens. Aber gerade das am meisten unevangelische Gefühl der Rache kam wieder obenauf. Man brauchte Vergeltung, Gericht. »Der frohen Botschaft folgte auf dem Fuße die allerschlimmste: die des Paulus.«
Das paulinische Christentum hat jedem Ehrfurchts- und Distanzgefühl zwischen Mensch und Mensch einen Todkrieg bereitet; es hat Waffen geschmiedet gegen alles Vornehme, Frohe, Hochherzige auf Erden, gegen unser Glück auf Erden. Der Aristokratismus der Gesinnung wurde durch die Seelen-Gleichheits-Lüge am unterirdischsten untergraben, christliche Werturteile sind es, welche jede Revolution bloß in Blut und Verbrechen übersetzt. »Das Evangelium der Niedrigen – macht niedrig«, lehrt Nietzsche und kommt zu dem Schluß: »Der Anarchist und der Christ sind einer Herkunft.«
Man sehe den »Antichrist« unter dieser Optik, um zu verstehen, daß Nietzsche nicht Christus, diese edelste Erscheinung, bekämpft, sondern Paulus, sondern das historische Christentum, welches das Altertum besiegte und dessen unmittelbare Fortwirkung auf zwei Jahrtausende unterbrach. »Das Christentum war ein Sieg,[200] eine vornehme Gesinnung ging an ihm zugrunde – das Christentum war bisher das größte Unglück der Menschheit.«
Immer haben wir solche Worte im Hinblick auf das Ziel der Steigerung des Lebens, des Wachstums der Kultur zu verstehen, niemals von der Frage aus nach dem Labsal, das es Niedergedrückten, Trostbedürftigen bedeutet. Nicht diesen, wir müssen es nochmals wiederholen, sondern den freieren, höheren Menschen will der unerschrockene Kritiker des Christentums dieses verächtlich machen, indem er die Bibel zu ihrem Nachteil mit dem vornehmen Gesetzbuch des Manu vergleicht, auf dem die Sonne eines triumphierenden Wohlgefühls an sich und am Leben liegt.
Daß vom »Antichrist« nicht mit voller Macht die Wirkung ausgeht, die man bei einer solchen Streitschrift Nietzsches erwartet, erklärt sich weniger aus dem Widerstand der dogmatischen Gläubigen als aus dem Umstand, daß das latente Christentum in uns allen noch ungemein bestimmend wirkt, vielleicht aber auch aus der Fassung der Streitschrift selbst. Auch der Atheist fühlt dem Christentum gegenüber Ehrfurcht vermöge seiner Kindheitserinnerungen und schätzt es als Banner im Kampfe gegen den Materialismus gemeiner Interessen. Er will es souverän überwinden, aber die Heftigkeit der Angriffe, der maßlose Ansturm des Affekts läßt in ihm die Empfindung aufkommen, als ob hier die »Entrüstung« den Ton bestimme. Mit Unrecht, denn kein unterbewußter Groll, sondern die Größe seiner Aufgabe ließ den unerschrockenen Antichristen seine volle Energie entfalten, kein Unmut, sondern der Übermut der Kampfesfreude entfesselte alle Kräfte. Wie die beiden ersten Teile des »Zarathustra« in den Farben, als persönliche Gegenwirkung gegen Qual und Wirrsal seines Gemüts, »heiterer und lustiger« ausgefallen sind, als es in Nietzsches Absicht lag, so hat umgekehrt die Euphorie der letzten[201] Jahre in Turin auf den rigorosen Ernst, der dort entstandenen Schriften (»Grobe Briefe – bei mir ein Zeichen der Heiterkeit«) auf die Heftigkeit des Tones, auf die Grellheit der Farben eingewirkt.
Nur gegen Schluß des Werkes gelangen vorübergehend freudigere Töne zum Ausdruck. Hier zitiert der Philosoph von ihm übersetzte Stellen aus dem priesterhaften, aber trotzdem nicht pessimistischen Gesetzbuch des Manu (er hatte es in der französischen Übersetzung von Louis Jacolliot gelesen) und geht dazu über, die Ordnung der Kasten als Sanktion einer Naturordnung darzustellen. Moralische Entrüstung und Pessimismus sind untrennbar von der Vorstellung des Tschandala, also der Niedrigsten; der jasagende Sinn der Geistigsten dagegen betrachtet die Welt letzten Endes als vollkommen, denn er wertet das Unvollkommene als ein zugehöriges notwendiges Unterhalb, alle Mittelmäßigkeit als die breite Basis einer Pyramide der Kultur. Obenan stehen also die geistigsten Menschen, die zugleich als die Stärksten ihr Glück in der Selbstbezwingung finden. Als die zweiten gelten für Manu und Nietzsche die Wächter des Rechtes, die Pfleger der Ordnung und der Sicherheit; der König bedeutet ihnen die höchste Form von Krieger, Richter und Aufrechterhalter des Gesetzes. Diese Rangordnung, die wir bereits in der Lehre vom Übermenschen als Nietzsches Ideal schätzen lernten, formuliert nach ihm nicht irgendeine willkürliche Staatsverfassung, sondern, wie er ausführt, das oberste Gesetz des Lebens. Denn die Abscheidung der drei Typen ist nötig zur Erhaltung der Gesellschaft zur Ermöglichung höherer und höchster Typen. Die damit geförderte Ungleichheit der Rechte ist die Bedingung, daß es überhaupt Rechte gibt. »Ein Recht ist ein Vorrecht. In seiner Art Sein hat jeder auch sein Vorrecht.«
Einer solchen naturgemäßen Rangordnung, das werden wir Nietzsche ohne Widerspruch zugeben, laufen die[202] Tendenzen des Christentums mit seiner Gleichheit der Seelen vor Gott durchaus entgegen. Diese Gegensätzlichkeit hat es nicht nur an dem Römertum bewiesen – wobei es uns um die Ernte der antiken Kultur brachte –, sondern noch einmal, als es sich gegen die Renaissance empörte. Damals bereitete sich in Rom die Überwindung des Christentums tatsächlich vor durch den Triumph des Lebens, durch das große Ja zu allen hohen, schönen, verwegenen Dingen. Was aber geschah? Luther sah nur die Verderbnis des Papsttums. Indem er die Kirche angriff, stellte er sie wieder her. Und siehe da: die Reformation vernichtete etwas Unwiederbringliches, das mit der Renaissance uns zum Heil Wirklichkeit werden wollte …
Stellen wir uns zum Schluß die Frage, wie Nietzsche die Bewegung zur Mystik beurteilt haben würde, die heute in Wort, Ton und Bild, in Expressionismus, in gemeinsamen Meditationen und philosophisch umkleideten Andachtsstunden, abseits vom Lärm der Welt, zum Teil mit Okkultismus vermengt, bei Tausenden neue Anhänger findet, und ihnen wohl als ein Ersatz für unmöglich gewordene dogmatische Gläubigkeit, als Ersatz für verflüchtete Ideale gilt: so dürfen wir wohl mutmaßen, daß er diese Bewegung als Nihilismus nach dem Verluste der früheren höchsten Werte, als eine Erscheinung der Erschöpfung nach den Anspannungen des Krieges, als ein Trostmittel gegen Enttäuschungen aller Art erkannt hätte, um auch sie vielleicht wie den Buddhismus als heilsamen Schutz gegen die Gefahren der Sensibilität und Übergeistigung milde zu beurteilen. Aber auch diese Bewegung bedeutet Flucht vor der Wirklichkeit, Ausweichen vor dem Ziel der Höherentwicklung des Lebens, und darum würde er ihr niemals gestatten, mit seinem Namen und seiner Lehre zu liebäugeln, wie es vielfach bei ihren Anhängern geschieht.
In den Dionysos-Dithyramben, diesen Liedern Zarathustras, die ebenfalls 1888 entstanden, erhebt sich in[203] leuchtenden Farben vor unserer Phantasie das Land der Hyperboreer als einsame Insel im Meere. In dem Gedicht »Die Sonne sinkt«, einem der schönsten, das wir besitzen, steigt diese Insel vor uns auf wie jenes Orplid, von dem Mörike sang. In dem »Feuerzeichen« (»Hier, wo zwischen Meeren die Insel wuchs«) zündet der Einsame auf ihr sein Höhenfeuer an und in »Ruhm und Ewigkeit« bekundet uns sein Herz, wie wenig er in Willkür nach dem Beifall der Gegenwart geizt, wie ihm, gleich Goethe, alles was geschieht zum Symbol des Notwendigen wird und wie ihn wiederum, gleich Goethe, die Idee »das Ewige im Vorübergehenden« schauen läßt.
Sollen wir denn in unserer Zeit nicht mehr von Herzen lachen können und übermütig sein, müssen wir Asche aufs Haupt streuen, Bußgewänder anziehen, die Stirn in tiefsinnige Falten kleiden und Selbstzerfleischung predigen?
Hugo Wolf.
Von Nietzsches Klavierspiel, seinem Improvisieren und Phantasieren am Flügel sprechen außer der Schwester Deussen, von Gersdorff, Kretzer, Peter Gast, von Seydlitz u. a. mit Begeisterung. Auch in Tribschen lauschte man gern seinem Spiel und wurde tief ergriffen, als er beim Abschied von dieser »Insel der Seligen« seiner Trauer am Flügel phantasierend Ausdruck verlieh. Nach Gasts Schilderung war sein Anschlag von großer Intensität, ohne doch hart zu sein. Man hätte vielleicht auch bei Nietzsche, wenn es sich um die Wiedergabe von Orchesterwerken handelte, statt von einem Klavierspiel von einem Partiturspiel sprechen dürfen, wenn man bei Peter Gast liest, daß sein sprechendes Spiel polyphon von mannigfaltigster Abstufung war, so daß aus dem Orchesterklang hier das Horn oder Flöten und Geigen, dort Posaunen sich deutlich heraushoben. Seydlitz sagt: »Er spielt mit der äußersten Ausdrucksfähigkeit und einer tiefen Überzeugung, die auf den Hörer unwiderstehlich eindringt.«
In seiner Jugendzeit – wollte er doch ursprünglich nicht Philologe, sondern Musiker werden – hat er außer einem Oratorium eine große Anzahl Kompositionen niedergeschrieben, deren romantischer Charakter in dem, was uns erhalten blieb (seine Schwester hat es zum Teil in der Biographie veröffentlicht), zutage tritt. So eine Klavierphantasie »Im Mondschein auf der Pußta«, ein schlichtes Lied mit eigenartigen Übergängen zu dem Chamissoschen Gedicht »Das Kind an die erloschene Kerze«[205] und ein 1870 komponierter Männerchor »Ach ich muß nun gehen«, dessen Musik, so wenig sie die erstrebte Volkstümlichkeit erreicht, ich doch höher einschätzen möchte, als es im Urteil der Schwester geschieht. Auch eine Opernskizze sowie eine Rhapsodie – beides durch die Ermanarich-Sage angeregt – dürften wohl noch im Nietzsche-Archiv vorhanden sein.
Die Zahl der Kompositionen aus späterer Zeit ist nur klein. Schumann hatte ihn noch in der Bonner Studentenzeit zur Vertonung von Gedichten Chamissos und Petöfis angeregt, aber bald wurde Nietzsches Widerstand gegen die Romantik dieses »süßlichen Sachsen« wach, vielleicht nicht unbeeinflußt durch Richard Wagner, dem Schumanns Musik antipathisch war. Besonders Schumanns Manfredmusik widerstrebte Nietzsche. Er empfand Byrons Dichtung ganz anders und fühlte sich durch seinen Widerspruch gedrängt, selbst eine »Manfred-Meditation« zu komponieren. Als er sie in Tribschen vorspielte, wurde sie offenbar sehr freundlich aufgenommen, aber nicht in entscheidender Weise beurteilt. Nietzsche aber verlangte es nach einem entschiedenen Urteil. Ob Wagner und seine Frau ihn hierfür an Hans von Bülow verwiesen, oder ob er aus eigener Initiative zu diesem Entschluß kam, wissen wir nicht. Er hatte Bülow früher seine »Geburt der Tragödie« geschickt und nicht nur lebhaften Widerhall gefunden, sondern Bülow hatte ihn, wie früher erwähnt, persönlich in Basel aufgesucht und ihm zum Dank Chopins Barkarole vorgespielt. Der Aphorismus 160 im »Wanderer und sein Schatten« verdankt seine Entstehung der Erinnerung an jene Stunde.
An Bülow schickte er nunmehr seine »Manfred-Meditation.« Der ritterliche Kämpfer für Wagners Kunst konnte sehr milde und nachsichtig urteilen, wo es galt einen Anfänger aufzumuntern. Ich selbst habe es erfahren, als er eine Jugenddichtung von mir nicht nur[206] sehr freundlich beurteilte, sondern auch an Freunde zur Lektüre weitergab. Aber er konnte auch ungemein scharf urteilen, wo es die von ihm so heilig gehaltene Musik betraf. So schrieb er an einen allgemein gefürchteten Frankfurter Musikreferenten über dessen Musik, daß er sie »hohl, farblos, anspruchsvoll, kalt und äußerst gesucht« finde, und auch Nietzsche gegenüber fühlte er sich zur größten Offenheit verpflichtet. Er bezeichnete die Komposition in einem Briefe an ihren Autor als das Extremste an phantastischer Extravaganz, unerquicklich und antimusikalisch, nannte sie ein musikalisches Fieberprodukt, in dem zwar ein ungewöhnlicher, bei aller Verirrung distinguierter Geist zu spüren sei, das ihn jedoch mehr an ein lendemain eines Bacchanals als an dieses selbst denken mache. Nietzsche erschrak auf das heftigste, denn er war überzeugt gewesen, zum mindesten eine »natürliche Musik« zu schreiben. Seine Tribschener Freunde legten die Meditation nunmehr Liszt vor, dessen Urteil weniger absprechend lautete, aber Nietzsche hielt sich an Bülows Ausspruch und beschloß, das Komponieren aufzugeben. »Sie haben mir sehr geholfen – es ist ein Geständnis, das ich immer noch mit einigem Schmerz mache«, schrieb er ihm, und spätere Briefe beweisen, daß beide ritterliche Naturen sich die gegenseitige Hochachtung bewahrten.
Seinem Vorsatz ist Nietzsche, trotz manchem Stoßseufzer – »ich möchte jetzt mehr als je Musiker sein!« – von wenigen Ausnahmen abgesehen, treu geblieben. Außer einer vierhändigen Gelegenheitskomposition »Monodie à deux«, die er zur Hochzeit Olga Herzens (Malwida von Meysenbugs Pflegetochter) mit Gabriel Monod schrieb, hat er seinen, leider wenig bekannten »Hymnus an das Leben« komponiert. Wohl sein bedeutendstes Musikprodukt, obwohl es nicht den Melodienreichtum aufweist, den Nietzsche ihm wünschte. Seine Hoffnung, daß durch dieses Chorwerk, dessen Leidenschaft und Ernst einen[207] Hauptaffekt seiner Philosophie, das Verhältnis zur Pein des Lebens wie eine Herausforderung des Schicksals zum Ausdruck bringt, der Weg zur breiteren Öffentlichkeit erschließe, erfüllte sich nicht, obwohl der Hymnus mit Recht als sehr würdig, rein im Satz und wohlklingend anerkannt wurde.
Auch dann, wenn wir uns zu der Einsicht bekennen, daß Nietzsche nicht berufen war, seine musikalische Veranlagung in Tönen auszuleben, sondern daß seine Seele nur in Worten zu singen vermochte, daß seine Musikalität sich vollwertig nur in den Klängen und Rhythmen seiner Sprache, in den Geheimnissen seiner Satzkadenzen entfaltete: dürfen wir nicht verkennen, daß die Musik ihm ein Lebenselement war. Auch die Überbetonung des Umstandes, daß seine sensible Natur sich den Nervenerschütterungen durch die moderne Musik nicht gewachsen fühlte, daß er als tiefleidender Mensch der Erheiterung durch die Kunst bedurfte, darf uns nicht verleiten, die prinzipielle Bedeutung seiner Musikurteile zu unterschätzen.
Seinem Ausspruch, wer nicht sieht, was auf der Bühne vorgeht – wir wissen, wie kurzsichtig Nietzsche war –, für den sei die dramatische Musik ein Unding, kommt mehr als nur persönliche Bedeutung zu; denn die Musik redet nach Nietzsche »nicht eine allgemeine überzeitliche Sprache, wie man so oft zu ihrer Ehre gesagt hat«, sondern sie hängt innigst mit der Entwicklung der Kulturen zusammen. Gar vieles, was Ausfluß einer früheren Zeit war, kann nicht mit dem übereinstimmen, was wir zukünftig erwarten, sobald wir mit den Ohren Nietzsches nach den Präludien einer zukünftigen Kultur lauschen.
Dann verstehen wir, daß er bereits im »Wanderer und sein Schatten« und in der »Morgenröte« unsere als klassisch geltende Musik bei aller Ehrfurcht nicht mehr in blinder Verehrung würdigt, sondern im Hinblick auf die Zukunft beurteilt. »Unsere Musik ist ehemals dem[208] christlichen Gelehrten nachgegangen und hat dessen Ideal in Klänge zu übersetzen vermocht; warum sollte sie nicht endlich auch jenen helleren, freudigeren und allgemeineren Klang finden, der dem idealen Denker entspricht?«
Wohl bekennt er, bei Bach werde es dem Hörer zumute, als ob wir dabei wären, wie Gott die Welt schuf. Man fühle, daß hier etwas Großes im Werden ist. Aber noch sei viel crude Christlichkeit, Deutschtum, Scholastik in ihm. Bach stehe an der Schwelle der europäischen Musik, aber schaue sich von hier nach dem Mittelalter um.
Beethoven entdeckt seine Melodien im Liede der Bettler und Kinder. Es ist Musik über Musik als verklärte Erinnerungen aus der »besseren Welt«, ähnlich wie Plato es sich von den Ideen dachte.
Mozart dagegen findet seine Melodien nicht beim Hören von Musik, sondern im Schauen des Lebens, des bewegten südländischen Lebens: er träumte immer von Italien, wenn er nicht dort war.
Schubert hatte von allen den größten Erbreichtum an Musik. Dürfte man Beethoven den idealen Zuhörer eines Spielmanns nennen, so hätte Schubert darauf Anrecht, selber der ideale Spielmann zu heißen.
Wir sehen: sie alle sprachen zum Ohr ihrer Zeit. Das will auch die moderne Musik. Aber zum Gewissen eines arbeitsamen Zeitalters, das der Musik nur die Reste seiner Zeit opfert, vermag leider nicht eine Kunst, eine Musik der morgendlichen Stille zu sprechen, denn diese setzt unverbrauchte kraftgefüllte Morgenseelen der Zuschauer und Zuhörer voraus. Die große Kunst hilft sich daher, um jene Müdigkeit zu überwinden, mit Betäubungen, Berauschungen, Erschütterungen, Tränenkrämpfen. Für ein Zeitalter, welches einmal wieder frei volle Fest- und Freudentage in das Leben einführt, dürfte daher diese große Kunst unbrauchbar sein.
Je tiefer man in das Verständnis der Entwicklung seiner Persönlichkeit und Lehre bei Nietzsche eindringt, desto mehr verlieren sich auch hier alle scheinbaren Widersprüche, desto mehr gewinnen auch seine Aussprüche über Musik, deren Schicksal ihm so nah am Herzen lag, symptomatische Bedeutung. Sie vergegenwärtigen uns seinen Übergang vom Metaphysiker zum unbedingten Bejaher des Diesseits und seine Entwicklung vom Deutschen zum »guten Europäer«. Es bedarf durchaus nicht der Entschuldigungen, wie Frau Förster sie anführt, für seine Verurteilungen des Deutschtums, denn diese Urteile sind nicht antideutsch, sondern überdeutsch zu deuten.
In der »Geburt der Tragödie« sprach Nietzsche mit Bewunderung von der deutschen Musik, wie wir sie vornehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben. Damals verglich er Beethovens Musik dem einsamen Gesange eines Halbgotts und fand in ihm »jene eigentlich und einzig deutsche Heiterkeit«, die von anderen Völkern gar nicht verstanden werde. Aber das Pathos Beethovens, jenes leidenschaftliche Wollen, das sich aus dem Ethos entwickelte, wird in »Richard Wagner in Bayreuth« für die Symphoniker nach Beethoven, für die deutsche Musik als verhängnisvoll erkannt, weil es nur stammelt und nur undeutliche Gebilde erzeugt. In »Menschliches-Allzumenschliches« wird die Lust an erhöhten weitgespannten Stimmungen, das Nebeneinander von Ekstase und Naivem in der modernen Musik bereits als ungriechisch empfunden. Es gab eine Zeit, in der Nietzsche uns die Aufgabe stellte: die zu Beethoven gehörige Kultur zu finden. Aber auch gegen Beethoven setzte sich entwicklungsgemäß seine Natur zur Wehre, weil er die Erde nicht hinab rücken lassen will vor dem Sternendome, den Beethovens metaphysische Kunst ihn träumen heißt.
Wo er ihn nach wie vor verherrlicht, da empfindet[210] er ihn nunmehr als überdeutsch. Nicht ihn allein. Beethovens einsiedlerische Resignation, Mozarts Anmut und Grazie des Herzens, Händels unbeugsame Männlichkeit, Bachs getrostes und verklärtes Innenleben werden nicht mehr als deutsche Eigenschaften anerkannt. Wie Schopenhauer über die Deutschen hinwegphilosophierte, Goethe in »Tasso« und »Iphigenie« über sie hinwegdichtete, so habe Beethoven über sie hinweg Musik gemacht. Bei ihm und Rossini sang sich das achtzehnte Jahrhundert aus, das Jahrhundert der Schwärmerei, der zerbrochenen Ideale und des flüchtigen Glücks.
Besonders in den Jahren 1881 und 1882, als Nietzsche die »Fröhliche Wissenschaft« schrieb, griff die Verurteilung der deutschen Musik als solcher auch auf Beethoven über. Dagegen kommt Mozart seinem Herzen immer näher. Nun schreibt er Rohde: »Ein Mensch, der mir gleichgeartet ist, profondement triste, kann es auf die Dauer nicht mit Wagnerscher Musik aushalten. Wir haben Süden, Sonne, um jeden Preis helle harmlose unschuldige Mozartsche Glückseligkeit und Zärtlichkeit in Tönen nötig.« Und er setzt hinzu: »Eigentlich sollte ich auch Menschen um mich haben von der selben Beschaffenheit, wie diese Musik ist, die ich liebe: solche, bei denen man etwas von sich ausruht und über sich lachen kann.«
Mozart war der Ausklang eines großen jahrhundertelangen europäischen Geschmacks, besagt uns »Jenseits von Gut und Böse«, und wir dürfen uns glücklich schätzen, daß sein Glauben an den Süden noch an irgendeinen Rest in uns appellieren darf. Auf Beethovens Musik dagegen liegt dasselbe Licht, in welchem Europa gebadet lag, als es mit Rousseau geträumt, als es um den Freiheitsbaum der Revolution getanzt und endlich vor Napoleon beinahe angebetet hatte. Was an deutscher Musik nachher gekommen ist, gehört in die Romantik, jenen Zwischenakt, welcher der Heraufkunft der Demokratie voranging. Schumann bedeutete bereits nur noch[211] ein deutsches Ereignis, nicht ein europäisches wie Beethoven und noch umfänglicher Mozart es war. Die Ahnung, daß Europa eins werden will, fehlt in ihm, während Wagner, trotz seiner Mißverständnisse über sich selbst, mit der französischen Spätromantik innigst zusammenhängt, ja dessen Gestalt des Siegfried so frei, hart, wohlgemut gesund ist, daß hier der Geschmack alter mürber Kulturvölker im Rückstand bleibt. Wer sich diese hohe Einschätzung des »antikatholisch« empfundenen Siegfried in der Tiefe zu eigen macht, für den bedarf es keiner Erklärung, warum für Nietzsche der Wagner des »Parsifal« als Feind einer südländischen überdeutschen Musik gelten mußte.
Die Musik, die Nietzsche ersehnt, will Herr werden über das Chaos, das man ist, will es zwingen Form zu werden: logisch, einfach, unzweideutig. Ihr großer Stil muß männlich sein und dem Weibe in unserer Musik widersprechen. Um Klassiker zu sein, muß man alle starken, anscheinend widerspruchsvollen Gaben und Begierden haben, aber so, daß sie miteinander unter einem Joch gehen, muß man Immoralist sein, ein schließender und vorwärts führender Geist, Ja-sagend in allen Fällen, selbst mit seinem Haß.
Was Nietzsche eigentlich von der Musik will – es steht bereits vor uns –, das hat er im »Ecce homo« nochmals deutlich ausgesprochen. Er will, daß sie heiter und tief ist, wie ein Nachmittag im Oktober, daß sie eigen, ausgelassen, zärtlich, ein kleines süßes Weib von Niedertracht und Anmut ist.
Darum wurde Bizets Carmen von Nietzsche voll gewürdigt, lange bevor sie ihren Weg in Deutschland von Bühne zu Bühne fand, während sie Wagner bekanntlich ablehnte. Bei Bizet begegnete er der Musik, die »für die geborenen Mittelländer, die guten Europäer geschaffen ist«, denn sie hat ein Stück Süden der Musik entdeckt. Hier findet er als Halkyonier la gaya scienza, die[212] leichten Füße, Witz, Feuer, Anmut, den Tanz der Sterne, die übermütige Geistigkeit, die Lichtschauder des Südens. Hier redet zu ihm eine andere Sinnlichkeit, eine andere Sensibilität, eine andere Heiterkeit. Wo immer er einer solchen Empfindungsweise begegnet in italienischen und spanischen Klängen, bei Audran, bei Offenbach, bei Rossaro, bei Vilbac, jubelt sein Herz auf. Immer wieder will er mit den »schweren heißen Südwinden Carmens den Wasserdampf des Wagnerschen Ideals bannen«.
Neben Bizet blieb er vor allem Chopin wohlgesinnt. Dessen Vornehmheit gemahnte ihn an van Dyck. Fast alle Zustände und Lebensweisen haben einen seligen Moment. Chopin habe einen solchen seligen Moment des Lebens am Strande in seiner Barkarole so zum Ertönen gebracht, daß selbst Götter dabei gelüsten könnte, lange Sommerabende in einem Kahne zu liegen.
Nietzsches Erwartung, daß sein Maestro Pietro Gasti jene Musik, die ihm für die kommende Zeit vorschwebte, schaffen und ihr die Welt erobern werde, hat sich nicht erfüllt. Dafür reichte Gasts Schöpferkraft nicht aus. Aber aus dem Schaffen eines anderen Tondichters, dessen Entfaltung Nietzsche leider nicht mehr erlebte, können wir recht wohl eine Vorstellung der Musik im Sinne Nietzsches gewinnen. Man errät wohl, wen ich meine: Hugo Wolf. Wie Wolf in seiner Überzeugung, daß mit Wagner eine Höhe erreicht ist, die zu überschreiten nicht unsere Aufgabe sei, mit Nietzsche übereinstimmte, dafür aber die Verbindung mit Mozart wiederhergestellt werden müsse, wie er Carmen ganz im Sinne Nietzsches begrüßte und Brahms ganz im Sinne Nietzsches ablehnte, so war er selbst, getragen von seiner Begeisterung für Nietzsche, bestrebt, die Musik in die Bahnen zu lenken, die dieser ihr vorausbestimmte. Stolze, siegbewußte Musik, die nicht mit dem Hut in der Hand um den Beifall eines sensationslüsternen Publikums bettelt, noch dessen Ermattung durch Nervenerschütterung zu überwinden[213] strebt. Stolze, siegbewußte Musik, die aus der Freude an sich selbst und an der Schönheit des Lebens ihre eigene klangfrohe Sprache redet, die in plastischen Themen schärfste Charakteristik mit edelstem Wohlklang verbindet, indem sie sich »der Vollkommenheit im kleinsten befleißigt«, die »nur die Traurigkeit des tiefsten Glückes kennt und sonst keine Traurigkeit« (man denke an den Zwiegesang aus dem Corregidor: »In solchen Abendfeierstunden«), der das gute Gewissen im Herzen und der Schelm im Nacken sitzt, die klangfroh »zu jubeln versteht«.
Veranschaulichen wir uns durch Nietzsches Urteile über die ältere und neuere Musik, was er in ihr als nordländisch ablehnte, und gewinnen wir durch Wolf die Vorstellung wie die Musik der Zukunft nach Nietzsche beschaffen sein muß, um einer halkyonisch gearteten Kultur zu entsprechen, dann verstehen wir, daß es durchaus seiner Natur, aber auch seiner Philosophie entsprach, der Wirkung Wagners entgegenzuarbeiten und durch sein Pamphlet »Der Fall Wagner« den überwältigenden Zauber zu bekämpfen, den sie zu Nietzsches Leidwesen auch auf jene ausübt, die er berufen erachtet, die Bahnen zu wandeln, die zu der zukünftigen Kultur hinüberleiten.
In der Liebe … wird die Seele Sklave, und man bringt nur zu oft das Opfer seiner selbst, d. h. das, welches man nicht bringen darf.
Malwida von Meysenbug.
In Sorrent sagte Nietzsche einmal – es war im Jahre 1878 – zu Freiherrn von Seydlitz, dessen Begeisterung für Wagner er damals noch billigte: »Der Himmel behüte uns, daß wir nie in Versuchung geraten, Pasquille über unsre Freunde zu schreiben; Stoff gäbe es freilich da mehr als bei Gegnern; aber eben deswegen –!« Dieser Ausspruch verrät uns, daß Nietzsche sich Zwang antun mußte, um als aufrichtiger Psychologe sich nicht allzu freimütig zu äußern. Damals galt ihm eine solche Zurückhaltung noch als Pflicht, zehn Jahre später sah er darin Mangel an Mut. »Auch der Mutigste von uns hat nur selten den Mut zu dem, was er eigentlich weiß …«
Da dieser Wagemut bei Nietzsche – das hat uns wohl sein Entwicklungsgang klar bewiesen – fortgesetzt wuchs, kam er dazu – nicht ein Pasquill gegen seinen freund-feindlichen Gegner, denn ein Pasquill hat stets die Person zum Ziel, wohl aber ein Pamphlet gegen Wagners Wirkung zu schreiben. »Alles, was auf Ehrfurcht sich gründet, bedarf, um bekämpft zu werden, seitens des Angreifenden eine gewisse verwegene, rücksichtslose, selbst schamlose Gesinnung …«, erklärte er ohne jede Beschönigung. Hieraus verstehen wir, daß er selbst seine Schrift »Der Fall Wagner« ein Pamphlet nannte und offen bekundete, daß er auf dieses »Pamphlet gegen Wagner« stolz sei. Er war überzeugt, daß es nicht möglich sei, »so entschiedene Dinge deutlicher und delikater zu sagen«, als es in dieser »übermütigen Farce« geschah. Er war sich voll bewußt, daß der Stil dieses Werkes – die Absicht einer Schrift bestimmte für[215] ihn deren Stil – seiner früheren Schreibweise nicht ähnlich sieht, sondern daß ein allegro feroce der Leidenschaft an Stelle der raffinierten Neutralität und zögernden Vorwärtsbewegung getreten ist.
Aber auch ein persönlicher Notstand wirkte sich aus, den wir nicht übersehen dürfen. Die »tote stupide Einsamkeit«, in der er sich befand, erforderte eine Ablenkung, denn er fühlte sich damals zuweilen auf eine unbeschreibliche Weise melancholisch. Gegen diesen Exzeß des Gefühls kämpfte er durch den leidenschaftlichen Stil seiner Schriften in der Turiner Zeit von 1888 mit aller Macht an. Die Leidenschaft betäubt. »Jetzt eben wird ein kleines Pamphlet musikalischen Inhalts gedruckt, das von der heitersten Laune eingegeben scheint: auch die Heiterkeit betäubt. Sie tut mir wohl, sie macht vergessen. Ich lache wirklich sehr viel bei solchen Erzeugnissen –.«
Wie tief lassen uns diese Sätze, die wir dem Entwurf zu einem Brief verdanken, der für Overbeck bestimmt war, in den Zustand seiner Psyche blicken. Der mutige Drang, was ihm als Überzeugung aggressiv in den Sinn kam, ungehemmt durch Formen der Neutralität aussprechen und das seelische Bedürfnis, die drohende Melancholie durch Leidenschaftlichkeit zu überwinden, erklären uns ebensosehr die Heftigkeit des »Antichrist« wie die Fülle von ätzendem Spott im »Fall Wagner«, ein Spott, der sich durch keine auf Verehrung begründete Rücksicht mehr unterdrücken ließ. Er will den Meister von Bayreuth nicht etwa hämisch verkleinern – »Wagner war etwas Vollkommenes« –, aber die Ehrfurcht vor dessen Zielen und Wirkungen parodistisch überwinden, um die Bahn frei zu bekommen für seine eigenen Ziele und Wirkungen. Gilt es doch die Umkehr durchzusetzen vom pessimistisch gefärbten Idealismus zu dankbarer Wirklichkeitsfreude, von der romantischen Flucht ins Metaphysische zur sinnenfreudigen Erdennähe der Natur,[216] von christlich und demokratisch gerichteter Moral zur aristokratischen Rangordnung der Werte, von der dekadenten Modernität einer sterilen Zivilisation zum fruchtbaren Wachstum der Kultur, von der Theaterhingebung der Kunst an die Instinkte der Massen zur klar bewußten Erziehung der berufenen Einzelnen, von der Schwächung und Zähmung der Triebe aus Naturverlästerung zu deren Stärkung und Züchtung um der höchsten Lebensentfaltung und Menschensteigerung willen.
Nur flüchtig anerkennt er noch, was bei Wagner im Sinne dieser Umkehr sich fördernd erweist. Die herrliche Gestalt des Siegfried bleibt ihm auch jetzt noch unantastbar. Der ursprüngliche Schluß des »Ring des Nibelungen«, der optimistisch konzipiert war und erst später im Sinne der Schopenhauerschen Philosophie eine Umarbeitung erfuhr, bedeutete für Nietzsche »die Götterdämmerung der alten Moral« und den »Aufgang des goldenen Zeitalters«. Auch dort bewahrte sich der entschlossene Kämpfer seine Freude an Wagner, wo dieser seine Kunst nicht in den Dienst des Alfresko-Stils der Theatralik stellte. Er findet ihn bewunderungswürdig, liebenswürdig in der Erfindung des Kleinsten, in der Ausdichtung des Details.
Wie der »Antichrist« den Vorarbeiten zum »Willen zur Macht« entnommen wurde, so auch »der Fall Wagner«, dessen Inhalt ursprünglich für das Kapitel »Modernität« bestimmt war. Ebenso hat er die »Götzendämmerung« als einen Auszug des »Willens zur Macht« bezeichnet. Was veranlaßte Nietzsche, in dieser Weise der Veröffentlichung seines Hauptwerkes vorzugreifen? Doch wohl das Gefühl, daß seine Lebenszeit nicht mehr so lang bemessen sein könne, daß er in Ruhe die allmähliche Wirkung seiner Werke abwarten dürfe, sondern daß es an der Zeit sei, das Entscheidende in grellster Deutlichkeit auszusprechen, um endlich gehört und beachtet zu werden.
Schon vier Jahre früher hatte er einem mir befreundeten Chemiker, als dieser auf gemeinsamen Spaziergängen in Sils-Maria ihn ermahnte, sich um seiner Gesundheit willen zeitweise der Arbeit zu enthalten, geantwortet, er dürfe keine Zeit verlieren, denn er habe der Menschheit noch vieles darzubieten. Wohl aus dem gleichen Gefühl heraus schrieb er von Turin an seine Schwester, nachdem er durch seinen Gesundheitszustand längere Zeit am Arbeiten gehindert worden sei, habe er nunmehr den großen Zeitverlust für seine Aufgabe durch eine um so angespanntere Arbeit auszugleichen gesucht. Aber nicht nur die Intensität der Arbeit erfuhr eine Steigerung, es drängte ihn auch, die unmittelbare Wirkung zu erhöhen durch die Ausschaltung jeder verzögernden Neutralität.
Auch die »Götzendämmerung« ist infolgedessen vielfach von dem Geiste erfüllt, den uns das Wort Pamphletist kennzeichnet. Ein Kapitel »Das Problem des Sokrates« bietet in diesem Hinblick ein Seitenstück zum »Fall Wagner«. Im Verlangen nach »Vernünftigkeit um jeden Preis« sieht Nietzsche bei Sokrates den Versuch, aus der Vernunft einen Tyrannen zu machen, und zwar um seiner Errettung willen aus der Anarchie der Instinkte.
Wie die Psychoanalytiker heute bei Origines, Paulus, Augustin und vielen anderen ihre Bekehrungen als Versuche deuten, sich aus den Qualen verdrängter Sexualität zu befreien, so verfuhr bereits Nietzsche als er schrieb: »Auf décadence bei Sokrates deutet nicht nur die zugestandene Wüstheit und Anarchie in den Instinkten: eben dahin deutet auch die Superfötation des Logischen und jene Rhachitiker-Bosheit, die ihn auszeichnet.«
Unwillkürlich drängt uns dieses Urteil die Frage auf, ob nicht vielleicht auch bei Nietzsche ins Unterbewußtsein verdrängte Gefühle den Zorn seiner Worte gegen Sokrates entzündet haben. Für die Heftigkeit der Angriffe[218] gegen Wagner fanden wir bereits eine solche Erklärung in der zwanghaften Überwindung seiner ehemaligen und niemals ganz erloschenen Verehrung – welche Empfindungen aber hatte Nietzsche gegenüber Sokrates zu überwinden? Die Antwort, die Bertram in seinem vorzüglichen Nietzsche-Buch gibt, besagt: der Erzieher in Nietzsche wehrte sich gegen den Fanatiker der Erkenntnis in der eigenen Brust. Aber wir schauen vergebens nach Belegen in Nietzsches Schriften aus, die diese Aussage begründen.
Wohl hat Nietzsche in seinen früheren Schaffensperioden wiederholt anerkennende Worte für die Originalität des Sokrates gefunden, wohl zählte er ihn jenen Menschen zu, die es wagen, »ihrer selbst willen da zu sein«, wohl sah er in den Memorabilien des Sokrates das Zusammentreffen von vielen Straßen der verschiedensten philosophischen Lebensweisen und Temperamente, festgestellt durch Vernunft und Gewohnheit und allesamt mit der Spitze nach der Freude am Leben und am eigenen Selbst gerichtet. Aber diese Einschätzungen, die hauptsächlich aus der Zeit seines Positivismus stammen, bekunden niemals eine entschiedene innere Zusammengehörigkeit, sondern sehr früh schon bezeichnete er trotzdem Sokrates bald als das Urbild, den Typus oder als den Stammvater des von ihm bekämpften theoretischen Menschen und wählte ihn zur Zielscheibe seiner Angriffe, wo immer er optimistische Erkenntnis und tragische Kunstbedürftigkeit einander gegenüberstellte. Das Denken der Griechen im tragischen Zeitalter wurde von ihm allezeit entweder als pessimistisch in der Erkenntnis oder aber als künstlerisch-optimistisch gesehen. Zu beidem verhielt sich Sokrates, als der Mystagoge der Wissenschaft, antipodisch. Aber auch für die Wissenschaft sah er niemals in ihm mit innerer Anteilnahme ein ihm entsprechendes Vorbild. Hörte er doch die sokratischen Schulen die Frage stellen: welches ist diejenige Erkenntnis[219] der Welt und des Lebens, bei welcher der Mensch am glücklichsten lebt? Eine Frage, mit der man nach Nietzsches heroischer Überzeugung die Blutadern der wissenschaftlichen Forschung unterband. Nur deshalb etwas für wahr halten, weil es uns beglückt, bedeutete ihm stets eine Untreue an der Aufgabe der Erkenntnis.
Trat diese Versuchung zur Untreue am Selbst, am Ziel und Werk auch an Nietzsche heran zur Zeit, als er sich seiner Unbeachtetheit und schülerlosen Einsamkeit schmerzlicher als je mit drohender Melancholie bewußt wurde, gemahnte auch ihn eine Versucherstimme, sich in der bloßen Vernünftigkeit gemäß der Lehre des Sokrates Befreiung und Errettung von der erdrückenden Überlast seiner Aufgabe zu suchen, und setzte seine tapfer ausharrende Treue zum eigenen Selbst, seine opferwillige Hingabe an sein Werk sich eben darum mit größter Heftigkeit zur Wehr, um diese sokratische Versucherstimme zu übertönen mit pamphletischen Schmähungen gegen Sokrates? Begnügen wir uns, diese Möglichkeit anzudeuten; denn die Gegnerschaft zu Sokrates zeigt sich schon lange vorher in so grellem Lichte, und wir begreifen auch ohne eine solche psychologische Erklärung, daß zu jener Zeit, als Nietzsche sich ungehemmt dem Affekte seiner Kampfeslust überließ, sein Zorn gegen jene Gesinnung, die sich für ihn in Sokrates typisch verkörperte, hell aufflammte. Wie alle Bildungsphilisterei Nietzsche gleichsam durch David Friedrich Strauß repräsentiert sah, wie er einfach Pascal sagt, wo er an die Entselbstung durch christliche Religiosität denkt, Schopenhauer und Wagner als Typen bekämpfte, so folgte er seinen griechischen Lehrmeistern, für die »das Abstrakteste immer wieder zu einer Person zusammen rinnt«, auch hier, wo er die verhängnisvolle Rangentwertung des Instinkts durch den Intellekt: Sokrates nennt.
Dem »Problem des Sokrates« schließen sich in der »Götzendämmerung« Betrachtungen über die »Vernunft[220] in der Philosophie« und die »Moral als Widernatur« und andere oft sarkastisch gefärbte Ausführungen an. Die Schrift, die trotzdem zu den kürzesten aber inhaltreichsten Schriften Nietzsches zählt, sollte ursprünglich den Titel »Müßiggang eines Psychologen« führen. Aber als Peter Gast dem Verfasser schrieb: »Eines Riesen Gang, bei dem die Berge in den Urgründen zittern, ist schon kein Müßiggang mehr« und ihn um einen prangenderen, glanzvolleren Titel bat, da entschied sich Nietzsche mit einem abermaligen Seitenblick auf Wagner für die Bezeichnung »Götzendämmerung, oder Wie man mit dem Hammer philosophiert«. Der ursprüngliche Titel dieser »philosophischen Heterodoxie« hätte gewiß weniger auffällig gewirkt, aber, wie mir scheint, die Zugehörigkeit der Schrift zu den ausgesprochen psychologischen Arbeiten Nietzsches dafür deutlicher bekundet.
Über den äußeren Lebenslauf Nietzsches seit der Vollendung des »Zarathustra« ist wenig zu berichten. Um seiner Vereinsamung entgegenzuwirken, schlug ihm Overbeck vor, wieder Lehrer zu werden, »ich meine nicht akademischer, sondern Lehrer (etwa des Deutschen) an einer höheren Schule«. Burckhardt hatte ihn schon vorher sehr eindringlich aufgefordert, Weltgeschichte ex professo zu dozieren und gewissermaßen sein Nachfolger in Basel zu werden. Nietzsche überlegte Overbecks Vorschlag ernstlich, beriet sich darüber auch mit Gast, kam aber zu dem Schluß, daß ihm selbst ein nützlicher und wirkungsvoller Lehrerberuf nur als Erleichterung des Lebens gelten dürfe; erst dann, wenn er seine Hauptaufgabe erfüllt habe, werde sich das gute Gewissen für eine solche Existenz einstellen. Auch sei das Klima Basels für ihn ganz unmöglich, da er reinen Himmel brauche, um nicht an seinem »gräßlichen Temperament« zugrunde zu gehen. Das Suchen nach einem heiteren Himmel – »meine Feinde, die Wolken« – bestimmte die Wahl der Aufenthaltsorte. Außer Sils-Maria erkannte er besonders, je[221] nach den Jahreszeiten vor allen, Nizza und Turin für sich geeignet.
Sein mühsam behauptetes seelisches Gleichgewicht erlitt während einiger Zeit schwere Einbuße durch Mißhelligkeiten mit seinen Angehörigen. Die Verlobung seiner Schwester mit dem Kolonisator Dr. Bernhard Förster, dessen antisemitische Gesinnung Nietzsche widerstrebte, gab die Veranlassung und ließ ihn in Briefen an Overbeck scharfe Urteile über die Schwester fällen. Dr. Rée und Lou Salomé erschienen ihm in solchen Stunden in günstigerem Lichte als zuvor. Aber bald kam er betreff Salomé wieder zu der Erkenntnis: »Dieser Art Mensch, der die Ehrfurcht fehlt, muß man aus dem Wege gehen.« Seine fortgesetzt noch zunehmende Vereinsamung bedrückte ihn schwer. »Wagner war bei weitem der vollste Mensch, den ich kennen lernte, und in diesem Sinne habe ich seit sechs Jahren eine große Entbehrung gelitten,« klagte er Overbeck. Es fehle ihm so sehr ein Mensch, mit dem er über die Zukunft der Menschheit nachdenken könne. »Ich bin durch die lange Entbehrung von zu mir gehöriger Gesellschaft inwendig ganz krank und wund. Nichts kommt mir zu Hilfe, niemand denkt sich etwas aus, das mich erheitern und erheben könnte …« und »Es sollte jemanden geben, der für mich, wie man sagt, lebte.«
Die absprechenden Urteile über die Schwester wurden Overbeck gegenüber aufgehoben durch warme Worte der Anerkennung ihres Wertes nach einer geschwisterlichen Zusammenkunft in Zürich. Er war beglückt, die alte ungeschmälerte Herzlichkeit wieder zu finden. Um so schmerzlicher empfand er die örtliche Trennung durch ihre Übersiedlung mit ihrem Gatten nach Paraguay. Immer wieder in seinen Briefen dahin beklagt er diese Trennung. »Erst seit Du so weit davon gelaufen, fühle ich, wieviel Du mir gewesen bist. Du warst meine Erholung, die Brücke zu den andern.«
Vorübergehend schien ein Deutsch-Italiener Paul Lanzky zum Adepten berufen; aber auch bei ihm, wie zuvor bei Dr. Paneth und Albert Conradi, wollte Nietzsche nicht, daß er über ihn schreibe, in der Befürchtung, daß auch er nicht in der Lage sei, das Wesentliche seiner Lehre zu erfassen. Wohl erhielt er im Jahre 1886, wie mir sein Hauswirt Durich erzählte, in Sils-Maria die Besuche verschiedener Gelehrter, lebte aber, von solchen gelegentlichen Unterbrechungen abgesehen, durchaus einsam. Einsam bedeutete vor allem unverstanden, war er sich doch darüber vollständig klar, daß wer immer das Wachstum der Kultur erwartete von dem, »was Verbesserung des Menschen oder geradezu Vermenschlichung genannt wird«, nicht sein Ziel der Vergrößerung des Typus Mensch verstehen könne. Einzig bei Burckhardt und Hippolyte Taine glaubte er eine Verständnismöglichkeit voraussetzen zu dürfen. Sowohl Burckhardt als Nietzsche schätzten Taine sehr hoch ein. Nietzsche hatte ihm als »dem ersten zeitgenössischen Historiker« sein bedeutsames Werk »Jenseits von Gut und Böse« zugeschickt und eine Antwort erhalten, die von einer sehr aufmerksamen Lektüre des Werkes Zeugnis ablegte. Er begegnete bei ihm der Richtung vom Individuellen aufs Typische, verbunden mit einer Vorliebe für die starken expressiven Typen, und zwar für die Genießenden mehr als für die Puritaner. Anders stand Erwin Rohde zu Taine, der ihm allzusehr darauf gerichtet schien, den Charakter großer Männer aus der Rasse, dem Milieu und der Zeit zu erklären. Nach zehnjähriger Trennung hatte Nietzsche seinen alten »Waffenbruder« in Leipzig aufgesucht, der sich dort durchaus nicht am Platze fühlte, so daß seine nervöse Gereiztheit den mittlerweile eingetretenen Abstand ihrer Überzeugungen besonders scharf hervortreten ließ. Beide waren enttäuscht. Und als Nietzsche einige Zeit später einen Brief Rohdes erhielt, der ein offenbar übertrieben[223] abfälliges Urteil über Taine enthielt, verteidigte er diesen in einer Rohde verletzenden Weise. Wohl versuchten beide durch nachfolgende Briefe einen Ausgleich herbeizuführen, aber der Abbruch ihrer ehedem so schönen herzlichen Freundschaft vollzog sich trotzdem. So ging ihm auch Rohde verloren.
Das entschiedene Eintreten von Georg Brandes in Kopenhagen für seine Philosophie und deren aristokratischen Radikalismus, die briefliche Wiederanknüpfung mit seinem Freunde von Gersdorff, dazu ein Besuch Deussens, dessen Schriften über indische Religion er hoch und dankbar einschätzte, brachten Lichtpunkte in das umdüsterte Dasein Nietzsches, aber sie vermochten es nur vorübergehend zu erhellen. Die unmittelbare Wirkung von Mensch zu Mensch fehlte ihm. Nur die Erwerbung von Jüngern konnte sie bringen.
Ohne Zweifel verfolgte Nietzsche mit seinem Pamphlet gegen Wagner auch diesen persönlich gerichteten Zweck. Es sollte Männern, die er, wie ehedem Heinrich von Stein, berufen erachtete, ihm anzugehören, durch Überwindung der Ehrfurcht vor Wagner die Augen öffnen für die Unvereinbarkeit ihrer Ziele. »Der alte Verführer nimmt mir, auch nach seinem Tode noch, den Rest von Menschen weg, auf die ich wirken könnte,« ist in einem Brief an Malwida von Meysenbug zu lesen. Daß ein Mann wie Graf Gobineau sich Wagner anschloß, obwohl seine Stellung zum Christentum und zur Renaissance ihn viel eher als geistesverwandt mit Nietzsche erscheinen ließ, erklärt sich uns daraus, daß eben Wagner auch auf dem Gebiete der Kultur bereits als Autorität dastand, Nietzsches Bedeutung aber noch unerkannt war. Auch wissen wir durch Ausführungen von Frau Wagner, daß man in Bayreuth von freier hoher Warte aus Gobineaus antichristliche Gesinnung recht wohl gelten ließ und zu würdigen wußte.
Daß Nietzsche in der Tat voll überzeugt war, sein[224] »Fall Wagner« sei so »maßvoll, so heiter wie möglich« geschrieben, beweist uns der Umstand, daß er sogar an Malwida von Meysenbug, trotz ihrer warmen Begeisterung für Wagner, eine Anzahl Exemplare zur Verteilung schickte, womit er aber nur erreichte, daß auch die Freundschaft mit der »Idealistin«, die ihn mütterlich liebte, aber niemals in die Tiefen seiner Philosophie einzudringen vermochte, in die Brüche ging. Daß auch Malwida von Meysenbug später, aus zeitlicher Ferne gesehen, die Notwendigkeit der Trennung der beiden großen Geister erkannte, bewies mir ein Brief vom 22. Februar 1897. Ich hatte ihr meinen in der Vorrede erwähnten Aufsatz über »Wagner und Nietzsche« geschickt. Sie antwortete: »Ich habe mich sehr darüber gefreut, weil er so gerecht ist und gewiß die Sache im ganzen vollkommen richtig erklärt. Daß trotz der inneren Verschiedenheit die Trennung weniger gewaltsam und in edlerer Form hätte vollzogen werden können, das wäre für alle, die den beiden nahestanden, eine Wohltat gewesen, so wie der gewesene Verlauf ein ewiger Schmerz sein wird.«
Die Aufnahme, die der »Fall Wagner« bei Freunden und Gegnern fand, bewies Nietzsche, daß man das Pamphlet als das Zeugnis eines plötzlichen Gesinnungswechsels ansah und nicht als das Schlußwort über die Gegensätzlichkeit ihrer Ziele, die sich langsam entwickelt und andauernd verschärft hatte. Der Beweis hierfür war nur aus früheren Bemerkungen über Wagner in Nietzsches Schriften zu führen. Der einsame Kämpfer ersuchte Karl Spitteler, den griechisch fühlenden Dichter, eine solche Zusammenstellung herauszugeben. Aber Spitteler lehnte ab. So unternahm es Nietzsche selbst – war er doch immer wieder nur auf sich selbst angewiesen – durch eine solche Zusammenstellung in der Schrift »Nietzsche contra Wagner, Aktenstücke eines Psychologen« den Beweis zu liefern, daß Wagner und er seit langem Antipoden seien. Treffend gelangt[225] der Zweck der kleinen Schrift in einem Briefe Nietzsches an seinen Verleger Naumann zum Ausdruck: »Nachdem ich im ›Fall Wagner‹ eine kleine Posse geschrieben habe, kommt hier der Ernst zu Wort: denn wir – Wagner und ich – haben im Grunde eine Tragödie miteinander erlebt.« Eine Tragödie! Erweisen wir uns fähig, das Verhältnis der gegnerischen Freunde zueinander als solche zu schauen!
Hüte sich, wer feindlich zu Wagner steht, vor hämischer Schadenfreude, aber bewahre sich auch, wer dem Meister von Bayreuth ergeben ist, durch allzu menschliche Auslegung der Angriffe Nietzsches die überragende kulturelle Bedeutung dieses heroischen Kampfes zu verkennen! Als schwerleidender Mensch ist Nietzsche in diesem Kriege seinen Wunden erlegen. Ob er als Philosoph Sieger blieb, oder ob es, wie sein Aphorismus »Sternenfreundschaft« so wunderbar besagt, eine unsichtbare Kurve und Sternenbahn gibt, in der ihre so verschiedenen Straßen und Ziele als kleine Wegstrecken einbegriffen sein mögen: das kann erst eine ferne Zeit offenbaren. An uns ist es nur, das radikale Antipodenverhältnis der beiden großen Erdenfeinde und Sternenfreunde durch Einlebung in die Tragödie zu begreifen und die Notwendigkeit ihrer Trennung und Bekämpfung als schicksalhaft zu verstehen.
Wo wir bis jetzt vom »Ecce homo« sprachen, da nannten wir es eine autobiographische Skizze. Aber diese Bezeichnung schält nicht den Kern der Schrift heraus. »Das ist eher eine Psychographie als Biographie zu nennen«, schreibt Dr. Richard Oehler in dem Vorwort, das die Veröffentlichung in der Taschenausgabe einleitet. Auch der Herausgeber von »Ecce homo« in der großen Ausgabe von Nietzsches Werken, Dr. Otto Weiß, erkennt das Werk ganz richtig als psychologische Selbstanalyse; denn »Leben und Lehre, Denken und Schaffen vereinigen sich bei ihm fast zur Identität«.
Nietzsche hat es an seinem vierundvierzigsten Geburtstag, also am 15. Oktober 1888, in Turin begonnen und innerhalb drei Wochen abgeschlossen. Er war sich bewußt, eine extrem schwere Aufgabe in dieser kurzen Zeit gelöst zu haben, nämlich sich selber, seine Bücher, seine Ansichten und bruchstückweise, soweit es dazu erforderlich war, sein Leben zu erzählen. Entgegen seiner ursprünglichen Absicht bestimmte er es mit dem Mut zum Äußersten für die Öffentlichkeit; es sollte über ihn »ein wenig Licht und Schrecken« verbreiten, ein »Erstaunen ohnegleichen« hervorrufen und als vorbereitende Schrift, als »feuerspeiende Vorrede« für sein kommendes Werk die »Umwertung aller Werte« eine wirkliche Spannung schaffen, damit dieses nicht wie der »Zarathustra« unbeachtet bleibe.
Auch diese Psychographie Nietzsches wurde wie die zunächst vorangegangenen Schriften im Zustande der Euphorie geschrieben. Er fühlte sich auf das Allerglücklichste inspiriert »dank einem unvergleichlichen Wohlbefinden,[227] das einzig in meinem Leben dasteht«. Er war sich des Überschwanges, der seine Darstellung erfüllt, voll bewußt, wie uns seine Briefe an Fräulein von Salis-Marschlins, Peter Gast und Georg Brandes bezeugen. Er fand, daß diese Schrift mit einem welthistorisch werdenden Zynismus in einer den Meistersingern abhanden gekommenen Tonweise gesetzt sei: »die Weise der Weltregierenden«.
Das schmerzlich erkannte Mißverhältnis zwischen der Größe seiner Aufgabe und der Kleinheit seiner Zeitgenossen läßt ihn im Vorwort ausrufen: »Hört mich! denn ich bin der und der. Verwechselt mich vor allem nicht!« Er will erkannt werden als eine Gegensatznatur zu der Art Mensch, die man bisher als tugendhaft verehrt hat, als Gegensatz aller Moralisten, für die Idealismus nicht die Verdichtung und Betonung des Wesenhaften der Realität bedeutet, sondern als Fluch auf die Wirklichkeit den Glauben an eine erlogene Welt. Das ist es, was ihn von der Romantik, so vielfach seine Gefühlslehre sich auch mit ihr berühren mag, grundsätzlich unterscheidet. Wenn man diesen starken, vollbewußten Willen Nietzsches versteht, sich als Gegentypus des moralistischen Idealisten zu zeichnen, dann verfällt man kaum der Versuchung, von »Größenwahn« zu sprechen, obwohl er die stärksten Worte gebraucht, um sich und den Wert seiner Werke zu veranschaulichen. Absichtlich wählt er Überschriften wie »Warum ich so weise bin«, »Warum ich so klug bin«, »Warum ich so gute Bücher schreibe« und »Warum ich ein Schicksal bin«. Sie sollen dem Leser den Flug auf eine Höhe der Betrachtung ermöglichen, wo Nietzsche frei von jeder Bescheidenheits-Koketterie in höchsten Tönen von sich nicht etwa als Privatperson – »ich bediene mich der Person nur wie eines starken Vergrößerungsglases« –, sondern als »der Jünger des Philosophen Dionysos« spricht.
Es galt ihm, das Schicksalhafte seiner Erscheinung[228] zu betonen. Diese Absicht kommt in vielen Einzelzügen dem psychologisch begabten Leser zum Bewußtsein. Nietzsche will in »Ecce homo« symbolisch verstanden werden. Und zwar in dem Sinne, in dem Goethe an Karl Ernst Schubarth schrieb: »Alles was geschieht, ist Symbol, und indem es vollkommen sich selbst darstellt, deutet es auf das übrige.«
Die große Wichtigkeit, die er seiner Abstammung beimißt, die Betonung seiner Konstitution, die einen steten Wechsel von Krankheit und Genesung verursache, vor allem aber die Sinnverknüpfungen mit dem Zufall zeigen uns, wie sehr es ihm auf Darlegungen verborgener Zusammenhänge ankam. Wenn er dem Umstande, daß die Verheiratung seiner Großmutter an dem Tage stattfand, an dem Napoleon in Eilenburg einzog, und dem Datum seiner Geburt am Geburtstag Friedrich Wilhelms des Vierten besondere Bedeutung beimißt, wenn er von der Art, wie seine Aufmerksamkeit auf Schopenhauer gelenkt wurde, sagt: »So etwas Zufall zu nennen, wäre Sünde wider den heiligen Geist Schopenhauers«, wenn er als vorbedeutungsvoll auffaßt, daß ihm bei seinem ersten Besuch in Tribschen die Akkorde aus dem »Siegfried« entgegenklangen: »Verwundet hat mich, der mich erweckt«, wenn er wiederholt darauf hinweist, daß er den ersten »Zarathustra« in der heiligen Stunde vollendet habe, in der Richard Wagner in Venedig starb, oder die historischen Bewandtnisse seiner Aufenthaltsorte zu sich in Beziehung setzt, die Stätten ehrfurchtsvoll kennzeichnet, an denen ihm entscheidende Ideen seiner Werke aufstiegen und so verschiedene Fäden jeder Art zu einem Netz verknüpft: so haben wir in alledem nicht Aberglauben noch Phantasterei zu sehen, sondern das In-eins-Dichten von dem, »was Bruchstück ist und Rätsel und grauser Zufall«.
Will man diese Einbeziehung des Zufalls in eine verborgene Kausalität, diese Symbolisierung durch freie[229] Interpretation Mystik nennen, so ist es jedenfalls nicht Mystik im Sinne »augenschließenden Anschauens« gemäß der griechischen Herkunft des Wortes, sondern hellsichtiges Überbewußtsein seiner von ihm erkannten Einzigkeit und seiner als Fatum empfundenen Mission, eine Entscheidung von unermeßbarer Fernwirkung heraufzubeschwören. »Niemand wußte vor mir den rechten Weg, den Weg aufwärts: erst von mir an gibt es wieder Hoffnungen, Aufgaben, vorzuschreitende Wege der Kultur – ich bin deren froher Botschafter … Eben dadurch bin ich auch ein Schicksal.«
Einer solchen Sprache begegnen wir nur bei Religionsstiftern. Und doch war Nietzsche das Gegenteil eines solchen, so sehr auch hier nach dem Gesetz der Polarität die Extreme sich berühren. Wohl sind auch die Religionen wesentlich die Schöpfungen einzelner Menschen, sie können nicht allmählich entstanden sein, sonst besäßen sie nicht den siegreichen Glanz ihrer Blütezeit, aber die Voraussetzungen für ihre Entstehung waren metaphysische Bedürfnisse und Veranlagung zur Kontemplation. Sie verlangten, wie Burckhardt so richtig erkannte, einen Zustand von Exaltation bei der Geburt, so daß wir uns heute von der völligen Kritiklosigkeit solcher Zeiten und Menschen keinen Begriff mehr machen können.
Wo wäre von alledem etwas bei Nietzsche zu erkennen, wo zeigten sich Massen, die er zu berauschen strebte, wo fand er, von Peter Gast abgesehen, zu Lebzeiten seine Jünger? Aber freilich eines hatte er mit den großen Religionsstiftern gemeinsam: »das Königsrecht des Bestimmten gegenüber dem Dumpfen, Unsicheren und Anarchischen«. (Burckhardt.) Das Bewußtsein dieses Königsrechtes gestattete ihm nicht nur in seiner Auto-Psychographie die Tonweise des Weltregierenden erklingen zu lassen, sondern auch durch den Titel »Ecce homo« ein Gegenbild zu der von Paulus erschauten Christuserscheinung aufzurichten, sein Gegenbild.
Wird die Zukunft die Selbsteinschätzung Nietzsches bestätigen? Wenn wir uns Rechenschaft geben über die Umstellung der Perspektiven, die dank seinem Einflusse in den letzten zwanzig Jahren erfolgte, und uns eingestehen, daß der Nihilismus – das Wort immer wieder in weitestem Sinne genommen – einer mächtigen Gegenwirkung bedarf, wenn wir nicht den Zusammenbruch aller Kultur erleben sollen, so werden wir diese Möglichkeit wohl zugeben und erhoffen. Ob seine Wertlehre, wie Nietzsche vermeinte, sich krisenhaft durchsetzen wird, oder ob sie sich nur allmählich zum Zentrum unserer Gedankenwelt verdichtet, bleibt eine Frage von untergeordneter Bedeutung.
Nietzsche bekannte sich als Dekadent, aber er durfte sagen, daß er zugleich auch dessen Gegensatz sei. Aus Heilinstinkt die Gegenmittel zu finden gegen jede Gefahr persönlicher und kultureller Entartung galt ihm hierfür als sicherstes Kennzeichen. Er hat das Ideal der Wohlgeratenheit uns neu vor Augen gestellt. Die Freiheit vom Ressentiment ist ihr vornehmstes Kennzeichen. Um sie zu bewahren, gilt es zuweilen aus hygienischen Gründen, überhaupt nicht mehr zu reagieren und sich dem Winterschlaf des Fatalismus vorübergehend zu überlassen, bis jede Erschöpfung überwunden und mit der Genesung das Leben wieder reich und stolz geworden ist. Aber auch das aggressive Pathos – in diesem Sinne schaute Nietzsche, kriegerisch gesinnt, immer wieder nach ebenbürtigen Gegnern aus – ist erforderlich, damit wir nicht unterbewußter Rachsucht anheimfallen. Nur so behütet man sich vor Gewissensbissen. Zur Wohlgeratenheit gehört ferner ein gesundes Körpergefühl. Damit gewinnt eine Frage Bedeutung, die bisher keine Philosophen beschäftigte, weil sie die Realität aus den Augen verloren: die Frage der zweckmäßigen Ernährung – »alle Vorurteile kommen aus den Eingeweiden« – und im Anschluß hieran die individuell zu treffende Entscheidung[231] über Ort und Klima, sowie die persönlich bestimmte Art der Erholung.
Für den schöpferischen Menschen kommt zu diesen Diätvorschriften des Leibes und der Seele im Zeitalter des Intellektualismus noch eine andere Mahnung hinzu, nämlich die Forderung, sich die ganze Oberfläche des Bewußtseins rein zu erhalten von großen Imperativen, wie sie der Idealismus zeitigt. Nicht die Weisheit des »Erkenne dich selbst«, sondern die Kunst des »Sich-Vergessens« behütet uns vor der Gefahr, zuletzt nur noch auf äußere Anlässe hin denkend zu reagieren und dabei die Kräfte in der Kritik auszugeben. Der künstlerische Instinkt, lehrt uns Nietzsche, darf sich nicht verstehen, damit die organisierende Idee in der Tiefe zu wachsen vermag. Es gilt, nichts zu vermischen, nichts vor der Zeit zu versöhnen, damit die Vielheit im Unbewußtsein, die trotzdem das Gegenteil des Chaos ist, sich zum Werke verdichtet. Was hier vom Werke gesagt ist, gilt auch vom Leben selbst, vom schöpferischen Leben in seiner schicksalhaften Bedeutung.
Die Liebe und Hingebung an das eigene Schicksal, dieses Motiv des Amor fati, das Nietzsches Lebenssymphonie beherrschte, bestimmte sein Wachstum. »Meine Formel für die Größe am Menschen ist amor fati: daß man nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Notwendige nicht bloß ertragen, noch weniger verhehlen – aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Notwendigen –, sondern es lieben …«
Hier ergibt sich in der Tat eine hellenische Wiedergeburt. Die tragischen Mächte: Dike, Ananke, Moira, als Gerechtigkeit, Notwendigkeit, Schicksalsfügung das All beherrschend, wurden in einem Atem durch dieses Amor fati anerkannt ohne mythologische Vorstellung. Alles was dem modernen Menschen und seiner Sehnsucht als jenseitig gilt, ist in das Diesseits wieder einbezogen.[232] Hier ist, was den christlichen Völkern Gott heißt, in das Selbst des Menschen aufgenommen, das Irdische vom Göttlichen durchdrungen und damit der Dualismus Gott und Welt überwunden, die Weltheiligung, die Goethe im Wilhelm Meister anstrebte, durch restlose Bejahung der Wirklichkeit erreicht. Am deutlichsten zeigt sich uns dies bei Nietzsches Beurteilung der Sinnlichkeit. »Jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff ›unrein‹ ist das Verbrechen selbst am Leben, ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens.« So spricht nur das Genie des Herzens, das zu seiner Beglückung keines Glaubens an eine jenseitige Macht bedarf, sondern reicher an sich selbst wird, je vertrauensvoller und selbstherrlicher es sich betätigt.
Als Psychograph prüfte Nietzsche seine Werke, mit der »Geburt der Tragödie« beginnend, und zeigt uns ihren inneren notwendigen Zusammenhang. Interpretationen eigener Werke sind durchaus nicht immer in Kunst und Philosophie zuverlässig. Was unbewußt geschaffen wurde, erfährt darin eine nachträgliche Auslegung durch das Bewußtsein, die nur durch Abstraktion sich ermöglicht. Richard Wagners »Mitteilung an seine Freunde« deutet zum Beispiel den Sinn des »Tannhäuser«, des »Lohengrin« usw. auf Grund nachträglich erworbener philosophischer und psychologischer Ansichten und ist von Willkür ebensowenig frei als irgendeine fremde Deutung. Ganz anders bei Nietzsche. Nicht literarisch, noch philologisch betrachtet er seine Werke, sondern einzig als Psychologe seiner selbst, durch Deutung seines Wachstums, seiner Entwicklung unter voller Erkenntnis der Hemmungen und aufgenötigten Umwege. So subjektiv sein Entzücken am eigenen Werk den nüchternen Leser anmuten mag, so unpersönlich wirken seine Worte, sobald man begreift, daß Nietzsche sich selbst dabei nur als den frohen Botschafter fühlte, durch den[233] eine neue Heilslehre, eine Heilslehre des wirklichen Lebens sich offenbaren will.
Wenn Nietzsche harte Worte gegen die Deutschen schleudert und zum Beweise ihrer Berechtigung den Umstand anführt, wie wenig man ihn bisher in Europas »Flachland« verstanden habe, als er seine Leser schon anderwärts überall fand, was anders will er damit sagen, als: erkennt, wie fern ihr noch der Erfassung oder gar der Erfüllung der Aufgabe seid, die durch mich euch gestellt wurde. Solche Worte spricht man nicht, wo man an der Möglichkeit eines entscheidenden Verständnisses verzweifelt, sondern dort, wo man als Erzieher die Scham über die bisherige Versäumnis und die Selbsterkenntnis erwecken will, in der Überzeugung, zu solchen zu sprechen, die vom Schicksal berufen sind, an sich die Umwandlung aller Werte zu erfahren und »eine wirkliche Wiederkehr des deutschen Ernstes und der deutschen Leidenschaft in geistigen Dingen« zu erleben. Darum gilt, was Nietzsche vom »Zarathustra« sagt, erst recht von »Ecce homo«: »Aus dieser Schrift spricht eine ungeheuere Hoffnung«.
Das schnellste Tier, das euch trägt zur Vollkommenheit, ist Leiden.
Meister Eckardt.
Über die Krankheitserscheinungen bei Nietzsche sind wir durch seine Briefe – das Nietzsche-Archiv enthält deren gegen 1500 – sowie durch die Darstellungen seiner Schwester unterrichtet. Er war in seiner Jugend durchaus gesund. Nur seine Kurzsichtigkeit darf uns für diese Zeit als Erbübel gelten. Die Erkrankung, die er sich beim Heimtransport Verwundeter von den französischen Schlachtfeldern zuzog: Brechruhr und Rachendiphtheritis, erklärt sich als Ansteckung. Sie wurde durch Anwendung starker Mittel überwunden; aber er war nicht vollständig genesen, als er seine Vorlesungen in Basel wieder aufnahm. Nach der Überzeugung seiner Schwester griffen die scharfen Arzneimittel seinen Magen an und legten den Grund zu heftiger Migräne, die ihn nie mehr ganz verließ.
Ein Briefbekenntnis: »Unsereins leidet nie rein körperlich, sondern alles ist mit geistigen Krisen tief durchwachsen, so daß ich gar keinen Begriff habe, wie ich je aus Apotheken und Küchen allein wieder gesund werden könnte« und die erkannte Notwendigkeit, »eine gewisse Härte der Haut wegen der großen innerlichen Verwundbarkeit und Leidensfähigkeit zu bekommen«, weisen uns darauf hin, daß er damals bereits von beiden Seiten ins Feuer kam. Rohde gegenüber klagt er schon 1871 über Schlaflosigkeit: »immer noch verbringe ich von zwei Nächten die eine schlaflos«, und drei Jahre später, in einem Briefe an die Mutter: »die Schwäche des Magens nimmt zu sehr überhand«.
Als er in Steinabad im Schwarzwald sich zur Kur aufhielt, stellte Dr. J. Wiel, darin mit Prof. H. Immermann in Basel übereinstimmend, die Diagnose auf[235] nervöse Affektion des Magens. Unter den vier Ärzten, die ihn 1878 und 1879 untersuchten, behaupteten zwei, daß ein Kopfleiden die Ursache seiner Schmerzen sei, während die beiden andern, darunter Prof. Graefe in Halle, der Überanstrengung der Augen die Schuld gaben. Später behandelte ihn Dr. Otto Eiser aus Frankfurt am Main mit günstigem Erfolg, so daß er sich vorübergehend als Genesener oder mindestens als Genesender bezeichnen durfte. Aber immer wieder traten nach kürzeren oder längeren Pausen Gehirnschmerz samt mühseligem Erbrechen auf. Bald hören wir Nietzsche selbst, so in einem Briefe an die Mutter vom Juli 1881, die Diagnose auf ein schwer zu beurteilendes Hirnleiden stellen. Als Deussen ihn im Sommer 1887 in Sils-Maria besuchte, gestand er dem vertrauten Freunde: »Ich glaube, daß es nicht mehr lange mit mir dauern wird; ich bin jetzt in den Jahren, in welchen mein Vater starb, und ich fühle, daß ich dem selben Leiden erliegen werde, wie er.«
Wenn wir in einem Briefe an die Schwester vom Jahre 1886 lesen: »Schaff mir einen kleinen Kreis Menschen, die mich hören und verstehen wollen und ich bin – gesund« und wiederholt ähnlichen Bemerkungen begegnen, so tritt freilich auch an uns die Versuchung heran, in seiner trostlosen Abgegrenztheit von den Menschen seiner Zeit eine immer neu sich wieder geltend machende Ursache seines schweren Leidenszustandes zu suchen. Aber jeder Psychologe belehrt uns, daß nicht die äußeren Umstände an sich entscheiden, sondern die Einstellung zu ihnen.
In den ersten Tagen des Jahres 1889 schickte Nietzsche meist mit »Dionysos« oder mit »der Gekreuzigte« unterschriebene Briefe und Zettel an verschiedene Freunde und Bekannte ab, die diesen den Ausbruch seiner geistigen Erkrankung bekundeten. Hierdurch wurde Franz Overbeck veranlaßt, ihn dringend zu sich einzuladen,[236] um dann, als ihn ein Basler Irrenarzt auf die Gefahr verwies, die mit dieser Aufforderung heraufbeschworen wurde, eiligst selbst nach Turin zu reisen. Dort erfuhr er, daß Nietzsche infolge eines Schlaganfalles auf der Straße zusammengebrochen war. Seitdem traten Wahnvorstellungen zutage. Overbeck gelang es, ihn nach Basel zu verbringen, von wo er in Begleitung seiner herbeigerufenen Mutter, eines Arztes und eines Krankenwärters die Reise nach Jena in die Irrenanstalt des Professor Binswanger antrat. Die Ärzte erklärten die Krankheit als unheilbar, während die Mutter, wie leicht begreiflich, aus jeder vorübergehenden Besserung, Hoffnung auf Genesung schöpfte.
Sein Gedächtnis erwies sich in der ersten Zeit für alle Geschehnisse vor dem Zusammenbruch in Turin als gut. Auf absichtlich, als eine Art Gedächtnisübung gestellte Fragen, zum Beispiel nach Epikur, Aristoteles usw. antwortete er mit geistreichen Ausführungen, während ihn das Gegenwärtige wenig interessierte. »Auch sein Klavierspiel«, berichtete die Mutter an Overbeck, »hat etwas so Sinniges, so daß man merkt, er denkt dabei.« Er war glücklich, wenn sie ihm vorlas, und ließ sich in der Regel vermöge seiner angeborenen Güte und Freundlichkeit leicht lenken.
Ende des Jahres 1890 kehrte seine Schwester nach dem Tode ihres Gatten aus Paraguay zurück. Der Kranke durfte die Anstalt in Jena verlassen und nach Naumburg übersiedeln, wo die Mutter in den ersten Jahren des öfteren größere Spaziergänge mit ihm unternahm. Seit 1894 verschlimmerte sich sein Zustand. Nach dem Ostern 1897 erfolgten Tode der Mutter bezog die Schwester mit ihm in Weimar das auf dem Silberblick gelegene Haus – das heutige Nietzsche-Archiv –, von dessen Veranda er einen schönen Blick auf die Stadt und die Berge genoß. In den Jahren 1898 und 1899 erfolgten neue Schlaganfälle. In ein langes Gewand von[237] dickem, weißem Stoff gekleidet, ruhte er meist auf dem Diwan und empfing zuweilen noch Besuche, immer von der Schwester auf das liebevollste behütet. Am 25. August des neuen Jahrhunderts starb der Seher, der einer vergangenen Zeit das Grablied gesungen und die Morgenröte einer neuen Kultur ankündigte.
Es drängt sich die Frage nach ererbter oder erworbener organischer Erkrankung in den Vordergrund. Bekanntlich glaubte der Psychiater P. J. Möbius die Hypothese aufstellen zu dürfen, daß eine frühere Luës der Grund der späteren paralytischen Erkrankung Nietzsches gewesen sei. Für den Psychiater die zunächst liegende Hypothese, aber den Beweis für seine Behauptung ist uns Möbius durchaus schuldig geblieben. Als Gegenbeweis ließe sich wohl anführen, daß die Ärzte, die Nietzsche frühzeitig zu Rate zog, doch wohl auch diesbezügliche Fragen an ihn gestellt haben dürften, und daß er, wenn er sie hätte bejahen müssen, wahrlich nicht dazu gekommen wäre, mit jener souveränen Unbefangenheit, fernab von der Berührung jeder derartigen Mutmaßung, über seine Krankheit in seinen Schriften und Briefen, sowie in seinen Gesprächen – ich erinnere an die Unterredung mit Deussen – sich zu äußern und unter die Erklärungsmöglichkeiten Hinweise aufzunehmen, die eventuell Veranlassung bieten, die Frage nach der Vererbung zu stellen.
Sein Vater ist bekanntlich ebenfalls an einem Gehirnleiden gestorben; aber da kein Anhalt sich bietet, der uns annehmen läßt, daß die Gehirnerschütterung, die er bei einem Sturz erlitt, es nur ausgelöst habe, ist es ausgeschlossen, seine Todesart zur Beweisführung heranzuziehen, und wir sind einzig auf die ganz allgemein gehaltenen Bemerkungen Nietzsches angewiesen, die zu einem endgültigen Urteil keinenfalls ausreichen.
Frau Förster-Nietzsche schreibt, ihren Bruder betreffend: »Die Ärzte nannten seine Krankheit ›eine atypische[238] Form der Paralyse‹, d. h. eine Paralyse die durchaus nicht die Kennzeichen dieser Krankheit trug – also nicht Paralyse war« und führt den Schlaganfall in Turin auf den fortgesetzten Gebrauch von Chloral und eines andern Schlafmittels zurück. Das ist jedenfalls nicht unbedingt von der Hand zu weisen; denn selbst Möbius gesteht zu, auch der Chloralismus Nietzsches könne die beobachteten Wirkungen hervorgebracht haben.
Am kläglichsten nehmen sich jedenfalls die psychiatrisch-philosophischen Untersuchungen aus, die nach der Art von Max Nordau und Hermann Türk aus Nietzsches Werken den Beweis frühzeitiger geistiger Erkrankung zu führen versuchen. Dem einen gilt dies, dem andern gilt das, je nachdem wo gerade sein Widerspruch einsetzt, als Beweis, der jedoch vor jedem einsichtigen Urteil in nichts zerfällt. Bei Wilhelm Schacht zum Beispiel lesen wir: »Wenn Nietzsche sagt: ›ein Gedanke kommt, wenn er will, nicht wenn ich will‹, so drückt sich darin schon das Gefühl aus, welches er seiner eigenen, frei und unabhängig mit ihm spielenden Phantasie gegenüber empfand, die er nicht mehr bändigen konnte, die schon Macht über ihn gewonnen hatte.« Welcher Dichter, welcher Denker ist, auf diese Weise geschaut, nicht irrsinnig zu nennen? Eben das zeichnet ja das geniale Wesen aus, daß es nichts bewußt erklügelt, sondern daß dank der unterbewußt waltenden Kräfte der Einfall dann ans Licht tritt, wenn er will. »Einfälle sind Eingebungen des Genies«, schreibt Kant.
Auch wenn wir Paralyse bei Nietzsche annehmen, ergibt sich durchaus nicht, daß sein geistiges Schaffen vor dem Zusammenbruch eine Hemmung erfuhr, viel eher sogar, daß ihm dadurch eine Steigerung zuteil wurde. Als ich durch persönlichen Verkehr mit einem anderen Genie, nämlich Hugo Wolf, der ebenfalls in Wahnsinn fiel, zu der Vermutung kam, daß die außerordentliche Steigerung seiner Produktivität gerade[239] aus seiner krankhaften Veranlagung und deren Entwicklung zu erklären sei, ging ich auf Veranlassung einer Freundin des Komponisten dieser Vermutung nach. Die von mir befragten Ärzte konnten keine bestimmte Antwort über die Möglichkeit erteilen, um so bedeutsamer erschienen mir unter diesen Umständen Ausführungen von Dr. Möbius, die meine laienhafte Ansicht vollauf bestätigten. Ich zitiere diese Ausführungen wörtlich: »Ja, es könnte einer die Meinung aufstellen, unter Umständen würden durch eine Gehirnkrankheit die Geisteskräfte gesteigert. Es sei denkbar, daß das krankhafte Feuer Leistungen hervorbringe, die ohnedem unmöglich wären, und ein solcher Fall liege in Nietzsches ›Zarathustra‹ vor.« Möbius führt zur Unterstützung dieser Meinung an, was V. Parant über Zunahme der geistigen Fähigkeiten im Beginn der progressiven Paralyse geschrieben hat, und bleibt, trotzdem die Literatur ähnliche Mitteilungen sonst nicht aufweise und befragte Fachgenossen nichts davon wissen wollten, bei der Überzeugung: »Immerhin wäre eine Steigerung der Leistungen durch die Paralyse nicht ganz undenkbar.« Er stützte sich dabei auf die Erkenntnis, die Paralyse sei eine durchaus lokalisierte Erkrankung, die sich ihre Stellen aussuche, und folgerte: »Nimmt man an, es seien im Anfange durch Erkrankung bestimmter Fasern nur die Hemmungen ausgeschaltet, deren Wegfall Fehlen des Ermüdungsgefühles und Euphorie ergibt, so ist zunächst eine gesteigerte Leistung der arbeitenden Teile zu erwarten. Manche werden auch daran denken, daß durch die von den kranken Stellen ausgehende Reizung der Blutzufluß im ganzen gesteigert werde und daß die Hyperämie die Mehrarbeit begünstige.«
Damit sei durchaus nicht gesagt, daß wir uns das geistige Schaffen Nietzsches nur aus der Einwirkung einer Paralyse zu erklären vermöchten, statt aus der bloßen Tatsache der genialen Veranlagung. Die Oberflächlichkeit[240] von einseitig gebildeten Psychiatern, wie sie der Typus Lombroso repräsentiert, hat die Frage nach der Verwandtschaft von Genie und Wahnsinn verwirrt. In der »Fröhlichen Wissenschaft« vergleicht Nietzsche Europa einem Kranken, welcher der ewigen Verwandlung seines Leidens den höchsten Dank schuldig sei; Gefahren, Schmerzen »haben zuletzt eine intellektuale Reizbarkeit erzeugt, welche beinahe so viel als Genie, und jedenfalls die Mutter alles Genies ist«.
Dem Genie begegnen wir nur dort, wo die nüchterne Verstandestätigkeit die Vorherrschaft verloren hat, wo die unmittelbare schöpferische Tätigkeit nicht durch Übermacht des Bewußtseins im Bann gehalten wird, sondern sich auszuwirken vermag. Beim normalen Menschen öffnen und schließen sich gleichsam die Schleusen und Wehre des Bewußtseins automatisch und gleichen die bewußten und unterbewußten Zuflüsse aus, beim Genie dagegen ergibt sich eine Hochflut im Unterbewußtsein; aber nur dann, wenn die schützenden Dämme durchbrochen werden, dürfen wir von Irrsinn sprechen. Jedes Genie als eine pathologische Erscheinung zu werten, gilt mir daher trotz der verwandten Symptome als Mißbrauch des Wortes.
Die Verwandtschaft zwischen Genie und Wahnsinn finden wir mit Schopenhauer wohl viel richtiger in der mangelnden Erkenntnis der Relationen der Dinge. Auch das Genie, indem es in den Dingen nur die Idee sucht, verliert wohl darüber die Erkenntnis des Zusammenhanges der Dinge zeitweilig aus den Augen. Das Erkennen wird ihm zum Zweck des ganzen Lebens, das eigene Dasein zur Nebensache, zum bloßen Mittel. Sein Unterbewußtsein wird zur Camera obscura, in der wesenhaft sich die Ideen spiegeln, die es dank seiner Phantasie zu einem Weltbild vereinigt. Weder die unmittelbare Nützlichkeit des Zweckes, noch die kluge Ausnutzung der Mittel bestimmen sein Verhalten. Beide, das Genie[241] und der Wahnsinnige, leben in einer anderen Welt als der für alle vorhandenen. Die anatomischen und physiologischen Bedingungen mögen verwandte sein, nämlich das abnorme Überwiegen der Sensibilität über die Irritabilität und Reproduktionskraft. Wie man in jedem Kinde gewissermaßen ein Genie sehen darf, so umgekehrt im Genie ein großes Kind, das fremd in die Welt schaut und den lauteren und unschuldigeren Teil des Menschen in sich bewahrt, woraus sich uns auch seine gleichsam überirdische Heiterkeit erklärt, der meist eine tiefe Melancholie als Untergrund dient. Wo das Genie seine abnorm erhöhte Erkenntniskraft auf die Angelegenheiten des Willens richtet, faßt es diese leicht zu lebhaft auf, steht alles in zu grellen Farben, ins Ungeheuere vergrößert und verfällt auf Extreme, so daß man Schopenhauers Gegenüberstellung recht wohl versteht: Das Genie ist ein Monstrum per excessum, der Wahnsinnige ein Monstrum per defectum.
Während für philiströse Naturen in der Verwandtschaft von Genie und Wahnsinn eine Verurteilung jedes Genies liegt, empfindet der naive Mensch eher umgekehrt. Der Ausbruch des Wahnsinns bei einem geistigen Menschen bestätigt ihm gleichsam dessen Genialität und umgibt ihn mit der Aureole der Heiligkeit.
Das Volk hat ein instinktives Gefühl für den Fluch der Einsamkeit, die jedes Genie zu erleiden hat. »Der Mensch von Genie«, sagt Schopenhauer, »ist verdammt, in einer öden Welt zu leben, wo er nicht auf seinesgleichen trifft, wie auf einer Insel, die keine anderen Bewohner hat, als Affen und Papageien.« Dieses Gefühlsverständnis dafür, daß das Genie gleichsam die Leiden der Welt auf sich nimmt, daß es am Menschen selbst leidet und um des Menschen selbst willen lebt und schafft, erfüllt uns mit Ehrfurcht und einem Gebot fast immer verspätet auftretender Dankbarkeit. Geben wir dieser Ehrfurcht Raum in Hirn und Herzen, nachdem[242] unser Erkennen den Mysterienpfaden nachgegangen ist, die Nietzsche als tragischer Mensch wandelte. Er grub als Denker zu tief, er stieg als Dichter zu hoch, er schaute als Seher zu groß, er wollte als Werte bestimmender, Gesetze erlassender Prophet und Philosoph zu stark, um bei aller Wirklichkeitsfreude an der flachen Niedrigkeit und Kleinheit des Irdischen, mit der optimistische Anpassung in ihrer Nüchternheit sich zufrieden gibt, Genüge zu finden: er errichtete uns ein Ziel, das nicht als jenseitige Verheißung unsere Niedrigkeit und Ohnmacht trösten soll, sondern als Blickpunkt übermenschlicher Sehnsucht unsere Willensbejahung und Lebenssteigerung stärken muß; denn seine Liebe entzündete sich an der stummen Schönheit der Notwendigkeit. Wie symbolisch bedeutsam ist es, daß die letzten Verse, die das letzte Gedicht seiner Werke beschließen, also lauten:
Goethe an Schopenhauer.
Wir sind gewohnt zwischen arm und reich, hoch und nieder, Gebildeten und Ungebildeten zu unterscheiden, je nachdem wir von der Frage des Besitzes, der Stellung oder den Erfolgen der Erziehung ausgehen. Aber es gibt einen Gegensatz, der tiefer begründet ist als solche soziale Trennungen: Der Mensch, der nicht nur Person, sondern Persönlichkeit ist, nicht nur ein Ich, sondern ein Selbst darstellt, der nicht nur durch die Menschen, sondern am Menschen leidet, der nicht nur für die Wandlung von Institutionen kämpft, sondern um der höheren Idee willen lebt, die er über dem Erreichten als Ideal erahnt und schöpferisch zu versichtbaren, zu verwirklichen strebt – »Dort wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist« –, dieser Mensch in seiner Einzigkeit ist viel tiefer und umfänglicher von den Menschen geschieden, die bei allem feindseligen Wettstreit unter sich doch in ihren Leiden und Freuden an der Realität sich egoistisch und altruistisch verbunden fühlen. Er ist ein primärer Mensch, zu dem alle anderen sich sekundär verhalten. Der Leidensweg solcher Menschen primärer Art führte – wir eignen uns damit eine Zusammenstellung Hans Blühers an – von Plato über Christus, Lionardo da Vinci, zu Goethe und knapp an Schopenhauer vorbei zu – Nietzsche.
Schon in Nietzsches ersten wesenhaften Schriften kommt dieser Gegensatz zutage. Er tritt dem Optimismus seiner Zeit entgegen, die sich von unzulänglichen kulturellen Errungenschaften befriedigt fühlte. Er spricht es aus, daß wir von der Bildungshöhe der Zeit Goethes herabgesunken sind, weil wir nicht an der aristokratischen[244] Natur des Geistes festhielten, daß wir einer Erneuerung der sittlichen Kräfte bedürfen, verlangt im Rückblick auf die Antike eine Renaissance der Kultur und ruft uns zu: wagt es, tragische Menschen zu werden!
Als tragischer Mensch gilt ihm, wer nicht untätig durch Verzicht, unselbstherrlich durch Anpassung, unkriegerisch durch Kompromisse den notwendigen Gegensätzen des Lebens ausweicht, sondern unerschrocken in die Abgründe pessimistischer Erkenntnis hinab und hoffnungsselig zu den Möglichkeiten, die den Menschen geboten sind, hinaufzusehen wagt.
Galt Nietzsche schon der Mensch der Goethe-Zeit und der Individualist der Renaissance höher als der Träger der Gegenwart, wieviel mehr der Hellene in seiner Kunstbedürftigkeit aus Lebensdrang. »Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, mußte er vor sich hin die Traumgeburt der Olympischen stellen.«
Als große tragische Menschen verehrte Nietzsche damals Schopenhauer und Wagner. Schopenhauer, weil er trotz skeptischem Unmut oder kritisierender Entsagung sich dem Leben als einem Ganzen gegenüberstellt und in seinem tiefen Verlangen nach dem Genie uns zur Höhe der tragischen Betrachtung leitet. Wagner, weil er ihm als ein solches Genie galt, das damals noch antik fühlte und ihm berufen schien, aus dem Geiste der Musik eine Wiedergeburt der Tragödie, aus dem Geiste der Tragödie eine Wiedergeburt der Kultur zu verheißen. Ihre Gegenbilder sah er, wie uns die »Unzeitgemäßen Betrachtungen« zeigten, in den typischen Vertretern optimistischer Selbstgefälligkeit, in den Verkündern rein historischer Wertungen, die durch Überbetonung der Wissenschaftlichkeit dem produktiven Leben lähmend entgegenwirken.
Aber Schopenhauer war zu buddhistischer Verneinung des Lebens gelangt, aber Wagner bot nicht die von[245] Nietzsche erhoffte apollinische Vision aus dem dionysischen Geiste der Musik, sondern, auch in Bayreuth, zu Nietzsches Enttäuschung nur den naturalistisch wirkenden Schein der Szene. Nicht Schopenhauer entsprach dem Anruf Goethes »Willst du dich des Lebens freuen, so mußt der Welt du Wert verleihen«, sondern die Erfüllung dieser kulturell entscheidenden Aufgabe fiel Nietzsche zu.
Er übernahm das Erbe seiner als Vorbilder erschauten Meister dort, wo sie ihrer Aufgabe untreu geworden; er mußte sie bekämpfen, wo sie nicht das Diesseits um der Steigerung des Lebens willen verklärten, sondern, christlich befangen, nach einem Jenseits ausschauten. Die Loslösung von diesen Vorbildern war unvermeidlich, sollte Nietzsche zu sich selbst und den eigenen Wegen seiner Aufgabe gelangen.
Skeptisch gegen jede seitherige absolute Wertung mit ihrer Verkennung der bloß relativistischen und perspektivischen Optik, skeptisch gegen jede umschleiernde Idealisierung der Wirklichkeit, wendete er sich von aller Metaphysik ab, um zunächst als Positivist aus der Erfahrung die Voraussetzungen einer neuen wahrhaftigen Kultur herzuleiten. Das Stoffliche, Unvollkommene, ja das Böse und Furchtbare erheischte von ihm eine Würdigung als wurzelhafte Triebkraft, wenn die neue Kultur keimen und sprießen sollte, das Individuelle durfte nicht mehr im Sozialen untergehen. Dem Mittelalter war die Allgemeinheit alles, der Einzelne nichts, der Renaissance der Einzelne alles, die Allgemeinheit nichts. Das Verlangen nach Versöhnung der Kontraste, das Nietzsche als Erbteil seiner Herkunft für sich in Anspruch nahm, ließ ihn auch hier nach einer Synthese ausschauen.
Ich habe diese Gegensätzlichkeit einmal in die Formel gebracht: Wer ganz und gar in der Gemeinschaft aufgeht, bleibt ihr das Beste schuldig, das er ihr geben kann: die Höherentwicklung seines Selbst. Wer ganz und gar auf sich beharrt, bleibt sich das Beste schuldig, das er sich[246] geben kann: die schöpferische Entfaltung seines Selbst innerhalb der Gemeinschaft.
Nietzsche aber erkennt die Wechselbeziehung von Gemeinschaft und Einzelheit, die organische Verbundenheit von Wurzel und Blüte in der Entwicklung des überragenden Einzelnen aus den Schichten der Niederung. Dies besagt uns die Lehre vom Übermenschen als Zielsetzung unserer Kulturentwicklung. In ihr haben wir den Kern seiner Philosophie zu begreifen.
Fragen wir uns, worin diese Weltanschauung sich unterscheidet von dem, was bisher als Ziel aller religiösen und philosophischen, aller humanitären Sinngebung des Lebens galt, so müssen wir uns sagen: hier Zähmung des Tieres Mensch durch Zivilisation, dort Züchtung des höheren Menschen durch Kultur. Die unmittelbar aus dem Gefühlsleben gebotene Dichtung des »Zarathustra« veranschaulicht uns mit magisch waltender Schöpferfreude, mit hellseherisch offenbarender Erkennerfreude, voll Ekel am alltäglichen Menschen, voll Lust am möglichen Menschen das Ziel, das bestimmt ist, der Welt neuen Wert zu verleihen.
Dieses Ziel kann unter Nietzsches Führung nur der höhere freiere Mensch erschauen, und doch ist es letzten Endes nicht für ihn allein erstellt. Wir alle, ohne Ausnahme, vom Höchsten bis hinab zum Niedersten sollen seiner Verwirklichung dienstbar werden. Die Höheren in klarer Erkenntnis, die Mittleren dank der Führung, die Niederen kraft des Zwanges. Dieses Ziel erheischt: wirke für eine Gemeinsamkeit und Rangordnung, die die Steigerung des Menschen fördert; dieses Ziel erheischt: vollende dich als Einzelner in mutiger Selbstliebe, in unerschrockener Selbstbejahung! Nicht nur als Denker und Dichter, nicht nur als Künder und Künstler, sondern als Seher und Setzer eines neuen Welt- und Wertzieles haben wir Nietzsche zu verstehen, und zu begreifen, daß er als primärer Mensch einen Wendepunkt[247] in der Entwicklung des kulturellen Menschen bedeutet. Dann erst werden wir seinem Leben und seiner Lehre voll gerecht.
Ein Wendepunkt! Nicht mehr sehen wir uns verwiesen auf die Rückverbindung mit einem als vollkommen gedachten, als Gott verpersönlichten Ursein, sei es durch dogmatischen Glauben, sei es durch mystische Einswerdung, sondern auf die tragische Einordnung in das Werden.
Das Werden selbst ist der Sinn des Lebens! Wie die Kunst für den Schaffenden immer am Ziele ist, selbst Ziel ist und nur historisch das Neue das Frühere voraussetzt, so das Werden. Aber wiederum wie das Werk der Kunst nicht im Bewußtsein des Genießenden zum endgültigen Abschluß gelangt, sondern in das Überbewußtsein ausstrahlt, auch in seiner Vollendetheit produktiv weiter wirkt, so das allzeit lebendige Werden, das allzeit schöpferische Leben. Dem Baum ist es nicht um die Frucht, sondern um den Samen zu tun, belehrt uns Nietzsche und veranschaulicht uns so die Ewigkeit des Werdens.
Wohl ist alles, was uns Ziel heißt, schließlich nur relativistisch und perspektivisch zu verstehen. Auch den Übermenschen nennt Nietzsche nur unsere nächste Stufe und weist damit zugleich über sich selbst hinaus; denn auch jede Zielsetzung ist dem Werden eingeordnet. Nur wenn unser Rückblick auf Nietzsches Leben und Lehre uns zugleich einen Ausblick erschließt, verstehen wir das Werden in seinem Sinne.
Auch unsere Ausführungen sind zeitweise zu Synthesen gelangt, die einen Bogen spannten über von ihm erlebte Gegensätzlichkeiten; aber Ruhepunkte des Aufstieges durften uns immer nur als Stationen, nicht als Endpunkte gelten. Wollten wir auch jetzt noch nach einem friedfertigen Abschluß trachten, so verfielen wir Nietzsches produktivem Wirken gegenüber in den gleichen Fehler, den jene begingen, die ihn rein historisch in den Werdegang[248] der seitherigen Philosophie einordneten mit der Genugtuung, daß durch ihn die Erkenntnis bereichert wurde, aber trotzdem alles beim alten verbleibe.
Von der Bergeshöhe Zarathustras aus gesehen, verlieren wohl jene Thesen und Antithesen, die nur in der Niederung einander ausschließen, ihre sich aufhebende Gegensätzlichkeit: Egoismus und Altruismus, Individualismus und Sozialismus, Optimismus und Pessimismus werden zu Korrelata. Aber weder Zarathustra noch Nietzsche selbst sind Versöhner radikaler Gegensätze, sondern Kämpfer für die Selbstherrlichkeit der Einzelnen, die ihnen als Gipfel der Höherentwicklung der Menschheit gelten.
Der schwesterlichen Liebe seiner Biographin dürfen wir es ohne Zögern nachsehen, daß sie zu vermitteln strebte, daß sie seine Güte als Mensch der Unerbittlichkeit als Kämpfer beimischte, die Härte seiner Angriffe zuweilen in der Beurteilung euphemistisch abschwächte: wir aber dürfen nicht davor zurückschrecken, die notwendige Ungerechtigkeit gegen seine typischen Feinde Schopenhauer, Wagner, Sokrates, philiströses Deutschtum und moralistisches Christentum ohne jede unangebrachte Beschönigung, wenn auch von hoher Warte aus, zuzugestehen, wir müssen – getreu seinem Haß gegen jeden feigen Kompromiß, getreu seinem unentwegten Radikalismus – uns um der unerbittlichen Wahrheit willen dazu verstehen, ihn in seiner charakteristischen Einseitigkeit als Kämpfer und Führer zu erschauen.
Nur dann verkleinern wir ihn nicht, wenn wir die Grausamkeit nicht ableugnen, die sein Vernichtermut sich aufzwang; nur dann, wenn wir verstehend teilnehmen an seiner radikalen Verneinung dessen, was Tausenden, in seinem Sinne zum Nachteil ihrer Befreiung und Steigerung, als höchstes Gut, als auszeichnende Tugend in Religion, Moral, Humanität unantastbar gilt.
Den ganzen Positivismus in sich aufzunehmen und[249] doch Träger des Idealismus sein, hat Nietzsche als seine persönliche Aufgabe bezeichnet; er hätte hinzufügen können: den ganzen seitherigen Idealismus in sich zu überwinden und doch der Idee der spiralmäßigen Höherentwicklung des Typus Mensch treu zu bleiben.
Was aber haben wir als unsere Aufgabe zu erkennen, um uns der Nachfolge Nietzsches rühmen zu dürfen? Sprechen wir es so schlicht wie möglich aus: Ehrlichkeit. Erraffen wir den Mut zur Ehrlichkeit, so müssen wir uns – jeder vor sich selbst – auch im kleinen eingestehen: nicht nur die christlichen Tugenden, nicht nur die Forderungen der Humanität, nicht nur die hochtrabende Begeisterung für das Wahre, Schöne, Gute, nicht nur die gelegentliche Hingebung an Kunst und Wissenschaft, sondern selbst der Moralbegriff der Pflicht sind uns schillernde Gewänder geworden, mit denen wir die Nacktheit unseres Egoismus schamhaft umschleiern. Der Mut zur Ehrlichkeit vor uns selbst aber fehlt uns gar oft nur darum, weil uns der Mut zur Anerkennung unseres von der Natur gegebenen Egoismus fehlt. Daß er aus unserem Unterbewußtsein heraus uns im Fühlen, Denken, Handeln fortgesetzt bestimmt, das wissen wir, das können wir uns heute nicht mehr ableugnen. Aber immer auf halb und halb eingestellt, räsonieren wir vor uns selbst: Unbewußt ja, da sind wir alle dem Egoismus untertan, aber eben darum soll er uns nicht auch das Bewußtsein vergiften, halten wir uns wenigstens die Gesinnung rein.
Es gab Zeiten, da man mit solchen Maximen sich sein Gewissen reinigen konnte, da die Überzeugung »der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach« den Weg zur Selbstrechtfertigung erschloß; aber heute wissen wir, daß es sich anders verhält. Nicht bei der bewußten Absicht liegt die letzte Entscheidung, sondern unser Fühlen und Denken ist abhängig von unserem unbewußten Sein. Auch der Geist ist nur Werkzeug unserer organischen[250] Konstitution. Nur solche Gedanken, die wir uns einverleiben, haben den Erfolg, aus unserer Wesenhaftigkeit heraus tathaft zu wirken. »Was dich in Wahrheit hebt und hält, muß in dir selber leben.« (Theodor Fontane.) Heute dürfen wir uns nicht mehr der radikalen Mahnung verschließen, die absolute Trennung von Fleisch und Geist als unzulässig zu erkennen, heute müssen wir, um der Ehrlichkeit willen, von uns fordern: Wirklichkeitserkenntnis und Idealismus in Einklang zu setzen. Auf Kosten des Idealismus! Eine erschreckende Forderung für den, der von der Sündhaftigkeit der Menschen überzeugt ist, eine erhebende Forderung für den, der amoralisch auf die Tatsachen menschlicher Triebhaftigkeit hinblickt und sie – bejaht. Nun muß uns Idealismus, soll er nicht in eitel Dunst aufgehen, nicht mehr das Hinwegdenken des Niedrigen, sondern die Verdichtung des Wesenhaften bedeuten. Nun gilt es nicht mehr unseren Egoismus feig zu verleugnen, sondern ihn als Willen zur Macht anzuerkennen, zugleich aber scharf zu unterscheiden, welche Ziele dieser Machtwille sich stellt und mit welchen Mitteln er sich auswirkt.
Abgesehen von allem, was auch uns als allgemein verbindlich verbleibt, treten nun neue Forderungen an uns heran, die sich aus der gewonnenen Neueinstellung zur Umwertung der Werte ergeben. Sind es wieder nur kategorische Imperative oder allgemein gültige Dogmen, die von jedem das gleiche fordern? Die Einsicht in den Relativismus aller Wertungen heißt uns diese Frage verneinen, heißt uns übrigens auch Nietzsche gegenüber nicht in blinde Nachbetung verfallen, sondern durch ihn zur sehenden Erkenntnis unserer selbsteigenen Pflicht gelangen. Wie uns Glück schließlich immer nur das bedeutet, was gerade uns als das höchste Gut gilt, gemäß unserer Eigenart, so bedeutet uns Pflicht als Komplex immer nur das, was sich gerade uns als die eigentliche Aufgabe unseres Lebens erschließt. Inwiefern der Erfüllung[251] dieser Pflicht durch unsere Unzulänglichkeit Grenzen gezogen sind, aber auch inwiefern wir diese Grenzen zu erweitern und neu zu bestimmen vermögen, darüber kann einzig unsere eigene Gewissenhaftigkeit und Wahrhaftigkeit entscheiden. Aus der natürlichen Ungleichheit der Rechte folgt auch eine Ungleichheit der Pflichten, weil die Wesensunterschiede zwischen Mensch und Mensch nach Art, Gattung und Persönlichkeit eine Ungleichheit der Aufgaben und eine Verschiedenheit der Teilnahme an gemeinsamen Aufgaben bestimmt.
Wahrhaftigkeit! Aber wir können nicht ohne Illusionen leben. Wir bedürfen der Fiktionen als Mittel, um uns Wege zu erschließen, wir bedürfen der Hypothesen, um uns Möglichkeiten vorzustellen, wir bedürfen idealer Zielsetzungen, um unseren Aufstieg zu ermutigen. Auch das Dogma absoluter Wahrheit erfriert im Eise dieser Erwägungen, nicht aber das Ideal der Wahrhaftigkeit, so wenig als unser Gemüt die Religiosität preisgibt, wenn unsere Vernunft auf die Religion verzichtet.
Wieviel Lügenhaftigkeit zwischen theoretischem Idealismus und praktischem Tun wir heute noch hinnehmen, bestimmt den Grad unserer Ehrlichkeit; wieviel Wahrheit zwischen Wirklichkeit und Scheinbedürftigkeit wir zu ertragen vermögen, kennzeichnet das Maß unserer Seelenstärke; wieviel neue Ziel- und Wertsetzung wir uns einverleiben, bekundet die Macht unseres schöpferischen Willens und endlich wieviel Gegensätzlichkeit von Leid und Lust, von Zufall und Kausalität, von Irrtum und Wahrheit wir in uns harmonisch vereinigen können, die Gesundheit und den Reichtum unserer Menschlichkeit.
Nietzsches Philosophie ist in ihrem Kerne Axiologie, das aber heißt: Wertbestimmung, Rangerteilung, Zielsetzung, Sinngebung und Formgestaltung der Möglichkeiten am vornehmsten Material, das die Natur bietet: am Menschen. Die Voraussetzung hierfür liegt im urständig[252] Schöpferischen. Ein magischer Zauber geht aus von dem Worte, mit dem Nietzsche diesen Urquell aller Spontaneität benennt. Die Fülle der Natur an zeugender und gebärender Kraft, an tiefster Leidenschaft und höchster Freudenschaft, ihre Wunderwirksamkeit im Schaffen und Vernichten und Wiederschaffen, ihr Einssein im Genius der Gattung und ihr unendlicher Reichtum im Vielsein der Individuen, dieses Mysterium des unerschöpflichen Lebens, dem alle Entelechie als ein Stück Ewigkeit sich verdankt, heißt ihm: Dionysos.
Von seinem ersten Buche »Der Geburt der Tragödie« an bis zum »Ecce homo« hat er sich als der Jünger des Dionysos gefühlt, als der Ja-Sager zu allem was ist, als der frohe Botschafter dieser Lehre im Widerspruch zu allem, was das Leben herabsetzt, statt die Welt mit dem Jubel des Daseins, dem Reichtum der Formen, der Wertsetzung der höchsten Ziele miterlebend zu beschenken. Das letzte Wort seines letzten Werkes lautet: »Dionysos gegen den Gekreuzigten!« Darum Immoralist, darum Anti-Metaphysiker, darum Anti-Nihilist, darum Anti-Christ! Und darum Verkünder einer neuen Lehre, die das verhängnisvolle Erbteil der Vergangenheit als Negation des Lebens bekämpft, und darum Verkünder einer neuen Lehre, die von uns verlangt, daß wir treu zur Erde stehen aus Freude am Seienden, aus Fernstenliebe zum Werdenden.
Nietzsche, Friedrich: Werke. Groß 8°. Gesamt-Ausgabe (19 Bde.).
Nietzsche, Friedrich: Werke. Taschen-Ausgabe (11 Bde.).
Nietzsche, Friedrich: Gesammelte Briefe (6 Bde.).
Nietzsche, Friedrich: Briefe, ausgewählt von Rich. Oehler.
Nietzsche, Friedrich: Briefwechsel mit Franz Overbeck.
Förster-Nietzsche, Elisabeth: Das Leben Friedrich Nietzsches (3 Bde.).
Förster-Nietzsche, Elisabeth: Der junge Nietzsche. – Der einsame Nietzsche.
Förster-Nietzsche, Elisabeth: Wagner und Nietzsche zur Zeit ihrer Freundschaft.
Heckel, Karl: Briefe Richard Wagners an Emil Heckel.
Bertram, Ernst: Nietzsche.
Brandes, Georg: Friedrich Nietzsche (Sammelwerk: Menschen und Werke).
Richter, Raoul: Friedrich Nietzsche. Sein Leben und sein Werk.
Meyer, Richard M.: Nietzsche. Sein Leben und seine Werke.
Andreas-Salomé, Lou: Friedrich Nietzsche in seinen Werken.
Bernoulli, Carl Albrecht: Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche (2 Bde.).
Pfänder, A.: Nietzsche (Sammelwerk: Große Denker).
Ewald, Oskar: Nietzsches Lehre in ihren Grundbegriffen.
Moebius, P. J.: Nietzsche.
Schacht, Wilhelm: Nietzsche.
Riehl, Alois: Friedrich Nietzsche als Künstler und Denker.
Joël: Nietzsche und die Romantik.
Simmel: Schopenhauer-Nietzsche.
Oehler, Dr. Richard: Friedrich Nietzsche und die Vorsokratiker.
Oehler, Max: Den Manen Nietzsches.
Hasse, Heinrich: Das Problem des Sokrates bei Friedrich Nietzsche.
Horneffer, Ernst: Nietzsches Lehre von der Ewigen Wiederkunft.
Schellwien, R.: Max Stirner und Friedrich Nietzsche.
Levenstein, Adolf: Friedrich Nietzsche im Urteil der Arbeiterklasse.
Deussen, Paul: Erinnerungen an Friedrich Nietzsche.
von Salis-Marschlins, Meta: Philosoph und Edelmensch.
von Ungern-Sternberg, Isabelle: Nietzsche im Spiegelbild seiner Schrift.
Bergson, Henri: Schöpferische Entwicklung.
Blüher, Hans: Die Aristie des Jesus von Nazareth.
Spengler, O.: Der Untergang des Abendlandes.
Ziegler, Leopold: Gestaltwandel der Götter.
Die beigefügten Ziffern beziehen sich auf die Seiten dieses Buches, auf denen das betreffende Werk behandelt ist.
Philologische Arbeiten, Vorträge und Vorlesungen:
»Die Geburt der Tragödie« (1872) 38 f. 45. 56. 119. 144. 205. 209. 232. 244. 252.
»Mahnruf an die Deutschen« (1873) 4. 5. 38.
»Unzeitgemäße Betrachtungen« (1873–76) 45. 119. 244.
»Menschliches-Allzumenschliches« 2 Bde. (1878/79) 65 ff. 71 f. 75 f. 78. 135. 177. 209.
»Morgenröte« (1881) 80 ff. 86. 91. 95. 102. 104. 113. 207.
[255]»Die fröhliche Wissenschaft« (1882) 102. 103. 104 ff. 109 f. 127. 210. 240.
»Also sprach Zarathustra« (I–III 1882, IV »Mittag und Ewigkeit« 1884/85, S. 155) 28. 101. 111. 119. 133. 141. 142 ff. 153 ff. 172. 177. 200. 202. 220. 226. 228. 233. 239. 246. 248.
»Jenseits von Gut und Böse« (1886) 111. 169. 172. 174. 177. 210. 222.
»Zur Genealogie der Moral« (1887) 169. 177. 191.
»Der Fall Wagner« (1888) 213. 214 ff.
»Götzendämmerung« (1889) 216. 217 f. 219 f.
»Nietzsche contra Wagner« 224 f.
»Der Antichrist« 195 ff. 215. 216.
»Ecce homo« 101. 104. 143. 153. 211. 226 ff. 252.
»Der Wille zur Macht« 12. 85. 86. 111. 187. 191. 194. 195. 216.
»Umwertung aller Werte« 187. 195. 226.
Gedichte 20. 93. 103. 105. 129. 130. 131. 132. 150 f. 157. 202. 203. 242.
Aphorismen und Sprüche 6. 68. 71. 105. 106. 125. 177. 205. 207. 225.
Vorrede | 3 |
Einleitung | 9 |
Der Sohn | 15 |
Der Student | 21 |
Der Lehrer | 27 |
Der Jünger | 36 |
Der Streiter | 45 |
Der Idealist | 53 |
Der Positivist | 62 |
Der freie Geist | 71 |
Der Skeptiker | 79 |
Il piccolo Santo | 86 |
Der Anti-Metaphysiker | 94 |
Der Ja-Sager | 104 |
Der Freund | 112 |
Der Enttäuschte | 122 |
Der Seher | 133 |
Der Dichter | 142 |
Der Hoffende | 153 |
Der Aristokrat | 165 |
Der Immoralist | 175 |
Der Anti-Nihilist | 185 |
Der Anti-Christ | 195 |
Der Musiker | 204 |
Der Pamphletist | 214 |
Ecce homo | 226 |
Der Kranke | 234 |
Rückblick und Ausblick | 243 |
Literatur | 253 |
Nietzsches Werke | 254 |
Namenregister | 256 |
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aus Reclams Universal-Bibliothek
Näheres über Einbände und Preise enthält der neueste Katalog.
Aischylos, Agamemnon. 508.
Aristoteles, Die Poetik. 2337. – Verfassung von Athen. 3010.
Augustinus, Die Bekenntnisse. 2791–94 a.
Björnson, Arne. 1748/48 a. – Der Brautmarsch. 950. – Ein fröhlicher Bursch. 1891. – Kleine Erzählungen. 1867. – Ein Fallissement. 778. – Das Fischermädchen. 858–59 a. – Ein Handschuh. 2437. – Der König. 4479.– Leonarda. 1233. – Die Neuvermählten. 592. – Das neue System. 1358. – Synnöve Solbakken. 656. – Über die Kraft. 2170. – Zwischen den Schlachten. 750.
Bourget, Kinderherzen. 5505. – Der Luxus der Andern. 4995/96. – Die Schuld. 5417.
Buddhos Reden. 6245.
Byron, Manfred. 586.
Chamisso, Gedichte. 314–17 a, b.
Darwin, Die Abstammung des Menschen. 3216–20 a, b, c. 3221–25 a, b. – Die Entstehung der Arten. 3071 bis 3076 a, b, c, d.
Descartes, Betrachtungen über die Grundlagen der Philosophie. 2887. – Methode des richtigen Vernunftgebrauchs. 3767.
Euripides, Alkestis. 1337. – Die Bacchantinnen. 940. – Hekabe. 1166. – Jon. 3579. – Iphigenie in Tauris. 737. – Medea. 849.
Flaubert, Madame Bovary. 5666 bis 5670 a. – Salambo. 1651–54 a.
France, Professor Bonnards Schuld. 5279/80.
Gobineau, Alexander. 5495. – Asiatische Novellen. 3103/4. – Frankreichs Schicksale im Jahre 1870. 5941/42. – Reisefrüchte aus Kephalonia, Naxos, Neufundland. 4889/90. – Die Renaissance. 3511 bis 3515. – Das Siebengestirn. 5052–55 a. – Die Tänzerin von Schemacha. 4551.
Goethe, Clavigo. 96. – Egmont. 75. – Faust. 1. u. 2. Teil. 1 u. 2/2 a. (Bühnenausgabe von Witkowski. 4811/11 a. 4812.) – Urfaust. 5273. Geschwister. – Laune des Verliebten. 108. – Götz von Berlichingen. 71. (Bühnenausgabe 879.) – Hermann und Dorothea. 55. – Jery und Bätely. 4651. – Iphigenie auf Tauris. 83. – Kampagne in Frankreich. 5808–10. – Mahomet. 122. – Die Mitschuldigen. 100. – Reineke Fuchs. 61/61 a. – Stella. 104. – Tancred. 139. – Die natürliche Tochter. 114. – Torquato Tasso. 88. – Werthers Leiden. 67/67 a.
Goethes Mutter, Briefe. 2786–88.
Göllerich, Liszt-Biographie 2. Teil. (1. Teil s. unter Nohl.) 2392/92 a.
Heine, Almansor. 4044. – Atta Troll. – Deutschland. 2261/61 a. – Buch der Lieder. 2231–32 a. – Neue Gedichte. 2241. – Harzreise. 2221. – Memoiren. 2301. – Der Rabbi von Bacharach. – Herr von Schnabelewopski. 2350. – Romanzero. 2251/51 a.
Homer, Froschmäusekrieg. 873. – Ilias. (Von Voß.) 251–53 a. – Odyssee. (Von Voß.) 281–83 a.
Kant, Zum ewigen Frieden. 1501. – Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 4507. – Kritik der praktischen Vernunft. 1111/12. – Kritik der reinen Vernunft. 851 bis 855 a, b. – Kritik der Urteilskraft. 1027–30 a. – Von der Macht des Gemüts. 1130. – Naturgeschichte des Himmels. 1954/55. – Prolegomena. 2469/70 a. – Die Religion. 1231/32 a. – Der Streit der Fakultäten. 1438/38 a. – Träume eines Geistersehers. 1320.
Lange, Geschichte des Materialismus. I. Buch. 4825–30. – II. Buch. 4831–36 a.
Lassalle, Arbeiter-Programm. 6048.
Leibniz, Der Allerchristlichste Kriegsgott. 5881. – Kleinere philosophische Schriften. 1898–1900. – Theodizee. 1931–34. 1935–38.
Lombroso, Genie und Irrsinn. 2313 bis 2316 a. – Handbuch der Graphologie. 3591–95. – Studien über Genie und Entartung. 5218–20.
Loti, Die Islandfischer. 4244/45.
Luther, An den christlichen Adel. 1578. – Von der Freiheit eines Christenmenschen. 1731. – Lieder und Fabeln. 5913. – Sendbrief vom Dolmetschen. 2373. – Tischreden. 1222–25. – Wider Hans Wurst. 2088.
Marx, Lohnarbeit und Kapital. – Zur Judenfrage und andere Schriften a. d. Frühzeit. 6068/69.
Mérimée, Carmen. 1602. – Colomba. 1244/45. – Die Venus von Ille und andere Erzählungen. 5168.
Möbius, Das Nervensystem des Menschen. 1410.
Nohl, Liszt-Biographie. 1. Teil. (2. Teil s. unter Göllerich.) 1661. – Wagner-Biographie. 1700/1700 a.
Petöfi, Gedichte. 1761/62.
Platon, Apologie und Kriton. 895. – Gastmahl. 927. – Gorgias. 2046/46 a. – Laches. 1785. – Phädon. 979. – Phaidros oder Vom Schönen. 5789. – Protagoras. 1708. – Theaitetos. 6338/39.
De la Rochefoucauld, Maximen. 678.
Rousseau, Bekenntnisse 1603–6. 1607–10 a. – Emil. 901–4. 905–9. – Der Gesellschaftsvertrag. 1769/70. – Die neue Heloise. 1361–64. 1365–68.
Schiller und Goethe, Briefwechsel. 4148–50 a. 4151–53 a. 4154–56 a.
Schmitz, Hugo Wolf-Biographie. 4853.
Schopenhauer, Sämtliche Werke. Herausgegeben von Ed. Grisebach. 6 Bände. I. II. Die Welt als Wille und Vorstellung. 2761–65 a, b. 2781 bis 2785 a, b, c. – III. Satz vom Grunde. Über den Willen in der Natur. Die Grundprobleme der Ethik. 2801–5 a, b. – IV. V. Parerga und Paralipomena. 2821 bis 2825 a. 2841–45 a, b. – VI. Farbenlehre. Biographisch-bibliographischer Anhang. Namen- und Sachregister zu den 6 Bänden. 2861 bis 2865.
Schopenhauer, Handschriftlicher Nachlaß. Herausgegeben von Ed. Grisebach. 4 Bande. I. Gracians Handorakel. 2771/72. II. Einleitung in die Philosophie nebst Abhandlungen zur Dialektik, Ästhetik und über die deutsche Sprachverhunzung. 2919/20. III. Anmerkungen zu Locke und Kant, sowie zu Nachkantischen Philosophen. 3002/3. – IV. Neue Paralipomena: vereinzelte Gedanken über vielerlei Gegenstände. 3131 bis 3135.
– Aphorismen zur Lebensweisheit. (Herausgegeben von Ed. Grisebach.) 5002/3.
– Biographie von Dr. O. F. Damm. 5388–90.
– Briefe. (Herausgegeben von Ed. Grisebach.) 3376–80.
– Fremdsprachliche Zitate. 6282/83.
Schumann, Gesammelte Schriften über Musik und Musiker. 2472 bis 2473 a. 2561–62 a. 2621/22.
Sophokles, Aias. 677. – Antigone. 659. – Elektra. 711. – König Ödipus 630. – Ödipus in Kolonos. 641. – Philoktetes. 709. – Die Trachinierinnen. 670.
Spinoza, Briefwechsel. 4553–55. – Die Ethik. 2361–64. – Der politische Traktat. 4752/53. – Der theologisch-politische Traktat. 2177 bis 2180. – Abhandlung über die Vervollkommnung des Verstandes. 2487.
Stein, Goethe und Schiller. Beiträge zur Ästhetik der deutschen Klassiker. 3090/90 a.
Stendhal, Novellen. 5088–90.
Stirner, Der Einzige und sein Eigentum. 3057–60 a.
Wagner, Der fliegende Holländer. 5635. – Götterdämmerung. 5644. – Lohengrin. 5637.– Die Meistersinger von Nürnberg. 5639. – Parsifal. 5640. – Das Rheingold. 5641. – Rienzi. 5645. – Siegfried. 5643. – Tannhäuser. 5636. – Tristan und Isolde. 5638. – Walküre. 5642.
– Autobiographische Skizze. – Eine Mitteilung an meine Freunde. 5657/58. – Bayreuth. 5686. – Ein deutscher Musiker in Paris. 5659/60. – Erinnerung. 5671. – Über das Dirigieren. – Bericht über eine in München zu errichtende deutsche Musikschule. 5661/62.
Wilde, Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading. 4864. – Das Bildnis des Dorian Gray. 5008–10. – Salome. 4497.
aus Reclams Universal-Bibliothek
Giordano Bruno, Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen. Aus dem Italienischen übersetzt von P. Seliger. Nr. 5113/14 a
J. G. Fichte, Die Bestimmung des Menschen. Herausgegeben von K. Kehrbach. Nr. 1201/2
– Über die Bestimmung des Gelehrten. – Über das Wesen des Gelehrten und seine Erscheinungen im Gebiete der Freiheit. Nr. 526/27
– Reden an die deutsche Nation. Nr. 392–93 a
– Inwiefern Machiavellis Politik auch noch auf unsere Zeiten Anwendung habe. Eingeleitet und herausgegeben von Dr. J. Hofmiller. Nr. 5928
G. W. Fr. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Mit Einleitung und Anmerkungen herausgeg. von F. Brunstäd. Nr. 4881–85 a
David Hume, Untersuchung über den menschlichen Verstand. Übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Dr. R. Eisler. Nr. 5489 u. 5490
John Locke, Gedanken über Erziehung. In der Übersetzung Ouvriers mit Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Dr. Th. Fritzsch. Nr. 6147–50
– Über den menschlichen Verstand. Aus dem Englischen übersetzt von Th. Schultze. 2 Bände. Nr. 3816 bis 3820, 3821–25
F. W. J. Schelling, Clara oder Über den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt. Nr. 5619/20
– Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur. Gedanken über Malerei. Nr. 5777
– Die Weltalter. Nr. 5581–83
W. Wundt, Zur Psychologie und Ethik. Zehn ausgewählte Abschnitte. Herausgegeben und eingeleitet von Dr. J. A. Wentzel. Nr. 5291/92
Aus den Werken des berühmten Psychologen und Philosophen wird hier zum erstenmal eine populäre Auswahl geboten, die bedeutsame Abschnitte aus der »Völkerpsychologie«, »Ethik« und den Essays vereinigt.
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Weitere Anmerkungen zur Transkription
Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.
Korrekturen:
S. 248: jedes feige → jeden feigen
Haß gegen jeden feigen Kompromiß