Title: Ein Volk in Waffen
Author: Sven Anders Hedin
Release date: December 4, 2016 [eBook #53662]
Most recently updated: October 23, 2024
Language: German
Credits: Produced by Peter Becker and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net
Sven Hedin
Den deutschen Soldaten gewidmet.
Leipzig: F. A. Brockhaus. 1915.
[S. 2] Dieses den tapferen deutschen Soldaten und ihren Angehörigen gewidmete Büchlein ist ein Auszug aus dem gleichnamigen Werk Sven Hedins, das im März 1915 erscheinen wird. Diese große Ausgabe umfaßt etwa 500 Seiten mit ungefähr 250 Abbildungen und kostet geheftet 6, gebunden 10 M.
F. A Brockhaus.
Copyright 1915 by F. A. Brockhaus, Leipzig.
Seite | ||
Was ich will. Ein Vorwort | 5 | |
1. | Wo ist das Große Hauptquartier? | 7 |
2. | Kriegsbilder auf der Fahrt | 10 |
3. | Ein Franzose im Lazarett zu Ems | 15 |
4. | Feldpostbriefe | 18 |
5. | Verwundete und Gefangene | 20 |
6. | Im Hauptquartier | 25 |
7. | Der Kaiser | 27 |
8. | Zur fünften Armee | 33 |
9. | Beim Kronprinzen | 37 |
10. | Hinter der Feuerlinie | 40 |
11. | Im Schrapnellfeuer | 43 |
12. | Madame Desserrey | 46 |
13. | Morgengrauen | 49 |
14. | Die »Brummer« bei Eclisfontaine | 51 |
15. | Verhör französischer Gefangener | 54 |
16. | Sturm auf Varennes | 57 |
17. | Das Feldlazarett in der Kirche von Romagne | 61 |
18. | Der letzte Abend beim Kronprinzen | 65 |
19. | Longwy | 67 |
20. | Ein Brief an den Kaiser | 71 |
21. | Die Eisenbahn im Kriege | 72 |
22. | Sedan — 1870! | 80 |
23. | Bei der vierten Armee | 83 |
24. | »Barbarische« Justiz | 90 |
25. | Der Krieg in der Luft | 91 |
26. | Deutsches Sanitätswesen im Felde | 98 |
27. | Leben an der Front | 102 |
28. | Die Feld-Telephonstation | 105 |
29. | Am Scherenfernrohr | 108 |
30. | Feldgottesdienst | 110 |
[S. 4]31. | Nach Belgien | 115 |
32. | Die 42-cm-Mörser vor Namur | 119 |
33. | »Vandalismus« | 122 |
34. | Generalgouverneur Exzellenz von der Goltz | 124 |
35. | Antwerpen einen Tag nach seinem Fall | 128 |
36. | Gäste des Generalgouverneurs | 137 |
37. | An der Schelde | 139 |
38. | Löwen | 142 |
39. | Die weiße und die schwarze Marie | 143 |
40. | Über Gent und Brügge nach Ostende | 145 |
41. | Das Bombardement von Ostende | 149 |
42. | Mein erster Abend in Bapaume | 157 |
43. | An der Front bei Lille | 161 |
44. | Die B(apaumer) Z(eitung) am Mittag | 167 |
45. | Im Schützengraben | 169 |
46. | Allerseelen | 174 |
47. | »Lieb Vaterland, magst ruhig sein!« | 179 |
48. | Kronprinz Rupprecht von Bayern | 180 |
49. | Tommy Atkins in Gefangenschaft | 183 |
50. | Die englische Lüge | 185 |
51. | Heimwärts | 189 |
... Kein Schwede in verantwortlicher Stellung durfte eine Ahnung haben von meiner Reise an die deutsche Front. Unser Land gehört ja zu den neutralen Staaten, und auf seine Regierung durfte auch nicht der Schatten eines Verdachts fallen, daß ich in irgendeiner Art geheimer Mission reiste. Nein, der Anlaß war ganz einfach. Ich sagte mir: In der Entfernung von einigen Tagereisen wird der gewaltigste Krieg der Weltgeschichte ausgefochten. Dieser Krieg muß von grundlegender Bedeutung werden für die politische Entwicklung der nächsten fünfzig, hundert, vielleicht noch mehr Jahre. Seine Folgen müssen unbedingt das weitere Dasein der gegenwärtigen Generation bestimmen. Der Krieg von 1870/71 wurde der Beginn eines neuen Zeitalters in Deutschlands Entwicklung. Dasselbe wird in noch viel höherem Maße, im Guten oder Bösen, vom Krieg 1914 gelten! Alle politischen Probleme der nächsten Zukunft müssen ohne Zweifel ihre Wurzeln in diesem großen deutschen Krieg haben. Gehen beide kämpfenden Machtgruppen mit stark verringerten Kräften aus dem Streit hervor, so ist er in seinen erlöschenden Funken der Keim zu einem neuen, vielleicht noch mehr verheerenden Weltbrand. Siegt aber Deutschland auf der ganzen Linie, so wird die Weltkarte durchgreifende Änderungen erfahren, und Deutschland läßt dann in seiner blühenden Machtfülle keinen neuen Krieg mehr zu. Siegt Rußland, so ist das Schicksal Schwedens und Norwegens besiegelt! Wie der Krieg auch endet, müssen große und denkwürdige Ereignisse aus ihm hervorgehen. Wie lehrreich muß es also sein, ihn am[S. 6] Herde der die Zukunft umstürzenden Ereignisse, in den zerstörten Gegenden selbst zu studieren, wo die deutschen Soldaten das Schicksal ihres Landes und der ganzen germanischen Welt auf den Spitzen ihrer Bajonette tragen! Denn nur wer mit eigenen Augen gesehen, wie die Deutschen kämpfen, kann ganz verstehen, was für Deutschland in diesem Krieg auf dem Spiele steht. Meine Fahrt an die Front war also in erster Linie eine politische Studienreise.
Aber auch andere Absichten und Gedanken ließen mich Sehnsucht nach der Front empfinden. Ich wollte den Krieg als solchen sehen und kennen lernen, um auch für andere die Schatten- und die Lichtseiten des Krieges beschreiben zu können. Die Schattenseiten sind Haß, Vernichtung, verbrannte Häuser, vergeudete Ernten, Verwundete, Krüppel, Gräber, Trauer und Sorge. Aber auch Lichtseiten hat ein Krieg, der von einem einigen Volk ausgefochten wird, das leben und seine Selbständigkeit bewahren will. Das sind die Einigkeit, Opferwilligkeit und Siegesgewißheit der Deutschen. Und schließlich wollte ich mit eigenen Augen sehen, wie weit Zivilisation, Christentum und Friedensbestrebungen im Jahre 1914 nach Christi Geburt gediehen waren!
Im ersten Abschnitt des Krieges hatte die englische Presse die Deutschen barbarischer Grausamkeit gegen ihre Gefangenen und gegen verwundete Feinde beschuldigt. Keinen Augenblick hatte ich daran geglaubt, aber um der Germanen willen wollte ich die Verleumdung ausrotten und die Wahrheit zur Kenntnis der Allgemeinheit bringen. Kann man nichts anderes von einem Volk verlangen, das auf der Höhe der Kultur stehen will, so doch mindestens das eine: daß es seinem Gegner nicht Verbrechen vorwirft, die er nie begangen hat. Deutsche Proteste gegen die Beschuldigungen der feindlichen Zeitungen nützten natürlich nichts. Vielleicht glaubt man mir, wenn ich vor Gott beteuere, daß ich keine Zeile niederschreibe, die nicht Wahrheit ist, und nichts anderes schildere, als was ich mit eigenen Augen gesehen habe....
Mit diesen Gedanken trug ich mich Anfang September; sie waren in mir selbst entstanden, ohne den Schatten eines Impulses von schwedischer oder deutscher Seite. Als ich meinen Beschluß gefaßt hatte, wandte ich mich an den deutschen Gesandten in Stockholm, Exzellenz von Reichenau, der mit größter Freundlichkeit meinen Wunsch an die betreffende Stelle in Deutschland weitergab. Nach acht Tagen erhielt ich die Antwort, mein Besuch an der Front werde willkommen sein. Schon am folgenden Tag, am 11. September, trat ich meine Reise ins Ungewisse an, und am 12. September ließ ich mich im Auswärtigen Amt in Berlin, Wilhelmstraße Nr. 76, melden.
Der Unterstaatssekretär Herr von Zimmermann, der den Minister des Äußeren in Berlin vertritt, solange Exzellenz von Jagow sich im Großen Hauptquartier aufhält, nimmt mich mit offenen Armen auf und teilt mir mit, das einzige, was er wisse, sei, daß ich mich nur geradeswegs zu Exzellenz von Moltke ins Große Hauptquartier zu begeben habe.
»Aber wo ist das Große Hauptquartier?« frage ich.
»Das ist Geheimnis«, antwortet Herr von Zimmermann lächelnd.
»Aber wie soll ich dann hinkommen?«
»Der Chef des Generalstabs, General von Moltke, hat Befehl gegeben, daß ein Automobil zu Ihrer Verfügung stehen soll. Sie können jederzeit aufbrechen. Als Begleiter erhalten Sie einen Offizier und einen Soldaten; Sie können in einer Tour Tag[S. 8] und Nacht fahren, aber auch selbst Weg und Reisezeit wählen. Mit einem Wort: Sie haben volle Freiheit.«
»Und dann?«
»Ihr weiteres Geschick hören Sie von Exzellenz von Moltke. Das einzige, woran Sie jetzt zu denken haben, ist, ihn aufzusuchen.«
»Und wo finde ich das Auto?«
»Darüber gibt Ihnen dieses Papier Bescheid.«
Herr von Zimmermann überreichte mir ein vom Großen Generalstab unterzeichnetes Blatt etwa folgenden Inhalts: »Der Inhaber dieses Zeugnisses ist berechtigt, sich des Relais des Kaiserlichen Freiwilligen Automobilkorps bis ins Große Hauptquartier zu bedienen. Was irgendwie seine Reise erleichtern kann, soll zu seiner Verfügung stehen.«
Das Freiwillige Automobilkorps hatte in der Friedrichstraße Nr. 243 sein Bureau; sein Chef war Dr. Arnoldi. Ich fand ihn in einem großen mit Offizieren und Ordonnanzen gefüllten Arbeitszimmer, dessen Tische mit Karten, Papieren und Telegrammen bedeckt waren, und wurde auch hier mit der größten Liebenswürdigkeit empfangen. Zunächst bekam ich eine Karte der großen Relaisstraße zu sehen. Und dann kam die Frage an mich: »Wollen Sie unabhängig von allen Bestimmungen oder wollen Sie Relais fahren, d. h. 700 Kilometer in 16 Stunden, 44 Kilometer die Stunde, in einer Tour?«
Ich dachte einen Augenblick nach und wählte dann: »unabhängig«. Denn wenn ich 16 Stunden reiste, hätte ich den letzten und sicherlich interessantesten Teil der Fahrt in dunkler Nacht zurücklegen müssen; ich war aber gekommen, um soviel wie möglich zu sehen. Die Wegstrecke von Berlin bis zum Hauptquartier mußte ein beständiges Crescendo sein: immer weiter vom Frieden fort — immer näher den Kampflinien. Ich glaubte in meiner Unschuld, die Landstraßen in Westdeutschland müßten von Soldaten und Fuhrwerken überschwemmt sein. Keine Spur davon! Es dauerte lange, bis man des Gedränges wegen langsam[S. 9] fahren mußte; und innerhalb Deutschlands geschehen ja alle Transporte per Bahn.
»Wer wird mein Chauffeur?«
»Ein Offizier, begleitet von einem Soldaten. Beide leisten ihre Dienstpflicht im Freiwilligen Automobilkorps.«
»Wer bestimmt den Offizier?«
»Ich; und ich denke eben an den Rittmeister von Krum aus Württemberg.«
Dr. Arnoldi drückt auf einen Knopf und fragt die eintretende Ordonnanz, ob Rittmeister von Krum in der Nähe ist. »Ja.« — »Bitten Sie ihn hierher zu kommen.« Und herein tritt in feldgrauer Uniform ein Offizier von vorteilhaftestem Aussehen und gewinnendem Wesen.
Rittmeister von Krum war aus dem aktiven Militärdienst ausgeschieden, aber bei Kriegsausbruch wieder unter die Fahnen getreten, und nach geltenden Mobilisierungsbestimmungen hatte er sein Automobil der Krone zur Verfügung gestellt. Er führt es selbst; der Soldat, der uns begleiten soll, ist in Friedenszeiten sein Chauffeur.
Am folgenden Tag war ich mit meinem Rittmeister unterwegs und equipierte mich feldmäßig von Kopf bis zu Fuß, von der Automobilmütze bis zu den Schnürstiefeln und Beinbinden, mit einem passend warmen Sportanzug, mit Pelzweste und Pelzrock, Regenmantel, warmem Filzhalstuch und einer Automobilbrille — die ich nie benutzt habe.
Der 15. September war der Tag des Aufbruchs. Rittmeister von Krum lenkte seinen Wagen selbst und mit bewundernswerter Sicherheit. Neben ihm saß der Chauffeur, ein Unteroffizier aus Württemberg namens Deffner, ich selbst auf dem Rücksitz des Autos. Auf dem Boden des Wagens lag mein Gepäck, zwei Taschen nur so groß, daß ich sie im Notfall selbst hätte tragen können. —
Felder und Wälder, Höfe und Städte fliegen vorüber, und der Geschwindigkeitsmesser zeigt auf 70 Kilometer.
Wannsee — Potsdam. Nichts deutet an, daß Deutschland eben seinen größten Krieg erlebt. Gewaltige Ladungen duftenden Heus werden von den Wiesen hereingefahren. Es gibt also noch Pferde in Deutschland, die anderes ziehen als Kanonen und Munition. Die Flügel der Windmühlen drehen sich knarrend und mahlen das Korn, das in Brot für Millionen von Soldaten und ihre Familien daheim verwandelt werden soll.
Wittenberg. Auf der Straße zieht ein Trupp Freiwilliger. Sie sehen fröhlich in die Welt hinaus, marschieren können sie mit taktfesten Schritten, und sie singen ein munteres, belebendes Soldatenlied. An der nächsten Straßenecke ein neuer Trupp, der vom oder zum Übungsplatz marschiert, junge, kräftige Männer von soldatischer Haltung; man sieht, wie sie sich darnach sehnen, ins Feld zu ziehen. Sie singen nicht, sie pfeifen eine gemütliche Melodie, die ganz lustig zwischen den alten wittenbergischen Häusern erklingt. Es sind Germanen. Sie sind nicht geboren, um von slawischen oder lateinischen Völkern besiegt zu werden. Ihre Väter sind von Tacitus besungen worden und haben im Teutoburger Wald gesiegt. Nun sind sie würdige Nachkommen der alten Germanen, die sich unter den deutschen Adlern zum Kampf für die Freiheit zwischen Rhein und Weichsel und jenseits der großen Stromtäler versammeln. Es ist gefährlich, Adler zu reizen; noch können sie ihre Horste verlassen und ihre Schwingen erheben! Jetzt hat Deutschlands Schicksalsstunde geschlagen, jetzt gilt es den Platz und die Zukunft der Germanen auf der Erde! Hört das Echo ihrer stahlfesten Schritte in Wittenbergs Straßen! So hallt es ähnlich in allen deutschen Städten, wo die Freiwilligen zu den Fahnen strömen! Es ist eine Völkerwanderung, deren gleichen die Welt noch nicht gesehen hat!
In Bitterfeld treffen wir ein, als gerade der Wochenmarkt in höchstem Flor steht: Vor den Verkaufsständen malerisches Leben,[S. 11] farbenreich, altertümlich und friedlich — kein Mensch kann hier ahnen, daß Deutschland im Krieg steht, und doch denken alle, auch die, die die kleinen Geschäfte des Tags besorgen, nur einen einzigen Gedanken, den Krieg. Auf der Straße vor der Stadt sehen wir Frauen, die in ihre Dörfer zurückwandern oder fahren, nachdem sie auf dem Markt ihre Ein- und Verkäufe gemacht haben. Bei den Braunkohlengruben vor Bitterfeld sind die Körbe der Luftbahnen in voller Fahrt und führen die Kohle in die Fabriken, wo Briketts daraus verfertigt werden.
Bei jeder Brücke, die wir passieren, über oder unter einem Bahngleis, stehen immer ein oder ein paar ältere Landsturmleute; sie tragen dunkelblaue Uniformen, abends und in der Nacht graue Mäntel. Sie stehen mit verschränkten Armen, das Gewehr wagerecht unter den linken Arm geklemmt, und gehen langsam und treu am Kopf der Brücke oder unter ihrer Wölbung, bis sie von Kameraden abgelöst werden. So oft das Auto mit seinem flatternden Kriegswimpel dahergefahren kommt, nehmen sie Stellung, Gewehr bei Fuß. Mindestens ein Armeekorps ist durch solchen Wachtdienst in der Heimat gebunden.
Auf der Hauptstraße in Halle ist reges Leben, denn hier ist die große Straße nach Merseburg und weiterhin nach dem westlichen Kampfplatz. Während wir uns in der Stadt aufhielten, sausten noch verschiedene Militärautomobile vorüber. Auch hier hängen in den Fenstern der Buchhandlungen große Kriegskarten, und davor stehen Gruppen von Schuljungen, die laut und wichtig von dem sprechen, was die kleinen Fähnchen andeuten — vom Krieg.
Wir zünden den Scheinwerfer des Automobils an und fahren aus Halle heraus, südlich an Merseburg vorüber auf der Straße nach Naumburg, immer im Saaletal. Der scharfe Lichtschein erhellt die Landstraße ein gutes Stück voraus. Die Schnelligkeit ist auf 40 Kilometer in der Stunde herabgesetzt. Die Laubbäume der Alleen werden von den Lampen von untenher beleuchtet; es sieht aus, als führe man durch einen unendlichen grünen Tunnel.[S. 12] In der Ferne, zu beiden Seiten der Straße, werden helle Perlenschnüre von glänzenden Lichtern sichtbar: die Fenster in Dörfern und Höfen, wo Väter und Mütter, Geschwister, Jungfrauen und Kinder bei der Abendlampe sitzen und zum zwanzigsten Male die Feldpostbriefe und -karten lesen, die Soldaten von der Front in Frankreich oder in Belgien nach Hause geschickt haben. Ihre Anzahl geht in viele Millionen. Was steht wohl in diesen oft schwer leserlichen Briefen? Ich habe einige von ihnen gelesen. Da erzählt der Soldat den Seinen, wie es im Quartier geht, wie das Essen nach den Strapazen des Felddienstes schmeckt, wie ihm zumute ist, wenn die Granaten in seiner Nähe krepieren und die Kameraden neben ihm fallen. Da steht auch, daß der Feind verloren ist und im Handumdrehen zurückgeworfen werden wird, wenn der General die Stunde für gekommen hält, um Sturm zu kommandieren. Da wird mit gutmütiger Achtung von den Franzosen als tapferen, ehrlichen Soldaten gesprochen und von den Engländern mit glühendem Haß. Und schließlich sagt oft genug der Soldat, es könne keine Rede davon sein, daß er in die Heimat zurückkehrt, ehe er verwundet und, was Gott verhüten wolle, kampfunfähig geworden und ehe der Sieg über die Feinde des Deutschen Reiches erfochten ist. Denn das wissen die Soldaten vom Veteran bis zum jüngsten Rekruten, daß Deutschland wohl bis an die Zähne gerüstet war in Erwartung des Krieges, daß aber der Kaiser und die Staatsmänner Deutschlands alles, was in ihrer Macht stand, taten, um ein Unglück abzuwehren, das die ganze Erde treffen und unerhörte Ströme von Blut und Tränen kosten mußte, ein namenloses Elend in verödeten Häusern und verwüsteten Dörfern, unzählige Nächte des Wartens und der Unruhe und lange Jahre trostloser Sorge und Trauer.
Der Wirt im Hotel »Zum mutigen Ritter« in Kösen leistet uns bei einer Tasse Tee Gesellschaft und berichtet, daß alle seine Badegäste auf einmal verschwanden, als der Krieg ausbrach; der ganze Hotelbetrieb stehe still. »Aber was tut das,« fügt er hinzu — »wenn wir nur siegen!«
[S. 13] 16. September. Wenn man sich im Goethehaus zu Weimar in diese Welt großer, teurer Erinnerungen hineinversenkt hat und plötzlich wieder auf die Straße hinaustretend eine Schar Landsturmleute sieht, die nach dem Schießplatz marschiert, dann muß man sich die Augen reiben und sich zusammennehmen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Und dieses Volk, das einen Goethe hervorbrachte und jetzt mit glänzender Tapferkeit an einem halben Dutzend Fronten kämpft, ist von einer ganzen Presse, von einer ganzen Nation ein Volk von Barbaren genannt worden! —
Erfurt–Gotha. Links von uns steigen die dunklen, regenschweren, neblichten Höhen des Thüringer Waldes empor. Aber unser Weg führt durch behagliche Dörfer mit freundlichen Fachwerkhäusern; schreiende Gänse und gackernde Hühner tun ihr möglichstes, um von uns überfahren zu werden oder wenigstens unsere Fahrt aufzuhalten. Schnell ist Eisenach erreicht und hinter uns. Die Straße biegt nun scharf nach Südwesten ab, und in schön abgerundeten Windungen erklimmen wir die Höhen des Thüringer Waldes. Tiefer, dunkler, kühler Schatten; es duftet von feuchtem Erdboden und saftigen Nadeln; ab und zu erinnert die prächtige Gegend lebhaft an die Straße von Rawalpindi bis Kaschmir.
Marksuhl–Hünfeld in Hessen. An einem Tisch im Speisesaal des Gasthofs sitzt eine Krankenschwester, das Zeichen des Roten Kreuzes am Arm, und unterhält sich mit zwei Herren, offenbar Ärzten, denn sie sprechen von der Pflege verwundeter Soldaten. Eine Schar Jäger tritt ein, ihre Taschen voll Rebhühner und Hasen. Sie tragen grüne und braune Anzüge und kecke, federgeschmückte Filzhüte, auf der Schulter die Gewehre. Sie sprechen eifrig vom Krieg, diesem Krieg, der alle beschäftigt und alle waffentüchtigen Verwandten nach Westen oder Osten ruft.
Gelnhausen–Hanau. Unter uns fließen die trüben Wassermassen des Mains. Es regnet stark. Die Straßen sind aufgeweicht, aber doch immer gleich gut. Man merkt, daß man sich einer großen Stadt nähert, der Verkehr auf der Straße nimmt zu.[S. 14] Die Menschen wohnen dichter beieinander, und die Telegraphendrähte sammeln sich zu mächtigen Bündeln. Diese stummen Drähte, die doch immer sprechen und mehr wissen als wir — vielleicht durcheilt sie in diesem Augenblick die große Neuigkeit, auf die ganz Deutschland wartet? Wir hofften, sie in Kösen anzutreffen, vielleicht erwartet sie uns in Frankfurt?
17. September. Frankfurt. Der Tag brach in freundlicher Schönheit an, trotzdem schwere Wolken am Himmel segelten. Wir mußten erst zu einer Tankstelle, um Benzin aufzufüllen, und dann zum Immobilen Kraftwagendepot, wo immer alles vorhanden sein muß, was zur Reparatur der Kriegsautomobile erforderlich sein kann. Hier holten wir fünf Reservereifen, die rechts und hinten am Auto festgemacht wurden. Von Bezahlen ist natürlich keine Rede; die Autos gehen ja für Rechnung der Krone.
Endlich geht es weiter, und wir fahren durch Frankfurts lange Straßen und seine westlichen Vorstädte, die fast ganz aus Arbeiterwohnungen bestehen. Man denkt vielleicht, diese Arbeiter sympathisierten nicht mit dem Krieg, den Deutschland für seine Zukunft führt? Weit gefehlt! Sozialdemokratische Arbeiter haben ihren Jungen, die auf den Höfen richtige Schlachten liefern und sich Kluck und Hindenburg nennen, kleine Helme und Holzschwerter geschenkt. — Wiesbaden–Eiserne Hand. In Langenschwalbach stechen die feinen Hotels grell ab von den ernsten Fahnen des Roten Kreuzes und den verwundeten Soldaten, die schon auf dem Wege der Besserung sind und auf Balkons und in den Gärten sitzen, um Luft zu schöpfen. Dann windet sich die Straße jäh zu Höhen empor, wo die Luft klarer ist und gedämpfte Aussichten auf lachende Täler und waldbekleidete Hügel sich öffnen.
Nassau an der Lahn. Bezaubernd schön ist dieses Land, herrlich seine Straßen, majestätisch seine Wälder in ihrer dunkeln, stummen Einsamkeit. Auf dem Gipfel eines Hügels thront eine alte Festung. Das Volk ist freundlich und grüßt und winkt,[S. 15] wohin wir kommen, und ein junges Mädchen wirft eine rote Rose in unser Auto — nicht für uns, vermute ich, sondern als Gruß an ihren Verlobten, der draußen im Felde steht.
Die Lahn entlang — Ems. Wir lassen das Auto in einer Nebenstraße halten und bleiben auf dem Fußsteig entblößten Hauptes stehen, um einen Leichenzug passieren zu sehen. Der Tote ist ein Major, der seinen Wunden erlegen ist. Die Musikkapelle spielt einen langsamen Trauermarsch; zwei Fahnen wehen vor dem schwarzen sarkophagähnlichen Sarg, und diesem folgen die Mitglieder des Emser Kriegervereins, die Kampfgenossen, alle in Zylinder, langem Rock und schwarzer Halsbinde; den Schluß bildet eine Schar verwundeter Soldaten, Rekonvaleszenten, die im Kursaal einquartiert sind. Langsam bewegt sich der feierliche Zug nach dem Bahnhof, denn die Leiche des Majors soll in seine Heimat befördert werden. Nach einiger Zeit kam die Musikkapelle mit den Rekonvaleszenten zurück, aber diesmal spielte sie eine fröhliche, belebte Melodie. Das sei so Sitte bei Militärbegräbnissen, hörte ich; erst die Trauer und die Ehrung des Toten, dann die Rückkehr der Lebenden zum Leben und seinen täglichen Freuden.
Im Kurhaus mit seinen vielen prächtigen Zimmern werden achtzig Verwundete gepflegt, und man erwartete mehr. Viele der Schwerverwundeten lagen in ihren Betten; wer sich bewegen konnte, saß auf den Altanen, genoß die frische Luft und sehnte sich, das versicherte man mir überall, an die Front zurück.
Auch ein junger französischer Leutnant hatte, schwer verwundet, im Kurhaus Unterkunft gefunden. Mit welcher schändlichen Grausamkeit sollten nach den Meldungen der englischen Presse die Deutschen ihre französischen Gefangenen behandeln! Ich konnte daher dem Wunsche nicht widerstehen, mich zu erkundigen, was der Franzose selbst darüber zu sagen hatte. An seinem Zimmer war nichts auszusetzen, es lag unmittelbar gegenüber einem der sechs[S. 16] kleinen Räume, in denen König Wilhelm I. 1867–1887 Jahr für Jahr einige Zeit zubrachte. Der Verwundete wurde von einem deutschen Arzt gepflegt, der die besten Hoffnungen für seine Wiederherstellung hatte, und von zwei barmherzigen Schwestern, von denen die eine französisch sprach. Auf meine Frage, ob er mit der Pflege, die ihm in Deutschland zuteil wurde, zufrieden sei, antwortete der Leutnant aus überzeugtem Herzen heraus mit Ja!
Er lag in einem großen Bett, und sein Gesicht war kaum weniger bleich als die reinen weißen Bettlaken, aber er sah gut aus mit seinem kurzgeschorenen Haar, der edlen Nase, dem schwachen Schnurrbart über den feingeschnittenen Lippen, und seine schwarzen französischen Augen erzählten von Lebenslust und scharfem Verstand. Er berichtete, er sei im Juni von Guinea heimgekehrt und habe gerade vor der Hochzeit gestanden, als der Krieg ausbrach und ihn von der Braut und den Eltern wegriß. In dem Gefecht bei Rossignol in Belgien traf ihn die Kugel. Es war ein entsetzlicher Tag. Er kämpfte im Feuer der Granaten, Maschinen- und Handgewehre. Die Kugel drang ihm durch Knie und Unterschenkel. Er fiel und blieb die ganze Nacht auf dem Schlachtfeld liegen. Am nächsten Tag las ihn die deutsche Ambulanz auf, und er wurde etappenweise bis Ems befördert. Ende August war Kaiser Wilhelm in Ems gewesen, und als er erfuhr, daß ein verwundeter Franzose da sei, hatte er ihn besucht. Der Leutnant erzählte, der Kaiser habe sich in ausgezeichnetem Französisch nach seiner Verwundung und seinem Befinden erkundigt. Ich sagte ihm, ich würde wahrscheinlich binnen kurzem den Kaiser treffen und dann Seiner Majestät mitteilen, welchen Eindruck der hohe Besuch auf den Verwundeten gemacht habe. Als ich mich später des freiwillig übernommenen Auftrags entledigte, zeigte sich, daß der Kaiser sich sehr wohl des französischen Leutnants erinnerte und sich über seine voraussichtliche Genesung freute.
Schließlich fragte ich den Kranken, ob ich ihm einen Dienst erweisen könnte, soweit das von den deutschen Behörden erlaubt sei. Er schien auf diese Frage gewartet zu haben. Tag und[S. 17] Nacht hatte er über dem einzigen Gedanken gebrütet: wie können meine Eltern und meine Braut erfahren, daß ich lebe und es mir gut geht? ich bin ja in Feindesland und habe keine Postgelegenheit! Ich bat ihn um seine Adresse, und er schrieb in mein Tagebuch: Monsieur Verrier-Cachet, Horticulteur, 52 Rue du Quinconce, Angers, Marne et Loire. Bald darauf saß ich an einem Schreibtisch, berichtete auf offener Postkarte und in deutscher Sprache das Schicksal des Leutnants Verrier und schickte die Karte an meine Familie in Stockholm, die durch Vermittlung des französischen Gesandten die Nachricht an obenstehende Adresse befördern sollte. Und daß die Nachricht ans Ziel kam und große Freude bereitete, das weiß ich; denn ich habe später aus Verriers Elternhaus die herzlichsten Grüße erhalten.
Oft bin ich seither schweren und zögernden Schritts durch Feld- und Kriegslazarette gewandert, besonders durch die Säle, in denen verwundete Franzosen, Engländer und Belgier lagen und die langsam verrinnenden Stunden zählten. Wie leicht hätte ich, der ich meine Freiheit und gesunde Glieder hatte, Postkarten in die Welt hinausschicken und sehnsüchtig Harrende von ihrer Unruhe erlösen können! Nichts ist so peinigend und schwer zu tragen wie die Ungewißheit über das Schicksal derer, die man liebt. Wenn in der Verlustliste der Name eines Sohnes, Bruders oder Ehemanns unter den Vermißten steht, ist das Leid für die Daheimgebliebenen größer, als wenn er gefallen wäre. Zwar besteht noch die Hoffnung, daß er am Leben sei, aber sie wird von unheimlichen Vorstellungen verdrängt: man sieht ihn verwundet, verblutend, einsam und verlassen in Nacht, Kälte und Durst. Oft habe ich mir Vorwürfe gemacht, daß ich solche Postkarten nicht schrieb. Aber ich tröstete mich damit, daß ich einmal kein Recht dazu hatte, mich in die Bestimmungen hineinzumischen, die die deutschen Militärbehörden über die Verbindung Verwundeter mit ihrer Heimat getroffen hatten, und dann waren ihrer auch allzu viele. Immer sah ich schon am Abend des Tages ein, daß das Wirken als barmherziger Bruder eine hoffnungslose[S. 18] Aufgabe gewesen wäre. Übrigens wurde vom Beginn des Oktober an allen Gefangenen, also auch den Verwundeten, der Briefwechsel mit ihrer Heimat gestattet, nachdem die französische Regierung den Grundsatz der Gegenseitigkeit anerkannt hatte. —
Wir betrachteten noch den Denkstein, der an die bedeutungsvolle, feste Antwort erinnert, die König Wilhelm am 13. Juli 1870, 9 Uhr 10 Minuten vormittags dem französischen Minister Benedetti gab, jene Antwort, die der Anlaß zum Französisch-Deutschen Kriege wurde. Und nun nach 44 Jahren standen wir wieder am selben Fleck! Nun war der Revanchegedanke zum Ausbruch reif geworden — soweit nicht andere böse Mächte Frankreichs Sehnsucht nach Rache für Elsaß-Lothringen benutzt haben, um selber daraus Vorteil zu ziehen und den Aufschwung aufzuhalten, den Deutschland inzwischen genommen hat. Denn ich habe genaue Kenner versichern hören, daß der Revanchegedanke in weiten Kreisen des französischen Volkes mit den Jahren im Abnehmen begriffen war. Eine nahe Zukunft wird entscheiden, wen die Verantwortung dafür trifft.
Der Rhein in seiner gewaltigen Pracht. Wir kreuzen ihn auf einer langen Pontonbrücke, auf der die Wachtposten zahlreicher als sonst stehen, und sind in Koblenz. Da, wo die Mosel in den Rhein mündet, steht ein Reiterdenkmal des alten Kaisers Wilhelm; der Sockel trägt die denkwürdigen Worte: »Nimmer wird das Reich zerstöret, wenn ihr einig seid und treu.« Heute bewahrheitet sich dieses Wort vor Deutschland und der ganzen Welt.
Die Straße führt uns auf das rechte Ufer der Mosel, wo eine Steinbrücke in schönem Bogen von Ufer zu Ufer führt und ein paar Moseldampfer unter der Roten Kreuz-Flagge verankert liegen. Ein Gewirr von engen Gassen, wimmelnd von Straßenbahnen, Droschken, Karren und Volk und vor allen Dingen von[S. 19] deutschen Soldaten. Die Landschaft liegt unbeschreiblich schön an diesen ewigen Flußwindungen; eine Stadt nach der andern lugt hinter den Vorgebirgen hervor, und graue Häuser mit ihren schwarzen Schieferdächern und schöne Kirchen lösen sich von dem grünen Hintergrund.
Schließlich erreichen wir Treis, wo eine lustige Fähre, wie ich sie von den sibirischen Flüssen kenne, uns auf das linke Ufer hinüberführt. Dort setzten wir unsere schnelle Fahrt fort. Wir kamen an mehreren Militärzügen vorüber und begegneten auch einem Lazarettzug, dessen beide erste Wagen verwundete Franzosen beherbergten, die übrigen deutsche. Den Franzosen ging es weder besser noch schlechter als den Deutschen. Alle lagen auf Stroh. Die Schiebetüren in diesen zum Lazarett eingerichteten Güterwagen standen offen, um den Kranken frische Luft zu verschaffen.
In der Stadt Eller rasten wir einige Zeit in einem Wirtshaus, dessen Wirt, Herr Meinze, uns mit allem unterhält, was er vom Krieg weiß. Sein Töchterchen springt davon und bringt einen Brief, der eben vom Sohn der Familie angelangt ist, einem zweiundzwanzigjährigen Potsdamer Garde-Ulanen. Der Briefschreiber beklagt sich, daß er einen Monat lang kein Wort von zu Hause gehört habe. Er sei in einem Gefecht gewesen, in dem ein französischer Flieger eine Bombe auf eine Batterie herabwarf, drei Mann tötete und zwanzig verwundete. Über seine englischen Gegner spricht er mit großer Verachtung. Er vergißt, daß, man mag über die englische Leitung sagen was man will, die Soldaten doch tüchtig sind, große persönliche Tapferkeit zeigen und sich mit Löwenmut und Todesverachtung schlagen. Seinen Brief beginnt er mit den Worten: »Liebe Eltern und Schwester«, und am Schluß gibt er der Hoffnung Ausdruck, daß Deutschland bald mit seinen Feinden fertig werden möge. Der bezeichnende Zug all dieser Feldpostbriefe ist die unbefangene Beurteilung der Lage und der blinde Glaube der Soldaten an die unüberwindliche Macht des Heeres und den schließlichen Sieg. Wenn ich falle, das bedeutet nichts — ob ich bei dem Triumphzug der heimkehrenden[S. 20] Krieger durch das Brandenburger Tor dabei bin oder nicht, was tut's? — aber Deutschland soll siegen, wenn nicht früher, doch sobald die Frühlingsblumen aus meinem Grab hervorwachsen!
Der nächste Weg nach Trier. — »Nach Wittlich?« fragt Rittmeister von Krum in einem Dorf, als er des Wegs nicht sicher ist. — »Nach Paris!« antworten ein paar muntere Mädchen, die uns die Richtung zeigen. Als wir endlich vor dem »Trierischen Hof« in Trier haltmachten, war es bereits dunkel. Wir waren durchnäßt und wollten uns nur trocknen, um dann die Reise nach Luxemburg fortzusetzen. Da aber der unbarmherzige Regen mehr zu- als abnahm und in Luxemburg kein Zimmer zu bekommen war, beschlossen wir, zu bleiben, wo wir waren. Im Restaurant wimmelte es von Offizieren, und auf den Straßen gingen die Soldaten in ihren grauen Mänteln. »Wo ist das Große Hauptquartier?« fragten wir bald hier, bald da. Keiner wußte es. Einige meinten, es sei in Luxemburg, andere, es sei nach Belgien verlegt. Nun, dachten wir, wir werden schon allmählich hinkommen.
Im »Trierischen Hof« waren wirklich noch ein paar Zimmer frei, in denen wir es uns bequem machten. Mein prächtiger Freund Krum erzählte mir, daß in Kriegszeiten alle Offiziere das Recht haben, sich einzuquartieren, wo sie wollen. Ein Zimmer mit Frühstück soll kostenlos zu ihrer Verfügung stehen; Mittagessen und sonstige Beköstigung müssen sie bezahlen. Der Offizier hat nur eine gedruckte Quittung auszufüllen, die er dem Wirt beim Aufbruch statt klingender Münze übergibt. Gegen diese Quittung bekommt der Wirt von der betreffenden Militärbehörde sein Geld, doch nicht die gleiche Summe wie in Friedenszeiten, denn die Taxe wird niedriger angesetzt als unter normalen Verhältnissen. Dasselbe gilt von Pferden, Wagen und allem, was im Krieg gebraucht wird; es wird von besonderen Kommissionen abgeschätzt und mit Quittungen bezahlt. In Trier war kein[S. 21] Auto aufzutreiben, nicht einmal eine Droschke, da alle Pferde fort waren. Als daher unser Wirt ein Telegramm erhielt, sein leicht verwundeter Sohn sei gegen 3 Uhr nachts zu erwarten, konnte er kein Fahrzeug auftreiben, um ihn abzuholen. Unser Automobil durften wir ihm nicht leihen; schließlich fand er das Auto eines Arztes und traf seinen Sohn bei ganz gutem Humor.
In besserem Gang waren die Straßenbahnen, und einer solchen bedienten wir uns, als wir am Abend die Horn-Kaserne aufsuchten, in der sonst das Infanterieregiment Nr. 29 von Horn liegt. Jetzt war das ganze Regiment im Feld und die Kaserne ein Lazarett. Sie kann tausend Soldaten aufnehmen, aber nur fünfhundert Verwundete, denn diese brauchen mehr Raum und Platz für Ärzte und Krankenwärter; außerdem werden mehrere Zimmer als Operationssäle, Baderäume usw. in Anspruch genommen. Bei unserem Besuch waren nur 220 Plätze belegt; 150 von ihnen hatten Franzosen inne. Sechs Ärzte und ein Oberarzt, dazu eine ganze Schar von Rote-Kreuz-Schwestern pflegten die Verwundeten.
Mit einigen jungen Ärzten schritten wir durch einen langen Korridor und besahen zunächst einige Operationssäle, die beim Ausbruch des Krieges in aller Eile hergerichtet und dann, soweit möglich, ganz modern ausgerüstet worden waren. Die Operationstische standen in der Mitte der Zimmer, die Wasserleitungen, Becken, Apparate, eine Masse chirurgischer Instrumente, alles in bester Ordnung. Wände und Boden dieser Säle waren mit Ölfarbe gestrichen. Es wurden hier im Durchschnitt fünfzehn Operationen am Tage vorgenommen. Ähnlich waren mehrere andere Kasernen in Trier in Krankenhäuser umgewandelt worden.
Dann betraten wir einen großen Saal mit deutschen Verwundeten. Alle waren vergnügt und munter, befanden sich vortrefflich und konnten sich keine sorgsamere Pflege denken, als sie in diesem Lazarett erhielten. Nur wurde ihnen die Zeit allzu lang; sie mußten immer an ihre Kameraden in den Schützengräben denken, sehnten sich in den Krieg zurück und hofften, bald[S. 22] wieder auf die Beine zu kommen, d. h. diejenigen, die wußten, daß sie nicht Krüppel fürs Leben waren!
In einem andern Saal wurden französische Soldaten gepflegt. Auch hier unterhielten wir uns mit einigen Patienten. Sie waren alle höflich und mitteilsam, ließen aber den fröhlichen Lebensmut der Deutschen vermissen, was ja auch kein Wunder war, da sie sich in Feindesland befanden und von aller Verbindung mit der Heimat abgeschnitten waren. Einer von ihnen war bei Rossignol verwundet worden, wie Leutnant Verrier, den er aber nicht kannte. Er hatte einen Schuß durch die linke Hand und durch das linke Bein, das der Arzt hatte amputieren müssen. Bei seiner Verwundung hatte er die Kraft und die Geistesgegenwart gehabt, bis zu einem Graben zu kriechen, wo er vor Wind und Wetter und Feuer geschützt war; einige Fetzen aus seinem Mantel hatte er um seine Wunden gewickelt. Tags darauf fanden ihn deutsche Sanitätssoldaten, legten ihm den ersten ordentlichen Verband an und trugen ihn ins nächste Feldlazarett, von wo er vor kurzem mit der Eisenbahn ins Trierer Kriegslazarett transportiert worden war.
Der andere Soldat hatte zwei Nächte auf dem Feld gelegen und unsagbar an Durst gelitten. Einige Male hatten Deutsche, die an ihm vorüberkamen, ihm Wasser und Schokolade gegeben. Schließlich hatte man Gelegenheit gefunden, ihn in das Verwundetenlager zu bringen. Wie sein Kamerad sprach er seine Dankbarkeit aus über die Behandlung, die ihm in Trier zuteil wurde, und aus mehreren Betten in der Nachbarschaft erscholl Zustimmung. Die beiden deutschen Ärzte, die uns begleiteten, erzählten, die französischen Verwundeten wollten gewöhnlich das Lazarett nicht verlassen, da sie wie einfache Gefangene behandelt werden, sobald sie wieder auf die Beine gekommen sind. Diese Auffassung ist ganz natürlich und wird sicher von allen Verwundeten geteilt, welcher Nation sie auch angehören mögen, denn es ist behaglicher, in seinem warmen Bett zu liegen und auf alle Weise gepflegt zu werden, als in einer Baracke zu wohnen oder[S. 23] in einem Gefangenenlager inmitten von Senegalnegern, Marokkanern und Indern!
Schließlich kamen wir in ein Zimmer, in dem drei französische Offiziere lagen. Einer von ihnen, der einen Lungenschuß hatte, schlief gut und ließ sich durch unsere Unterhaltung nicht stören. Der andere hatte einen gefährlicheren Lungenschuß, wurde immer von einem bösen Husten geplagt, der ihm bei jedem Anfall den Kopf vor- und rückwärts warf. Sein Zustand wurde für kritisch angesehen; auch wenn man die Adresse seiner Angehörigen gewußt hätte, wäre es keine Freude gewesen, sie von seinem Befinden zu unterrichten. Der dritte, ein großer, wohlbeleibter Kapitän, hatte mehrere Jahre im südlichsten Marokko Dienste getan und war an Kämpfe mit den Tuaregs in der Sahara gewöhnt. Aber dieser Krieg war doch etwas ganz anderes. »Terrible!« Von seiner afrikanischen Garnison her war er in diesen furchtbaren Krieg gerufen worden. In einem Gefecht in Belgien hatte eine Kugel ihm den rechten Fuß zerschmettert, während eine andere ihm ein paar Finger abriß. Er meinte sich zu erinnern, daß ihm bereits auf dem Schlachtfeld seine Wunden von deutschen Sanitätssoldaten oder Ärzten sorgsam verbunden worden seien; dann war in einem Feldlazarett sein Verband erneuert worden. Als verhältnismäßig Leichtverwundeten hatte man ihn nach Luxemburg gebracht und jetzt nach Trier. Wahrscheinlich wußte er, daß er, sobald er geheilt war, mit all den Vorteilen seines Ranges in Gefangenschaft gehalten und außerdem die Hälfte des Soldes bekommen würde, den er in seiner Heimat bezog. Nun lag er da, der Kapitän mit den freundlichen Augen, der Adlernase und dem Vollbart, und versicherte jovial und gutmütig, daß er über absolut nichts zu klagen habe, nur über das Geschick, das ihm versage, noch weiter für sein Land zu kämpfen. Aber er trug sein hartes Schicksal als Philosoph und als Mann. Ein Lächeln umschwebte seine Lippen, und er war dankbar für die Hilfe, die er empfing, und für das Interesse, das ihm die unbekannten Gäste erwiesen.
[S. 24] Die jungen Ärzte, die uns führten, berichteten, daß die deutschen Soldaten sich immer und ohne Ausnahme an die Front zurücksehnten, soweit ihr Zustand solche Gedanken nicht einfach unmöglich machte. Bei den Franzosen sei die Stimmung eine andere: »Alles — nur nicht zurück an die Front!« Auch das ist aus psychologischen Gründen ganz natürlich. Nichts drückt den Soldaten so nieder und demoralisiert ihn so, wie eben die Gefangenschaft. Er spielt die Rolle des Schwächeren, er lebt ausschließlich von der Gnade anderer, seine Kraft ist erschöpft, seine Initiative gelähmt und seine Kampflust vergebens. Da sagt er, um persönliche Vorteile zu gewinnen und aus einer an und für sich widrigen Situation das Beste herauszuschlagen, manches, was er jenseits der Feuerlinie niemals gesagt hätte. Deshalb würde man jedem Heere unrecht tun, wenn man seinen Kampfwert nach den Aussagen der Gefangenen beurteilen wollte.
Hierin findet man vielleicht auch die Erklärung für das Faktum, daß in dem Trierer Lazarett, wenigstens in der Horn-Kaserne, die Sterblichkeit unter den Franzosen viel größer war als unter den Deutschen. Die Wunden der Deutschen heilen leichter und schneller als die der Franzosen, und das psychologische Moment ist dabei von unverkennbarer Wirkung. Der deutsche Soldat kann Zeitungen lesen und mit seinen Angehörigen Briefe wechseln. Der französische Soldat ist ganz und gar von der äußeren Welt abgeschnitten, ein Nachteil, von dem bis Ende September auch die in Frankreich gefangenen Deutschen betroffen wurden. (Vergl. oben S. 18.) Und ein Gefangener, der nichts von dem Gang des Kampfes erfährt, leidet doppelt unter dem Eindruck, besiegt zu sein. Diese trostlosen Gedanken wirken auf seinen Zustand zurück und vermindern seine Widerstandskraft, er wird Fatalist und vermag nicht gegen den Tod anzukämpfen. Er gibt alles verloren und hofft nicht einmal auf Wiederherstellung und Heimkehr.
Als wir am Morgen des 18. September Trier verließen, waren wir über die geographische Lage des Hauptquartiers genau so wenig unterrichtet wie in Berlin. Wieder fuhren wir über die Mosel und warfen einen Blick hinauf auf die Höhen, wo am 4. August Franzosen in Zivil den Luftschiffern, die die deutsche Mobilisierung erkunden wollten, Lichtsignale gegeben hatten. Bei der Flugstation machten wir halt und betrachteten die »Tauben« in ihrem »Taubenschlag« von Zelttuch.
Dann nehmen wir Abschied von der Mosel. Links haben wir bereits die Straßen nach Metz und Saarbrücken hinter uns, und nicht weit nach Süden liegt die Grenze Lothringens. Hinter Wasserbillig kreuzen wir den kleinen Fluß Sauer und sind damit im Großherzogtum Luxemburg. An einem Eisenbahngleis hält uns ein unendlich langer, leerer Zug auf; er fährt nach Deutschland, um Soldaten zu holen. Das Volk in Luxemburg mustert uns mit gleichgültigen Blicken. Es ist vorbei mit dem Grüßen und freundlichen Winken. Hier grüßt niemand, und niemand verrät seine Gedanken — freundliche Gedanken können es gerade nicht sein.
Schließlich schlängelt sich unser Weg in ein schönes Tal hinab. Auf dessen Grund liegt ein Teil der kleinen und lieblichen Stadt Luxemburg.
Nunmehr aber beginnen wir zu suchen, denn ohne Zweifel ist hier das Hauptquartier. Wachtposten mit geschultertem Gewehr stehen an den Eingängen zu allen Hotels, überall werden Soldaten sichtbar, Offiziere eilen in Automobilen vorüber. Auf einem Markt sind große Zelte für Pferde aufgeschlagen, und vor ihnen stehen pfeiferauchende Wachtposten. Und auf einem andern Markt stehen ganze Reihen von Kraftwagen, beladen mit Benzin und Öl in zylindrischen Gefäßen.
Bei unsern Nachforschungen müssen wir die militärische Ordnung beobachten und fahren daher auf das Haus zu, wo der Generalstab sich einquartiert hat, und das unter gewöhnlichen Verhältnissen eine Schule ist. Krum geht hinauf und kommt bald[S. 26] mit dem Bescheid zurück, daß wir uns bei Oberstleutnant von Hahnke zu melden haben. Der schickt uns zum Generalstabschef Exzellenz von Moltke, der eben mit seiner liebenswürdigen schwedischen Gemahlin am Mittagstisch im »Kölnischen Hof« sitzt. Frau von Moltke steht im Dienste des Roten Kreuzes und war in dieser Eigenschaft zu kurzem Besuche in Luxemburg eingetroffen. An ihrem Tische fühlte ich mich fast wie daheim, ich war ja so oft in ihrem gastfreien Hause in Berlin gewesen. Ruhig, als wäre er im Manöver, zündete sich der General seine Zigarre an und unterrichtete sich genau über meine Pläne und Wünsche. Ich möchte die Front sehen, erklärte ich ihm, soweit mir das überhaupt erlaubt werden könne, und ich hätte die Absicht, zu schildern, was ich mit eigenen Augen vom Krieg sehen würde. Wenn möglich, wollte ich einen Eindruck von einer modernen Schlacht gewinnen; auch hoffte ich Gelegenheit zu finden, die okkupierten Teile von Belgien zu besuchen.
Der General dachte eine Weile nach. Die Erlaubnis zum Besuch der Front hatte ich bereits erhalten; es blieb also nur noch zu bestimmen, wo ich am besten meine Studien beginnen konnte. Die Armee des Kronprinzen war die nächste und in ein paar Stunden zu erreichen. Der General erklärte sich also bereit, alles für meine Reise ordnen zu lassen; binnen kurzem sollte ich über das Programm näheres hören. »Sicher sind Sie natürlich nicht innerhalb des Operationsgebietes, es ist nicht weit bis dahin, wenn Sie genau aufpassen, hören Sie den Kanonendonner von Verdun.«
Im Lauf des Tages wurde mir ein vom Generalstabschef unterzeichneter »Ausweis« zugestellt. Er enthielt die Erlaubnis, dem Gang der Ereignisse bei den verschiedenen Truppenteilen des Heeres beizuwohnen, ferner die Bitte an alle Kommandobehörden, mir das weiteste Entgegenkommen zu bezeigen und mich mit Rat und Tat zu unterstützen. Dieses Papier war ein »Sesam öffne dich«; es gab mir fast unbeschränkte Bewegungsfreiheit.
[S. 27] Das Große Hauptquartier ist das Herz der Armee, oder richtiger sein Gehirn; hier werden alle Pläne entworfen, von hier gehen alle Befehle aus. Ähnlich verhält es sich auch in Frankreich, Rußland und Österreich. Deshalb ist das Große Hauptquartier ein unerhört verwickelter Apparat mit einer im voraus bis ins einzelne festgestellten Organisation. Wenn sich so ein Apparat in einer kleinen Stadt wie Luxemburg niederläßt, werden alle Hotels, Schulen, Kasernen, alle öffentlichen Gebäude und viele Privathäuser für die Einquartierung in Anspruch genommen. Das Land, das Gegenstand der Invasion ist, kann nichts tun, als sich in sein Schicksal finden. Aber nichts wird ohne weiteres genommen, alles wird nach dem Krieg ersetzt. In einem Hotel war das Kriegsministerium einquartiert, in einer Schule der Generalstab, in einem Privathaus das Bureau des Automobilkorps usw. General Moltke wohnte im »Kölnischen Hof«, der Reichskanzler und der Minister des Äußeren in einem äußerst eleganten Privathaus, die meisten Herren vom Stab und vom Gefolge des Kaisers im Hotel Staar, wo auch mir ein Zimmer zur Verfügung stand.
Wenn ich mich aus leichtbegreiflichen Gründen nicht weiter beim Großen Hauptquartier aufhalten kann, so muß ich doch etwas über Einen Mann sagen, den ich dort traf, und den ich für eine der größten und merkwürdigsten Gestalten der Geschichte, den mächtigsten und imposantesten Herrscher unserer Zeit, und außerdem für einen der genialsten und interessantesten Menschen halte.
Als Wilhelm II. im Juni 1913 sein fünfundzwanzigjähriges Regierungsjubiläum als Deutscher Kaiser feierte, schrieb ich in einer deutschen Zeitung u. a. folgende Worte über ihn, die zum großen Teil bereits in Erfüllung gegangen sind: »Durch seine starke und mächtige Persönlichkeit drückt Wilhelm II. dem Zeitalter, dem er angehört, sein Gepräge auf. Bisher geschah dies im Zeichen des Friedens. Was die Zukunft im Schoße trägt, weiß niemand, aber so viel wissen wir, daß keine fremde Macht[S. 28] Deutschlands Ehre und Sicherheit zu nahe treten darf. Und wenn unfreundliche Götter einmal blutige Runen an seinen Himmel schreiben, dann wird der Kaiser tätig und impulsiv wie in den Tagen des Friedens seine Legionen ins Feuer führen, und die goldenen Adler seines Helms werden ihnen den Weg zu neuen Siegen zeigen.«
Es wird wohl auch für alle Zeiten in der Geschichte als unerschütterliches Faktum bestehen bleiben, daß Kaiser Wilhelm im Lauf eines Vierteljahrhunderts sein möglichstes tat, um die Unwetter des Krieges von Deutschlands Grenzen fernzuhalten. Mehr als einmal hat der Ausbruch eines Krieges an einem Haar gehangen, und alle sind darin einig, daß des Kaisers persönliches Eingreifen eine Katastrophe abgewendet hat. Noch vor nicht langer Zeit war der Weltkrieg näher als die Mitwelt ahnte — auch damals gab die Friedensliebe des Kaisers den Ausschlag. Viele tadelten ihn deswegen und nannten seine Haltung unentschlossen und nachgiebig. Aber auch hier wird das Urteil der Geschichte zu seinen Gunsten ausfallen. Währenddessen rüstete sich Deutschland für die blutigen Ereignisse, an deren bevorstehendem Ausbruch kein klar sehender Mensch zweifeln konnte. Auf die Dauer war der Kampf für die Erhaltung des Friedens hoffnungslos. Das sah niemand deutlicher als der Kaiser selbst, und deshalb hat er während seiner ganzen Regierungszeit daran gearbeitet, die Streitkraft des Reiches zu Wasser und zu Land zu stärken. In dieser Stunde schwimmt die Flotte wie ein gigantisches Monument auf dem Meere, ein Monument der klugen und klaren Voraussicht ihres Urhebers. Denn der Kaiser selbst ist es, der im Verein mit seinem unübertrefflichen Großadmiral Tirpitz die schwimmenden Festungen geschaffen hat, ohne welche Deutschlands Lage verzweifelt gewesen wäre, als England mit seiner Kriegserklärung kam.
Gleich bei meiner Ankunft in Luxemburg hatte ich die Ehre, für den nächsten Tag 1 Uhr bei Kaiser Wilhelm zu Mittag eingeladen zu werden. Die meisten Gäste wohnten im Hotel Staar, und die Automobile sollten von dort rechtzeitig abgehen. Ich fuhr[S. 29] mit dem Generaladjutanten Exzellenz von Gontard. Der Kaiser wohnte im Haus des Deutschen Gesandten und hatte seine Privaträume eine Treppe hoch. Im Erdgeschoß war die Kanzlei, wo gewaltige Karten über die Kriegsschauplätze auf Staffeleien aufgestellt waren; daneben war der Speisesaal, ein ganz kleiner Raum.
In der Kanzlei versammelten sich die Gäste, alle in einfacher Uniform ohne allen Zierat. Ich selbst war in Alltagskleidung. Unter dem Gefolge des Kaisers fand ich ein paar alte Bekannte, den Generaladjutanten von Plessen und Admiral von Müller, der aus Smaaland stammt und so gut Schwedisch spricht wie Deutsch. Im übrigen bemerkte ich die Exzellenzen und Adjutanten von Treutler, Frhr. von Marschall, von Mutius, Generalarzt Dr. von Ilberg, den Fürsten Pleß und von Arnim. Wir waren also zehn Mann.
Punkt 1 Uhr wird die Tür des Vestibüls geöffnet, und Kaiser Wilhelm tritt mit festen, ruhigen Schritten herein. Aller Augen richten sich auf die mittelgroße, kraftvoll gebaute Gestalt. Es wird vollkommene Stille, man fühlt: eine große Persönlichkeit ist ins Zimmer getreten. Der ganze, sonst so anspruchslose Raum hat eine unerhörte Bedeutung erhalten. Hier ist die Achse, um die sich die Weltereignisse drehen. Hier ist das Beratungszimmer, von dem aus der Krieg geleitet wird. »Deutschland soll zermalmt werden«, sagen seine Feinde. »Magst ruhig sein«, sagt das deutsche Heer zu seinem Vaterland. Und hier steht in unserer Mitte sein oberster Kriegsherr, ein Bild der Mannhaftigkeit, Entschlossenheit und offenen Ehrlichkeit. Ihn umkreisen die Gedanken der ganzen Welt; er ist Gegenstand der Liebe, blinden Vertrauens, der Bewunderung, aber auch der Furcht, des Hasses und der Verleumdung. Ihn, der den Frieden liebt, umrast der größte Krieg der Geschichte, und um seinen Namen tobt der Kampf. Ein Mann, der in einem stammverwandten Reiche einen so unsinnigen Haß und so schändliche Schmähungen hat erwecken können, muß in Wahrheit ein sehr bedeutender Mann sein, denn sonst würden ihn seine Verleumder in Frieden lassen und die Schalen[S. 30] ihres Zornes über einen andern ausleeren, der mehr zu fürchten ist. Aber alles, was Verleumdung, Feigheit und Weiberklatsch ausdenken kann, ergießt sich über sein Haupt. Seine Absichten werden verdreht, seine Worte mißdeutet, seine Handlungen zu Verbrechen gestempelt. Aber in ganz Deutschland, im ganzen deutschen Heer erklingt sein Lob. Bei den Feldgottesdiensten und in allen Kirchen Deutschlands, an Wochen- und Feiertagen wird brünstig für sein Wohlergehen gebetet. »Magst ruhig sein!« können die Soldaten ihrem Kaiser sagen; und sie ihrerseits wissen, daß er niemals seine Pflicht versäumt, und daß er nie zurückweichen wird, ehe Deutschlands Zukunft gesichert ist.
Es ist kein Kaiser Karl V., kein Imperator, der in die Kanzlei tritt. Es ist ein Offizier in der denkbar einfachsten Uniform, einem kurzen, graublauen Waffenrock mit doppelten Knopfreihen, dunkeln Beinkleidern und gelben Feldstiefeln. Nicht einmal das kleine schwarz-weiße Band des Eisernen Kreuzes schmückt ihn. Aber es ist eine fesselnde und gewinnende Persönlichkeit, ein höflicher und freundlicher Weltmann. Seine scharfe Auffassung und sein glänzendes Charakterisierungsvermögen verraten den Beobachter und Künstler, sein kluges Sprechen den Staatsmann, seine energische Haltung, seine ausdrucksvollen Bewegungen und prächtigen Schlachtenschilderungen den Feldherrn, sein verbindliches Wesen Bescheidenheit und Menschenfreundlichkeit, und seine männlichen, befehlenden Worte den Herrscher, der an Gehorsam gewöhnt ist. Glücklich das Volk, das besonders in unruhigen Zeiten einen Herrscher besitzt, der das Vertrauen aller genießt, und an dessen Beruf niemand zweifelt.
Aber es ist auch ein Paar Augen, die eine wunderbar magnetische Kraft haben und alle fesseln, sobald der Kaiser hereintritt. Es ist, als würde der ganze Raum heller, wenn man den ruhigen blauen Augen des Kaisers begegnet. Seine Augen sind merkwürdig ausdrucksvoll. Sie erzählen vor allem von unerschütterlicher Willenskraft und eiserner Energie. Sie erzählen von Wehmut über die Blindheit derer, die nicht einsehen wollen, daß er nur[S. 31] das will, was Gott gefällig und seinem Volke nützlich ist. Sie erzählen auch von sprudelndem Witz, von durchdringendem Verstand, dem nichts Menschliches fremd ist, und von unwiderstehlichem Humor. Sie erzählen von Ehrlichkeit, Wahrheitsliebe und einer Aufrichtigkeit, die niemals den Blick abirren läßt, der einem fest und unerschütterlich durch Mark und Bein dringt.
Das Gefühl von Verzagtheit, das man vielleicht gehabt hat, während man auf den mächtigsten und merkwürdigsten Mann der Erde wartete, verschwindet spurlos, sobald der Kaiser nach einem mehr als kräftigen Handschlag und herzlicher Begrüßung zu sprechen begonnen hat. Seine Stimme ist männlich, militärisch, er spricht außerordentlich deutlich, ohne eine einzige Silbe zu verschlucken. Er sucht nie nach einem Wort, sondern trifft immer den Nagel auf den Kopf, oft mit sehr kräftigem Ausdruck. Er begleitet seine Rede mit hastigen und ausdrucksvollen Bewegungen des rechten Arms, während der linke in Ruhe bleibt. Seine Rede fließt spannend und interessant dahin. Sie wird oft von blitzschnellen Fragen unterbrochen, die man sich bemühen muß, ebenso schnell und klar zu beantworten, und gelingt einem das, so kann man des Kaisers Zufriedenheit bemerken. Er ist äußerst impulsiv, und seine Rede ist eine Mischung von Ernst und Scherz. Eine kluge Antwort oder eine lustige Anekdote lösen bei ihm ein herzliches Lachen aus, das auch seine Schultern erschüttern kann.
Auf Befehl des Kaisers gingen wir in den Speisesaal. Admiral von Müller saß links, ich rechts von dem hohen Wirt, ihm gegenüber der Generaladjutant von Gontard.
Der Mittagstisch war einfach gedeckt. Der einzige Luxus war die goldene Klingel, die vor dem Kuvert des Kaisers stand, und mit der er klingelte, sobald ein neues Gericht hereingetragen werden sollte. Das Mittagessen war ebenso einfach: Suppe, Fleisch mit Gemüse, Nachspeise und Früchte mit Rotwein. Ich bin selten so hungrig gewesen, als nachdem ich von des Kaisers Tisch aufgestanden war! Nicht wegen der geringen Anzahl der Gerichte, sondern weil niemals eine Pause im Gespräch entstand, bis die[S. 32] Klingel zum letztenmal erscholl, alles sich erhob, und die feldmäßig uniformierten Lakaien unsere Stühle wegrückten. Der Kaiser sprach fast die ganze Zeit mit mir. Er knüpfte an meinen letzten Vortrag in Berlin an, dem er beigewohnt hatte; Tibet, wo ich so unruhige Zeiten erlebte, werde wohl bald das einzige Land auf der Erde sein, das Ruhe habe. Dann sprach er von der Weltlage und den Stürmen, die über Europa hinbrausen. Mich freute besonders, zu hören, mit welcher Achtung und Sympathie sich der Kaiser über Frankreich aussprach. Er beklagte die Notwendigkeit, die ihn gegen seinen Wunsch gezwungen habe, sein Heer gegen die Franzosen zu führen, und er hoffte, daß die Zeit kommen werde, da Deutsche und Franzosen gute Nachbarschaft halten könnten. Auf dieses Ziel habe er sechsundzwanzig Jahre hingearbeitet, und er hoffe, daß eine ganz neue Ordnung der Dinge aus dem gegenwärtigen Krieg hervorgehen werde. Eine Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich werde mit Notwendigkeit ein unerschütterliches Bollwerk für den zukünftigen Frieden schaffen. Erst aber den Sieg über die unübersehbaren Heere, die vier Großmächte gegen Deutschlands Grenzen und die deutschen Besitzungen in fremden Weltteilen werfen, dann ein ehrenvoller und nach allen Seiten hin Sicherheit schaffender Friede und schließlich der große und festgebaute Weltfriede. Vor allem setzt der Kaiser sein Vertrauen in Gott, aber er verläßt sich auch blind auf das deutsche Volk und seine große, herrliche Armee. Er vertraut auf die glänzende Tapferkeit und die Todesverachtung der Soldaten und auf das Offizierkorps, das sie zu Wasser und zu Lande führt.
Wenn die Franzosen eine Ahnung von der wirklichen Denkweise des Kaisers hätten, würden sie ihn ganz anders beurteilen als jetzt. Und niemand wird wohl glauben, daß ich die Verantwortung auf mich nehmen könnte, dem Kaiser andere Urteile in den Mund zu legen als die, die er wirklich gefällt hat und die ich selbst von ihm gehört habe. Das hieße die Gastfreundschaft, die ich an der Front genossen habe, übel lohnen.
[S. 33] Auf dem Tisch in der Kanzlei standen Zigarren und Zigaretten und ein brennendes Licht. Hier wurde die Unterhaltung lebhaft fortgesetzt, in Ernst und Scherz, Erzählungen von Kriegsgreueln und lustige Anekdoten wechselten ab, bis der Kaiser sich verabschiedete, mir eine glückliche und lehrreiche Reise wünschte und in seine Zimmer hinaufging, wo gewiß ganze Berge von Papieren und Briefen, Rapporten und Telegrammen ihn erwarteten.
Alles Gerede, daß der Kaiser unter dem Krieg gealtert sei, daß der Krieg mit all seiner Mühe und Unruhe seine Kräfte und seine Gesundheit verzehrt habe, ist Dichtung. Sein Haar ist nicht stärker ergraut als vor dem Krieg, sein Gesicht hat Farbe, und er ist so wenig abgezehrt und mager, daß er im Gegenteil von Leben und Kraft strotzt. Ein Mann von Kaiser Wilhelms Art ist in seinem Element, wenn die Macht der Verhältnisse ihn zwingt, alles was er besitzt und vor allem sich selbst zum Nutzen und zur Ehre seines Reiches einzusetzen.
Der neue Begleiter, den mir General Moltke für die Fahrt in das Hauptquartier des Kronprinzen gegeben hatte, hieß Hans von Gwinner und war ein Sohn des großen Bank- und Bagdadbahndirektors in Berlin; lebhaft und energisch lenkte er selbst sein Automobil. Bald saß ich an seiner Seite, während der uns begleitende Soldat im Wagen Platz nahm.
In strömendem Regen ging es aus der Stadt hinaus. Der Weg war schlüpfrig, aber wir fuhren mit rasender Geschwindigkeit. Wir waren spät aufgebrochen und wollten noch vor Anbruch der Nacht ans Ziel kommen; sonst war man nicht sicher vor Franktireurs. Bei der fünften Armee hatte man neulich einen Trupp Franktireurs gefangen genommen und ohne Pardon erschossen.
Unser Weg führt nach Westen. Bei Redingen überschreiten wir die Grenze von Französisch-Lothringen. »Karabiner laden«, ruft der Leutnant hastig dem Soldaten zu. Ich sehe mich unwillkürlich[S. 34] um, vermag aber nichts Ungewöhnliches zu bemerken; es war auch nur eine Vorsichtsmaßregel, aber der Befehl klang eigentümlich, als ich ihn zum erstenmal hörte. Im ersten französischen Ort, Longlaville, sah man zahlreiche Spuren von deutschen Granaten, aber die Fabriken und ihre hohen Essen waren geschont. Auch in der Mitte und an den Seiten der Landstraße hatten die Granaten gewaltige Löcher gerissen, und so mancher Baum war von einem Kanonenschuß gefällt. Von einigen Häusern ist nicht viel mehr übrig als die Mauern; von andern hat ein Streifschuß nur das Dach weggerissen. Die Bahn an der Außenseite der Landstraße ist übel zugerichtet, und hier und da sind ihre Schienen wie Stahldraht aufgewickelt. Auf den Kirchtürmen ist oft das Dach abgedeckt, eine besondere Vorliebe der Franzosen, um offenen Spielraum für die Maschinengewehre und Beobachtungspunkte für die Offiziere zu schaffen, die die deutschen Artilleriestellungen und die Wirkung des französischen Feuers erkunden sollen.
»Wo geht der Weg nach Longwy?« fragt Gwinner. — »Geradeaus.« Die Antworten sind stets höflich, wenn auch die Wut im Herzen klopft. Eins der beiden detachierten Forts von Longwy bleibt rechts liegen, und bald darauf sind wir in der kleinen Fabrikstadt, die in einem Tal gelegen und rings von Höhen umgeben ist. Auf einer dieser Höhen liegt die Festung Longwy, die gleich zu Anfang des Kriegs nach äußerst heftiger Beschießung von den Deutschen mit Leichtigkeit eingenommen wurde. Tot und verlassen sah die Stadt keineswegs aus, denn ein großer Teil der Einwohner war zurückgekehrt, nachdem der Krieg weiter nach Westen vorgerückt war, und das Leben fing wieder an so gut wie es ging in seine alten Bahnen zurückzukehren.
Vor der Stadt standen die nackten, schwarzen Mauern eines ausgebrannten Hauses; aus seinen Fenstern hatte man auf deutsche Truppen geschossen, die deswegen nach Kriegssitte das Gebäude in Brand steckten. Überall, wohin man sich wendet, Spuren des Kriegs: auf den Äckern und an den Grabenrändern fortgeworfene[S. 35] französische Tornister und Uniformstücke; im Straßengraben ein umgestürztes Automobil, rücksichtslos beiseite geschoben, um nicht den Verkehr zu stören; ein Stück weiter ein Motorlastwagen. Hier Trümmer von Gewehren und Munitionswagen, dort halbmondförmige Wälle zum Schutz für Feldkanonen. Ein Grab mit Holzkreuz, dann wieder eins — eine ganze Reihe von Gräbern — Soldatengräber! In der Mitte der Straße ein paar mit Regenwasser gefüllte Granatlöcher; sie können gefährlich werden, wenn man sie in der Schnelligkeit für seichte Pfützen hält; aber Gwinner kennt diese Straße schon. Rechts und links vom Wege tiefe, schmale Schützengräben mit kleinen Wällen als Brustwehr und Gewehrstütze. Die Soldaten sind jetzt fort, und stumm liegen diese Äcker, auf denen vor einem Monat 300000 Mann gekämpft haben! Auf manchem Feld wurde die Ernte von deutschen Truppen geborgen. An den Grabenrändern, in Wäldchen und Gebüschen sieht man niedrige, aus Zweigen und Ästen gebaute Hütten, in denen die französischen Soldaten vor Regen und Kälte Schutz suchten. Die deutsche Infanterie dagegen hat Zelte, und jeder Soldat trägt auf seinem Tornister eine Zeltbahn.
Unser Weg führt durch ein Stück Wald. Die Franzosen wissen ihre Stellungen in waldigem Gelände sehr geschickt zu halten. Sie verstecken Maschinengewehre in den Baumkronen. Von Flüssen durchzogene Täler und Waldgegenden betrachten daher die Deutschen als schwer zu erobern. Auf offenerem Gelände wie im mittleren und südlichen Frankreich läßt sich leichter im Sturm vorgehen.
Die Hauptstraße von Longwy sieht trostlos aus. Eine lange Strecke weit kein Haus mehr, nur Ruinen, Schutthaufen, nackte Mauern mit gähnenden Fensteröffnungen. Nur an den Brücken schultern deutsche Wachtposten ihr Gewehr, sonst kein Mensch! Die Stadt Noërs ist niedergebrannt und ihr Kirchturm zusammengeschossen, da ein Maschinengewehr von dem Platz aus gesungen hat, wo sonst die Glocken zum Abendgebet rufen. Aber nirgends Leichen, keine gefallenen Soldaten, keine toten Pferde; alle sind[S. 36] von den Deutschen begraben worden, damit sie nicht die Luft verpesten und Seuchen hervorrufen. Doch an die Heimsuchungen des Krieges erinnert noch genug. Längs einer Hecke eine Reihe Strohhütten, weiterhin umgeworfene Wagen, mit denen die Franzosen versuchten, die vortreffliche, zu beiden Seiten mit Bäumen bepflanzte Chaussee zu sperren. Nebenher läuft die Telegraphenlinie, die von den Verteidigern zerstört, dann aber wieder von deutschen Telegraphenarbeitern instand gesetzt wurde. —
In Marville wird der Verkehr lebhafter. Gleich neben der Straße auf einem Felde hat eine Proviantkolonne ihre mit bogenförmigen Zeltdächern versehenen Wagen im Viereck aufgestellt. Sie rasten, und die Leute haben ihre Lagerfeuer für die Nacht angezündet. Um die Wagenburg stehen Wachtposten.
Eine Strecke weiter hat wieder eine Proviantkolonne von einfacheren Wagen haltgemacht. Sie dürfen des Verkehrs wegen nicht auf der Straße halten; auch ist es leichter, eine gesammelte Kolonne zu bewachen und wenn nötig zu verteidigen. Hier überholen wir einen Motoromnibus mit Feldpost für die fünfte Armee; er donnert mit gewaltigem Lärm auf der harten Chaussee einher. Nun wird die Straße wieder von einer Proviantkolonne eingeengt, die noch in Bewegung ist. Da müssen wir langsamer fahren, damit die Pferde der eskortierenden Reiter nicht scheu werden und mit dem Auto zusammenstoßen. —
Schon haben wir Montmédy erreicht, dessen kleine Festung sich ergeben hat, ehe sie beschossen wurde. Bevor aber die Besatzung abzog, sprengte sie den Eisenbahntunnel, der durch den Berg führt. Die Deutschen gingen deshalb sofort daran, eine neue Eisenbahn um den Berg herum zu legen; mit diesem Bau waren französische Gefangene noch beschäftigt. Ein wunderlicher Anblick, diese Soldaten in ihren blauen und roten Uniformen arbeiten zu sehen, bewacht von deutschen Soldaten in feldgrauer Uniform und mit geschultertem Gewehr.
Gegen Abend klärt sich das Wetter auf, und die Sonne geht rot unter wie eine glühende Kugel. Ihre letzten Strahlen treffen[S. 37] einen Transport französischer Gefangener, die müde und gebeugt nach Montmédy wandern, bewacht von deutschen Soldaten.
Nun wird vor uns das Maastal sichtbar und die kleine Stadt Stenay.
Wir halten vor dem Haus des Armeeoberkommandos. Hier traf ich einen meiner Freunde aus dem Großen Hauptquartier, den Landrat und Reichstagsabgeordneten Freiherrn von Maltzahn, der zu den persönlichen Freunden des Kronprinzen gehört. Er teilte mir mit, daß ich erwartet werde und mich beeilen müsse, um bis zum Abendessen um acht Uhr fertig zu sein. Wir fuhren also bis zu dem kleinen französischen Schloß, wo der Kronprinz Quartier genommen hatte.
Militärisch uniformierte Lakaien nahmen meine Bagage in Empfang und führten mich in mein Zimmer im ersten Stock, neben den Privatgemächern des Kronprinzen. Bald darauf klopfte der diensthabende Hofmarschall Kammerherr von Behr, ein freundlicher junger Mann von feinem und ansprechendem Aussehen, an meine Tür, um mich zum Abendessen zu holen. Wir gingen durch das obere Vestibül auf die Treppe hinaus und wurden von deren Absatz aus Zeuge einer schönen Zeremonie: Im Hausflur stand eine Anzahl Offiziere in einer Reihe, ihnen gegenüber etwa zwanzig Soldaten. Dann erschien der Kronprinz, groß, schlank, aufrecht, in weißem Waffenrock mit dem Eisernen Kreuz erster und zweiter Klasse und trat sichern Schrittes zwischen beide Reihen. Ein Herr des Gefolges trug ihm eine Schachtel mit Eisernen Kreuzen nach. Der Kronprinz nahm eins und überreichte es dem nächsten Offizier, dankte ihm für die Dienste, die er Kaiser und Reich geleistet habe, und gratulierte mit kräftigem Handschlag dem neu ernannten Ritter. Nachdem die Offiziere ihre Orden für bewiesene Tapferkeit erhalten hatten, kam die Reihe an die Soldaten; das Zeremoniell war dabei dasselbe wie bei den Offizieren.
[S. 38] Nachdem die Ritter des Eisernen Kreuzes fort waren, gingen wir ins Vestibül hinab. Hier kam mir der Kronprinz entgegen und hieß mich in seinem Quartier und auf dem Kriegsschauplatz herzlich willkommen. Bei dem Essen waren folgende Herren zugegen: der Chef des Stabs der fünften Armee, Exzellenz Generalleutnant Schmidt von Knobelsdorf, Kammerherr von Behr, Generaloberarzt Professor Widenmann, die Majore von der Planitz, Müller und Heymann, Leutnant von Zobeltitz und einige Mitglieder des Stabs, die von der Arbeit im Felde später zurückkehrten und am Ende des Tisches Platz nahmen.
Was man beim deutschen Kronprinzen ißt? Nun, hier ist der Speisezettel: Kohlsuppe, Pfefferfleisch mit Kartoffeln, Entenbraten mit Salat, Früchte, Wein, Kaffee und Zigarren. Und wovon spricht man an seinem Tisch? Nun, das ist kaum möglich zu erzählen, denn wir bewegten uns so gut wie über die ganze Erde. Der Kronprinz begann, wie der Kaiser, mit Tibet, und von da aus hatten wir ja bloß einen Katzensprung über den Himalaja bis zu den Palmen im Hugli-Delta, zu den Pagoden in Benares, zum silbernen Mond über dem Tadsch-Mahal, den Tigern in den Dschungeln und dem kristallklaren Widerhall der indischen Wogen an den Klippen von Malabar Point bei Bombay. Wir sprachen von alten, unvergeßlichen Erinnerungen, von gemeinsamen Freunden, die zu Feinden geworden. Und wir sprachen vom Krieg und seinen Greueln und von den furchtbaren Opfern, die er fordert. »Das hilft nichts,« sagte der Kronprinz, »das Vaterland fordert alles von uns, und wir wollen, wir müssen siegen, wenn auch die ganze Welt gegen uns zu Felde zieht.« —
»Ist es nicht wunderlich, daß hier eine so große Ruhe herrscht? Wir leben ja heute abend wie im tiefsten Frieden, und doch haben wir bloß ein paar Stunden Wegs bis zu den Feuerlinien!« sagt mein erlauchter Wirt, nachdem er einen kurzen, präzisen und befriedigenden Rapport angehört hat, den ein eingetretener Offizier mit lauter Stimme vortrug.
[S. 39] »Ja, Kaiserliche Hoheit, ich hatte mir das Oberkommando einer Armee wie einen summenden Bienenkorb vorgestellt und finde nun in Wirklichkeit nicht einen Schimmer von Unruhe oder Nervosität, überall nur Ruhe und Sicherheit. Was ich aber am liebsten sehen möchte, das wäre eine Schlacht, denn ich vermute, daß ich mir ebenso wie die meisten andern Laien eine ganz falsche Vorstellung davon mache.«
Der Kronprinz lächelt und antwortet: »Ja, Schlachtenmaler wie Neuville und Detaille haben in unsern Tagen wenig Gelegenheit, ihre Kunst anzuwenden. Von den Kämpfenden sieht man nicht viel, da sie sich im Gelände und in den Schützengräben verborgen halten, und es ist gefährlich, einem Bajonettangriff zu nahe zu kommen, wenn man nicht dienstlich dort zu tun hat. Im großen und ganzen wächst der Abstand zwischen den Kämpfenden mit der Vervollkommnung der Feuerwaffen. Wer die beste Artillerie hat, hat die beste Aussicht, zu siegen. Für uns ist die feldgraue Uniform ein großer Vorteil, wir verschwinden im Gelände, während die grellfarbigen Uniformen der Franzosen auf weite Entfernung hin sichtbar sind. Eine Schlacht zu sehen ist fast unmöglich, nicht einmal der Heerführer, der sie leitet, sieht viel davon. Seine Leitung geschieht durch Rapporte, Ordonnanzen und Telephon. Als Zuschauer auf einer Anhöhe in der Nähe Aufstellung zu nehmen ist nicht anzuraten. Man kann da ziemlich sicher sein, daß man für einen Beobachter gehalten wird, der das Artilleriefeuer leitet und deshalb das Ziel der feindlichen Schrapnells ist. Sie werden jedoch bei Ihrem Besuch hier Gelegenheit bekommen, so viel zu sehen, wie überhaupt gesehen werden kann.«
Wie die Stimmung beim Kronprinzen von Deutschland war! Fröhlich, jugendfrisch und ungezwungen. Man merkte nichts von höfischer Steifheit, sogar der General, der sonst die strengste Disziplin aufrechterhielt, war von dem herrschenden kameradschaftlichen Geiste angesteckt. Eine Folge der gewaltigen Arbeitslast, die auf ihm ruhte, war jedoch, daß er für gewöhnlich später als die andern zu Tisch kam. Das Abendessen und das Zusammensein[S. 40] nachher zog sich bis gegen 11 Uhr hin. Das waren die einzigen Stunden, wo man sich in Ruhe traf, denn tagsüber waren alle bei ihren Arbeiten, und der Kronprinz übernahm dann an den dazu geeigneten Orten an der Front die Oberleitung.
21. September. Frühzeitig wird geweckt, denn um sieben Uhr war Frühstück, bei dem sich alles um den Kronprinzen versammelte. Dann bat mich der Kronprinz, ihn in das Haus des Generalstabs zu begleiten, wo ein »Feldzugsplan« für mich entworfen werden solle. Der General hielt es für das Richtigste, daß ich erst einmal das Artilleriefeuer bei Septsarges sähe. Drei Offiziere erhielten entsprechende Aufträge. Major Matthiaß war Leiter der Fahrt, ein Soldat Automobilführer.
Das Auto ist fertig und wir nehmen Platz. Mit rasender Geschwindigkeit fahren wir nach Süden, und ich will nicht leugnen, daß sich meiner jetzt eine steigende Spannung bemächtigte. Denn das hier war kein Manöver, sondern der Krieg selbst, der größte Krieg, der jemals auf Erden ausgefochten wurde, und wir waren an der Westfront, den Franzosen gegenüber, die mit Recht als die besten Soldaten unter Deutschlands Widersachern angesehen wurden. Von Minute zu Minute näherten wir uns der Feuerlinie, und wenn das Auto an den Kurven die Geschwindigkeit verlangsamte, hörte man die Kanonade immer deutlicher, diese dumpfen schweren Schüsse, von denen die Erde erzitterte. —
Die Straße ist voll von Proviantkolonnen, die nach Süden ziehen, von unzähligen Bagagewagen, die leer nach Norden fahren, um bei irgendeiner Eisenbahnstation neuen Proviant zu holen; von frischen Truppen, jungen, kräftigen Soldaten, die direkt aus Deutschland kommen. Aber fröhlich und guter Dinge sind sie alle; sie singen lustige Soldatenweisen, rauchen ihre Pfeifen und ihre Zigarren, lachen und schwatzen, als zögen sie hinaus zu einem ländlichen Volksfest. In Wirklichkeit aber ziehen sie hinaus, um die Lücken zu füllen, die das Feuer der Franzosen in die[S. 41] Reihen ihrer Kameraden gerissen hat. Sie sind Ersatztruppen, aber ich finde kein einziges Gesicht, das ein Vorgefühl des nahen Todes verrät. Den Kanonendonner hören sie deutlicher als wir, denn das Surren des Automobils übertönt alle anderen Laute. Aber sie scheinen an der dumpfen Musik Gefallen zu finden, und doch ist ihr Platz weit vor den Artilleriestellungen!
Wir rasen durch Dun. Man kann kaum von mehr als einer Straße in dieser kleinen, schön gelegenen Stadt an der Maas reden. Aber wie furchtbar ist sie verwüstet! Ein wehmutsvoller Trost, daß ihre Häuser von der eigenen Artillerie der Franzosen zusammengeschossen wurden, um den Deutschen den Aufenthalt in Dun so ungemütlich wie möglich zu machen. Dun ist jetzt Etappenort mit Etappenkommandantur, Etappenlazarett, Etappenmagazin und großem Lager von Waffen und Munition. Bis hierher reicht die Eisenbahn unter preußischem Betrieb; hier werden auch die Vorräte aus den Eisenbahnwagen umgeladen und vom Troß weiterbefördert.
Nun merkt man, daß wir uns dem Feuer nähern. Die ganze Straße wimmelt von Militär. Hier eine Schar Verwundeter, Kopf, Hand oder Arm verbunden; dort eine Munitionskolonne, eine endlose Reihe Wagen, sie sind voll beladen mit grober Munition, Granaten für die 21-cm-Mörser bei Septsarges und seine Nachbardörfer an der Front. Jedes Gespann von sechs Pferden samt dem zweiteiligen Munitionswagen erfordert sechs Soldaten. Drei reiten auf den linksgehenden Sattelpferden, zwei sitzen auf dem Bock der vorderen Wagenhälfte und einer nach rückwärts gewendet auf der hinteren Wagenhälfte. Sie haben Mauserpistolen links im Gürtel, die Säbel der Reiter sind links am Sattel befestigt. Was tut es, daß die Uniformen der Leute so schmutzig sind wie der Lehm und der Schlamm des Feldes; das ganze Gespann ist doch höchst malerisch mit seinen starken, schweren Geräten, seinen Deichseln, Lederriemen, Seilen und seinem ganzen Geschirr. Ein Reiter singt, ein anderer pfeift, ein dritter schreit ein widerspenstiges Nebenpferd an; hinten auf einem Wagen sitzen ein paar und[S. 42] drehen Zigaretten, bei der rumpelnden Bewegung des Wagens gar nicht so einfach. Zuletzt kommt die Feldküche der Mannschaft mit Proviant und einigen Bündeln Holz. Und immer klingt es in unsern Ohren, dies ewige »Tramp, Tramp«, wenn die Kolonnen vorbeiziehen, ein niemals versiegender Strom von Kriegern, Pferden, Proviant und Munition.
Endlich haben wir die Spitze der großen Kolonne erreicht. Hier reiten ein paar Offiziere, der Kolonnenführer und seine nächsten Leute. Sie grüßen. Kaum haben wir sie verlassen, da sind wir schon am Ende einer neuen Munitionskolonne; ihre Wagen sind mit je drei Soldaten bemannt und von vier Pferden gezogen, von denen nur das vordere linke beritten ist.
An den Straßenseiten fallen zahllose große, tiefe Löcher auf. Hier hat das Feuer ordentlich gehaust. Das sehen wir nur allzu gut, sobald wir wieder an die Maas herunterkommen, da, wo das Dorf Vilosnes so schlimm mitgenommen wurde. Aber mitten in der Verwüstung blüht das Soldatenleben: da halten Proviantkolonnen mit unzähligen Wagen, rasten große Abteilungen von Ersatztruppen, die sich ungeniert auf dem nassen Erdboden rings um ihre Gewehrpyramiden herum ausgestreckt haben, reiten Feldgendarmen in grünen Uniformen und werden die gefallenen Bagagepferde ersetzt, denn in Vilosnes haben die Deutschen ein Pferdedepot eingerichtet.
Nun donnern die Kanonen mächtig, und wir haben nicht mehr weit bis zu den deutschen Batterien. Noch ist keine Gefahr. Die unzähligen Granatlöcher um uns stammen nicht aus den letzten Tagen. Seitdem hier die Granaten fielen, sind die Deutschen weiter vorgerückt. Aber wir sind unmittelbar hinter den Feuerlinien; deshalb häufen sich hier alle Vorräte, die zur Ernährung von Menschen nötig sind, sowie Pferde, Kanonen und Gewehre. Mitten im Schlamm der Äcker, Felder und Wiesen haben die Proviantkolonnen und Feldlazarette ihre Biwaks. Nirgendwo auch nur ein handgroßer Fleck, wo man einen trockenen Schlafplatz für die Nacht herrichten könnte! Vermutlich schlafen[S. 43] die Leute auf den Wagen, soweit der Raum reicht. Abgehärtet und frisch wie sie sind, klagen sie nicht, sie singen nur.
Beim Dorf Dannevoux, das voller Ersatztruppen ist, kommen wir dem Feuer noch näher.
Sechs Kilometer weiter liegt Septsarges. Der Weg dorthin ist schon im Schußbereich der französischen Batterien, und von Zeit zu Zeit schlagen Granaten neben ihm ein. Aber wir fahren noch im Schutz einer schwachen Geländewelle im Süden, und es ist ein Glück, daß eine Panne uns zum Halten zwingt, während wir noch in Deckung sind; denn ein kleines Stück weiter vorn wird man von den französischen Beobachtungsposten gesehen und zieht dann mit aller Wahrscheinlichkeit das Feuer auf sich; die französische Artillerie ist so eifrig, daß sie ihre Munition auf einen einzigen Menschen verschwendet.
Das Auto ist wieder in Ordnung. »Schnell über die Höhe!« kommandiert Major Matthiaß. Leichter gesagt als getan, denn der Landweg ist schmal und ein vollständiges Moorbad, worin schwere Wagen bodenlos tiefe Furchen hinterlassen haben. Links im Süden werden zwei französische Fesselballons sichtbar; ein keineswegs behagliches Gefühl, denn sie stehen mit den Batterien unter ihnen in telephonischer Verbindung. Es wirkt auch gerade nicht ermunternd, am Wegrand Holzkreuze auf frischen Gräbern zu sehen. Dort im Graben ein totes Pferd — der Granatlöcher sind schon so viele, daß wir ihnen keine Aufmerksamkeit mehr schenken — neben der Straße eine Kolonne, die Hafer für die Pferde der Mörserbatterie gebracht hat. Schon sind wir in nächster Nähe der ersten Batterien mit je vier dieser gewaltigen Brummer. Zwischen zwei solchen Stellungen fahren wir während des Feuerns durch. »Laden!« kommandiert ein Hauptmann — »Fertig zum Feuer!« — gleich darauf »Feuer!« — alle vier Schüsse gehen fast gleichzeitig los. Blitzschnell fährt ein Feuerbüschel aus der Mündung. Ein Schuß erdröhnt, daß man[S. 44] sich die Ohren zuhält und das Land ringsum erzittert, und dann hört man das eigentümliche, unheimliche Pfeifen, wenn die Projektile in die französischen Stellungen hinübersausen. Jeder Mörser hat einen Schutzschild; bei den Kanonen findet die Bedienung in Erdhöhlen Deckung, falls das Feuer der Franzosen der Batterie allzu hart zusetzen sollte.
In Septsarges standen auch die Feldküchen bereit mit ihren rauchenden Schornsteinen. Tagsüber wird das Essen gekocht, und sobald es dunkel ist, fahren die Feldküchen in die Nähe der Schützengräben, wobei sie immer soviel als möglich im Gelände Deckung suchen. Die Mannschaften in den Schützengräben wissen, wo die Küchen zu finden sind, und begeben sich im Schutz der Dunkelheit dahin, um sich ihre Blechtöpfe mit siedender Fleischbrühe füllen zu lassen.
Im Dorf erkundigten wir uns bei ein paar Offizieren nach dem Stand der Dinge und fuhren dann bis zu einem geschützten Platz, wo wir unsern Wagen verließen. Darauf gingen wir weiter hinauf nach Süden, wobei wir die nächste Mörserbatterie links und eine Position von Feldartillerie rechts hatten. Auch die Mannschaften der Feldartillerie hatten sich neben den Kanonen Erdhöhlen gegraben und mit Zweigen, Stroh und Laub gedeckt, um sich vor französischen Fliegern zu verbergen. Vom Automobil aus gingen wir etwa achthundert Meter auf das französische Feuer zu. Die Schützengräben sind zwei ziemlich parallel laufende, einige hundert Meter voneinander entfernte Linien. Hinter ihnen sind die Artilleriestellungen, ebenfalls in zwei fast parallelen Linien. Wir bewegten uns also jetzt zwischen den deutschen Artilleriestellungen und den deutschen Schützengräben, d. h. in dem Gebiet, das das Ziel der französischen Artillerie war. Wir beobachteten daher alle Vorsichtsmaßregeln, die sich aus dem Gelände ergaben. Unser Ziel war ein Beobachtungsstand oben auf der Anhöhe, wo ein paar Artillerieoffiziere unbeweglich wie Bildsäulen bei ihren auf Holzstativen ruhenden Scherenfernrohren standen. Sie leiteten das Feuer der Mörserbatterie und meldeten mittels Telephon,[S. 45] wo die Granaten einschlugen, ob die Schüsse zu niedrig oder zu hoch gingen, zu weit rechts oder zu weit links vom Ziel, das nach den Meldungen der Patrouillen und Flieger festgelegt wird.
Unten gingen wir noch einigermaßen sicher, da wir nicht von der französischen Front aus gesehen werden konnten. »Achten Sie auf die Telephondrähte!« rief Matthiaß, der an der Spitze ging, als wir einige Leitungen im Grase überschritten. Nun erreichten wir etwa die Mitte des Abhangs, wo uns die Franzosen von mehreren Punkten aus sehen konnten, und stiegen dann in einen langen Laufgraben hinab, der bis in die Nähe des Beobachtungspostens führte. Der Graben war wenig mehr als einen Meter tief und wir mußten stark gebückt gehen, um nicht gesehen zu werden. Infolge der Abschüssigkeit des Terrains war zwar das meiste Wasser abgelaufen, was aber noch vorhanden war, genügte, um den Boden des Grabens in einen graubraunen Lehmbrei zu verwandeln, worin man mit schweren Sohlen ausglitt und bis zur Mitte des Schienbeins einsank.
Die Beobachter stehen oben in ihren Mänteln auf der Spitze des Hügels, eine niedrige, kurze Brustwehr vor sich. Im allgemeinen ist man auf solch einem Punkt nicht gerade willkommen, denn man kann die Aufmerksamkeit der Franzosen wecken und die Beobachter in Lebensgefahr bringen. Sie grüßten denn auch nur kurz und fuhren fort, das französische Feuer zu beobachten, unbeweglich wie Bildsäulen. Wir gingen den letzten Abschnitt im Gänsemarsch, damit es wenigstens von den gerade gegenüberliegenden Batterien aus scheinen sollte, als käme bloß ein Mann und wir nicht zerstreut auf der Spitze des Hügels mehr Bewegung verursachten. Auf den Hacken sitzend, beobachteten wir das Land im Süden in der Richtung nach Malancourt und orientierten uns so gut es ging. Der Major erklärte gerade, welche Höhen, Wälder, Dörfer und Chausseen von den Deutschen genommen worden waren und wo die französischen Stellungen begannen, als ein Schrapnell in unserer unmittelbaren Nähe explodierte, gleich links von uns. »Deckung!« rief Major Matthiaß[S. 46] und warf sich der Länge nach hinter der Brustwehr nieder. Wir waren kaum seinem Beispiel gefolgt, als drei neue Schrapnells in etwas weiterer Entfernung niedergingen. Offenbar hatte uns der französische Beobachter doch gesehen und das Feuer einer Batterie gerade auf uns einstellen lassen. Wir hielten es daher für das klügste, einen sichreren Platz aufzusuchen. Zunächst gingen wir wieder zu der Mörserbatterie hinab. Während der nächste Schuß geladen wurde, entwarf ich die beigefügte, sehr unvollkommene Skizze, aber es verlangt wohl niemand, daß man Geistesgegenwart und Kaltblütigkeit zu ausführlichen Zeichnungen hat, wenn man jeden Augenblick mit Schrapnells überschüttet werden kann. Das Bild zeigt das Mörserrohr, gesenkt zum Laden, rechts auf einer Trage ruht ein Geschoß.
Es war noch hell, als ich nach Stenay zurückkam. Am Eingang des Schlosses saß der Kronprinz und ruhte sich aus; er war eben vom Tagesdienst zurückgekehrt. Später machte ich noch einen Spaziergang durch die Stadt. Bei den Maasbrücken wurde ich von den Wachtposten angehalten, die mich bestimmt aber höflich aufforderten, meinen Ausweis vorzuzeigen. Es ist ja nicht weiter verwunderlich, daß ich ihnen verdächtig vorkam, da ich ein Skizzenbuch unter dem Arm trug. Bloß einer von ihnen, ein ehrenwerter Landwehrmann, erklärte querköpfig, mein Ausweis sei nicht genügend. »Also der Generalstabschef General Moltke imponiert Ihnen nicht?« »Nein, der Ausweis muß von der fünften Armee abgestempelt sein«, antwortete er. Ein paar Kameraden von ihm retteten die Situation, nachdem sie den Ausweis gelesen und versichert hatten, daß General Moltke ihnen genüge.
Nach einem kurzen Besuch im Lazarett, das in einer französischen Artilleriekaserne eingerichtet war, kehrte ich um und blieb erstaunt am Eingang eines Ladens stehen, in dem Soldaten aus und ein gingen. Da ich hörte, wie ein paar Soldaten verzweifelte Anstrengungen machten, sich mit den Inhaberinnen des Ladens zu[S. 47] verständigen, erbot ich mich zum Dolmetsch. Es war ein Geschäft für Damenartikel, Weißwaren, Schnürleiber, Spitzen, Taschentücher, Strümpfe, Parfüms, Seife und andere nützliche Toilettengegenstände. Die Inhaberin, Frau Desserrey, war seit drei Jahren Witwe und lebte mit ihren drei Kindern und einer Schwester von diesem kleinen Geschäft. Die Soldaten im Laden wollten Hemden kaufen, und Madame Desserrey wollte ihnen begreiflich machen, daß sie ihnen alles, was sie verlangten, nähen wolle, wenn sie ihr den Stoff dazu schafften. Mit diesem Bescheid waren die Soldaten zufrieden, kauften ein paar Schachteln Seife und zogen ihrer Wege. Ich fragte Madame Desserrey, ob der Krieg sie nicht ruiniert habe, doch hatte sie bisher noch keinen Verlust gehabt; sie hoffte, über den Herbst und Winter hinwegzukommen und bald den Krieg beendet zu sehen.
»Und wie finden Sie die deutschen Soldaten?« fragte ich.
»Sie haben mir und den Meinen nicht das geringste getan, sind immer höflich und nehmen sich nichts heraus. Was sie von meinem Lager brauchen konnten, haben sie gekauft und ehrlich bezahlt; ich könnte ein großes Geschäft machen, wenn ich nur neue Waren aus Luxemburg erhielte. Ich und noch drei andere sind die einzigen, die hier ihre Läden offenhalten; alle übrigen haben geschlossen und sind beim Herannahen der Deutschen geflohen.«
Im Laden standen zwei Strickmaschinen, daran saßen die achtzehnjährige Blanche Desserrey und ihre vierzehnjährige Schwester und strickten Strümpfe für die deutschen Soldaten, während ihr elfjähriger Bruder draußen auf der Treppe saß und dem Soldatenleben zusah. Fräulein Blanche war bezaubernd, sah aber leidend aus und hatte einen wehmütigen Zug in ihren schwarzen Augen und einen Hoffnungsanker an ihrer Brosche. Ich fragte sie, ob sie viele Freunde draußen im Krieg habe. Ja, antwortete sie und sie sehne sich nach ihren Freunden, die aus der Stadt geflüchtet seien. »Wie entsetzlich ist nicht dieser Krieg!« rief sie, »welches Unglück für alle!« Dann fragte sie, ob man auch heute an der[S. 48] Front hart kämpfe; sie hatte den Kanonendonner am frühen Morgen gehört. Ja, man kämpfte erbittert, Deutsche und Franzosen, und mancher tapfere und vielversprechende junge Mann starb für sein Vaterland. Fräulein Blanche nähte nicht nur für Soldaten, sie träumte auch die schönsten Träume, und ihr Herz war rein und ohne Falsch; sie war liebenswürdig und konnte obendrein lachen inmitten aller Einquartierungssorgen und beim Strümpfestricken, ja man merkte, daß sie die Freude zu den vergänglichsten Dingen in dieser Welt zählte. Die deutschen Soldaten, die hereinkamen, betrachteten sie mit Interesse und begegneten ihr achtungsvoll. Sie selbst versicherte, sie habe nie Anlaß gehabt, sich über ihr Benehmen zu beklagen; sie ahnte aber nicht, daß sie auch den Stärksten mit einem Blick ihrer Augen entwaffnen konnte.
Blanche Desserrey hätte die Heldin eines rührenden Romans abgeben können!
Ich für meinen Teil hatte keine Zeit für Romane. Als ich auf die Straße hinaustrat, schlug die Uhr des Kirchturms ihre sechs alten französischen Schläge, und ich begab mich auf mein Zimmer, um einige Aufzeichnungen zu machen. Plötzlich klopfte es. »Herein!« rief ich mit Korporalstimme. Und herein trat der Kronprinz, mit einem großen Buche unter dem Arm. Ich bat meinen hohen Gast, auf dem Sofa Platz zu nehmen; dort saßen wir denn und plauderten, bis es Zeit wurde, sich für das späte Mittagessen zurechtzumachen.
Das Buch aber, das der Kronprinz gebracht hatte und das er mich bat, als Andenken zu behalten, hieß »Deutschland in Waffen« und enthielt, neben Beiträgen aus verschiedenen Federn, eine Reihe von hervorragend gut ausgeführten und wiedergegebenen[S. 49] farbigen Darstellungen der verschiedenen deutschen Truppengattungen im Dienst, im Manöver und im Krieg und der deutschen Kriegsflotte auf hoher See. Der Kronprinz selbst hat das Werk unter dem Beistand hervorragender Meister herausgegeben.
22. September. Während des Essens machte mir der Kronprinz den Vorschlag, den Major Matthiaß zu begleiten, den der Dienst nach Eclisfontaine rief. Von dort aus sollte der Sturm auf Varennes und die umliegenden Dörfer unternommen werden, die die Deutschen schon einmal in Besitz gehabt, dann aber aus taktischen Gründen wieder geräumt hatten.
½4 Uhr wurde ich geweckt. Ich zündete mein Licht an, öffnete das Fenster und sah in die Nacht hinaus. Es war pechdunkel, nur einige Sterne schimmerten durch die Baumkronen des Parks hindurch — lautlose Stille, nur der langsame Schritt der Wachen war zu vernehmen.
Um 4 Uhr saß ich einsam beim Frühstück. Ein Soldat begleitete mich mit einer Laterne zur Wohnung des Majors Matthiaß, wo das Automobil mit einem jungen Leutnant und einem Soldaten wartete. Wir nahmen, in Pelze gehüllt, Platz und rollten zur Stadt hinaus. Vor uns her die hellen Lichtbündel des Scheinwerfers; in so früher Morgenstunde reichten sie aber nicht weit. Dichter Nebel lagerte auf der Erde. Wir fuhren daher behutsam, schon weil die Straße jetzt voll wandernder Kolonnen war. Der Verkehr auf der Etappenlinie funktionierte auch während der Nacht. Nimmt denn dieser ewige Zug niemals ein Ende? Wahrhaftig, Deutschland scheint unerschöpflich an lebender Kraft und Material.
In dem Nebel erscheinen die Bäume wie Spukgestalten, die Posten stehen. Noch seltsamer nehmen sich in dieser ungewöhnlichen, malerischen Beleuchtung die Kolonnen aus. Die Reiter, den Mantel über den Schultern, sitzen auf geduldigen, schnaufenden Pferden und träumen; einer nach dem andern taucht aus dem Nebel auf, je nachdem das Licht der Scheinwerfer auf sie fällt.[S. 50] Ein Pferd scheut vor dem Licht und vor dem Surren der Maschine, sein Reiter schreckt aus seinen Träumen empor; er schüttelt sich, setzt sich im Sattel wieder zurecht, und der Zug geht weiter. Neue Reiter tauchen auf, immer einer nach dem andern, unzählige Pferdehufe trappeln die Straße daher, und die Räder der schweren Bagagewagen knirschen und ächzen in dem Morast, der sich an ihnen festsaugt und in unförmigen Klumpen wieder herunterfällt.
Da wird neben der Straße ein rotgelber Schein sichtbar. Wir kommen näher — er wird stärker und farbiger: es ist das Lagerfeuer eines Biwaks, von dem sich müde Soldatengestalten als scharfe Silhouetten abheben. Sie kochen etwas über dem Feuer, vielleicht Kaffee oder Tee, und mancher von ihnen raucht schon seine erste Pfeife. Ebenso dunkel und nebelverhüllt wie die Nacht, die sich noch um sie ausbreitet, ist das Geschick, das sie heute erwartet! Es liegt in der Luft, daß heute etwas bevorsteht, ein neuer Kampf an der Front. Aber für die Soldaten ist das nichts Neues, nichts Ungewöhnliches oder Aufregendes. Für sie ist es das tägliche Brot, denn an der Front wird immerfort gekämpft, und das Schicksal ruft sie hinaus in das Feuer. Vielleicht ist es ihnen bestimmt, gerade heute zu fallen und die Anzahl der Gräber und Holzkreuze an den Straßengräben zu vermehren. Vielleicht war diese dunkle Nacht die letzte in ihrem Leben! Zum letztenmal haben sie wenigstens gut geschlafen; das Biwakfeuer verbreitete eine freundliche und behagliche Wärme.
Neue Feuer werden sichtbar; um alle bewegen sich Gruppen von Soldaten, Soldaten und immer wieder Soldaten. An einer Stelle müssen wir eine Weile halten, da wir mit dem ungebärdigen Pferd eines Reiters zusammengeraten sind. Hier hören wir die kriegerischen Stimmen der Nacht von allen Seiten: das Knarren der Wagen, das Klirren der Waffen, das Getrampel der Pferde, die Unterhaltung der Mannschaften und die strengen Kommandorufe der Führer. Es sind Truppen, die an die Front marschieren.
Um ½7 ist Eclisfontaine erreicht. Der Nebel hängt in Fetzen und Draperien, bald leichter, bald dichter, ist aber hartnäckig und trotzt noch immer der aufgehenden Sonne. Es ist heute ein bedeutungsvoller Tag für die Deutschen; sie wollen angreifen und nach Varennes vorrücken. Nur der Nebel hindert sie, und es geht schon auf 8. Die Infanterie soll schon im Vorrücken sein und an der äußersten Front in heftigem Kampf stehen. Die Artillerie muß noch warten, ehe sie ihre Stellungen vorschieben kann. Doch von den Plätzen, wo die Batterien jetzt stehen, beginnen sie ihren Morgengesang. Die Schüsse fallen aus verschiedenen Richtungen immer häufiger. Ganz nahe dem Dorf sind Feldhaubitzen und schwere Mörser. Die Schüsse, die schwächer und dumpfer klingen, kommen von französischer Seite. Manchmal hört man vier und sechs Schüsse fast zu gleicher Zeit; dann vergeht eine Pause bis zur nächsten Salve.
Ein Offizier begleitet mich die Chaussee entlang durch das Dorf. In einem kleinen Haus laufen alle Drähte des Feldtelephons zusammen; hier sitzt ein halbes Dutzend Offiziere an einem langen Tisch, Telephonhörer am Ohr und Karten vor sich. Hier sammeln sich von der Front die Meldungen über den Verlauf der Schlacht, über Veränderungen der französischen und deutschen Stellungen und über die daraus sich ergebenden Wünsche und Bedürfnisse.
Mit Freund Matthiaß gehe ich ein Stück weiter nach Südwesten bis zu dem Punkt, von wo aus die Generalität die deutschen Operationen leitet. Das Gelände steigt bis zu diesem Punkt langsam an; er hat eine dominierende Lage und erlaubt einen vortrefflichen Ausblick über das ganze Gebiet, auf dem der Kampf tobt. Hier steht der kommandierende General von Mudra; in seiner Gesellschaft auch der 78jährige Feldmarschall von Haeseler, der jetzt kein Kommando hat, aber dem Wunsch nicht widerstehen konnte, in der Nähe seines alten Korps zu sein, dort, wo es für Deutschlands Ehre kämpft. Von mehreren Offizieren umgeben,[S. 52] standen die beiden Generäle den ganzen Tag mitten auf der Landstraße. Unmittelbar neben der Straße stand auf seinem Holzstativ ein Scherenfernrohr, und an diesem Fernrohr ein Hauptmann, der unablässig seine Beobachtungen meldete. Von Zeit zu Zeit trat der kommandierende General selbst ans Fernrohr.
Der Ort, auf dem wir standen, war nicht ganz ungefährlich. Ein Soldat in der Nähe der Telephonstation erhielt eine Gewehrkugel in den Rücken, eigentümlicherweise ohne verwundet zu werden; er fiel nur infolge des Stoßes oder vielleicht vor Schreck um. Die Kugel, die aus weiter Entfernung kam, hatte ihre Kraft eingebüßt. Ein anderer wurde leicht verwundet, ebenfalls von einer Gewehrkugel. Drei Schrapnells explodierten ganz in unserer Nähe, aber in allzu großer Höhe, um lebensgefährlich zu sein.
Von einem Punkt in der Nähe von Eclisfontaine hatte man eine vortreffliche Aussicht nach Südwest in der Richtung auf Varennes. Hier saß, wohlbeleibt und jovial, auf einem Stuhl mitten auf der Landstraße der Divisionsgeneral Graf Pfeil. Seitdem der Nebel fast spurlos verschwunden war, traten auch die Umrisse des Argonner Waldes hervor. In einer Entfernung von drei Kilometern nach Varennes zu steigt das Gelände zu einem flachen Kamm an, der ein paar deutsche Feldartilleriebatterien schützt, die von hier aus mit bloßem Auge leicht sichtbar sind. Gleich links von diesen Stellungen geht die deutsche Infanterie vor. Durchs Fernglas sieht man die Soldaten in stark gebückter Stellung vorrücken, um solange als möglich von der Höhe geschützt zu sein, die die Kanonen deckt. Wahrscheinlich haben aber die Franzosen die Infanterie schon gesichtet; unaufhörlich explodieren Schrapnells über ihren Linien; ein weißes Wölkchen nach dem andern taucht auf, und aus seiner Mitte schießt ein Blitz hervor. Einmal zählten wir acht solcher Wölkchen, die gleichzeitig über den Soldaten schwebten und sie mit einem Regen von Bleikugeln überschütteten. Zuweilen schlagen in ihrer Nähe auch Granaten ein, leicht erkennbar an den dunkelgrauen Säulen von Erde, Lehm und Pulver, die entstehen, sobald sie auftreffen.
[S. 53] Gleich südlich von der Höhe im Südwesten und durch diese unsern Blicken entzogen, liegen starke Kräfte der deutschen Infanterie in langen Schützengräben. Diesseits der Batterien sieht man im Gelände zwei halbmondförmige dunkle Flecke, die sich im Fernrohr in Soldaten auflösen; sie sitzen und liegen, haben aber Gewehr und Bajonett zur Hand, um die Kanonen gegen einen Überrumplungsversuch zu schützen. Die Kanonen sind in die Erde eingegraben, durch Erdwälle gedeckt und nach der Feuerseite zu stark maskiert. Heute morgen war noch keine französische Infanterie und Kavallerie zu sehen; auf der feindlichen Seite kämpfte bloß Artillerie, die nach Aussage der deutschen Offiziere vortrefflich schoß; nur waren die Geschosse oft sogenannte Blindgänger, die nicht explodieren.
Plötzlich donnert es um uns von allen Seiten, auch von hinten; eine Batterie von vier 21-cm-Mörsern ist bis zum Dorfe vorgerückt und steht nur hundert Meter von uns entfernt. Der Boden zittert bei jedem Schuß. Die vier Schüsse fallen rasch hintereinander, nur ein paar Sekunden Pause ist zwischen ihnen. Dann hört man eine halbe Minute oder länger über sich ein zischendes, singendes Pfeifen und sieht unwillkürlich nach oben. Doch sieht man die Geschosse nur, wenn man hinter dem Mörser möglichst in der Verlängerung der Flugbahnfläche steht. Die vier Geschosse fahren gemeinsam durch die Luft und singen den gleichen Gesang in gleich hohem Ton. Zuweilen scheint er zu ersterben, aber nach einer Weile ist er wieder deutlich vernehmbar; das kommt vielleicht von der Windrichtung. Die Mörsergeschosse brauchen ein paar Minuten bis zum Ziel; der Höhepunkt ihrer Flugbahn liegt Tausende von Metern über der Erde — eine schwindelerregende Reise für diese zentnerschweren Geschosse. Die Geschosse der Feldkanonen, die gewöhnlich auf nur drei Kilometer Entfernung eingestellt werden, kommen in einer halben Minute ans Ziel.
Die vier »Brummer« der Batterie warfen ein ums andere Mal ihre schweren Granaten zu den Franzosen hinüber; jeder[S. 54] Schuß sollte wer weiß wie vielen Menschen den Tod bringen. Doch schien ihre Hauptaufgabe zu sein, den Gegner aus Varennes zu vertreiben, das nur sechs Kilometer südwestlich von Eclisfontaine liegt.
Am Abend fragte ich einen der Beobachter, was das heutige Feuer wohl koste. Er machte schnell eine Berechnung für 24 Batterien Feldhaubitzen und 8 Batterien schwere Kanonen und Mörser; die Durchschnittskosten für jeden Schuß berechnete er auf 50 Mark, die Anzahl der Schüsse auf zwölftausend; das macht 600000 Mark für einen einzigen Tag und für einen ganz kleinen Teil der deutschen Front! Andere aber meinten, die Berechnung sei in jeder Beziehung zu hoch. Auf alle Fälle verbraucht die Artillerie ungeheure Summen in einem Krieg wie diesem, wo sie die Hauptwaffe ist. —
Zwei deutsche Soldaten mit geladenem Gewehr und aufgepflanztem Bajonett eskortieren französische Gefangene nach Eclisfontaine. Die meisten sehen gleichgültig aus, und ihr Blick verrät nur den einen Gedanken: Nun ist alles verloren, nun ist es aus mit uns! Andere sehen tief niedergeschlagen aus und haben geweint. Die Kraft ihrer Arme ist Frankreich entzogen, jetzt, wo sie am meisten gebraucht werden.
Ich war gerade in Gesellschaft des Brigadegenerals Bernhard, als die Franzosen in ihren blauen Waffenröcken und den weiten roten Pumphosen daherkamen; die Uniformen waren abgerissen und schmutzig, kein Wunder, wenn man Tage und Nächte im Schützengraben gelegen hat. General Bernhard trat zu ihnen und kommandierte Halt; dann ließ er sie einen Halbkreis bilden und begann, sich mit mehreren zu unterhalten. Einer war in Auxerre ausgehoben und am elften Mobilisierungstag über Bar-le-Duc nach Varennes transportiert worden, wo er seitdem gestanden hatte. Man macht ein Verzeichnis der Gefangenen und gewinnt so wertvolle Auskünfte über die Zusammensetzung der[S. 55] feindlichen Truppen, über Regimenter, Brigaden und Armeekorps und ihre Stellung an der Front. Der General fragte auch die Gefangenen, wie es mit ihrer Verpflegung stünde; die Antworten lauteten sehr ungleich. Die meisten waren zufrieden; nur einige behaupteten, sie hätten in der letzten Woche nur zweimal warmes Essen bekommen, da sie zufällig weit entfernt von der nächsten Feldküche gestanden hätten.
Schließlich wurde an die Gefangenen die Frage gerichtet, ob sie Tagebücher hätten, und acht oder neun antworteten: Ja! Die Bücher wurden dem General übergeben, der sie behielt. Auch dadurch gewinnt man wichtige Aufschlüsse über die feindlichen Truppenbewegungen, oft aus scheinbar bedeutungslosen Aufzeichnungen, die nur der Fachmann zu deuten weiß. General Bernhard las uns später aus einem dieser Tagebücher das letzte Stück vor, das der Gefangene tags vorher geschrieben hatte. Da stand u. a.: »Die Preußen beschießen Varennes. Sie schießen gut, heute nacht traf eine ihrer Granaten den General X., als er sich eben niedergelegt hatte.« General Bernhard sagte, die französischen Gefangenen benähmen sich immer höflich und aufmerksam und beantworteten alle Fragen korrekt und wahrheitsgetreu. In den meisten Fällen redeten sie ihn »mon général« an und bewiesen damit, daß sie über die deutschen Rangabzeichen orientiert waren, auch bei der gleichmachenden Felduniform. Und der General sprach zu den Gefangenen ohne jede Spur militärischer Strenge und ohne die Überhebung, die Rang und Macht leicht einflößen können.
Während des Verhörs wandte sich ein französischer Unteroffizier mit blondem Vollbart an mich und fragte: »Was wird man mit uns tun?« Ich antwortete: »Man wird Ihnen warme Suppe und Brot geben, und Verwundete werden ärztlicher Hilfe überantwortet.« Der Mann sah mich fragend und erstaunt an, offenbar im Zweifel, ob das wirklich wahr wäre. Dann wies er auf einen seiner Kameraden, der einen blutenden Streifschuß am Nacken hatte. Ein deutscher Leutnant übergab ihn sofort einem Sanitätssoldaten.
[S. 56] So bekam ich auch jetzt in unmittelbarer Nähe des Schlachtfeldes eine Bestätigung dessen, was ich früher im Lazarett gesehen hatte: daß die französischen Gefangenen bei den Deutschen eine in jeder Hinsicht humane und wohlwollende Behandlung erfahren, und ich will im Namen der Wahrheit feierlich erklären, daß die gegenteiligen Behauptungen gewisser feindlicher Blätter niedrige Lüge und schändliche Verleumdung sind. Wenn einmal der Tag des Friedens kommt und die französischen Gefangenen nach Hause zurückkehren, werden sie selbst dafür Zeugnis ablegen können. Vielleicht werden einige von ihnen sich auch an Eclisfontaine erinnern.
Später kamen neue Scharen von Franzosen. Sie waren beim Bajonettangriff der Deutschen gefangen genommen worden. Einer war am 5. August aus Konstantinopel heimgerufen worden, ein anderer berichtete, er sei Reservist, und es beginne an Leuten zu mangeln. Mit ihnen unterhielt sich der Feldmarschall und sein vortrefflicher Adjutant Rechberg, der ein beneidenswert gutes Französisch sprach.
In einer Gruppe waffenloser Franzosen befand sich auch ein Hauptmann. Er hatte einen Schuß durch den Schenkel, hinkte stark und stützte sich auf zwei Soldaten; er hatte ein vornehmes und offenes Aussehen. Als seine Schar verhört werden sollte, wurde ihm ein Stuhl angeboten, denn er sah sehr bleich aus.
»Schmerzt die Wunde sehr, mon capitaine?« fragte ein deutscher Offizier.
»Nein, gar nicht, sie ist ganz unbedeutend«, antwortete er.
»Haben Sie im Kampf große Verluste erlitten?«
»Keine besonderen, wir können alle Lücken ausfüllen.«
»Sie sehen müde aus, es ist Ihnen sicher in der letzten Zeit schlecht gegangen?«
»Nein, durchaus nicht, ich habe keine Not gelitten.«
»Es tut Ihnen leid, unter den Gefangenen zu sein?«
»Ja«, antwortete er schwer und bestimmt und ohne aufzusehen.
[S. 57] Er gehörte nicht zu denen, die die Gefangennahme demoralisiert. Als das Verhör geschlossen war, grüßte er und verschwand mit seiner blauroten Schar an der nächsten Straßenkrümmung.
Nach und nach merkt auch der Uneingeweihte gewisse Veränderungen in der Situation. Die Artilleristen reiten mit ihren prächtigen Gespannen zu den zwei Batterien im Südwesten mit dem Argonner Wald im Hintergrund. Eine Munitionskolonne folgt ihnen. Die Kanonen haben eine Weile geschwiegen; jetzt wird aufgeprotzt, die Pferde vorgespannt, die Munition in die Wagen gepackt, die Bedienung springt auf ihre Plätze, die Reiter in die Sättel, und als alles fertig ist, rollen die Batterien in einem schönen Bogen in voller Fahrt davon und verschwinden bald hinter der Anhöhe. Westlich davon sieht man neue Schützenlinien in südwestlicher Richtung zum Sturm vorgehen. Man hört deutlich das unbehagliche schnarrende Geräusch der Maschinengewehre bei der Infanterie. Die Angreifer haben Gelände gewonnen und rücken in neue Stellungen vor.
Ich gehe zum Beobachtungsplatz zurück. Der alte Feldmarschall, der schon 1870 mitgekämpft hat und nun das Recht hätte, müde zu sein, hat sich endlich bewegen lassen, auf einem Rohrstuhl Platz zu nehmen. Da sitzt er nun, lebt in seinen Erinnerungen auf und kann die Augen nicht vom Kampf und von den weißen Schrapnellwolken abwenden. Sein Blick ist streng und ernst, sein Gesicht von tiefen, scharfen Falten und Runzeln gefurcht, sein graues Haar hängt um ihn wie eine Mähne. Er scheint am liebsten mit sich allein zu sein, aber wenn man ihn anredet, ist er voller Leben. In stattlicher, militärischer Haltung steht General von Mudra an seinem Scherenfernrohr und beobachtet. Den roten Kragen auf dem sonst hellblaugrauen Mantel hat er in die Höhe geschlagen, in der Hand hält er eine Karte der Gegend, links trägt er eine Feldtasche mit Karten, Aufzeichnungen, Feder, Zirkeln und dergleichen.
[S. 58] Eine dritte Batterie deutsche Feldartillerie ist vorgerückt und hat sich eine neue Stellung gesucht. Und eine dritte Linie Infanterie folgt den beiden ersten und stürmt in der Richtung auf Varennes. Die Mannschaften springen mit gesenktem Bajonett in stark zerstreuter Ordnung, um dem feindlichen Feuer ein weniger kompaktes Ziel zu geben, und verschwinden hinter der nächsten Anhöhe — Gewehrfeuer knallt im Tal, begleitet vom Geknatter der Maschinengewehre — nach ein paar Minuten laute Hurrarufe: eine neue feindliche Stellung ist genommen!
Die kleine Aktion, die nur ein Glied in einer Kette ist, verursacht lebhafte Bewegung in Eclisfontaine. Zuerst fahren die Wagen des Feldlazaretts in voller Fahrt dahin, wo der Kampf stattgefunden hat; dann ziehen einige Kompanien Infanterie vorüber, um die Lücken auszufüllen. Kleine Patrouillen von Ulanen mit wagrecht gehaltenen Lanzen reiten im Galopp nach Varennes. Schließlich fährt die Feldküche vorüber mit rauchenden Schornsteinen; die Köche sitzen auf den Küchenwagen.
Auf den Abhängen südlich sieht man kleine Gruppen von acht oder zehn Mann mit Bahren und einem Schäferhund, der verstreute und vergessene Verwundete in den Gräben und Furchen suchen muß. Sobald er einen Verwundeten gefunden hat, bleibt er stehen und ruft durch Bellen die Sanitätssoldaten mit der Bahre herbei.
Das Artilleriefeuer der Franzosen hat nachgelassen, da sie ihre Stellungen in dem Maße, wie die Deutschen vorrückten, weiter zurückverlegen mußten.
Varennes, die kleine Stadt, in der Ludwig XVI. am 22. Juni 1791 erkannt und gefangen genommen wurde, um nach Paris zurückgeführt zu werden, steht nun in hellen Flammen, und eine braungelbe Rauchsäule steigt aus seinen brennenden Häusern empor. Auch Cheppy brennt und weiterhin Bourcuilles. Der Kirchturm von Cheppy reckt seine trotzige Spitze aus dem Gewölk von Rauch und Funken empor.
Westlich liegt das weite Tal, das von der Aire durchflossen wird, einem Nebenfluß der Aisne. Varennes liegt an der Aire,[S. 59] die im Osten den berühmten Argonner Wald begrenzt. Nach Süden zu durch das Tal stürmen württembergische Truppen; ein Teil ihres rechten Flügels zieht durch die Ausläufer des Argonner Waldes. Man erkennt ihr Vorrücken ganz deutlich durch das Scherenfernrohr, das jederzeit zu meiner Verfügung steht. Um aber die kleinen weißen mörderischen Buketts zu sehen, die entstehen, wenn die Schrapnells gerade über den Württembergern explodieren, dazu braucht man kein Fernrohr. Das Feuer wird von deutschen Schrapnells erwidert, die in weiterer Entfernung und mehr nach links sichtbar werden.
Eine Munitionskolonne, die hinter der flachen Anhöhe südlich Schutz gefunden hat, erhält Befehl, vorzurücken. Der nächste Weg wäre, nach Südwesten die Chaussee zu verfolgen, auf der ich mich den ganzen Tag aufgehalten habe. Aber dieser Weg ist gefährlich; die dunkle Linie der Kolonne wäre von den neuen französischen Stellungen aus sichtbar und würde ein vortreffliches Ziel geben, außerdem das Feuer auf die deutsche Oberleitung lenken. Die Kolonne hatte sich eben auf der Chaussee in Bewegung gesetzt, als ihr Führer den Befehl erhielt, hinter den großen Mörsern zu fahren. Die Kolonne führte leichte Munition für Gewehre und Maschinengewehre. Dahin, wo Munition gebraucht wird, fahren sie erst in der Nacht. Doch tritt selten oder nie Patronenmangel ein, da die Patronentaschen der Verwundeten und Gefallenen von ihren noch kampffähigen Kameraden geleert werden.
Eine Batterie leichte Haubitzen wird jetzt im Norden der Chaussee sichtbar. Ihre Gespanne schwenken mit ihren Feldstücken in schönem Bogen nach Süden. In Westsüdwest springen sechs Granaten in einer Entfernung von zwei Kilometern. Sie waren für die dort kurz vorher vorrückenden Württemberger bestimmt. Aber jetzt ist keine Seele mehr auf dem Platz, außer vielleicht einem zurückgebliebenen Sanitätssoldaten.
Um 6 Uhr zählte ich acht brennende Dörfer, von denen jedoch eins links vom Argonner Wald und im Operationsbereich des benachbarten Armeekorps lag. Wie viel verwüstete Häuser, wie viel[S. 60] vernichtetes Privateigentum! Zwar wird die Bevölkerung sich und ihre transportfähige Habe rechtzeitig in Sicherheit gebracht haben; aber wie mag es in den tausend Wohnungen aussehen, wenn die Menschen zurückkehren! Kann man ohne tiefes Mitgefühl mit den unschuldigen Leuten sein, die am meisten unter dem Krieg zu leiden haben? Und ist man ein Feind Frankreichs, wenn man eine Ententepolitik verurteilt, die so namenloses Unglück über die nordöstlichen Provinzen der Republik gebracht hat? Wer mit eigenen Augen all diese Folgen des Krieges, Kummer, Armut und Vernichtung sah, müßte sich selbst verachten, wenn er nicht laut die Politik verurteilte, die allein an all diesem Unglück Schuld trägt!
»Aber warum rückt nicht auch die Armeeleitung vor?« fragte ich, nachdem die Truppen sechs oder sieben Kilometer vor der letzten Linie Stellung genommen hatten.
»Weil man die Telegraphen- und Telephonleitungen nicht sofort verlängern und das ganze System von Verbindungen mit der neuen Frontlinie ändern kann.«
Am folgenden Tag wurde Varennes genommen und damit die ganze Maschinerie ein Stück weiter nach Südwesten vorgeschoben.
Aber nun begann der heutige Tag zur Neige zu gehen; die Sonne näherte sich den Wipfeln des Argonner Waldes. Ein lehrreicher Tag für mich! Von der Tätigkeit an der deutschen Front hatte ich eine klare Vorstellung bekommen, von den Franzosen aber nichts anderes gesehen als ihr Feuer und die Gefangenen. Ich hatte die unglaublich sichere und ruhige Leitung des deutschen Oberkommandos bewundert. Es war wie ein Spiel, das unter gewissen Voraussetzungen gewonnen werden mußte. Und wenn all diese Voraussetzungen im voraus gegeben und bekannt waren, dann hegte niemand den geringsten Zweifel am Ausgang. Und die Voraussetzungen waren: ausgezeichnetes Menschenmaterial, wirkliche Ritter ohne Furcht und Tadel, ein Volk, das in Friedenszeiten willig ist, genug und mehr als genug für die Verteidigung[S. 61] des Reiches zu opfern und, wenn der Krieg ausbricht, bereit ist, auch das Leben zu opfern zur Verteidigung der Heimat für seine Freiheit und seine Ehre, eine Ausbildung, die genügend lang ist, um die einzelnen Soldaten und die großen Truppenverbände unwiderstehlich zu machen, und ein Material, bei dessen Anschaffung man weder geschachert noch kompromisselt hat. Der Ausgang des Tageskampfes erweckte daher keine Verwunderung. Man hörte keine Glückwünsche, keinen Jubel — man sprach davon wie von der natürlichsten Sache der Welt!
Auf der Rückfahrt nach Stenay müssen wir gerade vor dem Feldlazarett halten. Der Stabsarzt steht auf der Straße und gibt seine Befehle über Behandlung und Verteilung der neu angekommenen Verwundeten. Ich werde ihm vorgestellt, und er will mich nicht loslassen, ehe ich das Feldlazarett gesehen habe. »An die Front kommen, den Krieg studieren und das Lazarett in Romagne nicht sehen, nein, Herr Doktor, das geht nicht! Sie haben den ganzen Tag gesehen, wie die Verwundeten von der Feuerlinie hereinkommen, nachdem sie ihre erste provisorische Pflege auf dem Schlachtfeld erhielten. Sie haben den Hauptsammelplatz bei Eclisfontaine gesehen. Nun müssen Sie auch die dritte Etappe sehen, das Feldlazarett hier.«
Und damit führte mich der Stabsarzt in die kleine, schöne, alte katholische Kirche. Die Sonne war untergegangen, und Dämmerung breitete sich über Frankreich. Es war dunkel in der Kirche, aber noch waren die kostbaren gemalten Fenster zu unterscheiden, und vorn am Altar brannte ein einsamer Leuchter, der die Dunkelheit eher vermehrte als verminderte. Achtzig verwundete Deutsche lagen hier. Die Kirchenbänke waren paarweise zusammengestellt, so daß sie mit den Rückenlehnen geräumige Kisten bildeten, die mit Stroh gefüllt waren. In jedem solchen Bett lag ein schwer verwundeter Soldat. Die Bänke reichten aber nicht für alle. Die übrigen lagen an den Wänden auf aufgeschüttetem[S. 62] Stroh. Jeder hatte seine Decke, und der Zwischenraum zwischen den Lagern war so groß, daß Arzt und Sanitätssoldaten ungehindert an jedes Bett herantreten konnten. Sobald es der Zustand der Patienten erlaubt, werden sie weiter nach Deutschland geschickt, um neuen Verwundeten Platz zu machen. Nur die lebensgefährlich Verletzten, die den Transport nicht ertragen, bleiben da, um in Frieden zu sterben oder, wenn möglich, zu Krüppeln geheilt zu werden.
Am Altar, im Schein des Leuchters, waren mehrere junge Ärzte mit einem eben angekommenen Patienten beschäftigt, der sich einer Operation unterziehen mußte. Ein Licht wurde herbeigeschafft, und der Stabsarzt führte mich von Bett zu Bett und berichtete unermüdlich über die verschiedenen Fälle. Die Pforten der Kirche waren geschlossen; von draußen hörte man das Gerassel der Kolonnen und das Trappeln der Pferde. Aber eine seltsame, fast unheimliche Stille herrschte hier im Innern; man fühlte, daß hier ein Kampf zwischen Leben und Tod ausgefochten wurde. Schwere Atemzüge, aber keine Klagen, ab und zu ein Seufzer, aber kein Jammern. Keiner zeigte sich schwächer als der andere, keiner störte die Ruhe der Kameraden. Die meisten schliefen oder schienen zu schlafen, todmüde von den Kämpfen des Tages.
Wir schreiten von einem Bett zum andern und flüstern, um nicht die Schlafenden zu wecken und nicht die feierliche Stimmung zu stören. Achtzig Helden, die heute mit Freuden ihr Blut für ihr Land geopfert haben! Noch schlummern sie unter den Eisernen Kreuzen — bald werden viele von ihnen unter den Holzkreuzen auf dem Kirchhof zu Romagne schlummern. Hier einer, der einen Schuß durch das empfindlichste Organ des Unterleibes erhalten hat. Er ist so bleich wie seine sonnenverbrannte, in den Schützengräben verwitterte Haut es zuläßt, und sein Puls ist am Verlöschen, aber seine Augen stehen offen, und sein Blick wandert weit von der Erde in unbekannte Länder. Andere Bilder sieht er jetzt als vor kurzem in den Schützengräben. Welch himmelweiter Unterschied! Nach der Unruhe draußen an der Front versinkt[S. 63] er schon in die große lange Ruhe. Mitten unter seinen Kameraden kam er mir so einsam und verlassen vor, und ich mußte der Verwandten daheim denken, die noch hofften und nun bald weinen sollten. »Er lebt nicht bis zum Sonnenaufgang?« fragte ich den Stabsarzt. »Nein, er beginnt schon zu erkalten.«
Ein Schulgebäude in unmittelbarer Nähe der Kirche war ebenfalls Feldlazarett. In allen Zimmern, wo sonst französische Kinder Liberté, Egalité, Fraternité lernen, lagen nun verwundete Deutsche. Ein Schulzimmer war zum provisorischen Operationssaal geworden. Im Feld muß man sich helfen, so gut man kann. Und man leistet das denkbar Mögliche mit dem, was gerade zu Gebote steht. Ein paar junge Chirurgen standen, weiß gekleidet, an einer auf hohen Böcken stehenden Tischplatte, auf die ein lebensfrischer, schöner junger Soldat gelegt wurde. Beide Füße waren ihm durchschossen, aber er war noch froh und munter und rief seelenruhig: »Schneiden Sie mich nicht.« Eine barmherzige Schwester, die einzige, die so nahe an der Front war, denn sonst herrscht im Operationsbereich des Feldheers ausschließlich militärische Organisation, löste den ersten Verband, der mit dem ausgetretenen Blut zu einer festen Masse zusammengebacken war. Es tat weh, als der Verband abgerissen und die Wunde entblößt wurde. Aber der Soldat biß die Zähne zusammen und gab keinen Laut von sich. Das linke Bein war über dem Fußgelenk zerschmettert; selbst ein Laie konnte erkennen, daß es eine sehr schlimme Wunde war. Im Augenblick konnte nichts getan werden; er bekam eine Schiene und einen neuen Verband und dankte herzlich dafür, daß man so gut zu ihm war. Dann wurde er von zwei Sanitätssoldaten in ein freies Bett getragen und schien entschlossen, nur zu schlafen und alles zu vergessen. »Wird er seine Füße behalten?« fragte ich den Arzt. »Bei dem einen ist keine Gefahr, aber der andere, den wir eben verbunden haben — nun, in drei Tagen werden wir sehen. Ich werde schon mein Bestes tun —« und er schüttelte den Kopf.
Die verwundeten französischen Gefangenen waren auf Strohlagern[S. 64] in einem Vorratsraum untergebracht; hier sollten sie die erste Pflege erhalten und dann in ein Lazarett gebracht werden. Sie waren gerade dabei, Brot und eine nahrhafte warme Suppe zu essen. Und sie aßen mit glänzendem Appetit und waren allem Anschein nach guten Muts; ein paar waren geradezu lustig und lachten über ihre Scherze. Auf meine Frage nach ihrem Befinden antworteten sie: »Wenn es uns die letzten vierzehn Tage so gut gegangen wäre wie jetzt, dann wäre es uns gar nicht schlecht gegangen.«
Draußen auf der Straße stand eine große Schar verwundeter Deutscher und Franzosen, die Pflege suchten. An der Front wurde immer noch gekämpft, neue Scharen von Verwundeten waren im Lauf der Nacht zu erwarten, die Ärzte kamen nicht zur Ruhe. Die Franzosen standen in einem Haufen für sich. Ich trat an einen von ihnen heran; er hatte den ganzen Kopf verbunden; man sah wenig mehr als Augen und Nase. Auf meine Frage, wo er verwundet sei, zeigte er mit der linken Hand auf die linke Scheitelhälfte und dann auf die Unterseite des rechten Unterkiefers. Ich fragte den Stabsarzt, ob es möglich sei, daß der Mann stehen und gehen, sehen und hören könne, nachdem ihm ein Schuß senkrecht durch den Kopf gegangen war. Er antwortete, man habe den Verwundeten noch nicht untersucht, aber es kämen die merkwürdigsten Verwundungen vor. Die Kugeln schlagen in den armen Menschenleibern, die oft die erstaunlichsten Prüfungen bestehen müssen, die seltsamsten Wege ein.
Die Franzosen, versicherte der Stabsarzt, seien bewundernswert geduldig. Sie könnten wer weiß wie lange warten, ohne ein Wort oder eine Miene der Ungeduld. Wenn der Arzt einen Franzosen behandeln wolle, sei es obendrein fast Regel, daß der Verwundete sage: »Meine Kameraden brauchen die Hilfe nötiger; ich kann warten.« Oder: »Behandeln Sie bitte erst den Mann da — er ist Familienvater, und seine Frau lebt in kümmerlichen Verhältnissen.« Das gleiche Urteil habe ich auch von andern deutschen Ärzten gehört.
[S. 65] So folgt die Barmherzigkeit in Gestalt der Heilkunst den Spuren des grauenvollen Krieges. Was sind all diese Ärzte, Assistenten, Sanitätssoldaten, Schwestern anderes als rettende Engel, die mit dem Engel des Todes um das Leben der Verwundeten kämpfen! Was sind die Krankenautomobile, Bahren und die eifrigen Schäferhunde anderes als der Verblutenden Freunde und Bundesgenossen, die die Ernte auf den blutigen Feldern bergen. Hier geht die Versöhnung getreulich mit dem Krieg Hand in Hand, wie das Symbol des Roten Kreuzes die Farben des Bluts mit dem Sinnbild der christlichen Liebe vereint.
23. September. Den Tag verbrachte ich in Dun an der Maas, das durch die Beschießung besonders seitens der Franzosen sehr gelitten hatte. Gegen ½6 Uhr kehrte der Kronprinz mit seinen Herren von Romagne zurück; ich sollte ihn in Dun erwarten. Ich ging über die Brücke zur Stadt hinaus, als eben die vornehmen Automobile mit der Bezeichnung »Generaloberkommando der fünften Armee« in voller Fahrt dahergerast kamen. Beim Chauffeur auf dem ersten saß der Kronprinz im Mantel mit rotem Kragen. Er gab mir ein Zeichen, aufzusteigen, und ich nahm hinter ihm Platz. Er unterhielt sich eine Weile mit den Offizieren; dann ging es weiter. Aber langsam, denn wir begegneten gerade einem Infanterieregiment. Die Mannschaften faßten ihre Helme an der Spitze, hoben sie in die Höhe und stimmten ein Hurra an, als gelte es einen Bajonettangriff auf einen französischen Schützengraben; es galt aber dem Chef der fünften Armee und dem Erben des Reichs. Wir fuhren wie durch ein brausendes Meer von donnernden Hurrarufen, bis zu den letzten kleinen Gruppen von zwei und drei Mann. Zuletzt stand noch ein einsamer Wachtposten an der Straße; auch er schrie aus Leibeskräften! Als dann der Kronprinz wieder seine Automobilbrille aufsetzte und den Mantelkragen hochschlug, war er nicht mehr zu erkennen, am wenigsten von den Reitern, die auf ihre Pferde[S. 66] aufzupassen hatten. Aber, so versicherte er mir, nichts freue ihn mehr, als sich so von den Soldaten geschätzt und verstanden zu sehen; sei es doch die vornehmste Pflicht eines Fürsten, sich des Vertrauens seines Volkes würdig zu zeigen, und für ihn kein größeres Glück, als so zum deutschen Volk zu stehen.
Bei Tisch war die Stimmung so fröhlich und ungezwungen wie gewöhnlich, trotzdem man begeisterte Reden, Trinksprüche und Hurrarufe hätte erwarten können. Varennes war genommen worden, und die Nachricht von Weddigens Tat auf dem Meer war eingelaufen. Aber man hielt keine Reden und rief auch nicht Hurra. Der Kronprinz nahm die Neuigkeiten mit derselben würdigen Ruhe auf, er freute sich, verzog aber keine Miene, nur seine Augen bekamen einen feuchteren Glanz. Die Unterhaltung drehte sich dann eine Weile um die Frage, ob die Unterseeboote gegenüber den schwimmenden Festungen die gleiche Bedeutung erhalten würden wie die 42-cm-Mörser gegenüber den Landbefestigungen. Dann sprach man von andern Dingen, und die Stimmung war kameradschaftlich und gemütlich wie immer an diesem Tisch. Die unerschütterliche Ruhe der Deutschen, besonders der Oberbefehlshaber, gegenüber den Erfolgen hat mich oft in Erstaunen und Bewunderung versetzt. Sie nehmen die Erfolge als die natürlichste Sache von der Welt, und wenn ein Erfolg Woche für Woche ausbleibt, so bewahren sie dieselbe Ruhe in dem Bewußtsein, daß er kommen wird und kommen muß! Die Oberleitung weiß, was sie zu tun hat, um das Ziel zu erreichen; alle andern, vom Feldmarschall bis zum Rekruten, hegen blindes Vertrauen zu ihr, und das ganze deutsche Volk vertraut ebenso blind dem Heer und der Flotte. Solch ein Volk kann nicht besiegt werden! Alles geht mit mathematischer Genauigkeit und Notwendigkeit. Daher diese Sicherheit und Ruhe, und daher war am Tisch des Kronprinzen die Stimmung nicht aufgeräumter als sonst.
Gleich vor Dun, auf der nördlichen Seite der Straße nach Romagne, liegt ein einsames Grab, das Kreuz mit Kränzen überschüttet.[S. 67] Dort ruht ein Hauptmann, der mit seiner kleinen Schar inmitten des Feuers aushielt, als die Franzosen ihre eigene Stadt beschossen, und schließlich auf seinem Posten fiel. Sein Andenken war unter der Besatzung von Dun ebenso frisch wie die Blumen auf seinem Grab, die stets erneuert wurden. Und er war bloß einer unter Millionen! Dem Deutschen scheint es die einfachste Sache von der Welt, sein Blut hinzugeben und zu sterben. Nein, ein solches Volk kann nicht besiegt werden!
Während des Essens kam der Generaloberarzt Professor Widenmann; er hatte im Lazarett nach unserm Freunde Freiherrn von Maltzahn gesehen, dem ein Automobilunglück zugestoßen war. Das Auto war an einer Straßenwendung gestürzt und kam mit seiner ganzen Schwere auf von Maltzahns Brust zu liegen. Ein paar Rippen waren ihm gebrochen, dazu ein Beinbruch, eine Gehirnerschütterung und der allgemeine Chock. Sein Zustand war sehr beunruhigend, aber der Arzt hoffte auf seine Wiederherstellung. Professor Widenmann wird mir unvergeßlich sein. Er hatte die ganze Welt bereist, war wohlbekannt in Afrika und nahe am Gipfel des Kilimandscharo gewesen, als Wind und Wetter ihn zwangen, umzukehren. Wir hatten gemeinsame Freunde nah und fern und unterhielten uns noch lange, nachdem die andern ihre Zimmer aufgesucht hatten, an diesem letzten Abend, den ich beim Kronprinzen des Deutschen Reichs verlebte.
Bei der Ausfahrt hatte ich Longwy nicht besichtigen können, dessen oberer Teil, in Vaubans Festung gelegen, so furchtbar durch den Krieg gelitten hat, während die Fabrikstadt im Tal der Chiers unbeschädigt blieb. Ich fuhr also bei der Rückkehr ins Große Hauptquartier am 24. September hinauf und über die beiden Festungsgräben und bis zu dem Tor, das eine Erinnerungstafel an Vauban schmückt. Jetzt wehte darüber die deutsche Flagge.
Der Wachtposten forderte meinen Ausweis. In den Tunnelgängen schulterten mehrere Posten ihr Gewehr; nach innen zu[S. 68] haben sie ihre Wohnungen und ihre Küche. An den Mauern kleben große Plakate: »Armée de Terre et armée de Mer« und darunter zwei sich kreuzende Trikoloren; »Ordre de mobilisation générale« mit allem, was dazu gehört, und schließlich die Bekanntgabe, daß Sonntag den 2. August 1914 der erste Mobilisierungstag sei. Diese Order kostet Frankreich Ströme seines edelsten Blutes, zerstört seine nordöstlichen Provinzen und hat die kleine Stadt innerhalb der Mauern in einen einzigen Schutthaufen verwandelt.
Am Anfang der Hauptstraße, die Longwy durchschneidet, standen einige französische Arbeiter und nahmen das Pulver aus französischen Handgranaten heraus, um sie unschädlich zu machen. Kein Erdbeben hätte diese Straße in ihrer ganzen Länge schlimmer verwüsten können als die Granaten. Nicht ein einziges Haus ist stehengeblieben. Als die Artillerie des Invasionsheers Longwy zu beschießen begann, wurde den Einwohnern befohlen, den Ort zu verlassen, und die meisten zogen ihres Wegs. Einige jedoch wollten bleiben; von ihnen wurden etwa sechzig, darunter mehrere Frauen, unter den Ruinen begraben.
In der Kirche eine Verwüstung ohnegleichen: die Wölbungen des Seitenschiffs eingestürzt, an den übrigen klafften gewaltige Löcher von Granaten, deren Splitter über die Säulen herabgeregnet sind und tiefe Furchen in sie gerissen haben. Von den bunten Glasfenstern sind kaum einige Splitter übrig; nur von den Bleieinfassungen sieht man hier und da noch Spuren. Aber die Kanzel, von der aus die christlichen Wahrheiten verkündet wurden, ist unberührt geblieben, und hätte ein Priester dort während der Beschießung gestanden, wie der griechische Patriarch in Konstantinopel, als die Türken die Hagia Sophia stürmten, so wäre ihm nicht ein Haar gekrümmt worden, und man würde von einem Wunder gesprochen haben. Vor dem Frieden des Hochaltars schreckten die Granaten nicht zurück; er war ein Trümmerhaufen auf dem Boden des Chors, und eine dicke Schicht Kalkstaub bedeckte ihn. Im Langschiff war es nicht möglich, vorwärts[S. 69] zu dringen, denn die Orgel mit ihren abgeplatteten Pfeifen und die Chöre mit ihren Bänken und Brüstungen bildeten einen einzigen Haufen von Gerümpel, Brettern, Bewurf, Ornamentbruchstücken, Betstühlen und kirchlichen Geräten, alles fast bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert.
Der untere Teil der festen Kirchenmauern ist verhältnismäßig verschont geblieben, und gerade hier sind die rechteckigen Bilder in Hochrelief aus der Leidensgeschichte Jesu. Unter einem, das vollständig unbeschädigt geblieben ist, standen die Worte: »Jésus tombe pour la deuxième fois.« Das Gesicht des Erlösers drückt unsagbaren Schmerz aus, wie unter der Last des Kreuzes und der Sünden der Menschen. O Eitelkeit der Welt! Auf einer Steintafel liest man die gut erhaltene Inschrift: »Hanc ecclesiam Ludovici XIV jussu et pecunia procurante Vauban erectam primar. benedixit lapidem 22 martii 1683« ... usw. Nun waren die Orgeltöne verstummt, und von der Kanzel erklangen keine Trostworte mehr; durch die offenen Wölbungen klagte nur noch der Wind: »Alles ist eitel.«
Draußen war die Verwüstung ebenso. Hier stand das Skelett eines Automobils, dort lag das Gerippe eines Zweirads ohne Räder unter Haufen von Tornistern und Uniformstücken, zerbeulten Blechtöpfen, Säbelscheiden, Gewehrkolben und — Pfeifen, Kinderspielsachen, Farbenkästen und Holztieren, Leitungsrohren, Balkongeländern und Gittern, Stühlen und Tischen, alles in einem Wirrwarr von Steinen, Ziegeln und Schutt. Pompeji ist weniger verwüstet als diese Stadt, und mein altes Lou-lan im Herzen der Wüste, wo die Vernichtung ebenso viele Jahrhunderte ihre Ernte gehalten hat wie in Longwy Tage, sieht weniger trostlos aus als Vaubans befestigte Stadt!
In den Straßen war es spukhaft still, nur hier und da tickte es in den Fugen, und mit einem scharrenden Laut fielen kleine Steine von den Mauern. Der Wind rumorte in den aufgerissenen flachen Dächern, und die herunterhängenden Dachrinnen nickten wie festgebundene Schlangen. Hier und da an einer Ecke war[S. 70] noch ein Straßennamen zu lesen: »Rue des Ecoles« oder »Rue Stanislas«.
Im Schutt lagen noch Postkarten, gebleicht und zermürbt von Sonne und Regen. Ich hob eine auf und las die Adresse: »Monsieur Crombez, Subsistant au 164 de Ligne, Longwy-haut.« Die Karte enthielt nur die Worte: »Le Mans, 22. August. Lieber Kamerad. Ich bin glücklich nach Mans gekommen und habe meine Zeugnisse dem Chef direkt geschickt. Hoffentlich habe ich bald das Vergnügen, Dich wiederzusehen. H....« Ob dieser Crombez jemals den Gruß seines Kameraden erhalten und das schöne Bild auf der Karte gesehen hat, das den Zusammenfluß der Huisne und Sarthe darstellt? Oder steht er in den Verlustlisten als tot oder vermißt?
Den kleinen Markt vor der Kirche bekränzt ein Viereck von Bäumen. Viele von ihnen waren niedergeschlagen und lagen nun da, ein Haufen Reisig und Brennholz. Auf diesen Markt hinaus ging auch die hohle, zertrümmerte Fassade eines Hauses, über dessen Portal man die Worte »Hôtel de Ville« zu erkennen glaubte und die Jahreszahl 1731. Sein Vestibül mit Eingang zum Bureau de Police war ein einziger Kehrichthaufen von Kleiderfetzen, Möbeln und Papier. Das Polizeiarchiv lag umhergestreut; darunter die ganze Auflage einer kleinen Schrift: »Traité pour l'éclairage au gaz de la ville de Longwy, du 9 Janvier 1912 au 23 décembre 1961.« Sie sollte also für ganze fünfzig Jahre gelten. Bei der Drucklegung des Heftes ahnte noch niemand, daß das Gas schon 1914 verlöschen würde. Die Blätter raschelten, wenn der Wind durch die öden Räume strich.
Der untere Stadtteil zeigte dagegen keine andern Spuren vom Krieg als wenige deutsche Uniformen. Das deutsche Militär wanderte seelenruhig durch die Straßen der eroberten Stadt, in deren Zentrum die Zivilbevölkerung ganz zahlreich war.
Kurze Zeit darauf fuhr ich über die Grenze nach Luxemburg und erreichte bei Sonnenuntergang wieder die Hauptstadt des kleinen Großherzogtums.
Durch den Hofmarschall Freiherrn von Reischach erhielt ich am 25. September eine Einladung zur Mittagstafel des Kaisers für 1 Uhr. Unter den Anwesenden waren außer dem Hofmarschall die Herren von Plessen, von Gontard und von Buch, letzterer deutscher Gesandter in Luxemburg; ferner der Feldprediger des Kaisers und einige Adjutanten. Am Vormittag war die Nachricht von Prinz Oskars Krankheit eingetroffen; er hatte sich durch Überanstrengung eine Art Herzkrampf zugezogen. Ich erwartete daher, den Kaiser niedergeschlagen zu finden, aber keine Spur davon. In jugendlicher, militärischer Haltung trat er herein, hieß mich wieder mit kräftigem Händedruck willkommen und nahm einen Brief aus der Tasche, den er mich aufmerksam zu lesen bat, während er sich mit seinen Herren unterhielt. Der Brief war direkt an den Kaiser gerichtet; ein Feldwebel, der neben Prinz Joachim gestanden hatte, als dieser verwundet wurde, schilderte darin, wie tapfer und vorbildlich sich der Prinz benommen hatte. Der Bericht war einfach und ohne jeden Wortprunk, aber er zeigte, wie fest und tief die Treue wurzelt, die das deutsche Heer mit seinem obersten Kriegsherrn verbindet; sie macht die beiden zu dem festen und unerschütterlichen Felsen, auf dem das Deutsche Reich erbaut ist. Als der Kaiser zurückkam und mich fragte, was ich von dem Briefe dächte, antwortete ich bloß: »Es muß Ew. Majestät eine Freude sein, solche Grüße aus den breiten Schichten des Volks zu erhalten.«
»Ja,« antwortete er, »nichts freut mich so sehr wie die Beweise von der Treue des Volks und seinem unmittelbaren Zusammenhang mit meiner Armee. Einen Brief wie diesen verwahre ich unter meinen wertvollsten Papieren.«
Dann sprachen wir von Prinz Oskars Krankheit. Im Zusammenhang damit äußerte der Kaiser: »Nun ist auch Hohenzollernblut geflossen. Ich habe sechs Söhne und einen Schwiegersohn im Krieg, und von den vielen deutschen Fürsten, die an der[S. 72] Front kämpfen, haben schon mehrere ihr Leben für Deutschlands Sache geopfert.« Im übrigen drehte sich die Unterhaltung um meine Erlebnisse bei der fünften Armee und die Kriegsereignisse.
Den Beschluß des Tages bildete ein Abendessen beim Reichskanzler von Bethmann-Hollweg.
26. September. Kurz vor 9 sollte ich auf dem Bahnhof sein und den Zug benutzen, der ein Weimarer Landsturmbataillon nach Charleville beförderte. Aber über Nacht war der Fahrplan geändert worden, der Landsturmzug ging erst später; dagegen stand ein Munitionszug zur Abfahrt nach Sedan bereit, zweiundzwanzig offene, mit Planen bedeckte Wagen und ein paar geschlossene. In dem einen der letzteren nahm ich Platz. Meine Nachbarn waren Bedeckungsmannschaften, zehn oder zwölf Mann Ersatzreserve; sie kamen von Mainz und hatten in diesem Zug acht Tage und acht Nächte zugebracht! Unser Wagen hatte sich aus dem Nordosten Deutschlands hierher verirrt; er trug die Bezeichnung: »Preuß.-Hess. Staatseisenbahnen, Nord-Ost«, und in meinem Abteil hing eine Karte über die Bahnstrecke Berlin-Memel.
Eine menschenfreundliche Seele im Hotel Staar hatte mir geraten, Proviant mitzunehmen, da es mehr als zweifelhaft sei, ob ich unterwegs etwas Eßbares auftreiben könnte. Also wurden mir mit dem übrigen Gepäck vier tüchtige Butterbrote mit Schinken und Käse, drei Eier und zwei Flaschen Mineralwasser ins Kupee gebracht.
Dann ging es hübsch langsam los, aus dem Luxemburger Bahnhof heraus, an einem stehenden Zug vorüber, der mit plaudernden, rauchenden, lachenden Soldaten vollbepackt war, die ausgezeichneter Stimmung zu sein schienen. Die Fahrt ging an gemütlichen Dörfern, Höfen und Wäldern vorüber, an Wiesen mit grasenden Rindern, Feldern mit pflügenden Bauern, an Landstraßen und Chausseen mit langen Baumreihen. In Luxemburg gab's keine zusammengeschossenen Häuser, keine obdachlosen Menschen.[S. 73] Wohl war die Einquartierung deutscher Truppen wenig angenehm, aber die Luxemburger haben alles bei Heller und Pfennig ersetzt bekommen.
Auf den Straßen keine Truppen, keine knarrenden Kolonnen. Wie das kommt, so nahe der Front? Nun, soweit die Eisenbahnen gehen und in Zusammenhang mit dem deutschen Eisenbahnnetz stehen, besorgen sie den ganzen Transport bis zum Beginn der Etappenstraßen, wo es keine Eisenbahnen gibt. Deshalb sieht das Land zu beiden Seiten der Bahn so idyllisch aus, und das einzige, was an den Krieg erinnert, ist der Trubel an den Haltestellen und die Posten, die die Bahn bewachen und oft so dicht stehen, daß der eine den andern sehen kann. Deutsche Eisenbahntruppen besorgen den Betrieb und Landsturm die Bewachung.
Unser Gleis führt über Mamer und Kapellen. Das Gelände ist schwach gewellt, nach allen Seiten breiten sich flache, sonnenbestrahlte Felder. Zwischen zwei Stationen halten wir. Warum? Auf dem Nebengleis kommt ein gewaltiger Zug mit lauter leeren Güterwagen; keine Menschenseele ist darin, man hört, wie leer sie sind; mit hohler Resonanz rasseln sie vorüber; sie haben irgendeiner Armee Verstärkungen gebracht und gehen nun nach Luxemburg zurück, um neue Mannschaften zu holen. —
Sterpenich! Wir sind also in Belgien. Die Landschaft ist die gleiche, auch hier deutsche Wachtposten, auch hier pflügende Bauern auf den Äckern wie in Luxemburg. Nicht einmal die Zollrevision erinnert uns daran, daß wir ein neues Land betreten: der Krieg reißt alle Schranken nieder.
In Arlon halten wir länger. Im Südwesten hört man Kanonendonner; ob er aber von Verdun oder vom Argonner Wald herkommt, können meine Reisekameraden nicht entscheiden; er klingt dumpf, aber deutlich.
Zuweilen fährt der Zug mit gewöhnlicher Geschwindigkeit, aber bald bereut er das und fährt wieder langsam, als ob die Last von Toten, die er in Form von Geschossen mit sich führt, die Erschütterung nicht vertrüge. Der Bahnkörper liegt nun hoch,[S. 74] und wir fahren auf einer Brücke über eine Landstraße. Unten steht ein Soldat mit einem Gewehr und sieht zum Zug hinauf.
Da plötzlich ein Dorf, zusammengeschossen und eingeäschert, nur noch aus kahlen Mauern bestehend, die zwischen Bäumen hervorlugen. Eine Allee ist zum Teil umgehauen, auch die Bäume am Rande eines Gehölzes in der Nähe der Bahn sind gefällt. Wohl um die Bewachung zu erleichtern und Attentaten vorzubeugen? Nein; weiterhin sind die Stämme aufgestapelt, ein Güterzug wartet auf sie; sie sollen als Bahnschwellen dienen.
»Langsam fahren!« steht an scharfen Kurven auf großen Schildern; die deutschen Lokomotivführer fühlen sich noch nicht so heimisch. Doch ist der Verkehr nicht besonders lebhaft; man begegnet nur wenigen Zügen auf dieser zweispurigen Bahn.
Lavaux — Cousteumont — Hamipre, kleine Stationen; die Soldaten sitzen in guter Ruh, rauchen Zigarren und lesen die neuesten Zeitungen. Longlier-Neufchateau, eine größere Station; vom Kupeefenster aus werden einige zerstörte Häuser sichtbar. Bei Libramont geraten wir dicht neben einen gewaltigen Truppenzug, der wie wir Sedan zum Ziel hat. Der ganze Zug ist laubgeschmückt, als ging es zu einem Sommerfest. Draußen zwischen den Wagenfenstern liest man mit Kreide geschriebene Sprüchlein, die von der guten Laune der Passagiere zeugen, z. B. »Auf zum Mittagessen nach Paris; steht schon bereit«, und andere derartige Scherze. Unter fröhlichem Singen und Lachen rollt der Zug seinem unbekannten Schicksal zu.
Nach einstündigem Aufenthalt kommt die Reihe wieder an uns, und wir fahren über Felder, auf denen duftende Hafergarben wie Soldaten in Reih' und Glied stehen. Eine Brücke ist zu Beginn der Invasion gesprengt worden, offenbar um den Bahnverkehr zu stören, der unter ihrem Bogen hindurchführt. Nun sind Eisenbahnbautruppen damit beschäftigt, sie wieder herzustellen. Sonst sieht man von der Bahn aus in Belgisch-Luxemburg nicht viel von den Wirkungen des Kriegs.
Von Libramont aus geht die Fahrt endlich nach Südwesten.[S. 75] Auf einer kleinen Station halten wir wiederum unmittelbar neben einem Truppenzug und gleiten langsam an ihm vorüber. Im Wagen dritter Klasse haben die Soldaten Tornister, Gewehre, Waffenröcke und Patronentaschen aufgehängt, alles in malerischer, kriegerischer Unordnung. Einige Leute liegen auf den Bänken und schlafen, andere sitzen, die Beine übereinandergeschlagen, rauchen, lesen, plaudern oder betrachten das Leben draußen. In den Kupees erster und zweiter Klasse fahren Offiziere und Unteroffiziere. Es ist Kavallerie; den Schluß des Zuges bilden die Güterwagen mit den Pferden, in jedem Wagen sechs, je drei und drei mit den Köpfen gegeneinander; von der mittleren Wagenöffnung mit den Schiebetüren sind sie durch Balken getrennt, die an kurzen Ketten hängen; an den Balken sind ihre Halfter festgemacht. Zwischen den Balken, also in der Mitte des Wagens, steht auf Böcken ein Tisch mit zwei Bänken. Hier sitzen ein paar Leute, die gerade mit ihrem Mittagessen beschäftigt sind.
Bertrix! Wieder eine Stunde Aufenthalt. Ein leerer Zug aus Sedan verursacht die Verzögerung. Durch das Fenster fängt man unfreiwillig kleine Brocken von der Unterhaltung der Soldaten auf. »Hast du gehört, daß die Belgier in der Nähe von Arlon eine geheime Funkenstation haben sollen, der man noch nicht auf die Spur gekommen ist?« — »Auf alle Fälle war das eine Glanzleistung von Weddigen.« — »Aber die Verluste zu Land sind viel größer als die zur See. Der Untergang eines Unterseebootes bedeutet zwanzig Mann, ein Sturm zu Land aber zehn- oder hundertmal mehr.« — »Ist es wahr, daß Reims erobert ist?« — »Der rechte Flügel scheint ein gutes Stück zurückgegangen zu sein.« — Alle Gerüchte gedeihen üppig an den Bahnstationen.
Der Stationsvorsteher kommt in mein Abteil, um mir Gesellschaft zu leisten. Er erzählt mir, daß die Steinbrücke, über die wir vorher gefahren sind, am 19. August von den Belgiern gesprengt worden sei, als hier heiß gekämpft wurde. »Wir Eisenbahner,« fügt er hinzu, »wir müssen hier sitzen und dürfen den[S. 76] Kanonendonner nur aus der Ferne anhören. Ins Feuer, wie die andern, dürfen wir nicht.« — »Aber Ihre Arbeit ist doch ebenso wichtig; wie stände es mit dem Feuer an der Front, mit der Verpflegung und den Ersatztruppen, wenn Sie nicht den Eisenbahnbetrieb in Ordnung hielten!« — »Gewiß, aber es ist eine fürchterliche Geduldprobe.«
Endlich kommt der erwartete Zug heran. »Haben Sie keine neuen Zeitungen?« rufen Wachtposten und Eisenbahnarbeiter, als wir langsam vorüberfahren. »Ich habe schon alle weggegeben, die ich hatte«, antworte ich. Aber ich finde noch eine Nummer der Trierischen Zeitung, und am nächsten Ort, wo mehrere Soldaten beieinander stehen, werfe ich sie hinaus. Wie eifrig die Leute die Neuigkeiten verschlingen; einer liest vor, die andern hören zu.
Hier begegnen wir einem lustigen Zug: einige Wagen sind als Reparaturwerkstätten eingerichtet. Da stehen Hobelbänke und Schleifsteine, da liegen Sägen, Meißel, Äxte und Hämmer herum. Andere Wagen sind gestopft voll von Zweirädern, Schubkarren, Spaten, Spießen, Äxten und Hacken und andern Werkzeugen, die man bei Pionierarbeiten, Barrikaden und Schützengräben braucht. Hinter einem langen Tunnel öffnet sich eine herrliche Landschaft, stärker gewellt als die bisherige; unter uns kreuzen sich mehrere große Landstraßen. An der nächsten senkt sich der Bahnkörper jäh herab. Unten ist eine Wachtstube, in der mehrere Landstürmer nach der Arbeit ausruhen und die Stunde abwarten, wo ihre Kameraden abgelöst werden sollen. Eine Schar graugekleideter Arbeiter geht, den Spaten auf der Schulter, die Strecke entlang. An einer kleinen Haltestelle stehen etwa vierzig graue und blaue Soldaten um ihre Gewehre herum. Es nimmt auch nie ein Ende mit den Soldaten! Welche Massen werden nicht allein an den Eisenbahnlinien verbraucht.
Die Sonne geht unter. Hinter einem neuen Tunnel öffnet sich im Tal unter uns die Aussicht auf den gewundenen Flußlauf der Semois. Neue Scharen zurückkehrender Arbeiter. »Noch[S. 77] zwanzig Kilometer bis zur französischen Grenze«, erklärt der eine; ein anderer zeigt in der Nähe eines zerstörten Dorfes auf eine Anhöhe, wo mehrere Massengräber zu liegen scheinen. Die Dämmerung schreitet weiter und geht in Nacht über. Schade, daß man die Aussicht auf dieses herrliche Land verliert. Die Bahn wendet sich in vielen Kurven, bald steigend, bald fallend. Beim Ansteigen geht es hoffnungslos langsam, der Zug quält sich, und das Holz der Wagen seufzt unter der Schwere seiner Last.
Wieder ein Tunnel in Sicht; an seinem Eingang eine kleine Hütte, in der einige Landstürmer sich eben ihr Abendbrot bereiten. Der Zug fährt so langsam, daß wir einige Worte mit ihnen wechseln können. Dann geht's hübsch sachte in die dunkle Öffnung hinein. Die Lokomotive stöhnt und keucht aus Leibeskräften, der Tunnel füllt sich mit Rauch, und man schließt die Fenster. Es geht immer langsamer. Nun kann die Maschine es nicht mehr schaffen, da stehen wir!
Einer meiner Reisekameraden holt in der Finsternis eine kleine Lampe hervor, die die Stimmung erhöht. Der Rauch wird kompakter und dringt in das Kupee herein; wenn das noch lange dauert, ersticken wir alle. Ich öffne einen Augenblick das Fenster und sehe hinaus — nur Nacht und Rauch, aber durch den Rauch sieht man die Funken, die von der Lokomotive sprühen, die neue Kraft zu sammeln scheint. Unser Zug ist mit Munition beladen, und sollte sie gerade hier im Tunnel in die Luft fliegen, dann bekommen die Eisenbahntruppen in den nächsten Tagen viel zu tun!
Die Lokomotive prustet wieder und fängt an, sich zu bewegen. Vorn wird ein Licht sichtbar, vermutlich die Mündung des Tunnels. Nein, nur eine Laterne, deren Schein vom Rauch gedämpft wird. Eine Weile später wieder ein Licht, als ob es endlich tagen wollte; es ist aber nur der Feuerschein der Maschine. Hört denn dieser ewige Tunnel niemals auf? Mehr als eine halbe Stunde sind wir darin. Da wird es endlich heller, und wir atmen wieder frische Luft. Aber vom Tag ist nicht mehr viel übrig;[S. 78] die Dämmerung verwischt die Umrisse der Landschaft, und über der Erde schwebt der Halbmond gelb und spöttisch.
Gegen 8 Uhr ist der Mond weiß geworden und sitzt in den Baumwipfeln. Die Nacht ist hell und kalt. Wie leicht wäre es für Franktireurs, aus den Schlupfwinkeln des Waldes heraus ihre Kugeln in die schwach erleuchteten Fenster des Zugs zu senden. Aber kein Schuß erschallt, es ist lautlos still draußen, nichts erinnert an den Krieg, man ist wie im tiefsten Frieden.
Um Mitternacht verschlief ich den Rest unserer Fahrt. Um 3 Uhr morgens weckte mich einer meiner Nachbarn: wir waren in Sedan. Achtzehn Stunden waren wir unterwegs gewesen. Der Chef der Kommandantur, Major von Plato, war bereits um diese frühe Morgenstunde auf den Beinen, heiter und guter Dinge, hieß mich herzlich willkommen und stellte mir ein Zimmer im Bahnhof zur Verfügung. Bevor ich aber meine neue Wohnung in Besitz nahm, mußte ich mit dem Major und ein paar andern Offizieren, die ebenso munter und lebhaft waren wie er, Tee trinken. Das zeitige Frühstück lieferte die Kriegsverpflegungsanstalt, in der sechzehn freiwillige Helferinnen bis zu viertausend Verwundete an einem Tag beköstigt hatten. In einer Küche brodelten beständig gewaltige Kessel mit kräftiger Suppe. Neben der Station hatte man gleich nach der Besitznahme in zwei Tagen einen Holzschuppen gebaut, in dem die Truppen, Verwundete und Unverwundete durcheinander, ihre Mahlzeiten an langen Tischen einnehmen konnten. Auch jetzt waren viele Plätze besetzt, und draußen stand ein ganzer Trupp Landwehr zweiten Aufgebots und wartete auf den Morgenkaffee mit Brötchen. Jeder sollte auch seine Portion Brot und Fleisch auf die Fahrt an die Front mitnehmen. Alle waren heiter und guter Dinge, und niemand konnte vermuten, daß diese Männer binnen kurzem vor dem Feind stehen würden, um zu siegen oder zu sterben. Im Durchschnitt hatten täglich fünftausend Mann Sedan auf dem Wege zur Front passiert. Fleisch und Gemüse für ihren Unterhalt liefert das besetzte Land, der Bürgermeister muß es herbeischaffen — das ist[S. 79] so Kriegsgesetz, und man sieht daher leicht ein, wie vorteilhaft es für eine Armee ist, in Feindesland zu kämpfen. Das besetzte Land muß ja nicht nur seine eigene Armee, sondern auch die des Gegners ernähren. Solange es Getreide gab, wurde auch das eingefordert, aber Ende September mußte für den Brotbedarf der Soldaten Mehl aus Deutschland beschafft werden. In der Kaffeeküche brodelte ein Dutzend große Kessel, und eine alte Französin rumorte zwischen ihnen unterhaltungs- und lachlustig. —
Das Zimmer, das mir nun zugeteilt wurde, war ursprünglich für Major Plato und seinen Adjutanten bestimmt; sie sollten sich abwechselnd darin ausruhen. Aber bisher hatten sie es noch nicht benutzen können, da sie Tag und Nacht durcharbeiteten und zwischendurch oft in den Kleidern in der Bahnhofswirtschaft schliefen, die als Kommandanturbureau diente. Im Wartesaal III. Klasse war das Quartier der Stationswache. Die Leute lagen auf dem Boden und machten sich gerade für die Arbeit des neuen Tages bereit.
Unsere Runde führte uns auch in die Wartesäle und Magazine, die als Lazarett eingerichtet waren. In einem lagen nur schwerverwundete Franzosen, die von Schwestern des Roten Kreuzes und Ärzten gepflegt wurden. Ein anderer Saal war den Deutschen überlassen, die bald den Transport nach Osten ertragen konnten. Auch hier bekam ich einen lebhaften Eindruck davon, wie wichtig es ist, so schnell als möglich die Krankensäle, die zur Verfügung stehen, zu räumen. Eben war die Mitteilung eingegangen, daß ein Zug mit Verwundeten auf dem Weg nach Sedan sei, und daß fünfhundert Krankenwagen von der Front angefordert würden — was auf heftige Kämpfe und blutige Ereignisse schließen ließ. Als der gemeldete Zug ankam, entstand auf dem Bahnsteig Leben und Bewegung. Die Schwestern und ihre freiwilligen Träger eilten von Wagen zu Wagen mit Eimern und Kannen voll rauchenden Kaffees und großen, runden Körben voll Brot; Sanitätssoldaten standen mit ihren Bahren bereit, um die Schwerverwundeten zu den Autobussen und damit in das[S. 80] Städtische Lazarett zu schaffen. Alles geht wie geschmiert, es ist Lust und Leben in diesem Liebeswerk. Wieviel auch kommen, so reicht das Essen doch immer zu, die Bahren und Betten gehen nicht aus, und die hilfreichen Hände werden nie müde. Den verwundeten Franzosen wird dieselbe freundliche Behandlung zuteil wie den Deutschen, vielleicht eine noch freundlichere, denn fast alle haben ein Gefühl von Mitleid gegenüber denen, die in Feindeshand gefallen sind und außer ihren eigenen Wunden noch fühlen müssen, wie ihr Vaterland blutet. Die Station Sedan ist wie ein summender Bienenkorb. Hier kommen Züge mit frischen Truppen herein, und dort halten Transporte von Gefangenen und Verwundeten. Zwar liegt die Nacht kalt und sternenhell auf der Stadt, aber für die, die im Dienst der Krankenpflege auf der Station arbeiten, gibt es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht, und es ist mir ein Rätsel, wie sie dieses Leben aushalten. Die Kraft, die sie aufrecht erhält und vor Müdigkeit bewahrt, ist die Liebe zum Vaterland, das seinen größten und schicksalsschwersten Kampf ausficht.
Am Nachmittag machte ich mit Major Heyn und ein paar andern Offizieren, von denen einer Richter in Frankfurt a. M. war und jetzt Kriegsgerichtsrat, eine Automobilfahrt zu geschichtlich berühmten Orten außerhalb Sedans, Plätzen, deren bloßer Name bei allen Franzosen Gefühle der Trauer weckt.
In der Nähe des Dorfes Frénois, wo am Vormittag des 2. September 1870 die Kapitulation unterzeichnet wurde, besuchen wir das kleine Schloß Bellevue, wo König Wilhelm am selben Tage seine Zusammenkunft mit Kaiser Napoleon III. hatte. Die beiden Monarchen trafen sich in der kleinen Glasveranda im Erdgeschoß, die eine Art Vorhalle bildet. Die Möbel von damals sind alle verschwunden, und kein Andenken aus jener Zeit ist erhalten. Doch nein! Die alte, würdige und vornehme Dame, die noch jetzt das Schloß besitzt und, von Alter und Kummer[S. 81] gebeugt, jetzt zum zweitenmal nach vierundvierzig Jahren alle Phasen eines französisch-deutschen Krieges erlebt hat! Ihr Haar war schneeweiß, und sie ging gebückt, aber sie trug ihr Haupt hoch und war stolz und ehrfurchtgebietend. Wir fragten sie, ob wir das Innere des Schlosses besichtigen könnten, aber sie bat uns, davon abzustehen, und wir achteten diesen Wunsch natürlich. Daß die Soldaten, die ihr Weg an Bellevue vorüberführt, gern die berühmte Veranda sehen wollen, ist ja weiter nicht zu verwundern, aber die alte Dame bat, man möge diese Besuche einstellen. Sie wolle Frieden haben und mit ihrem Kummer allein sein. »C'est bien malheureux, c'est très, très triste«, sagte sie ein ums andere Mal, und sie selber wie ihre Worte erweckten das tiefste Mitgefühl. Bellevue erhebt seinen runden Turm wie eine Klippe, die von den Sturmwogen der beiden größten Kriege der neueren Geschichte umspült ist.
Unser nächstes Ziel ist die kleine Stadt Donchery, die jetzt einen doppelt traurigen Eindruck macht. Hier verhandelten am Spätabend des 1. September 1870 die Generäle Moltke und Wimpffen über die Kapitulation. Auch Bismarck war dabei und mehrere Offiziere von beiden Seiten. Das Haus, in dem die Verhandlung stattfand, wurde in dem jetzigen Krieg zerstört. Aber Anton von Werners Gemälde existiert noch. Es wirkt auf den Beschauer fast erschütternd. Rechts die germanische Eisenkraft, die Entschlossenheit, die keine Kompromisse duldet, links das geschlagene Frankreich in seinem tiefsten Unglück. Wohl zieht Moltke unsere Blicke auf sich, wie er, die Hand auf den Tisch gestützt, dasteht und kategorisch verlangt, daß sich das ganze französische Heer gefangen geben soll, und wohl betrachten wir mit gespannter Aufmerksamkeit den eisernen Kanzler, wie er, die Hände am Säbelknauf, dasitzt und auf die Antwort wartet. Die Hauptfigur des Bildes ist aber doch Wimpffen. Er ist gerade von dem Schlag getroffen, den die Übergabebedingungen für ihn und ganz Frankreich bedeuten. Er hält es nicht mehr aus, er ist aufgestanden, um zu gehen. Aber er schwankt und muß sich auf den[S. 82] Tisch und einen Stuhl stützen. Das Licht der Lampe fällt auf sein Gesicht, das den tiefsten Schmerz und Kummer verrät. Weshalb hat er sich zum Oberbefehl über die Armee gedrängt, nachdem Mac Mahon verwundet worden war und Ducrot zu seinem Stellvertreter ausersehen hatte? Nun wird sein Name in der Erinnerung auf ewig mit diesem Unglückstag verbunden bleiben. Ein Bild Bonapartes hängt an der Wand; der große Kaiser scheint dem unglücklichen General einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen. Die Gesichter seiner Begleiter verraten tiefsten Schmerz und Demütigung. Nicht weniger ernst stehen die Preußen auf der andern Seite des Zimmers. Ihre Züge zeigen Bewunderung für die glänzende Tapferkeit des französischen Heers und für eine Todesverachtung, die eines besseren Geschicks würdig gewesen wäre. Der Künstler hat eine Stimmung hervorgerufen, die uns ahnen läßt: alle Anwesende sind sich dessen bewußt, daß dieser Tag in der Erinnerung als einer der unglücklichsten in Frankreichs, als einer der größten in Preußens Geschichte fortleben wird.
Auf der Rückkehr nach Sedan besuchten wir auch das Haus, in dem am frühen Morgen des 2. September Napoleon und Bismarck ihre Unterredung hatten. Von seinem Gefolge und ein paar Reitern begleitet, kam der Kaiser in einem Landauer nach Sedan gefahren. Er war ausgestiegen und stand, gebrochen und vorzeitig gealtert, auf seinen Stock gestützt, als Bismarck heranritt. Auch diesen Augenblick hat Werner auf einem seiner Gemälde verewigt. Sie gingen dann ins Haus, stiegen die schmale, halsbrecherische Treppe hinauf und nahmen im hintersten der beiden größeren Zimmer Platz. Der Wirt, der Weber Fournaise, wurde entfernt, aber seine siebenundzwanzigjährige Frau hielt sich im Vorderzimmer auf. Und Madame Fournaise ist noch am Leben, eine freundliche alte Frau, die das Leben mit philosophischer Ruhe betrachtet, das doch so schlimm mit ihrem Eigentum verfahren ist. Das einzige, was sie empörte, war, daß zwei Gewehrkugeln durch ihr Fenster gegangen waren und sich in die Decke[S. 83] gebohrt hatten. Sie hielt uns im übrigen einen richtigen Vortrag über den denkwürdigen Tag vor vierundvierzig Jahren und entsann sich jeder Kleinigkeit. Der Kaiser war freundlich und herablassend, Bismarck lustig und scherzhaft zu ihr gewesen. Und als die Unterhaltung zu Ende war und die beiden Herren ihrer Wege gingen, hatte der Kaiser ihr vier Zwanzigfrankstücke geschenkt, die sie noch unter Glas und Rahmen und mit folgender Unterschrift aufbewahrt: »Donnés par sa Majesté l'Empereur Napoléon III à Madame Fournaise le 2 Septembre 1870.« Zur Erinnerung an unsern Besuch sollten wir den Stempel bewahren, den sie in unsere Notizbücher drückte: »Maison de la 1re entrevue Donchery.« Das Haus selbst ist bekannt unter dem Namen Maison du Tisserand oder das Weberhaus.
Wir fuhren auf einer andern Straße nach Sedan zurück, um einen flüchtigen Blick auf die Festungswerke zu werfen, die seit 1870 geschleift sind, und von den Höhen der Umgebung die schöne Aussicht auf die unglückliche Stadt zu genießen. In Sedan kann man nicht fröhlich sein. Es liegt einem bleischwer auf der Brust. Da ist ein Volk, das gelitten hat und leidet, ein edles, fleißiges und sparsames Volk, das am Gängelband der republikanischen Demokratie an einen Abgrund von Unglück geführt wurde, ein Volk, das eines besseren Schicksals würdig wäre als für eigennützige Freunde zu verbluten, dessen Kinder vergebens die anscheinend stolzen, in Wirklichkeit aber leeren und hohlen Worte stammeln: »Liberté, Egalité, Fraternité!« Was ist das für eine Brüderlichkeit, die nie an etwas anderes denkt als an Rache! Was ist das für eine Gleichheit, die politischen Zwecken die Ersparnisse des Volks aufopfert! Und was ist das für eine Freiheit, die dieses selbe Volk der am despotischsten regierten Macht der Erde in die Arme treibt!
Im Hotel Croix d'Or in Sedan wohnte Exzellenz General Freiherr von Seckendorff, der Etappeninspektor der vierten Armee. Der Chef seines Stabs ist Oberst von Kemnitz; er hat[S. 84] eine gewaltige Schar Offiziere unter sich, dazu die schwere Verantwortung für die Verbindungslinien der vierten Armee. Man kann wohl sagen, daß durch seine Hände ganze Armeen und endlose Reihen von Kolonnen gehen. Er muß Ankunft und Marsch der Ersatztruppen kontrollieren und ist dafür verantwortlich, daß sie zur rechten Zeit ankommen. Er hat dafür zu sorgen, daß Kleider, Waffen, Munition und Verpflegung in genügender Menge vorhanden sind. Er hat einen Generaloberarzt bei der Etappeninspektion unter sich, und dieser ist wieder verantwortlich für jedes Lazarett an den achtundzwanzig Etappenorten wie für Beförderung und Behandlung der Verwundeten im allgemeinen. Die Bewegungen der Sanitätskolonnen fallen also auch unter die Etappeninspektion. Der vielseitige General hat außerdem die Gefangenentransporte und die ewig hin und her rollenden Motorwagen der Feldposten zu überwachen.
General Seckendorff hatte demnach alle Hände voll zu tun und arbeitete auch wie ein Pferd; des war ich Zeuge. Er hielt tadellose Disziplin auf seinen Straßen und inspizierte sie täglich in eigener Person. Er war schon zwölftausend Kilometer in seinem eleganten gedeckten Automobil gefahren. Auf den Landstraßen führte er strenges Regiment und konnte, wenn es nötig war, Soldaten und Offiziere anfahren wie ein Löwe. Zu mir war er liebenswürdig und freundlich wie lauer Zephirwind. Er nahm mich mit offenen Armen auf und lud mich ein, zum Abendessen im großen Saal des Hotels zu bleiben.
Hier versammelten sich etwa vierzig von den dreihundert Offizieren, die damals in Sedan wohnten, unter ihnen ein Fürst Hohenlohe, der beim Roten Kreuz beschäftigt war. Bei unserm Eintreten standen die Herren schon an ihren Plätzen vor dem langen Tisch und den kleinen Nebentischen, und der General stellte mich gleich allen mit einigen ebenso kräftigen wie liebenswürdigen Worten vor. Es gab dieselbe Kost wie für die Soldaten, Reissuppe, Hammelfleisch mit Bohnen und Kartoffeln und gefüllte Pfannkuchen — das letzte Gericht ein Sonntagsluxus.
[S. 85] Nach einem angenehm verbrachten Abend und nachdem mich der General eingeladen hatte, ihn am nächsten Tage nach Vouziers zu begleiten, ging ich um Mitternacht durch das stille, menschenleere Sedan. Der Weg von der Place Turenne bis zum Bahnhof, wo ich wohnte, ist ziemlich lang, und er wurde von den sechs Wachtposten nicht verkürzt, die einer nach dem andern aus dem Dunkel auftauchten und mich anhielten als einen verdächtigen Nachtwanderer, der vielleicht in ungesetzlichen Geschäften unterwegs war. Jeder mußte General Moltkes Brief lesen und mich dann meinem Schicksal und dem nächsten Wachtposten überlassen. Aber alle waren ruhig und höflich, und sie taten ihre Pflicht. Als ich an den letzten kam, kurz vor dem Bahnhof, trat ich auf ihn zu und fragte ihn, ob er etwas dagegen hätte, meinen Ausweis zu lesen. Er antwortete lächelnd: »Ich vermute, der ist schon oft genug gelesen worden; übrigens hab' ich Sie in Gesellschaft des Chefs der Kommandantur gesehen.«
Am 28. September begab ich mich frühmorgens in den Gasthof »Zum goldenen Kreuz« und war bald darauf mit General Seckendorff und seinem Adjutanten auf dem Weg an die Front der vierten Armee. Die Straße führt nach Südwesten in der Nähe des Ardenner Kanals, der ein paarmal gekreuzt wird. Unser erstes Ziel war die Stadt Vouziers, bis wohin die Eisenbahn ging. Trotzdem benutzen zahlreiche Kolonnen die Chaussee, neben der auf den Feldern malerische Biwaks sichtbar werden. Hier und da raucht es noch von einem Lagerfeuer, über dessen Glut die Soldaten ihr Frühstück zubereitet haben. Zwischen den Kastanien und Ahornen, deren Laub sich schon verfärbt, bewegt sich das bunte, kriegerische Landstraßenleben, an das wir schon gewöhnt sind: Soldaten und Fuhrwerk einer großen Etappenlinie, Proviant- und Munitionswagen, Lazarettautos und ganze Reihen altmodischer gelber Postwagen, die Feldpostbriefe befördern und nach Deutschland über Trier fahren, wo die erste Sortierung geschieht. Die unentbehrlichen Feldgendarmen in ihren grünen Uniformen reiten auf und ab und passen auf. Ein ausgedientes Pferd hat[S. 86] seinen Gnadenschuß erhalten und wird eben beiseite geschleppt; ein Blutstrom fließt aus seinen Nüstern und rötet den Staub der Landstraße.
Wir fahren durch mehrere Dörfer, darunter Tannay und Lechesne am Ardenner Kanal, und halten kurze Zeit in Vouziers am Westufer der Aisne. Der General nimmt von ein paar Offizieren der Etappenkommandantur die Berichte entgegen über das, was sich seit gestern zugetragen hat. Dann geht die Fahrt weiter nach Süden auf der Chaussee, die nach Séchault und Cernay führt. In dem zuletzt genannten Dorf sind wir zwanzig Kilometer westlich von Varennes. Aber zwischen diesen beiden Orten breitet sich der Argonner Wald aus, in dem noch heiß gekämpft wird. Von Cernay geht nach Westen die große Landstraße nach Reims. Auf den ersten sechzehn Kilometern dieser Straße, d. h. bis zum Dorf Somme Py, hatte ich Gelegenheit, einige höchst interessante Punkte zu besichtigen. Denn diese Straße war Ende September die letzte nach Süden, die in dieser Gegend vom deutschen Heer besetzt worden war.
Das erste Dorf westlich von Cernay ist Rouvroy, und weiter wollten wir heute nicht fahren. Wir machten einen kurzen Aufenthalt und aßen unser einfaches, feldmäßiges Frühstück, lange, schmale Scheiben von Kommißbrot mit Butter und Schinken und ein Glas Rotwein. Der General hatte ein besonderes Automobil mit voll Weinflaschen, die er an die Soldaten verteilen ließ. Mit dem Wein braucht man in diesen Gegenden, wo auch die Bauern ihre wohlversehenen Weinkeller haben, nicht zu sparen. Aber nichts wird ohne weiteres genommen, alles wird den Eigentümern nach dem Krieg ersetzt, und es gehört zu den Friedensbedingungen, daß der verlierende Teil jede Quittung über Sachen bezahlt, die während der Besetzung requiriert worden sind. Der einzelne darf nicht Schaden leiden unter dem Krieg; es ist Pflicht des Staats, die persönlichen Verluste zu ersetzen, wenn er das Eigentum des einzelnen nicht gegen die Invasion zu schützen vermocht hat. Und wenn die Invasionsmacht den Krieg[S. 87] verliert, so ist es ihre rechtmäßige Strafe, für die Verluste aufzukommen.
Vielleicht wird jemand sagen, es sei nicht recht, die Soldaten Wein trinken zu lassen. Im Osten haben ja die Russen den Versuch gemacht, während des Kriegs ein Generalverbot einzuführen, und sie sind mit dem Ergebnis zufrieden. Ohne Zweifel ist diese Kraftäußerung an und für sich bewundernswert. Aber ich glaube doch, daß ein Schluck Rot- oder Weißwein hier und da den Soldaten nur guttut. Absolute Enthaltsamkeit zu predigen, ist keine Kunst für den, der nicht die Nächte in kalten, feuchten Schützengräben zu frieren braucht, in denen man nicht das kleinste Feuer anzünden darf.
In Rouvroy stiegen wir aus und gingen das sacht ansteigende Gelände zu Fuß weiter über Felder, Gräben und durch Wälder. Hier war das Land voller Granatlöcher, und man konnte nicht wissen, wo der nächste Feuerregen niedergehen würde. Zahlreiche Geschosse lagen rings verstreut, und ich nahm einen sogenannten »Ausbläser« mit, der beim Krepieren nicht geplatzt war.
Weiter oben hatten wir Gelegenheit, zu sehen, wie die Ersatztruppen sich auf der Linie eingerichtet hatten, auf der sie warten, bis sie ihre Kameraden in den Schützengräben ablösen. Sie lagen teils am Waldrand, teils im Wald selbst, wo sie sich halb unterirdische, mit Ästen, Zweigen und Laub gedeckte Höhlen gegraben hatten, die nicht nur als Wohnstätten dienten, sondern auch zur Deckung vor den Fliegern. Diese Lager sind immer nach Norden verlegt, damit sie vom Wald gedeckt sind und von den französischen Stellungen aus nicht gesehen werden. Da sie so gut maskiert sind, darf man in den Höhlen kleine Feuer anzünden.
An einer Stelle des Waldrandes hatte ein Sanitätswagen im Schutz einiger dunklen Fichten haltgemacht. Er war beladen mit Verbandzeug, Heilmitteln, Bahren und andern Sachen, die zur ersten Behandlung der Verwundeten nötig sind. Das Gespann verfügte über ein Reservepferd, das gut zu brauchen war, falls eins der gewöhnlichen Wagenpferde erschossen werden mußte. Ein[S. 88] anderer Wagen, der zur selben Sanitätskolonne gehörte, war mit einem graugelben Verdeck überspannt. Beide führten Flagge und Zeichen des Roten Kreuzes. Über die Pferde waren graue Decken gebreitet, um ihnen einen Farbton zu geben, der soviel als möglich mit dem des Landes übereinstimmte, alles zum Schutz gegen Flieger.
In einer kleinen Soldatenhütte in der Nähe hatten sich vier Ärzte der Kolonne eingerichtet. Sie hatten eben ihr Frühstück beendet, das aus der nächsten Feldküche geholt wurde, wo auch ich die ebenso kräftige als wohlschmeckende Kost versuchte. Oben auf der Höhe, von wo aus sich eine Aussicht über die französischen Stellungen darbot, trafen wir mehrere Offiziere, und unter einem mächtigen Strohdach eine Anzahl Soldaten verschiedener Waffengattungen. In der Nähe hatte man zwei Soldaten im Schatten eines kleinen Wäldchens beerdigt. An den Querarmen der Kreuze hingen frische Kränze, die verrieten, daß die Tapfern, die hier ruhten, erst kürzlich dem französischen Feuer zum Opfer gefallen waren. Ihre Helme schmückten die einfachen Grabhügel.
Auf der Rückfahrt, die auf einer östlicher gelegenen Straße über die Dörfer Condé, Autry und Grand Pré führte, holten wir vier Kompagnien Landsturm ein, an deren Spitze ein Musikkorps marschierte. Es ist ungewöhnlich, so nahe der Front Regimentsmusik zu hören, wo alles so still wie möglich sein soll und nur die Kanonen und Gewehre ihre laute Sprache sprechen. Der General ließ unser Auto die ganze Truppe entlangfahren; dann ließ er neben dem Weg halten, stieg aus und wir folgten ihm. Die ganze Schar mußte nun vorüberziehen; als die erste Kompagnie kam, rief er: »Guten Tag, erste Kompagnie!« Ebenso begrüßte er die übrigen und wurde von ihnen wieder gegrüßt. Es war ein schöner Anblick, diese kräftigen Männer und ihren elastischen Gang zu sehen und ihre dunkelblauen Uniformen, die sich scharf von dem gelblichen Laub der Bäume abhoben, und ebenso prächtig war der General mit dem energischen, aber freundlichen Blick, dem weißen, wohlgepflegten Schnurrbart und dem stahlgrauen Haar. Gerade und aufrecht stand er in seinem[S. 89] grauen Mantel da, die Hände auf dem Rücken. Er hätte sich nicht die Mühe zu machen brauchen, auszusteigen und zu grüßen, aber es freute seine Kriegerseele, diese Männer zu betrachten, die Haus und Heim, Frau und Kind verlassen hatten, um für das Vaterland zu siegen oder zu sterben. Dann fuhren wir an ihnen zum zweitenmal vorüber und lauschten wieder dem anfeuernden Parademarsch, der schließlich hinter uns verklang.
Bei der Rückkehr nach Vouziers übergab mich der General dem Rittmeister von Behr, einem Bruder des Kammerherrn, einem lebhaften, fröhlichen Herrn, der dem General versprach, daß mir nichts abgehen solle. Und er hielt Wort, denn die reichliche Woche, die ich bei ihm und seinen Kameraden zubrachte, hatte ich Gelegenheit, viel zu sehen und zu lernen und mit vielen tüchtigen Männern bekannt zu werden; von Behr hatte schon längst seinen Abschied genommen, aber bei Kriegsausbruch trat er wieder bei den Kürassieren ein und führte eine Reserveschwadron.
Am 29. September war ich zum Abendbrot bei dem Chef der vierten Armee Herzog Albrecht von Württemberg eingeladen. Unter den Gästen waren auch der Kriegsminister Exzellenz von Falkenhayn, der Stabschef General Ilse und die drei jungen Söhne des Herzogs, alle drei prächtige, schöne und begabte Jünglinge. Sie taten Dienst an der Front und hatten sich schon bei mehreren Gelegenheiten durch Tüchtigkeit und Tapferkeit ausgezeichnet. Gegen Schluß der Tafel erhob sich der jüngste von ihnen; er stand an einem andern Teil der Front und mußte dorthin zurück. Er ging um den Tisch herum, nahm von allen Abschied und kam schließlich zu seinem Vater. Der Herzog nahm seinen Kopf zwischen beide Hände und küßte ihn, sagte aber kein Wort. Keine Szene, keine Tränen, keine Ermahnungen, sich nicht unnötig dem Feuer und andern Gefahren auszusetzen. Es war wie ein gewöhnliches »Gute Nacht, morgen sehen wir uns wieder«. Und doch, für wie viele Offiziere und Soldaten gibt es in diesem Krieg kein »morgen«! Wie viele Familien sehen beim Abschied von ihren Lieben diese zum letztenmal! Wie viele Bande werden für immer[S. 90] zerrissen! Eine Schwester vom Roten Kreuz hatte vierundzwanzig Verwandte im Feld, und man sprach von einem Vater, der acht Söhne draußen hatte und einen neunten sechzehnjährigen, der sich darnach sehnte, ihrem Beispiel zu folgen. Das ganze deutsche Volk hat in den letzten Monaten eine Seelenstärke und -größe an den Tag gelegt, die in unserer Zeit nicht ihresgleichen hat!
Als ich »nach Hause« kam, saßen Rittmeister von Behr und seine Freunde Graf Eichstätt und Freiherr von Tschammer noch plaudernd beisammen, und ich gesellte mich zu ihnen. Wir sprachen eben von den Ereignissen des Tages, als ein Rittmeister hereintrat und meldete, Einwohner von zwei etwa zwölf Kilometer entfernten Dörfern, die schon anderthalb Monate in den Händen der Deutschen waren, hätten auf Soldaten geschossen. Aus dem einen Dorf sollten daher alle Männer, aus dem andern alle Männer, Frauen und Kinder gefangen in die Stadt gebracht werden. Der Unterschied schien darauf zu beruhen, daß man in dem einen Dorf auf Flieger geschossen hatte, in dem andern auf Truppen. Hundert Mann Landsturm und eine Schwadron berittener Landsturm sollten sich nachts 1 Uhr nach den beiden Dörfern begeben. Während die Reiter an allen Straßenecken Posto faßten und jeden Fluchtversuch verhinderten, sollten Haus für Haus von der Infanterie durchsucht und alle Einwohner gefangen genommen werden. In der Stadt sollten sie dann vor das Kriegsgericht gestellt und die Schuldigen erschossen werden. So verlangt es das strenge Kriegsgesetz. Es gibt keine Gnade, keine Rettung. Die armen Leute taten mir unendlich leid. Was konnten sie mit einigen armseligen Schüssen gegen eine ganze Armee ausrichten! Glaubten sie vielleicht den törichten Gerüchten, die Brücken der Pioniere seien nur gebaut, um den Rückzug der deutschen Heere vorzubereiten, und das Kriegsglück sei in der letzten Zeit ganz umgeschlagen? Und woher hatten sie diese Neuigkeiten? Natürlich nur von der Zivilbevölkerung selbst. Wer aber solche[S. 91] Gerüchte in die Welt setzte, nahm eine ungeheure Verantwortung für das Leben seiner Landsleute auf sich und gewann dabei nichts.
»Wie erging es nun den Unglücklichen?« wird man fragen. Schon am nächsten Tag hatte ich Gelegenheit, sie auf der Anklagebank zu sehen: lauter alte Leute, Bauern und ihre Frauen; die letzteren weinten und sahen verwundert drein, die Männer zeigten ein ganz gleichgültiges Aussehen. Der Krieg hatte ihnen schon alles genommen, das Leben hatte für sie keinen besonderen Wert mehr. In den wenigen Tagen, die das Verhör dauerte, litten sie keine Not. Ich sah sie einmal in einem Hof an einem großen Tisch beim Mittagessen sitzen. Das Herz drängte mich, für sie Fürbitte einzulegen und an die Barmherzigkeit zu appellieren; der Verstand aber sagte mir, daß man sich nicht in die vom Kriegsgesetz befohlenen Beschlüsse der militärischen Obrigkeit mischen kann und darf. Deshalb muß man sein Herz hart werden lassen und kalt wie Eis. Aber wie ging es ihnen nun? Wurden sie wirklich an einen Baum gebunden und erschossen? Nach ein paar Tagen fragte ich einen meiner Freunde nach ihrem Geschick. »Sie wurden alle freigesprochen,« sagte er, »aus Mangel an Beweisen. Die Täter waren offenbar schon geflüchtet, als unser Landsturm kam; die Verdächtigen wurden alle in ihre Häuser und Gehöfte zurückgeführt.«
Man soll nicht meinen, daß die deutschen Kriegsgerichte solche Fälle leichthin und im Handumdrehen erledigen, als wenn ein Menschenleben in dem eroberten Lande keinen Wert hätte. Nein, die Kriegsgerichte der »Barbaren« sind höchst gewissenhaft, unparteiisch und human.
Eine der Fahrten, die ich von Sedan aus mit Rittmeister von Behr unternahm, führte mich über Cernay, Condé und Challerange. In dem ersten Dorf nahm ich ein paar Bilder von einer Munitionskolonne auf, einigen Soldaten, die sich auf einem Hof ihr Mittagbrot zubereiten, und einer marschbereiten Kompagnie, die ihre[S. 92] Instruktion erhält, bevor sie an die Front geht. Im nächsten Dorf sahen wir eine Schar prächtiger Landsturmleute, gleichfalls zur Instruktion aufgestellt, und ein Biwak von überdeckten Wagen und Pferden. Am schönsten war aber doch die Munitionskolonne, deren Wagen unter die überhängenden Zweige des Waldrandes neben dem Weg gefahren und außerdem mit Laubbüschen bedeckt waren, um gegen französische Flieger geschützt zu sein. Eine Kolonne Feldlazarettwagen war womöglich noch gründlicher maskiert und wartete unter den Bäumen, nachdem die Pferde abgespannt waren. Etwas weiterhin hatte sich eine Sanitätsabteilung im Laubwald selbst niedergelassen, um in der Nähe zu sein, falls Verwundete die ersten Verbände brauchten. Ihre Flaggen, das Rote Kreuz auf weißem Grund, schimmerten aus dem Laubwerk hervor. Dieselbe Vorsichtsmaßregel hatte man für die Feldküchen getroffen, die ebenfalls unter den Bäumen Deckung gesucht hatten.
Die französischen Flieger waren jeden Nachmittag zwischen 5 und 6 Uhr in Tätigkeit. Sie haben eine doppelte Mission: teils mit ihren Bomben Schaden anzurichten, teils Truppenbewegungen und Artilleriestellungen zu beobachten. Die Brücke über die Dormoise in Autry war vor zwei Tagen einem Bombenattentat ausgesetzt gewesen, das zwei Mann tötete, die Brücke aber unbeschädigt ließ. An einem andern Platz in unserer Nähe wurde ein Soldat von einem der scheußlichen eisernen Pfeile getroffen, die die Flieger aus einer Höhe von etwa 2500 Metern herabwerfen. Sie gehen noch durch das Pferd hindurch, nachdem sie einen Mann am Kopf getroffen haben. Sie fallen nämlich mit der Geschwindigkeit einer Flintenkugel und sind schwerer als diese. In Grand Pré wurde vor einigen Tagen ein Hauptmann von einem Pfeil getötet und siebenundzwanzig Mann wurden von einer Bombe desselben Aeroplans verwundet. Als vorige Woche in einer kleinen Stadt hier in der Nähe der Bau einer Eisenbahnlinie beendet wurde, fielen drei Bomben in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs nieder, ohne jedoch Schaden anzurichten. Der Flieger wurde mit Schrapnells aus einer sogenannten Ballonabwehrkanone[S. 93] beschossen, aber nicht getroffen. An wichtigen Stellen in Deutschland stehen ständig Wachen gegen feindliche Flieger. Wenn einer nachts über einer Stadt schwebt, werden mehrere Scheinwerfer auf ihn eingestellt; er wird vom Licht geblendet und verliert die Möglichkeit, sich zu orientieren. Im nächsten Kirchturm beginnen die Maschinengewehre zu singen und ihn mit einem Regen von Kugeln zu überschütten.
Truppen, Batterien und Kolonnen suchen die Deckung, die das Gelände bietet, nicht nur, um Bomben und Pfeilen zu entgehen, sondern auch und vor allem, um ihre Stellungen und Bewegungen geheimzuhalten. Der Flieger hat verschiedene Methoden, den Seinen Mitteilungen zugehen zu lassen. Er gibt vermutlich teils direkte Signale, z. B. mit Flaggen oder elektrischen Lampen, deren Licht man mit dem Fernrohr von der Erde aus deutlich sehen kann. Wenn ein Flieger Kolonnen oder Truppen am Rand eines kleinen Wäldchens liegen sieht oder sie dort vermutet, zeichnet er am Himmelsgewölbe durch seinen Flug die Umrisse des fraglichen Gebietes ab, und sofort werden Granaten dorthin geschleudert. Eine der wichtigsten Aufgaben der Flieger ist es also, das Artilleriefeuer zu lenken. Wenn eine französische Batterie sich die Aufgabe gestellt hat, eine deutsche Batterie zu beschießen und womöglich zu zerstören, deren ungefähre Lage dem Flieger bekannt ist, so steigt dieser in der Nähe des Ziels auf und lenkt das französische Feuer. Wenn die Granaten zu kurz niedergehen, beschreibt der Flieger einen Kreis mit kleinen Durchmessern. Dann wird der Abstand verlängert. Wird dieser zu groß, so daß die Granate hinter das Ziel fällt, dann beschreibt der Flieger einen Kreis mit großem Durchmesser. Fallen die Granaten links vom Ziel, dann macht er eine Schwenkung nach rechts, fallen sie rechts vom Ziel, dann macht er eine Schwenkung nach links. Auf diese Weise stellt er das Feuer immer näher auf das Ziel ein und erreicht das allein durch seine Bewegungen in der Luft. Es versteht sich von selbst, daß alle diese Kunstgriffe ebenso geschickt von den Deutschen pariert werden. Merkt eine Batterie, daß ein feindlicher[S. 94] Flieger sie beobachtet und das Feuer näher kommt, dann hört sie mit Schießen auf und verändert in der Nacht ihren Standort.
Das im übrigen so unglückliche Verhängnis, daß der Kriegsschauplatz in ihr eigenes Land verlegt ist, bietet den Franzosen den Vorteil, daß sie von der Zivilbevölkerung wertvolle Erkundigungen einziehen können. Unter ihr können natürlich leicht Personen verborgen werden, die durch gewisse Zeichen oder durch nächtliche Lichtsignale die Bewegungen der Deutschen verraten. Hat sich ein Stab oder ein Oberkommando in einem Ort niedergelassen, dann werden die französischen Beobachter durch vereinbarte Signale davon unterrichtet, und daß diese richtig aufgefaßt werden, merkt man bald am Artilleriefeuer. Signale können auch tagsüber gegeben werden, z. B. dadurch, daß ein Bauer seine Herde an eine gewisse Stelle treibt. Über die Moral einer solchen Auskundschaftung mögen die Ansichten geteilt sein. Aber es ist sicher, daß jedes Volk, das ein Invasionsheer in seinem Lande dulden muß, mit denselben Mitteln dem Feinde zu schaden suchen würde.
Fortdauernde Bewegungen sind das beste Mittel gegen Spionage und direkte Auskundschaftung. Diese Bewegungen werden in der Nacht vorgenommen. Am Tag hält man sich still unter den Bäumen verborgen. Und die Deutschen sind Meister in der Verlegung ihrer Truppen. Die große Beweglichkeit der deutschen Armee, die Schnelligkeit, mit der ihre verschiedenen Einheiten hin und her geworfen werden, und die hoch gesteigerte Marschfähigkeit der Infanterie, das sind so einige Ursachen, die diese Armee zu der ersten der Welt gemacht haben.
Später fuhr ich mit Rittmeister von Behr auf den deutschen Flugplatz bei X., wo sechs Gotha-Tauben mit Mercedes-Motoren in großen gelben Zelten standen. Der einen Taube hatten Schrapnellkugeln einen Flügel durchbohrt, und der Schwanz war mit kleinen Lappen geflickt; solche »Pflaster« werden fast als Medaillen für Tapferkeit im Felde angesehen. Je mehr Narben der Aeroplan hat, desto mehr Gefahren war der Flieger ausgesetzt, desto mehr hat er über dem Feuer der Feinde aufs Spiel gesetzt. Ich[S. 95] weiß nicht, welches Gefühl am unangenehmsten ist: einen fremden Flieger gerade über sich zu haben oder zu wissen, daß eine Ballonabwehrkanone gerade unter einem steht und zielt!
Während wir auf dem Flugplatz waren, stiegen zwei Tauben auf. Es ist unendlich schön, ihre weichen, leichten Bewegungen zu sehen. Ehe man weiß, wie es geschieht, verlassen die feinen Räder den Erdboden, die Taube steigt langsam über das Feld empor und gleitet über die Baumwipfel dahin. Dann erhebt sie sich in Spiralen immer mehr über die Erde, und die zwei gewaltigen Eisernen Kreuze unter ihren Flügeln werden immer kleiner. Sie macht es wie die Brieftaube, die erst bis zu einer gewissen Höhe ansteigt, um einen orientierenden Überblick über das Land zu gewinnen, und dann in gerader Linie auf ihr Ziel losschießt. Denn als unsere erste Gotha-Taube genügend hoch gestiegen war, ging sie aus der letzten Spirale direkt nach Süden auf die französischen Stellungen zu und weit über diese hin. Dort muß der Beobachter, der mit Karte, Notizbuch und Fernrohr vorn sitzt, seine Beobachtungen machen und dann mit seinen Berichten zurückkommen, wenn er nicht während der Fahrt heruntergeschossen wird. Über der feindlichen Stellung geht man in eine Höhe von 2000 oder 2500 Metern, um einigermaßen vor dem Feuer von unten sicher zu sein. Aber schon 600 Meter hoch bekommen der Flieger und sein Kamerad ein Gefühl von Ruhe, das dann mit jeden weiteren hundert Metern zunimmt. Nach einer Weile stieg die zweite Taube auf und folgte der Spur der ersten. —
Ein deutscher Flieger in Bapaume hat mir später mancherlei von seinen Erfahrungen erzählt. Er braucht gewöhnlich dreiviertel Stunden, um in eine Höhe von 2000 Metern zu gelangen, und erst wenn er so hoch gekommen ist, fliegt er über die französischen Linien. Die Aussicht ist brillant. Er hat die Landschaft, in der der Kampf ausgefochten wird, direkt unter sich. Bei klarem, schönem Wetter sieht er alles, die marschierenden Truppen, die Munitionskolonnen und die Trainwagen, auch wenn sie mit Laub gedeckt sind. Er sieht die Artilleriestellungen, wenn sie auch noch[S. 96] so gut in Hecken und Büschen versteckt sind; ja er sieht auch einzelne Reiter und Wanderer auf den Landstraßen.
Aber noch anderes sieht er auf seiner luftigen Fahrt: das Feuer und die Rauchwolken aus den deutschen und französischen Kanonen, die Niederschläge und Explosionen. Es donnert und blitzt unter ihm von allen Seiten, und nicht genug damit: die Franzosen richten ihre Abwehrkanonen gegen ihn, um seine Flugmaschine zu zerstören und ihn zu töten. Ein Schrapnell nach dem andern krepiert in seiner Nähe. Er ist in ungeheurer Spannung, das gestand er gern zu. Noch war er nicht verwundet worden, aber die Flügel seines Aeroplans zeigten mehrere Schrapnellöcher, die mit kleinen Pflastern ausgebessert waren. Er hört die Maschinengewehre und die Gewehre knattern und weiß, daß sie auf ihn gerichtet sind, und daß er mit dem Fernrohr von allen Seiten beobachtet wird. Wenn er dies ewige Donnern hört und weiß, daß er jeden Augenblick getroffen werden und fallen kann, muß er sich zusammennehmen, um nicht seine Kaltblütigkeit zu verlieren, denn in einer solchen Situation geben auch die stärksten Nerven nach.
Er tut seine Pflicht, er darf nicht nachgeben. Die Nervenspannung kann er nicht überwinden, denn er ist ein Mensch. Aber er kehrt nicht um, bevor er seinen Auftrag ausgeführt und erfahren hat, was er wissen will. Seine Aufmerksamkeit ist aufs höchste angespannt, er sieht und hört alles, nichts entgeht ihm. Er bemerkt auch schon auf weite Entfernung den französischen Aeroplan, der auf ihn lossteuert. Aber er ändert seinen Kurs nicht. Sie kommen sich immer näher. Keiner denkt daran, auszuweichen. Ein Zuschauer muß sich sagen, sie gehen einer unvermeidlichen Katastrophe entgegen, sie gehen ins Verderben. Aber so weit setzen sie ihren Flug doch nicht fort, denn bei einem Zusammenstoß stürzen sie beide herunter und finden den Tod, und das betrachtet man auf beiden Seiten als unnütz und unpraktisch. Der eine weicht daher rechtzeitig aus. Der Franzose ist oft mit einem Maschinengewehr bewaffnet, das für seinen deutschen Kollegen bestimmt ist. Daher geht der Deutsche mit Hilfe eines hastigen[S. 97] Griffs im rechten Augenblick entweder unter oder über seinen Gegner hinweg. Kommt er unter ihn, so wird das Maschinengewehr, das nicht nach unten schießen kann, unschädlich. Steht er über seinem Gegner, dann erhält er einen Schutz durch den leichtgepanzerten Boden des Aeroplans. Die Hauptsache ist, daß er nicht in derselben Ebene wie der andere bleibt. Aber es kann sein, daß auch der Franzose aufsteigt, und daß ein Wettstreit entsteht, sich in der Höhe zu überbieten. Oft umkreisen sie sich lange wie ein paar spielende Eintagsfliegen, nähern sich einander, trennen sich, verfolgen und schießen, weichen aber immer einem Zusammenstoß aus. Es ist eine unbeschreibliche Spannung, und unterdes donnern unten die Kanonen und belauern die Soldaten sich in ihren Schützengräben.
Wenn alles normal geht, kann der Flieger drei Stunden in der Luft bleiben. Hat er seine Aufgabe ausgeführt, so fliegt er nach der deutschen Seite zurück, hält den Motor an und gleitet in vier Minuten, die jedoch unendlich lang erscheinen, herab. Er geht im Gleitflug herunter und kann unter gewissen Verhältnissen landen, ohne wieder den Motor in Gang zu setzen. Mit einem Gefühl des Behagens setzt er die Füße wieder auf das feste Land. Wirkliche Ruhe hat er jedoch selten, denn gerade die Fliegerstationen werden von feindlichen Bombenwerfern gern aufgesucht.
Die französischen Flieger steigen oft ohne Beobachter auf, um mehr Bomben mitnehmen zu können. Ist der Apparat mit zwei Personen belastet, so können nur drei Bomben mitgenommen werden, sonst sechs oder mehr. Eine Bombe wiegt 10 Kilogramm und ist einen halben Meter hoch. Die Treffsicherheit richtet sich nach der Übung. Die meisten Bomben richten keinen Schaden an. Am häufigsten werden Pferde getroffen. Als ich in Bapaume war, flog ein Flieger über ein Biwak in der Nähe. Fünf Mann hielten es für ratsam, unter einem schwer belasteten Bagagewagen Schutz zu suchen. Aber der Wagen wurde getroffen, und von den Leuten fanden sich nur noch Fetzen vor, als Hilfe anlangte.
[S. 98] Ich habe schon früher von der unerhört wichtigen Rolle gesprochen, die die Flugmaschinen in diesem Krieg gespielt haben, und daß sie während der ersten Monate des Kriegs immer mehr verfeinert und vervollkommnet worden sind. Mein Gewährsmann in Bapaume glaubte behaupten zu können, daß derjenige, der die besten Flugmaschinen und die geschicktesten Flieger hat, in einem Stellungskrieg gewinnt, einem wirklichen Festungskrieg, wie er jetzt an der Westfront ausgefochten wird.
Ich habe mich bei meinem Besuch an der Front oft bei den Verwundeten aufgehalten und werde auch weiter noch manchmal auf sie zurückkommen. Es ist daher vielleicht an der Zeit, einen kurzen Überblick über System und Organisation des deutschen Sanitätswesens im Felde zu geben.
Geographisch hat man zwischen zwei großen Gebieten zu unterscheiden, dem Operationsgebiet, in dem die kämpfenden Armeen sich befinden, und dem Etappengebiet, durch das die Verbindung mit der Heimat hergestellt wird.
Jede Truppe hat ihr Truppensanitätspersonal; seine Aufgabe ist es, für ihr Wohlbefinden zu sorgen, ihre Hygiene zu beaufsichtigen, sie vor verdorbenen Nahrungsmitteln zu bewahren, das Brunnenwasser zu untersuchen usw. So ist es Sache des Regiments-, Bataillons- und Abteilungsarztes, sowohl die allgemeine Gesundheitspflege zu überwachen, als auch die erste Hilfe im Felde zu leisten. Wenn die Truppe in den Kampf geht, ist es Pflicht des Truppenarztes, einen Truppenverbandplatz auszuwählen und einzurichten.
Jedes Armeekorps hat drei Sanitätskompagnien, und diese richten unmittelbar hinter der Feuerlinie die drei sogenannten Hauptverbandplätze ein. Jede der drei Sanitätskompagnien verfügt über acht oder neun Ärzte, eine große Anzahl Krankenträger, Sanitätssoldaten, Apotheker usw., alle unter der Bezeichnung »Sanitätspersonal« zusammengefaßt. Jede Sanitätskompagnie[S. 99] hat acht zweispännige Krankenwagen, die mit Arzneimitteln, Bahren und Verbandzeug versehen sind.
Jedes Armeekorps hat zwölf Feldlazarette, die an geeigneten Stellen hinter der Front eingerichtet werden. Sie müssen an möglichst geschützte Orte gelegt werden und sind darauf eingerichtet, auch wenn die Front vorrückt, dort zu bleiben. Von den Truppenverbandplätzen und den Hauptverbandplätzen kommen die Verwundeten in das nächste fertige Feldlazarett.
Dieses hat seine eigenen Wagen und eine vollständige Lazarettausrüstung, als da sind Matratzen oder leere Säcke, die mit Stroh gefüllt werden können, Kissen, Decken und Laken, Hemden und andere notwendige Krankenkleidung, Porzellangeschirr und vieles andere. In den Feldlazaretten werden die ersten chirurgischen Eingriffe vorgenommen mit Ausnahme von solchen, die sofort und unter freiem Himmel geschehen müssen, z. B. die Stillung von Blutungen aus offenen Wunden. In den Feldlazaretten ist das Personal durch und durch militärisch, da gibt es keine Schwestern und überhaupt keine Freiwilligen.
An der Spitze des Sanitätswesens jedes Armeekorps steht der Korpsarzt; er ist Chef der Truppenärzte, der Sanitätskompagnien und Feldlazarette. Zur Seite hat er einen beratenden Chirurgen, gewöhnlich einen Universitätsprofessor oder Dozenten, der auch die Feldlazarette inspiziert.
Der Korpsarzt verfügt auch über einen beratenden Hygieniker, dies ist gewöhnlich ebenfalls ein Universitätslehrer, der alle verdächtigen Fälle von ansteckenden Krankheiten zu prüfen und alle notwendigen Vorsichtsmaßregeln gegen den Ausbruch epidemischer Krankheiten zu treffen hat. Er führt ein bakteriologisches Laboratorium mit sich und muß jeden einzelnen Fall von Typhus, Ruhr, Dysenterie und ähnlichen Krankheiten untersuchen, nachforschen, woher der Kranke gekommen ist, ihn isolieren und den Ansteckungsherd auszurotten versuchen. In gewissen Fällen kann er die Einrichtung eines Epidemiekrankenhauses im Etappenbereich anordnen. Ein solches ist z. B. in Attigny bei Vouziers.
[S. 100] Die Leichtverwundeten, die sich nicht an das Feldlazarett zu wenden brauchen, wandern an einen sogenannten »Leichtverwundeten-Sammelplatz« und begeben sich von dort an einen Etappenort und weiterhin zu Fuß oder in leeren Güterwagen nach Hause. Sobald ihre Wunden geheilt sind, kehren sie zu ihrem Regiment zurück.
Das Feldlazarett wird nach einiger Zeit durch eine Kriegslazarettabteilung abgelöst, die nur aus Personal, Arzt, Sanitätssoldaten und freiwilligen Assistenten besteht. Jedes Armeekorps verfügt über eine solche Abteilung von etwa dreißig Ärzten und der entsprechenden Anzahl übrigen Personals.
Das Feldlazarett wird so durch das Vorrücken der Truppen in ein Kriegslazarett verwandelt, oder mit andern Worten: wenn das Feldlazarett mit den Truppen vorrückt, wird sein Platz von der Kriegslazarettabteilung eingenommen. Geht das Vorrücken, wie bei meinem Besuch, langsam, so tritt keine Veränderung ein, und das Personal hat verhältnismäßig wenig zu tun.
Die Kriegslazarette liegen gewöhnlich in kleinen Dörfern, oft dreißig oder vierzig Kilometer von der Eisenbahn. Ihre Aufgabe ist, die Schwerverwundeten weiter zu behandeln, die das Feldlazarett verlassen haben, und sie dann nach den Etappenlazaretten zu befördern und nach Orten wie Sedan, die in regelmäßiger Eisenbahnverbindung mit der Heimat stehen. Der Transport der Verwundeten geschieht nicht nur zu Fuß und in leeren Lastwagen, sondern auch durch Kraftwagen der Krankentransportabteilung, unter denen man Omnibusse aus allen möglichen Städten findet, sowie Lastwagen mit Namen bekannter Fabriken und Geschäfte. Sie können bis zu zehn Betten mit sich führen, und kommen Leichtverwundete in Frage, so kann ein einziges Auto fünfzig Mann befördern, aber dann sitzen sie auch dicht zusammengepfercht und sogar auf dem Dach. Sie fahren nur nach den Etappenorten; von da geht es auf Eisenbahnen, Kanälen oder Flüssen weiter.
Die ganze Etappenlinie entlang sind an geeigneten Punkten Verband-, Verpflegungs- und Erfrischungsstationen eingerichtet,[S. 101] wo Schwestern, Krankenwärter und Ärzte von Wagen zu Wagen gehen, um die Patienten zu untersuchen und diejenigen herauszufinden, die nicht mehr weiter können. Daheim werden die Verwundeten in die Lazarette geschickt oder in Häuser, die im Krieg in Lazarette umgewandelt sind. Viele dürfen auch direkt in ihre Heimat fahren. Von der Front bis in die Heimat gilt der Hauptgrundsatz: Platz, Platz, Platz! Deswegen beeilt man sich soviel wie möglich, die Verwundeten loszuwerden, um für neue Scharen Raum zu bekommen. Jeder Sanitätswagen, der zum Train gehört, ist genau in Fächer und Schubkästen eingeteilt, so daß jedes Ding seinen bestimmten Platz hat und leicht zu finden ist. Ebenso mustergiltig und genau ist schon in Friedenszeiten die Zusammensetzung und Ausrüstung der Lazarettzüge bestimmt. Die eisernen Krankenbettstellen stehen bereit; man hat nur die Bänke und Gestelle aus den Wagen dritter Klasse herauszunehmen und dafür die eisernen Bettstellen festzuschrauben. Man weiß, wie viele Matratzen, Kissen und Decken für jeden Wagen gebraucht werden. In den Verband- und Apothekerwagen ist alles so genau geordnet, daß der Arzt seine Jodtinktur, sein Chinin, sein Stück Heftpflaster oder seine Sicherheitsnadel mit verbundenen Augen finden könnte. Alles ist nach einem Schema eingerichtet. Wenn ein Anfänger sich nicht sofort zurechtfindet, so braucht er nur den gedruckten Schlüssel zu benutzen, der für die Tausende von deutschen Lazarettzügen gilt. Man hat über die minutiöse Gründlichkeit der Deutschen in allen Dingen gespöttelt und hat sie Pedanten genannt. Nun zeigt sich, wozu diese Pedanterie gut ist! Alles geht wie ein Uhrwerk, und niemand braucht zu suchen oder zu fragen. Und diese in Friedenszeiten geschaffene Ordnung herrscht überall! Deshalb ziehen die Deutschen nicht in den Krieg wie schlaftrunkene und aufgestörte Träumer, sondern als auf alles vorbereitete und ausgebildete Kämpfer, sei es, daß ihre Pflicht sie in Reih' und Glied oder an den Operationstisch ruft.
Die deutschen Soldaten haben ein wahres Grauen davor, in[S. 102] die Hand französischer Ärzte zu fallen, sie sterben lieber! Wenn Gefangene und Verwundete nach Kriegsschluß ausgetauscht werden, werden unparteiische Richter in der medizinischen Welt urteilen können, auf welcher Seite die sorgsamere Pflege und die größere Menschenliebe zu finden waren. In mehr als einer Beziehung hat dieser Krieg die Ohnmacht und Nichtigkeit aller Konferenzen und Übereinkünfte in Genf, Haag und andern Orten mit Namen von einem jetzt leeren und trügerischen Klang dargelegt.
Am 1. Oktober machte ich in Gesellschaft des prächtigen Chefs einer Feldfliegerabteilung, Hauptmann H. von Chamier-Glisczinski, einen Ausflug an die Front. Er holte mich in seinem Auto ab, und in wahnsinniger Fahrt ging es nach Somme Py im Südwesten. Vorher hielten wir jedoch eine Weile bei einer Flugstation, wo der Hauptmann dienstlich zu tun hatte. Während wir dort standen, kam eine Taube in herrlichem Gleitflug herabgeschwebt. Sie kam in größter Eile, wie es schien, und ihre hellen, leichten Flügel hoben sich scharf von dem hellblauen Himmel ab. Sie kam gerade auf uns zu, und man hatte das Gefühl, einen Schritt beiseite treten zu müssen, um nicht von der einen Flügelspitze getroffen zu werden. Als sie dem Erdboden nahe war, schien sie wieder aufsteigen zu wollen. Aber diese Bewegung geschah nur, um den Stoß bei der Landung zu mildern, dann rollte sie ein Stück und hielt auf der Wiese.
Der Flieger und sein Kamerad begleiteten uns auf der weiteren Fahrt. Und wieder entrollte sich vor uns das Bild des bunten Soldatenlebens unmittelbar hinter der Front, wie ich es so oft schon gesehen hatte. Es war heute nicht so schwer, vorwärtszukommen, denn jetzt am Tage hielten sich die meisten Truppen still und versteckt. Hier und da brannten kleine Feuer im Schatten der Bäume; man kochte und trank seinen Kaffee, rauchte seine Pfeife und sonnte sich auf umgestürzten Getreidegarben. Die Proviantwagen mit ihren weißen und gelben Plandächern waren[S. 103] oft mit Laub bedeckt, um den französischen Fliegern nicht allzusehr in die Augen zu stechen. In Somme Py war wenig zu sehen. Fast das ganze Dorf war niedergebrannt und zerstört; nur rauchgeschwärzte, nackte Mauern standen da. Unsere Fahrt ging weiter, und nun sahen wir die gutversteckten Feldküchen, die Sanitätskompagnien mit ihren Wagen, Ärzten und Krankenträgern, sowie die sogenannte Gefechtsbagage, d. h. alles, was die in den Schützenlinien liegenden Soldaten an Munition, Werkzeugen, Kleidern, Proviant und anderm brauchen.
Da, wo links von der Straße vier Feldhaubitzen aufgestellt waren, ließ Hauptmann Chamier halten und das Auto im Schatten eines Baumes unterstellen, denn von hier aus war es nicht ratsam, weiterzufahren, da das Automobil die Aufmerksamkeit der französischen Beobachter auf sich ziehen konnte. Wir stiegen daher aus und machten eine kleine Runde um die Batterie, die eben bei der Arbeit war. Die Haubitzen wurden gerade für die nächste Salve geladen, und ich benutzte die Gelegenheit, ein Bild davon zu skizzieren. Die Batterie war gut maskiert und mit kleinen Wällen von Erdschollen, Steinen und Sandsäcken eingefaßt; jede Kanone außerdem mit einer Schutzplatte versehen, die wenigstens für Schrapnells und Gewehrkugeln undurchdringlich sein muß. Das Feuer war auf das 4050 Meter entfernte Dorf Souain gerichtet; es war schon so gut wie zusammengeschossen, und was noch übrig war, stand in Flammen. Von dem Beobachtungsstand aus, auf den wir uns später begaben, konnte man mit scharfen Fernrohren die Wirkung der Granaten beobachten. Wenn ein Haus getroffen ist, steigt eine dunkle Säule von Gasen, Staub und Erde auf, und bald verraten Flammen und Rauch, daß die Granaten das Haus oder mehrere angezündet haben. Wer an diese Dinge nicht gewöhnt ist, betrachtet sie unwillkürlich mit einem gewissen Respekt. Vermutlich steigt der Respekt sogar mit der Gewohnheit. Die Offiziere scheinen vollkommen gleichgültig, aber das ist, glaube ich, meist nur Selbstbeherrschung; der Führer darf der Mannschaft seine Gefühle nicht verraten, er muß vollkommen ruhig sein oder[S. 104] scheinen. Aber es muß auch die stärksten Nerven angreifen, lange im Feuer zu liegen. Diese Batterie hier war achtzehn Tage auf demselben Platz, ohne von französischen Fliegern entdeckt worden zu sein.
Die Granate ist mit Pikrin gefüllt, einem Sprengstoff, der noch viel stärker ist als Dynamit. Beim Auftreffen explodiert die Ladung und verursacht eine furchtbare Verwüstung. Der Geschoßzylinder zerspringt dabei in messerscharfe Scherben und verursacht böse, schwer zu heilende Wunden. Der Zünder des Schrapnells wird dagegen auf Zeit eingestellt, so daß er z. B. neunzehn Sekunden nach Abfeuerung des Schusses, je nach der Entfernung, das Geschoß zur Explosion bringt. Auch sein Zylinder ist mit Pikrin gefüllt und dazu noch mit etwa vierhundert kleinen, runden Bleikugeln, die in einem schweifförmigen Strahl oder in einem Kegel sich über das Ziel verstreuen.
Von der Batterie aus wanderten wir zu Fuß durch die Allee und hielten uns getrennt und im Schatten der Bäume. Einen sicheren Schutz bot die Allee nicht, denn sie war hier und da unterbrochen. Wir gingen fünfhundert Meter südlich bis zu dem Beobachtungsstand, von dem aus das Feuer telephonisch geleitet wurde und die vorderste französische Front beobachtet werden konnte. Der Platz hieß Ferme- —. Das erste, was ich sah, war etwas Baumähnliches, das sich über das umgebende Gebüsch erhob. Es war ein Mast von der Stärke und Höhe einer Telegraphenstange; eine Stiege führte hinauf zu einer kleinen Plattform und dem Sitz für einen Beobachter, der nebst seinem Fernrohr unter Laubzweigen verborgen war.
Am Ziel angelangt, wurden wir von nicht weniger als drei Obersten empfangen, von denen jedoch zwei nur zufällige Gäste waren, und von einigen Offizieren. Einer der Obersten namens Fischer, Brigadekommandeur der Feldartillerie, ein heiterer, gemütlicher Herr, hatte gleich mir Asien bereist.
Die Offiziere wohnten hier Tag und Nacht und hatten sich unter der Erde häuslich eingerichtet, da der Platz von dem französischen Feuer bestrichen wurde. Eine Treppe führte in eine[S. 105] Grottenwohnung von zwei kleinen, dunklen Zimmern hinab, die von einer Petroleumlampe erleuchtet und von einem kleinen, eisernen Kamin erwärmt wurden, der jetzt munter brannte. Auf einem Wandtisch lagen Toilettesachen, Fernrohre, Karten, Instrumente und Revolver in lustiger Unordnung. Im Schlafzimmer waren die Betten auf dem Erdboden dicht nebeneinander ausgebreitet. Man darf nicht allzu empfindliche Nerven haben, wenn man dort unten schlafen soll. Aber doch war es wenigstens ein Zufluchtsort, wenn der Platz starkem Feuer ausgesetzt war; gegen Granaten sei er zwar nicht ganz geschützt, sagte man mir, wohl aber gegen Schrapnells. Auch ihre Mahlzeiten nahmen die Offiziere gewöhnlich hier ein, um in Ruhe essen zu können.
Einige Schritte davon entfernt besuchten wir die Telephonstation, die in dem gemauerten Keller eines im übrigen zusammengeschossenen Hauses eingerichtet war. An den Wänden dieser unterirdischen Kammer war eine ganze Reihe Telephonapparate befestigt; davor saßen einige Offiziere und Soldaten auf Wandbänken. Solange ich unten war, klingelte es ununterbrochen in mehreren Telephonen zu gleicher Zeit. Personal mußte also immer da sein, um zu antworten. Die Station stand mit der ganzen vierten Armee durch ihr Oberkommando in Verbindung, ebenso mit dem Großen Hauptquartier. Ja, man konnte sogar jede Verbindung mit Deutschland erhalten, obgleich natürlich Privatgespräche nicht zugelassen waren. Zwei junge Flieger, Graf Rambaldi und Leutnant Bürger, waren eben von einer Erkundung der französischen Stellungen zurückgekehrt und berichteten ungemein klar und sicher über das, was sie gesehen hatten. Rambaldi stand lange, den Telephonhörer in der einen, seine Karte mit den eingezeichneten Beobachtungen in der andern Hand, und sprach mit einem Offizier des Oberkommandos, der das gleiche Kartenblatt vor sich hatte und sicher auch Bleistift und Notizbuch. Der Rapporteur sagte z. B.: »550 Meter nordwestlich[S. 106] von X. sah ich eine Artilleriestellung von wahrscheinlich nur zwei Kanonen. Auf der Straße, die westlich davon nach Y. führt, war eine stillstehende Kolonne von acht Wagen; konnte nicht unterscheiden, ob Munitions- oder Proviantkolonne. Die Batterie, die gestern in dem Tal südlich von Z. stand, ist heute verlegt worden; wohin? ist im Augenblick nicht festzustellen.«
Durch solche Erkundungen bekommt das Oberkommando viel Wichtiges zu wissen und richtet das Artilleriefeuer darnach ein. Die deutsche Batterie, die die französische bei dem Dorfe Z. beschossen hat, stellt natürlich das Feuer ein, sobald bekannt wird, daß das Ziel die Lage geändert hat, was immer während der Nacht geschieht. Die Geschütze einer französischen Batterie stehen gewöhnlich weit voneinander, teils, um die Gefahr zu vermindern, teils auch, um sie leichter vor Fliegern verbergen zu können.
Von dem Beobachtungsplatz aus waren es etwa zwei Kilometer bis zu den vordersten deutschen Schützengräben, die dreihundert bis fünfhundert Meter von den französischen entfernt liegen, ja, zuweilen tausend Meter. Hier liegen nun die feindlichen Soldaten und belauern einander. Es ist ein Hundeleben in diesen Gräben! Steckt man die Nase über den Rand hinaus, ist man des Todes. Gestern vormittag 10 Uhr sah man eine Schar französische Soldaten aus einem nahen Wald herausschleichen, um sich vorsichtig dem Schützengraben zu nähern. Zwei Salven Schrapnells wurden auf sie abgegeben. Hundertundfünfzig Mann blieben liegen, die übrigen zogen sich zurück. Sie bezahlen mit derselben Münze, sobald sie Gelegenheit dazu haben, und ihre Artillerie steht auf der Höhe, ebenso ihre Zielsicherheit. Ihre Munition soll dagegen weniger gut sein; gestern krepierten von sechsunddreißig Granaten nur sieben, alle übrigen waren sogenannte »Blindgänger«.
Die deutschen Soldaten bewahren sich mitten in Todesgefahr ihre gute Laune und setzen zuweilen spaßeshalber einen herrenlosen Helm auf einen Stock und halten ihn in nickender Bewegung über den Rand des Schützengrabens. Sofort wird er das Ziel[S. 107] des feindlichen Feuers, und die Soldaten wetten, wie viele Treffer es geben wird!
Übertriebene Reinlichkeit kann in diesen Gräben nicht herrschen, wenn man auch das Menschenmögliche tut, um allen Schmutz zu entfernen. In dieser Gegend hatte sich zwischen den beiden Fronten ein Übereinkommen ergeben, daß bei gewissen Gelegenheiten die Soldaten den Graben unbehelligt verlassen konnten, aber nur immer ein Mann, unbewaffnet und in der Richtung auf den feindlichen Schützengraben zu. Der Soldat brauchte bloß einen Spaten über den Grabenrand zu heben und ihn dreimal auf und ab zu schwingen. Nach diesem Signal konnte er ruhig seine Promenade antreten und wieder an seinen Platz zurückkehren. Einmal hatten sich zwei weidende Kühe zwischen zwei in kurzem Abstand voneinander verlaufende Schützengräben verirrt. In der geheimen Zeichensprache der Soldaten kam die Übereinkunft zustande, ein französischer Soldat sollte die eine, ein deutscher die andere Kuh melken! So geschah es, und dann kehrte jeder ruhig in seinen Graben zurück. Das beweist, daß auch die französischen Soldaten ihren guten Humor nicht verloren haben.
Die Schützengräben stehen gleichfalls in telephonischer Verbindung mit der Beobachtungsstation. Einer unserer Freunde fragte mich, ob ich hören wollte, wie sich die Bewohner des am weitesten vorgeschobenen Schützengrabens gerade jetzt befänden. Natürlich wollte ich das! Ich bekam den einen Hörer in die Hand und wurde zunächst nach allen Regeln der Höflichkeit dem Major vorgestellt, der im Schützengraben auf den Anruf antwortete. »Wie geht es, Herr Major?« — »Danke, gut.« — »Haben Sie etwas Besonders zu berichten?« — »Ja, heute nacht wurden einige Schüsse gewechselt, aber ohne Verluste.« — »Wie ist die Stimmung bei der Mannschaft?« — »Vortrefflich, wie gewöhnlich.« — »Haben Sie die acht Maschinengewehre bekommen, die Ihnen gestern nacht geschickt werden sollten?« — »Ja, sie sind da und schon aufgestellt, aber für eines fehlt der Panzerschutz. Wir behelfen uns bis auf weiteres mit Erdschutz.« —[S. 108] »Haben Sie sonst noch Wünsche?« — »Danke, nein, alles in Ordnung.«
Der Major sprach ruhig und sicher, aber man hörte doch einen Unterton von Ernst in seinen Antworten.
Der über der Erde liegende Teil des Beobachtungsplatzes war eine gemütliche Laube im Gebüsch, und hierhin kamen von Zeit zu Zeit Boten auf Zweirädern gefahren. Wohlgeschützt und versteckt stand ein Scherenfernrohr auf seinem Dreifuß, ein anderes auf der Landstraße vor der Laube. Durch solch ein Fernrohr sieht man so gut wie alles bis an den Rand des Horizonts, und die vertikale Stellung der Tuben ermöglicht es, daß der Kopf des Beobachters bei der Arbeit ganz im Schutz eines Eisenschilds oder einer Mauer bleiben kann. Von unserm hochgelegenen Platz aus hatten wir eine vortreffliche Aussicht über den ganzen Bereich der nächsten Schützengräben. Oberst Fischer erklärte mir alles. Er stellte den Horizontalfaden des Fadenkreuzes auf den deutschen Schützengraben ein, und dieser wurde ganz deutlich als eine etwas ungerade dunkle Linie sichtbar. Man sah sogar, wie ein Mann aus dem Graben herausstieg, wahrscheinlich nachdem er dreimal mit dem Spaten gewinkt hatte! Dann wurde das Haarkreuz auf den französischen Schützengraben eingestellt, der etwas schwächer sichtbar wurde, aber doch vollkommen deutlich.
Noch weiter südlich, 3550 Meter von unserm Beobachtungsplatz, sah man das brennende Dorf Souain und die Wäldchen, in denen man gut versteckte Artilleriestellungen vermutete; in Ostsüdost, d. h. links von uns, deutlich eine Batterie von vier Geschützen, und diesseits von dieser eine jetzt aufgegebene Artilleriestellung.
Plötzlich rief der Oberst: »Deckung!« Eine französische Flugmaschine, ein Blériot, näherte sich. Man stellte sich schleunigst unter die Bäume, um seiner Aufmerksamkeit zu entgehen. Einige Ordonnanzpferde, die in einem Hohlweg standen, wurden an einen sicheren Platz gebracht. Der Flieger kam näher. Schwach, aber[S. 109] deutlich hörte man das Surren seines Motors. Er segelte gerade über unsere Köpfe hinweg. Wird er eine Bombe werfen oder uns mit Pfeilen überschütten? Es wäre ein guter Fang für ihn, einen Beobachtungsstand zu zerstören, von dem aus das Feuer geleitet wird und an dem alle Telephondrähte der Gegend zusammenlaufen. Ein Zivilkundschafter kann ihn ja signalisiert haben. Aber der Flieger zog vorüber, es erfolgte keine Explosion, und mit einem Gefühl der Erleichterung sah man ihn verschwinden. Er suchte ein anderes Ziel für seine Bomben.
Obgleich es mit großer Gefahr verbunden war, gingen wir noch zweihundert Meter in der Richtung auf die Schützengräben vor. Das Gelände senkte sich hier langsam. Wir verfolgten die Straße in zerstreuter Ordnung und im Schatten der Bäume, und wo Gebüsch war, hielten wir uns darin. Glücklich kamen wir bis zur ersten Linie der Reservetruppen für die Schützengräben. In diesen wechselt die Mannschaft jeden Morgen um 6 Uhr. Die Leute können sich also jeden zweiten Tag ausruhen. Sie haben sich in die Erde eingegraben, und ihre Wohnungen sind mit Stangen, Zweigen und Heu gedeckt. Sie waren am Morgen aus dem Schützengraben gekommen und sollten nun bis Mittag schlafen. Dann wird exerziert, und bei Dunkelheit kommen die Feldküchen mit ihren dampfenden Kochtöpfen. Es gab eine ganze Reihe solcher Reservelager an der Nordseite des Gebüschs.
Niemand riet uns, von hier aus den Weg fortzusetzen, denn dann wären wir unfehlbar von französischen Beobachtern gesehen und mit mörderischem Feuer bedeckt worden. Ausgerechnet eine Feldküche, die sich hier doch nur in der Nacht bewegt, war dieser Tage von einer Granate getroffen worden und hatte vier Mann verloren. Und jetzt hatten wir Tageslicht und offenes Gelände vor uns. Vor kurzem erst waren die deutschen Soldaten bei Einbruch der Dunkelheit plötzlich aus einem nahegelegenen Schützengraben herausgestürmt und hatten einen Bajonettangriff unternommen. Der Angriff war zurückgeschlagen worden und mehrere Deutsche auf dem Platze geblieben. Die Leichtverwundeten wurden in französische[S. 110] Gefangenschaft geführt. Drei Mann waren so schwer verwundet, daß sie für verloren galten und liegen bleiben mußten. Die nächsten französischen Soldaten hatten aber Mitleid mit den armen Verwundeten und brachten ihnen jede Nacht Speise und Wasser, auch Zigaretten. Eines Tags kam ein mutiger deutscher Arzt mit einigen Krankenträgern in die deutschen Schützengräben. Sie führten eine Flagge des Roten Kreuzes mit sich. Erst knallten einige feindliche Schüsse; als aber die Franzosen erkannten, was die Absicht war, wurde es lautlos still; niemand wollte das Rettungswerk stören.
Bei einer andern Reservekompagnie, wo wir uns eine Weile mit den Feldgrauen unterhielten, war vor einiger Zeit ein Leutnant Johannes gefallen. Rings um sein Grab stand eine ganze Batterie von Granaten wie ein Bataillon Kegel, das Kreuz war der König! Auch junge Fichten waren um den Grabhügel des Leutnants gepflanzt.
Nachdem wir uns ein paar Stunden bei diesen liebenswürdigen, fröhlichen und tapferen Männern aufgehalten hatten, traten wir den Rückweg nach der Fliegerstation an, wo die diensthabende Wache dem Hauptmann Rapport erstatten mußte. Sie äußerte dabei: »Es ist gut, daß die Herren nicht vor einer Viertelstunde gekommen sind, da kam ein Flieger über die Station und warf eine Bombe ab, die hier gleich in der Nähe krepierte, aber ohne Schaden anzurichten.« Zur Erinnerung daran erhielt ich einen Bombensplitter, den man lieber in der Tasche fühlt als im Körper!
Sonntagmorgen in Vouziers (4. Oktober). Schon früh um 5 weckte mich ein Franziskanerbruder, den ich im dortigen Lazarett des Professors Zinser kennen gelernt hatte. Ich kleidete mich schnell an und in Begleitung eines katholischen Soldaten, der von Behr bediente, wanderten wir nach dem Altenheim, in dessen Kapelle der Geburtstag des heiligen Franziskus mit Messe und Gesang gefeiert werden sollte. Es war noch nicht Tag, der[S. 111] Mond schien nicht, die Nacht herrschte noch auf der Erde, ein feuchter Nebel schwebte über Vouziers, und das Steinpflaster der Straßen war naß. Hier und da brannte ein elektrisches Licht, einsam gegen die Dunkelheit kämpfend. Ab und zu hörte man eilige Schritte; es waren die Mönche, die zur Messe eilten, und vor einem Haus mit irgendeiner militärischen Bestimmung ging eine Nachtwache auf und ab, sonst war die Straße lautlos still.
Am Ziel angelangt, treten wir in einen kleinen Garten ein, an den der Säulengang des Heims angrenzt, und sind bald darauf in der Kapelle. Diese ist schon mit Zuhörern gefüllt. Da sitzen Elisabethschwestern aus Essen in ihren weißen Schleiern und Vincentiusschwestern aus Hildesheim in ihren schwarzen Schleiern, die Franziskanermönche haben ihre Plätze eingenommen, und auf den Emporen sitzen mehrere Soldaten. Ihnen schließe ich mich an.
Die Heiligenbilder am Altar werden von hohen Lichtern erleuchtet, die eben angezündet werden; aber die beiden Kandelaber werden noch nicht benutzt. Es ist draußen noch so dunkel, daß die gemalten Fenster nicht zur Geltung kommen, da sie nur von innen beleuchtet werden. Man erkennt kaum die Züge der Jungfrau Maria und der heiligen Helena.
Ein Bruder in weißem, goldgesticktem Ornat, umgeben von vier ebenso prächtig gekleideten dienenden Brüdern, tritt an den Altar heran. Sie tragen an langen, feinen Ketten Weihrauchkessel, auf deren glühende Kohlen einer von ihnen ein wohlriechendes Pulver streut, und leichte, blaue Wolken steigen bis zu meinem Platz auf dem Chor empor.
Nun beginnt das lateinische Altargebet. Ein Priester singt, und die Versammelten antworten mit dem immer wiederkehrenden Refrain: »Per omnia saecula saeculorum. Amen.« »Oremus« erklingt es vom Altar, und aus der Versammlung »Per omnia saecula saeculorum. Amen.«
Dann folgt die Predigt. Der Redner knüpft seine Betrachtungen an das Leben des heiligen Franziskus. Von der ganzen Erde steigen heute Gebete zu ihm auf. Die Versammelten können[S. 112] sein Andenken nicht besser feiern als dadurch, daß sie ihre Pflichten im Dienst der Menschenliebe erfüllen und die Qualen der Verwundeten lindern.
Die Chorfenster bekommen Farbe. Es tagt draußen. Die Gemeinde singt ein deutsches Lied zu Ehren des heiligen Franziskus. Ein Bruder tritt an den Altar heran und klingelt ein paarmal mit einem kleinen Glöckchen. Ich kann meine Augen nicht von diesen Brüdern und Schwestern abwenden, die von den Schlachtfeldern und Lazaretten gekommen sind, und deren Gedanken sich nun so friedlich um den Namen des großen Heiligen sammeln. Wie sind sie davon ergriffen, wie andächtig machen sie das Zeichen des Kreuzes. Auf einem stimmungsvollen Gemälde im Chor gegenüber schaut der Gekreuzigte von der Höhe seines Leidens auf die knienden Gestalten herab. »Per omnia saecula saeculorum.« — »Dominus vobiscum.« — »Gratias agimus Domino, Deo nostro.« — »Unus est Deus, unus est Dominus.« Und das Glöckchen läutet wieder, und der Weihrauchkessel schwingt in seinen Ketten, und es ist, als träten die Jungfrau und die heilige Helena aus den Wolken um den Altar hervor und kämen uns allen näher!
Die dienenden Brüder grüßen sich, indem sie sich gegenseitig die Hände auf Schultern und Haupt legen. Das Abendmahl wird an die Gemeinde ausgeteilt, und wieder erklingt der stete Refrain »Per omnia saecula saeculorum«. Und man denkt an all die Tapferen, die draußen in den Schützengräben sterben, und an die Blüte männlicher Jugend zweier edlen Nationen, die dem Granatfeuer geopfert wird. Vielleicht waren die Gedanken der Nonnen und Mönche stärker ergriffen von den unruhigen Ereignissen, die jetzt die Welt erschütterten, als von dem Frieden, der den Namen des heiligen Franziskus umschwebte. Sie gedachten all der Soldaten, die in ihrem Beisein gestorben sind. Es ist schwer, zu sterben, wenn man jung und stark ist und das ganze Leben noch vor sich hat! Aber ewige Ehre verdienen die Männer, die sich fürs Vaterland opfern, und ihr Andenken soll lebendig bleiben »per omnia saecula saeculorum«.
[S. 113] Nun werden die Kandelaber auf dem Altartisch angezündet, aber draußen hat jetzt der Tag gesiegt, und das Gesicht der heiligen Helena erstrahlt hell und rein vor aller Augen. Ihre Lippen umspielt ein Lächeln voller Milde und Güte und sie, die Freundin der Wehrlosen und Leidenden, scheint mit Freude so viel würdige Schwestern und Brüder um sich zu sehen, die ihre besten Kräfte den verwundeten und sterbenden Soldaten weihen.
Der Gottesdienst war zu Ende, und mein Franziskanerbruder führte mich in den Säulengang, wo die Schwestern Kaffee mit feinem Weizenbrot und Marmelade boten. Hier verbrachten wir bis zum Abschied eine angenehme Stunde.
½10 Uhr fand der protestantische Feldgottesdienst statt. Das Gotteshaus war eine Straßenecke unter freiem Himmel, ein sichrerer Platz als das offene Feld vor der Stadt, wo eine große Menschenmasse immer ein dankbares Ziel für die Bomben der französischen Flieger abgäbe. Einige hundert Soldaten und etwa fünfzig Offiziere waren zur Stelle. Ein Oktett der Regimentsmusik blies einen Choral — wir kannten ihn nur zu gut: »Ein' feste Burg ist unser Gott« — und die Kriegsleute stimmten mit starken, frischen Stimmen ein.
Dann trat auf der untersten Stufe einer Steintreppe der junge Pastor Marguth aus Hessen hervor. Er trug einen schwarzen Rock und um den Arm eine weißviolette Binde wie alle Geistlichen der Feldarmee. Er sprach im Anschluß an den Römerbrief über die Kraft des Evangeliums, und kam damit auf die welthistorischen Ereignisse, die aller Gedanken erfüllten. Er sprach von der unwiderstehlichen Kraft eines Volkes, das in solchen Zeiten einen Herrscher hat, der in Wahrheit ein Führer ist. Der Kaiser habe alles getan, um den Krieg zu vermeiden; er habe den Frieden gewollt, aber da er zum Krieg gezwungen worden sei, habe er auch gewußt, wo sein Platz sei, und was das Volk von ihm verlangen konnte. Und im Vertrauen auf dieses Volk habe er nicht gezaudert, für Deutschlands Existenz und Zukunft loszuschlagen.
Pastor Marguth sprach vom Pflichtgefühl des Volkes als der[S. 114] vornehmsten Bedingung des Siegs. Das Volk wisse, was es zu tun habe, wenn die Pflicht es ruft. »Wir müssen Gott danken für seine Gnade, daß er uns jetzt in der Stunde unserer Heimsuchung in unserer schwersten aber auch größten Zeit so einig und stark gemacht hat.« Und zuletzt sprach er von der Ausdauer der Soldaten und von ihrer Entschlossenheit, sich erst mit dem letzten Mann und dem letzten Pferd zu ergeben.
Es war eine einfache Beredsamkeit ohne Redeblüten, ohne Phrasen; der Geistliche sprach freimütig mit froher Zuversicht und unerschütterlicher Siegesgewißheit, und die deutschen Worte weckten ein klingendes Echo an den französischen Häusern. »Vater unser, der du bist im Himmel ... Der Herr segne euch und behüte euch ...« Schließlich wurde wieder ein Choral gesungen, mit so brausender Kraft, als sei es am Tag vor dem siegreichen Einzug durch das Brandenburger Tor. Hier standen nun diese breitschultrigen, kraftvollen und jugendfrischen Germanen, und unter den Helmen flammten Augenpaare, die vielleicht morgen in den Schützengräben erlöschen sollten! Es überlief mich kalt, als ich den Choralgesang erschallen hörte und dachte, diese Männer verstehen die Kunst, zu sterben! Aber ihr Volk wird nie sterben, und es ist schade um die Mächte, die sich zu ihrem eigenen Untergang vereinigt haben. Wieviel Blut muß noch fließen, bis sie einsehen, daß ihr Ziel, Deutschlands Vernichtung, unerreichbar ist!
Die Feldprediger sind ein Geschlecht für sich. Immer froh, munter, aufopfernd und freimütig. Sie sind die Seelsorger der Soldaten, den Lebenden predigend, die Sterbenden tröstend und erquickend. Die Konfession spielt keine Rolle mehr. Protestantische und katholische Priester verkehren wie Brüder. Alle haben einen Gott, und alle haben ein Ziel: die Wohlfahrt des Vaterlandes. Oft sieht man Priester zu Pferde dahergesprengt kommen, das Kreuz um den Hals, den schwarzen Filzhut auf dem Kopf, die weißviolette Binde am linken Arm des Feldrocks. Nicht selten sind sie mit dem Eisernen Kreuz geschmückt. Dann haben sie wohl mitten im Granatfeuer von der Auferstehung und dem[S. 115] Leben gesprochen oder mit unerschütterlicher Ruhe gepredigt, während feindliche Flieger über ihnen schwebten. Ja, vielleicht sind sie Sonnabend nachts in Kälte und Regen zwischen Büschen und Gras hindurchgekrochen, um an die Schützengräben zu gelangen und ihren Bewohnern am Sonntag Gottes Wort zu verkünden.
Am Abend desselben Tages wurde in der Kirche zu Cernay Gottesdienst abgehalten. Man hatte an Licht sparen müssen, und auf dem Altar brannten nur ein paar Talgkerzen. Aber es war Vollmond und klares Wetter, und der Mondschein sickerte durch die Fenster herein und erleuchtete das Schiff und die Säulen und die wetterharten Männer, die aus ihren Schützengräben oder von ihren Troßwagen gekommen waren. Von Zeit zu Zeit schlugen französische Granaten in die Stadt ein, und es donnerte und krachte von Explosionen und einstürzenden Häusern. Aber der Priester ließ sich nicht stören. Er schien den Krieg draußen nicht zu merken, sondern sprach, ohne mit der Stimme zu zittern, vom Frieden in Gott und von den Pflichten gegen das Vaterland. Die Soldaten hörten mit unerschütterlicher Ruhe zu, und als der Choralgesang schließlich verklang und die Lichter ausgelöscht wurden, zerstreute sich die Schar in den Gassen, die eigentümlich erleuchtet waren vom Mondschein und vom Feuer der brennenden Häuser. —
Nachdem ich lange genug bei den prächtigen Offizieren von Herzog Albrechts Armee verweilt hatte, begann ich mich nach neuen Erlebnissen zu sehnen, und am Vormittag des 8. Oktober entschloß ich mich, zunächst nach Sedan zurückzukehren. Da um diese Zeit kein Militärzug abging, benutzte ich auf den Rat des Stationskommandanten, Oberstleutnant Böhlau, den Postautobus, in dessen Innern zwei Artillerieleutnants Müller und Fuchs und meine Wenigkeit hinter den hochaufgestapelten Briefsäcken noch eben Platz fanden. In Sedan nahm mich Oberstabsarzt Dr. Fröhlich, mit dem ich schon vorher, in Sedan selbst und in Vouziers, zusammengewesen war, in einem Lazarettzug mit dreihundert Patienten,[S. 116] den er nach Breslau zu führen hatte, bis nach Libramont mit. Dort fragte ich den Stationsvorsteher, ob er mir nach Namur weiterhelfen könnte.
»Nicht ganz bis dahin, aber bis Jemelle. Und sind Sie erst dort, so wird sich wohl leicht eine Gelegenheit zur Weiterfahrt finden.«
»Schön, und wann geht der Zug?«
»Im nächsten Augenblick, aber es ist kein Zug, nur vier zusammengesetzte Lokomotiven, die aus Jemelle requiriert wurden.«
Ich hatte schon manches Beförderungsmittel benutzt, von den Kamelen in Takla-makan angefangen bis zu den Rikschas in Kyoto. Aber auf einer Lokomotive war ich noch nie gefahren, und schon deswegen nahm ich den Vorschlag mit größtem Dank an.
So verabschiedete ich mich denn von Dr. Fröhlich und wurde mit meinem Gepäck von laternentragenden Landsturmleuten über einige Schienenstränge bis zu den vier Lokomotiven geleitet. Auf der ersten nahm ich Platz; sie hatte den Tender vorn, und ich hatte daher freie Aussicht über die Landschaft, die sich nach und nach vor meinen Blicken aufrollte. Aber kühl und zugig war es, eine dünne Schicht dichten Reiffrostes deckte das Land, und diesen weißen Schein verstärkte noch der Mond, der hoch und kalt über der durchfurchten Erde schwebte.
Lokomotivführer und Heizer waren kräftig gebaute, unerschütterlich ruhige Männer. Ihre rußigen Gesichter verrieten keine Bewegung, keine Unruhe, aber immer hielten sie den Blick fest auf die Bahn gerichtet, bereit, die Maschine anzuhalten, sobald sich etwas Verdächtiges zeigen sollte. Überanstrengt waren sie auch nicht, aber in der letzten Zeit hatten sie auch leichteren Dienst gehabt als früher, wo sie oft achtundvierzig Stunden, ja manchmal sechzig Stunden ununterbrochen tätig waren! Die Schüsse der Franktireurs hatten aufgehört, und man konnte mit einem Gefühl von Sicherheit fahren, was aber Vorsicht nicht unnötig machte.
Die Nacht ist lautlos still. Wir begegnen langen Militärzügen, die wunderlich aussehen in der ungewohnten Perspektive; und auf den Bahnhöfen in Hatrival und Mirwart stehen endlose,[S. 117] leere Güterzüge. Langsam wird es Tag. Gärten und Wälder erhalten Form, und die Laubkronen der Bäume heben sich immer deutlicher vom Himmel und von dem weißen Felde ab. Wir fahren über eine Brücke, die gesprengt, aber von den Pionieren wieder hergestellt worden ist. Die Landschaft ist unendlich schön, wellig und hier und da mit Wald geschmückt. Der Lokomotivführer stellt mir einen kleinen, dreibeinigen Stuhl hin, und als der Heizer den Ofen öffnet, um Kohlen nachzulegen, lächelt er, als ich die Gelegenheit wahrnehme, meine Hände zu wärmen.
Forrières! Nun geht die Sonne auf und mit glitzerndem Gold färbt sie Bäume, Äcker und Wiesen, Häuser und Wagen und die Landsturmleute, die nicht mehr mit aufgeschlagenen Kragen zu gehen brauchen.
Wir sind in Jemelle und steigen aus. Ich danke für gute Reisegesellschaft; ein Trinkgeld wird nicht angenommen. Auf dem Bahnsteig erscheint ein Unteroffizier und fragt, wer ich bin. Er bekommt meinen Ausweis zu sehen und bittet mich, im Zimmer des Stationsvorstehers zu warten, bis dieser kommt, es ist ja erst ½7 Uhr. Drinnen prasselt ein freundlicher Ofen, vor dem ich mich in einen Lehnstuhl niederlasse und sofort einschlafe.
Nach einer Weile kommt Hauptmann Haaf, der Stationsvorsteher, und weckt mich, sehr erstaunt darüber, einen wildfremden Menschen im Besitz seiner Amtsstube zu finden! Aber die Bekanntschaft ist bald gemacht.
»Wann geht ein Zug nach Namur?« frage ich.
»½12 geht ein kleiner Zug Proviantwagen; wenn Sie den benutzen wollen, lasse ich gern einen Personenwagen anhängen.«
»Natürlich, das paßt ausgezeichnet.« Und dann geleitet mich der Hauptmann nach einem in der Nähe gelegenen belgischen Restaurant, in dem ein paar muntere, gesprächige Frauen ein erstklassiges Frühstück auftischen. Währenddem berichtet der Hauptmann, daß man immerhin noch nicht ganz sicher vor Franktireurs sei. Vor einigen Tagen war ein Büchsenschuß auf das Stationsgebäude in Jemelle abgefeuert worden. Man hatte den Schützen[S. 118] ergriffen und vor das Kriegsgericht gestellt; wie es ihm ergangen war, wußte man noch nicht. In der Gegend von Houyet hatte vor kurzem eine Bande Zivilisten einige Deutsche überfallen, und eine Strafexpedition von hundertunddreißig Mann war gegen sie ausgesandt worden.
Die Abfahrtsstunde schlägt, und der Zug fährt durch hügeliges Land mit wohlhabenden Dörfern und auf den Wiesen weidenden Herden. An den Krieg erinnert nichts als die Landsturmleute, die an der Bahn Wacht halten, die Eisenbahntruppen, die hier und da arbeiten, und die Militärzüge, die an den Stationen halten. Auch bei Marloie stand einer, und wir hielten unmittelbar neben ihm. In einem der Wagen saßen Schwestern vom Roten Kreuz, und der Zufall wollte es, daß mein Fenster gerade ihnen gegenüberlag. Einige Schwestern schlummerten, aneinander gelehnt, andere lasen, die übrigen strickten. Durch das geöffnete Fenster sah eine der Schwestern heraus. Sie sah lieblich aus in ihrer hellen Tracht mit dem roten Kreuz am Arm.
»Woher kommen Sie und wohin gehen Sie?« fragte ich.
»Wir sind von Berlin«, antwortete sie, »und sollen nach Sedan.«
»Aber in Sedan ist ja kaum noch ein Verwundeter, die meisten sind nach Deutschland gebracht worden.«
»Das haben wir gehört, aber es werden wohl bald neue von der Front kommen. Woher kommen Sie selber?«
»Aus der Gegend südlich von Sedan.«
»Sind Sie Deutscher?«
»Nein, Schwede.« Es war nicht zu umgehen, ich mußte mich der jungen Dame und ihren Mitschwestern vorstellen. Die Unterhaltung war bald im besten Gang, und wir waren halbwegs miteinander bekannt geworden, als mein Zug sachte weiterfuhr. Ich konnte ihnen bloß Glück zu ihrer menschenfreundlichen Arbeit wünschen und erhielt aus ihrem Fenster freundliche Abschiedswinke. Damit war diese kleine Idylle zu Ende.
Auf der Strecke zwischen Aye und Hogne machten einige Leute der Kasseler Eisenbahntruppen Zeichen, daß sie aufsteigen wollten.[S. 119] Der Zug fuhr langsamer, sie sprangen auf das Trittbrett und fuhren mit Gepäck und Gewehren mit.
Die kleine Stadt Ciney kann sich eines besonders prächtigen Stationsgebäudes rühmen, wo der Verkehr lebhafter ist als sonst. Zuweilen begegnen uns kolossale leere Züge. In den Güterwagen liegen Stroh und Bänke bunt durcheinander. Vielleicht haben sie Truppen nach Antwerpen befördert. Oft sieht man bei den Stationen und zwischen den solid gebauten Steinhäusern der Dörfer gemütliche, gutgepflegte Küchengärten. In einiger Entfernung von der Bahn erblicken wir schließlich das Fort Naninnes mit der deutschen Flagge, und dann fahren wir über die Maas auf einer neuen Brücke, von der man eine Aussicht auf die alte hat, die in den ersten Kriegstagen gesprengt wurde. Und damit sind wir in dem bezaubernden, schön gelegenen Städtchen Namur angelangt.
Um die etwa nötigen Aufklärungen zu erhalten, wandte ich mich an einen Hauptmann, einen großen Herrn mit schneeweißem Haar und Bart. Es stellte sich heraus, das es kein Geringerer war als der Professor emeritus Dr. B. Lepsius, der trotz seines hohen Alters mit in den Krieg gezogen war, ein guter Freund des berühmten schwedischen Physikers Professor Svante Arrhenius; er hat während meines kurzen Aufenthalts in Namur wie ein Vater für mich gesorgt.
Nachdem meine Sachen in einem Hotel am Bahnhof untergebracht waren, machte ich einen Besuch beim Gouverneur, General von Hirschberg, der nichts dagegen einzuwenden hatte, daß ich eines der Forts besichtigte. Außer Professor Lepsius begleitete mich Major Friederich vom Generalstab.
Wir fuhren an die Nordfront und waren bald beim Fort Marchovelette angelangt, jetzt Fort Nr. I genannt. Die Deutschen haben alle die Stadt umgebenden Forts mit römischen Ziffern bezeichnet. Der erste Eindruck vom Fort Nr. I ist der, daß die Verwüstung geringer gewesen ist als bei dem Fort in Port[S. 120] Arthur, wo General Kondratenko fiel; denn dieses Fort glich, als ich es vor sechs Jahren besuchte, einem einzigen Schutthaufen. Betrachtet man aber Nr. I genauer, so erstaunt man über die unheimliche Wirkung der neuen deutschen schweren Artillerie. Das Fort hat die Form eines Dreiecks mit einer Spitze nach Nordosten. Sein Glacis ist mit Stacheldrahtnetzen bedeckt, die zwischen Eisenpfeilern von einem Meter Höhe ausgespannt sind. Das Netz ist dicht und sein Gürtel etwa dreißig oder vierzig Meter breit. Innerhalb dieses Gürtels ist der Graben, der nach außen von der Kontereskarpe, nach innen von der Eskarpe begrenzt wird. Noch einen Schritt weiter nach innen folgt ein Wall oder ein kleinerer Graben für Infanteriestellungen und zuletzt der Kern des Forts mit den Panzertürmen.
In einer Entfernung von zehn oder fünfzehn Metern vor dem Stacheldrahtnetz sah man das Loch, das ein 42-cm-Geschoß in den Erdboden gegraben hatte; es maß etwa dreißig Meter im Umkreis und war etwa acht Meter tief. An den fast senkrechten Betonwänden der Eskarpe und Kontereskarpe sah man die Spuren von gewöhnlichen Granaten, die strahlenförmig von der Explosionsstelle sich ausbreitende Löcher hinterlassen hatten. Hier lagen auch Splitter von Sprengbomben verschiedenen Kalibers. Ein Splitter eines 42-cm-Geschosses war so schwer, daß man ihn nur mit Aufgebot seiner ganzen Kraft bewegen konnte! Dafür wiegt aber auch ein solches Geschoß in ganzer Gestalt mehrere hundert Kilo! Ein kleiner Splitter, den ich mitnahm, zeigte, daß sich die Masse um ein Viertel ihrer ursprünglichen Dicke ausgedehnt hatte.
Alles, was diese Riesenmörser betrifft, wird geheim gehalten. So viel aber erfährt man doch, daß diese unerhört schweren Geschosse mehrere Kilometer hoch geschleudert werden und meilenweit vom Ausgangspunkt entfernt einschlagen! Man schießt sich mit den großen Mörsern sehr sorgfältig ein und muß doch darauf gefaßt sein, daß ein Schuß oder ein paar ihre Wirkung verfehlen. Man stellt aber den Schuß mit einer solchen Sicherheit ein, daß die Fehlerquelle nur gering ist. Bevor man die Schüsse abgibt, werden[S. 121] die genauesten Berechnungen und Beobachtungen angestellt. Während des Einschießens sind Beobachter in geeignet gelegenen Wäldchen vor der Front aufgestellt, die telephonisch mit der Bedienung verbunden sind und melden, in welchem Verhältnis zum Ziel der Aufschlag erfolgt. Wenn ein Ding von der Größe dieser Geschosse aus einer Höhe von einigen Kilometern herabkommt, kann ja kein von Menschenhänden errichteter Bau widerstehen!
Im Fort Nr. I konnte man auch die Wirkung der Geschosse sehen. Ein Schuß hatte den ringförmigen Panzer der Kuppel des größten Panzerturms getroffen, war durch diesen wohl einen halben Meter dicken Panzer hindurchgegangen wie durch Butter und hatte dann noch fünf Meter Beton durchschlagen. Durch einen sinnreichen Mechanismus ist das Geschoß so eingerichtet, daß es erst ein paar Sekunden nach dem Auftreffen explodiert. Es hat, wie die Deutschen sagen, einen Zünder mit Verzögerung. Daher ist seine Wirkung so furchtbar.
Kruppsche Ingenieure waren zurzeit damit beschäftigt, die Forts von Namur und Lüttich wieder instand zu setzen, und bedeutende Arbeitermassen hatten vollauf damit zu tun. Durch die Instandsetzung der eroberten Befestigungen verstärken die Deutschen ihre strategische Stellung und können große Truppenkontingente freimachen und in andere Gegenden schicken.
Welche Wirkung diese schwere Artillerie auf die Besatzung der beschossenen Forts ausübt, kann man aus der Tatsache ermessen, daß in einem Fort siebzig Prozent der Verteidiger fielen und dreißig Prozent schwer verwundet wurden. Unter den Verwundeten war in einem solchen Falle der tapfere General Leman, der in der Gefangenschaft seinen Degen wieder erhielt. In einem andern Fort fand man vierzig unverwundete, aber tote Soldaten. Sie waren offenbar durch die Gase der Geschosse getötet oder im Betonstaub erstickt, der aufs unheimlichste aufwirbelt und überall eindringt. Der Luftdruck hatte auch viele gegen die Kasemattenwände geschleudert; sie wurden mit zerschmetterter Hirnschale aufgefunden.
Eine der Lehren, die man aus dem jetzigen Kriege ziehen zu[S. 122] können meint, ist die, daß auch die modernsten Festungen mit den vorzüglichsten Panzertürmen gegenüber einer Artillerie vom Kaliber der großen deutschen Mörser ohnmächtig sind. Gerade der Umstand, daß die Geschosse erst explodieren, wenn sie in die Kasematte eingedrungen sind, bewirkt, daß die Zerstörung aller Beschreibung spottet. Die Geschosse wirken erst von oben nach unten durch das Einschlagen selber, und dann von unten nach oben durch die Explosion. Die 42-cm-Mörser werden in ihre Stellungen auf Eisenbahnschienen befördert, die jedesmal besonders gelegt werden.
Vom Fort Nr. I fuhren wir in die Stadt zurück, deren schönste Partien am Zusammenfluß der Sambre und Maas gelegen sind. Südlich von der Sambre windet sich eine unendlich malerische Straße zur Zitadelle hinauf. Von dem prächtigen Grand Hotel Namur-Citadelle, das auf der Höhe thronte, ist nur noch das Skelett von eisernen Balken und Ziegelmauern vorhanden. Der Hotelwirt war ein Deutscher, und die Belgier hatten ihn im Verdacht, daß er beim Anmarsch der Deutschen seinen Landsleuten Lichtsignale gäbe. Deshalb steckten sie das Gebäude in Brand. Aber die Aussicht ist noch vorhanden, und sie ist großartig, besonders auf das Maastal mit seinen zahllosen Villen und Schlössern, in denen reiche Belgier wohnen oder wohl besser gewohnt haben; denn die meisten sind infolge der deutschen Okkupation weggezogen.
Die Stadt Namur selbst wurde von den Verheerungen des Kriegs nur wenig betroffen. Das Rathaus ist eine Ruine, ebenso mehrere Häuser in der Nachbarschaft; im ganzen sind aber nur etwa zwanzig Häuser zusammengeschossen. Man hat die Deutschen wegen der Zerstörung menschlicher Wohnungen, Kirchen, öffentlicher Gebäude und Gegenstände von kunsthistorischem Wert getadelt. Solche Verluste sind ja an und für sich beklagenswert, aber weder der Angreifer noch der Verteidiger nehmen die geringste[S. 123] Rücksicht darauf, wenn es zu siegen oder zu sterben gilt! Hegt der anrückende Feind, der eine Stadt erobern will, den Verdacht, daß der Kirchturm der Stadt als Beobachtungsposten benutzt wird, so schießt er den Kirchturm zusammen. Als die Belgier den Verdacht gefaßt hatten, daß von Schloß Marche-les-Dames der Herzogin von Arenberg bei Namur, berühmt wegen seiner kostbaren Kunstschätze, Signale gegeben würden, steckten sie es in Brand. Wenn es gilt, das Vorrücken eines Invasionsheeres aufzuhalten oder seine Verbindungslinien abzuschneiden, scheut der Verteidiger keine Opfer, wenn auch er selbst in erster Linie den materiellen Verlust erleidet. Unter den unzähligen Brücken, die die Belgier in ihrem eigenen Lande gesprengt haben, um den Deutschen den Weg zu verlegen, sind viele, die für die Deutschen nicht die geringste Bedeutung hatten. Hierdurch haben sich die Belgier selbst dreifach Schaden zugefügt: sie haben die Brücken verloren, sie haben die Aufräumungsarbeit zu leisten und, wenn der Krieg zu Ende ist, eine neue Brücke zu bauen — alles das wird durch eine einzige Bohrpatrone verursacht.
Wie oft schafft nicht ein Kriegsheer bei der Verteidigung des eigenen Landes mehr Verwüstung als das Invasionsheer! Das Sprengen von Brücken ist an und für sich ein Vandalismus, aber vollkommen berechtigt, wenn man dadurch strategische Vorteile gewinnen kann. Die Verwüstung, die die Deutschen bei ihrem Vordringen angerichtet haben, war teils unfreiwillig, teils durch die Haltung der Zivilbevölkerung erzwungen; aber niemals erfolgte sie aus Zerstörungswut und Vandalismus. Entgegengesetzte Behauptungen gehen darauf aus, in der Öffentlichkeit falsche Vorstellungen zu erwecken, und man kann sicher sein, daß feindliche Heere, wenn es ihnen gelänge, in Deutschland einzudringen, dieses Reich mindestens ebenso verwüsten würden, wie jetzt die Gegenden verwüstet sind, in denen deutsche Heere stehen.
In der ersten Zeit nach der Einnahme Namurs mußten nach Einbruch der Dunkelheit alle Fenster nach der Straße hinaus erleuchtet bleiben, während die Straßen selbst im Dunkel lagen.[S. 124] Wer auf der Straße ging, war daher nicht zu sehen; wer aber aus einem Fenster schoß, wäre sofort ertappt worden. Alle Haustüren mußten zunächst unverschlossen bleiben. Nach einiger Zeit wünschten aber die Einwohner aus Furcht vor den Soldaten ihre Haustüren schließen zu dürfen, und der Wunsch wurde bewilligt.
Bei meinem Besuch, also am 8. Oktober, machte Namur einen belebten Eindruck. Noch ½8 Uhr abends waren die meisten Geschäfte offen und auf den Straßen viel Verkehr. Sogar junge Damen, die anfangs nicht auszugehen gewagt hatten, zeigten sich wieder. Aber noch durfte niemand ohne besonderen Ausweis nach 9 Uhr abends außer dem Hause sein. Die vielen Uniformen, Militärautos und Transporte verwandelten Namur in eine deutsche Garnisonstadt. Aber Namur war auch noch etwas anderes; das bewiesen die weißen Fahnen an vielen Fenstern, namentlich in den Hauptstraßen; sie bedeuteten: wir, die wir in diesem Hause wohnen, finden uns in die neue Ordnung der Dinge. Wer durch Belgien reist, muß sein Herz verhärten, denn jeder Schritt erinnert daran, welches Unglück es sein muß, die Freiheit im eigenen Lande verloren zu haben. Und man denkt mit Schrecken daran, wie man selbst bei gleichem Unglück fühlen würde. Ein Strafgericht geht jetzt über Europa. Wehe den Völkern, die nicht beizeiten ihr Haus besorgt haben und sich auf Vereinbarungen und papierne Erklärungen verlassen; denn nur die Macht gibt den Ausschlag, und nur der Starke und Wachsame flößt Respekt ein nach allen Seiten!
Am Nachmittag des 9. Oktober fuhr ich mit einem Militärauto nach Brüssel, in der Absicht, vor dem Einbruch der Dunkelheit wieder in Namur zu sein. Der Weg führte mich über das Schlachtfeld von Waterloo. Ich besuchte das dortige Schlachtenpanorama und den kolossalen Löwen, den die niederländische Regierung aus eroberten französischen Kanonen hat gießen und dort auf einem Hügel hat aufstellen lassen.
Dämmerung senkt sich auf diese blutgetränkte grüne Erde[S. 125] herab, der Wind weht über die Felder und Hügel, wo das Echo der alten Kanonen und das Gerassel der Harnische und Steigbügel, gekreuzter Lanzen und harter Säbelhiebe vor fast hundert Jahren verklang. Eine feierliche Stimmung ergreift den Beschauer dieses Schlachtfeldes, auf dem mehrere Völker ihren Toten Denkmäler errichtet haben. Nun halten deutsche Soldaten bei Waterloo und seinen Denkmälern Wacht. Still! Hört man nicht den Kanonendonner vor Antwerpen? Wir lauschen; nein, alles ist still. Meine Chauffeure, die mit oben bei dem armen gefangenen Löwen stehen, können nicht begreifen, was vorgefallen ist. Seit ein paar Wochen konnte man täglich die Kanonade hören, versichern sie, und nun ist es plötzlich still! Man sieht nicht einmal im Norden den Feuerschein brennender Häuser. Sind Wind und Nebel daran schuld? Meine Begleiter glauben gehört zu haben, in der vorigen Nacht seien fünfzehnhundert Schüsse auf die unglückliche Stadt abgefeuert worden; die Verwüstung dort müsse schrecklich sein. Nun ja, denke ich, auch eine Artillerie wie die deutsche wird Zeit brauchen, um einen Platz wie Antwerpen einzunehmen, der nach englischen und französischen Angaben die stärkste Festung der Welt und absolut uneinnehmbar ist.
Die Nacht war hereingebrochen, als wir Brüssel erreichten, aber die Straßen waren erleuchtet, und die Fenster der Geschäfte und Restaurants strahlten in hellem Glanz. Viele Spaziergänger waren unterwegs, aber fahren sah man nur deutsche Offiziere und Soldaten.
An der Ecke der Rue de la Loi wurden wir von zwei Wachtposten angehalten. Ich zeigte meinen Ausweis, sie gaben den Weg frei, und wir fuhren weiter bis zum Palast der Ministerien. »Wo wohnt der Gouverneur?« fragte ich meinen Chauffeur. »Wir sind sofort da«, war die Antwort. Er hielt vor dem Ministère des Sciences et des Arts. Am Torweg standen starke Wachtposten. Man führte mich über einen Hof und in einen langen Korridor mit deutschen Türschildern. Auf einem stand der Name des Leutnants Massebus; gerade den suchte ich, denn er war einer der Adjutanten. Er teilte mir mit, der Generalgouverneur sei[S. 126] den ganzen Tag vor Antwerpen gewesen, werde aber sicher gegen 9 Uhr zurückkommen; ich möchte dann meinen Besuch erneuern.
Ich fuhr daher nach dem Palast-Hotel, dessen vierhundert Zimmer zum größten Teil von deutschen Offizieren bewohnt wurden. Zur festgesetzten Zeit befand ich mich wieder im Empfangsraum des Generalgouverneurs. Dort warteten mehrere Offiziere. Unter ihnen machte ich die Bekanntschaft eines Mannes, dessen Namen ich schon hatte nennen hören, des Hauptmanns Dreger, der Ingenieur bei Krupp ist und einer von denen, die die 42-cm-Mörser konstruiert haben. Dies war nun ein Thema, über das man nicht sprechen durfte, dafür erzählte aber Hauptmann Dreger, daß er im Oktober 1908 eine Woche nach mir nach Bombay gekommen sei, und daß er mich dann buchstäblich über Colombo, Penang, Singapore, Hongkong und Schanghai verfolgt habe, immer in einem Abstand von kaum einer Woche.
»Wer ist jetzt drin?« fragte ich.
»Frau Martha Koch aus Aleppo«, antwortete ein Adjutant. »Sie hat mit Mann und Kindern dreißig Jahre in Aleppo gewohnt, und der Generalgouverneur gehört seit der Zeit seines türkischen Aufenthalts zu den alten Freunden der Familie. Nun ist sie hierher gekommen, um dem Roten Kreuz ihre Dienste anzubieten.«
Ein Offizier, der mit dem Generalgouverneur unterwegs gewesen war, schüttelte den Kopf und sagte: »Wir wundern uns jeden Tag, daß er noch lebt, er setzt sich den schlimmsten Gefahren aus. Neulich flog eine Granate einige Meter über seinen Kopf weg, und er lächelte nur.« Ein anderer Offizier warf ein: »Ja, er scheint an der Gefahr sein Vergnügen zu haben, gefährdete Plätze ziehen ihn besonders an, man möchte fast glauben, daß er den Tod sucht. Das wäre ein schöner Abschluß eines glänzenden Lebenslaufs. Aber die Kugeln weichen ihm aus, während sie die, die in seiner Nähe sind, nicht schonen. Ja, er geht so weit, daß er sich bis an die Schützengräben heranschleicht, sich dort niederlegt und mit den Soldaten scherzt. Natürlich wirkt seine Gegenwart auf sie im höchsten Grad anfeuernd. Eines Tags ging er[S. 127] in Begleitung eines Soldaten bis an einen feindlichen Schützengraben heran, der freilich lange still gelegen hatte, von dem man aber doch nicht wissen konnte, ob er Besatzung enthielt oder nicht. Glücklicherweise war er leer. Als Exzellenz zurückkehrte, machten wir ihm Vorwürfe wegen seiner Unvorsichtigkeit. »Aber es war ja niemand drin«, antwortete er ganz ruhig. — »Aber es hätten sich doch Schützen versteckt halten können.« — »Freilich; dann wäre ich wahrscheinlich nicht hingegangen.«
Wie wir gerade von Exzellenz von der Goltz sprachen, trat er selbst aus seinem Zimmer heraus und forderte mich auf, ihm zu folgen. Ich kannte ihn von der Berliner Deutsch-Asiatischen Gesellschaft her, wo ich unter seinem Vorsitz über meine letzte Reise gesprochen hatte. Er empfing mich auch wie einen alten Bekannten.
Der Generalgouverneur von Belgien, Feldmarschall Freiherr von der Goltz, seinerzeit Pascha in türkischen Diensten, steht im zweiundsiebzigsten Lebensjahr, hat aber noch Tatkraft und Energie wie ein junger Mann und fühlt sich im Felde so recht in seinem Element. Kräftig gebaut und stämmig, ist er klein von Gestalt, hat freundliche und lustig blinzelnde Augen hinter einer Brille und erinnert mehr an einen Professor als an einen General. Tatsächlich ist er auch ein sehr gelehrter Mann, der viele kriegsgeschichtliche Arbeiten von großem Wert herausgegeben hat, nicht zum wenigsten über den Deutsch-Französischen Krieg, an dem er teilnahm.
Als wir allein waren, berichtete er mir die große Neuigkeit, daß Antwerpen am selben Tag gefallen und die deutschen Truppen nachmittag 3 Uhr eingezogen seien! Kein Wunder also, daß wir bei Waterloo nichts von einer Kanonade gehört hatten. Ich nahm mir sofort die Freiheit, zu fragen, ob es erlaubt sei, Antwerpen möglichst bald zu besuchen, da es interessant und lehrreich sein könne, zu sehen, wie sich eine neu eroberte Großstadt ausnimmt. Ja, natürlich! Ich könnte alles sehen, was ich wünschte; ich möge nur am folgenden Morgen gleich nach 7 Uhr wiederkommen, dann würde ich erfahren, ob ich schon ohne allzu große Gefahr nach Antwerpen fahren könnte.
7 Uhr morgens am 10. Oktober befand ich mich auf dem Weg zum Palast des Generalgouvernements an der Rue de la Loi. Am Eingang kamen drei junge Offiziere auf mich zu, fröhlich und guter Dinge, und begrüßten mich, als wären wir Jugendfreunde. Sie hätten, sagten sie, vom Feldmarschall den Auftrag bekommen, mich nach Antwerpen zu begleiten. »Wenn es Ihnen recht ist, fahren wir sofort, das Auto steht bereit.« Natürlich! Der Chauffeur setzte den Motor in Gang und nahm seinen Platz am Steuer ein. Neben ihm saß ein Soldat und im offenen Automobil die drei Deutschen und ich. Alle Deutschen trugen Revolver; außerdem hatten wir drei Karabiner zur Hand. Offenbar hielt man die Straße noch für unsicher und den Besuch in der eben eingenommenen Stadt mit Gefahren verbunden. Man hatte noch keine genaueren Nachrichten über die Stimmung Antwerpens während der Nacht und am frühen Morgen. »Mir ist es komplett egal, ob ich jetzt oder ein anderes Mal erschossen werde, sterben muß man ja auf alle Fälle«, sagte Leutnant Classen, der ein großer Spaßvogel und voll lustiger Einfälle und Geschichten war. Die übrigen zwei Reisekameraden waren Leutnant Dr. Hütten aus Stettin und Leutnant Dr. Walter Kes aus Steglitz. Dr. Kes war auch in Friedenszeiten aktiv und dabei Doktor der Philosophie, was sehr ungewöhnlich ist.
Sobald alles in Ordnung war, erscholl der Ruf: Los! Und vom ersten Augenblick an fuhr das Automobil mit wahnsinniger Geschwindigkeit. Ehe man noch recht wußte wie, lag die große Stadt Brüssel mit ihren in dieser frühen Morgenstunde stillen und leeren Straßen hinter uns, und wir waren draußen auf dem ebenen Lande, wo vereinzelte Häuser und Dörfer, Wäldchen und Heufeime aus dem Nebel auftauchen, der noch mit dem Morgen kämpft, aber bald von der Sonne zerstreut sein wird. Durch ein herrliches, altes Tor zwischen zwei runden Türmen sausen wir in unvorsichtig rascher Fahrt nach Mecheln hinein.
[S. 129] Wir lassen rechts die Grand' Place mit dem Rathaus und andern altertümlichen Gebäuden und der schönen Bildsäule der Margarethe von Österreich liegen, kreuzen wieder einen Kanal und gelangen auf die Antwerpener Chaussee. Hier fahren wir zwischen den bedeutenden Forts Waelhem und Ste. Cathérine, die von häßlichen Stacheldrahtnetzgürteln und Wolfsgruben umgeben sind, und vorsichtig zwischen den tiefen Löchern, die krepierende Granaten mitten in die Landstraße gerissen haben.
Zu beiden Seiten der Straße sehen wir vortreffliche Schützengräben, die die Belgier auf ihrem Rückzug nach Norden gebaut haben; in den Landstraßengräben sind schalenförmige Nischen ausgehöhlt, um gegen den Hagel des Schrapnellfeuers Schutz zu bieten. Links stehen noch weite Strecken des Landes unter Wasser, und neben der Straße liegen noch provisorische Pontons, hergestellt aus einem Gitterwerk von Balken, die auf zylinderförmigen Petroleumfässern ruhen; die Deutschen brauchten sie beim Übergang über die Wasserläufe.
Die Bewohner des Landes sind wie weggeblasen. Nur ganz selten zeigt sich noch ein verirrter Bauer oder ein Wächter, der zurückgeblieben ist, während der Sturm über das Land raste. Aber das Leben auf der großen Landstraße spottet doch jeder Beschreibung, und der Verkehr nimmt zu, je weiter wir nach Norden kommen. Es sind die alten, wohlbekannten Kolonnen, in denselben endlosen Zügen, von gleichem Aussehen und in der gleichen mustergültigen Ordnung, die wir von den südlicheren Heerstraßen her kennen. Landwehrtruppen rasten neben den Wegen und Straßen; sie haben die Gewehre zusammengestellt, an deren Bajonetten die Mützen, Leibriemen und Patronentaschen hängen. Und dort biegen mehr als vierzigjährige Landsturmleute in ganzen Regimentern nach Gent ab. Ihnen fehlt es nicht an gutem Humor und Courage, sie marschieren wie Jünglinge und singen, als ginge es zum Erntefest! An den Gewehrmündungen tragen sie Blumen, Kränze um den Hals. Nach fünftägiger ununterbrochener Eisenbahnfahrt marschieren sie nun fünfundvierzig Kilometer bis zu den Gefechtsstellungen,[S. 130] vielleicht um fürs Vaterland zu fallen. Deshalb singen sie. Und doch haben sie Frau und Kinder daheim gelassen. Für Freiheit und Glück kämpfen und fallen sie. Sie wissen, was es gilt. Je mehr Kinder sie dem Vaterland geschenkt haben, desto mehr haben sie zu verteidigen, und desto wichtiger ist es für sie, daß Deutschlands Freiheit und zukünftige Größe gesichert wird.
Einigen der vornehmen Villen und Schlösser an der Straße statten wir unsern Besuch ab. Teils werden sie von einem zurückgebliebenen alten Diener oder einer Dienerin bewacht, teils sind sie leer und verlassen. Nirgends ist der Besitzer selbst zurückgeblieben, worüber man sich ja auch nicht wundern kann. Die Häuser, die wir besuchten, waren völlig unberührt und zeigten keine Spur von Plünderung oder Verwüstung. Wir waren auch unter den allerersten, die nach der Eroberung die Straße daherkamen. Soldaten werden für Diebstahl oder boshafte Zerstörung streng bestraft. Solche Fälle gehören auch zu den Seltenheiten. Und wie sollten sich Ausnahmen in einer Millionenarmee vermeiden lassen! In einer Kolonne, die vielleicht aus hundert oder hundertundfünfzig Wagen und vierhundert Pferden besteht, und wo siebzig oder achtzig Mann Karabiner tragen und die Eskorte im übrigen sehr klein ist — wie soll in einer solchen Kolonne der verantwortliche Führer alles, was geschieht, kontrollieren können! Man muß auch bedenken, daß eine Hafenstadt wie Antwerpen, einer der Hauptpunkte des Welthandels, eine Masse internationales Gesindel beherbergt, das gerade in unruhigen Zeiten losgelassen wird und auf Raub ausgeht. Es wäre daher nicht zu verwundern, wenn sich nach Beendigung des Krieges Privateigentum verwüstet fände. Aber so etwas war bei meinem Besuch noch nicht geschehen, soweit ich beobachten konnte. Die Schlösser, die wir besuchten, befanden sich in dem Zustand, in dem ihre Besitzer sie verlassen hatten.
Es geht an Ruinen und nackten, beschädigten Mauern vorüber und auf einer hölzernen Pionierbrücke mit der gewöhnlichen Landsturmwache fahren wir über die Nethe, wo die alte Brücke während des Rückzugs gesprengt wurde.
[S. 131] Die Schützengräben liegen immer dichter nebeneinander und sind mit bewundernswerter Sorgfalt angelegt. Die unterirdischen Gänge sind oft zu kleinen Zimmern ausgebaut, mit Holz- und Erddächern versehen, die Wände mit Brettern belegt. An einer Stelle ganz nahe der Stadt sieht man quer über die Straße Spuren von Barrikaden. Sie sind wie Steinmauern aufgeführt, aber leicht zu umgehen, da Lücken in sie geschlagen sind. Oft liegen auf und neben der Straße tote Pferde. In der Nähe des innern Fortgürtels mit den Stacheldrahtnetzen begegnen wir ein paar Batterien schwerer Mörser, die in dieser Gegend nicht mehr gebraucht werden und nun wohl auf dem Weg nach dem westlichen Flandern sind. In derselben Richtung wie wir fährt eine Kolonne, die auf langen, schmalen Wagen Pontons befördert; sie sollen bald an der Schelde in Anwendung kommen.
Die Stadt selbst umgibt ein grasbewachsener Wall, den viele Tore durchbrechen, und vor dem Wall zieht sich ein fortlaufender Graben, über den Brücken führen. Von den Toren wehen die deutschen Fahnen herab. Durch das Mechelner Tor gelangen wir in den Stadtteil Berchem und fahren dann die Mechelner Chaussee nach Nordwesten. Die ganze Straße ist voll von rastenden Kolonnen und Truppen. Sie stehen offenbar bereit zu neuen Taten. Hier und da sind Häuser von Granaten getroffen und an einigen Stellen ist das Straßenpflaster von Granaten aufgerissen. In der breiten, vornehmen Avenue des Arts sind einige Bäume von Bomben zersplittert. Place de Meir, eine große, schöne Straße im Zentrum der Stadt, ist überfüllt von rastenden Munitionskolonnen und Truppen. Sie stehen froh im Sonnenschein und zeigen eine Haltung und Miene, als wäre Antwerpens Eroberung die leichteste Sache von der Welt.
Frauen und Kinder sind nicht zu sehen, und der Männer, die die Truppen betrachten, wenige. Die ganze Bevölkerung ist nach Holland geflohen, die Reichen nach England oder an die Riviera. Alle Läden sind geschlossen. An den Banken halten deutsche Soldaten Wacht. Aber die durch Waffenmacht unterdrückte Stadt ist[S. 132] doch wie zu einem Siegesfest geschmückt! Ganz Antwerpen flaggt mit — belgischen Fahnen! Wie ist es möglich, daß sie aushängen dürfen? Nun, die Stadt ist ja erst gestern gefallen — da flaggte man noch für die belgische Armee und die englischen Hilfstruppen! An den folgenden Tagen verschwanden nach und nach die schwarz-gelb-roten Flaggen.
Über den Häusern an der Westseite der Place de Meir wirbeln braunschwarze Rauchwolken zum Himmel empor, und wir gelangen zum Marché aux Souliers, wo ein ganzes Viertel in Flammen steht. Aber das Feuer verbreitet keinen unheimlichen Schein in dieser im Sonnenlicht gebadeten Stadt. Die Flammen schlagen nur wie gelbe, flatternde Flaggen aus den Fenstern, und von der Straße her sieht man, wie es im Innern glüht. Mehrere Häuser sind bis auf den Grund zusammengeschossen, und aus Balken und Gerümpel steigt der Rauch in dichten, schwarzen Wolken auf. Keine neugierig gaffende Menschenmenge betrachtet dies unheimliche Schauspiel. Eine Feuersbrunst mehr oder weniger ist nichts Merkwürdiges in dieser Zeit, die so reich an aufregenden Ereignissen ist. Deutsche Soldaten halten auch an den Eingängen der Straßen Wacht, an der Place Verte und Place de Meir. Und es kann ja auch nicht viel Schaulustige in einer Stadt geben, die zum größten Teil verlassen ist. »Weshalb tut man nichts, um das Feuer zu löschen?« frage ich. — »Die Wasserleitung in Waelhem ist zusammengeschossen, und das einzige, was getan werden kann, ist, zu sorgen, daß das Feuer sich nicht ausbreitet. Im Notfall müssen die benachbarten Häuser niedergerissen werden, aber es sieht so aus, als wolle das Feuer von selber verlöschen.«
Keinem Teil der inneren Stadt Antwerpen ist so übel mitgespielt worden wie dem Marché aux Souliers, doch nur den Häusern an der Nordseite der Straße. Ohne Zweifel haben nur ein paar Schüsse in diese Häuser eingeschlagen. Die Granaten zünden gewöhnlich beim Krepieren, und dann hat sich das Feuer auf die Nachbarhäuser ausgedehnt. Aber das Viertel ist von offenen Plätzen und Straßen umgeben, und so blieb das Feuer[S. 133] begrenzt. Freilich sind diese Straßen sehr eng. Über Marché aux Souliers wurde vordem ein langwieriger Rechtsstreit geführt zwischen den Hausbesitzern, der Kommune, die über die Fußsteige verfügt, und dem Staat, dem Eigentümer der Straße. Der Streit ging um die Erweiterung der Straße; sie war zu eng für den gerade hier sehr lebhaften Verkehr. Aber niemand wollte nachgeben. Da kam die deutsche Artillerie und machte dem Streit mit einem Schlag ein Ende. Nun ist die Straße breiter als zuvor!
Wir fahren durch die Avenue Sud, die gelb ist vom herabgefallenen Laub, aber hier sieht man kaum eine Spur des Bombardements, höchstens die Wirkung einer vereinzelten Granate. Am Südhafen fahren wir an den langen Reihen Pavillons vorüber, den Lagerhäusern und Kontoren, welche nach der Straße zu wohlbekannte Firmenschilder tragen: Hamburg-Amerika-Linie, Norddeutscher Lloyd, Compagnie Maritime Belge du Congo, Nippon Yusen Kaisha, Red Star Line, Peninsular & Oriental usw. Gewaltige Wagenparks stehen mit oder ohne Ladung auf Schienen, ein ganzer Zug ist mit Benzin belastet, ein Fund, der die deutschen Offiziere hoch erfreute. Ein anderer hat kolossale Heuhaufen hergebracht, die unter Planen aufgestapelt sind. In den Hallen fand man bedeutende Vorräte von Kolonialwaren, Hafer, Mehl, Kaffee und andern Vorräten, die requiriert und verbraucht werden sollten. In einigen Hallen standen etwa tausend Automobile aller Art, meist Last- und Droschkenautomobile; sie waren samt und sonders mit Äxten, Spießen und Hämmern zerschlagen und unbrauchbar gemacht. Sie repräsentierten einen Wert von etwa neun Millionen Mark!
Wachtposten waren noch nicht aufgestellt, der ganze Hafen lag offen da, es war fast unheimlich öde und still in den Hallen. Ein paar Dampfschiffbureaus und das des Südbahnhofs waren in bester Verfassung zurückgelassen worden. Alles Wertvolle war fort, nur Quittungen und Rechnungen lagen da, und die Röcke der Beamten hingen noch an ihren Haken, als ob ihre Besitzer an einem der nächsten Tage hätten zurückkehren wollen.
[S. 134] Was mehr als alles andere die Aufmerksamkeit im Hafen auf sich lenkte, waren die kolossalen Petroleumtanks, die nun ein einziges Feuer- und Rauchmeer bildeten. Das belgisch-englische Heer hatte bei seinem Aufbruch nicht versäumt, diese Vorräte anzuzünden. Kann man den Feind nicht hindern, einzudringen, so kann man ihm wenigstens den Vorteil allzu großen Gewinnes rauben. Deshalb waren die Automobile zerstört und die Petroleumvorräte in Brand gesetzt worden. Höchst eigentümlich sah es aus, wie sich die schwarzen Wolken mit ihren grauen und bräunlichen Rändern zum Himmel emporwälzten und -wirbelten. Man hörte es drinnen zischen und fauchen, und zuweilen drangen rote Flammen durch den Rauch. Ab und zu erschollen dumpfe Explosionen, und es war nicht ratsam, nahe heranzugehen. An einigen Stellen wehte noch, vom Rauch umwirbelt, die amerikanische Flagge. Nur herrenlose Kühe und Hunde streiften in dieser Gegend herum.
Gerade gegenüber dem Fort de la Tête de Flandre brannten auf dem Fluß ein paar große Leichter; sie waren offenbar verankert und hatten als Pontons für eine provisorische Brücke gedient, die das Heer der Verbündeten benutzte, als es über die Schelde zurückging und seinen Rückzug bis Gent fortsetzte. Gewisse Verteidigungsanstalten im Hafen auf dem Weg zu dieser Brücke bewiesen, daß das belgisch-englische Heer die Absicht gehabt hatte, bis aufs äußerste zu kämpfen. An einigen Stellen waren zum Beispiel unter den Hallen Barrikaden aus dicken Eisenplatten errichtet, und an einer von ihnen standen drei geschützte Kanonen, die den offneren Teil des Hafens bestrichen. Hier und da waren Stacheldrahtnetze gespannt und allem Anschein nach so eingerichtet, daß sie mit Elektrizität geladen werden konnten. Aber zum Gebrauch dieser Verteidigungsvorrichtungen war es nicht gekommen.
Auf einer Rundfahrt durch die Stadt kamen wir auch in die Rue Carel Ooms. Dort stand hinter einem eisernen Gitter eine größere Villa, in deren Park eine alte vornehme Dame, auf zwei jüngere Frauen gestützt, spazieren ging. Sonst war niemand von[S. 135] den reichen Bürgern der Stadt zu sehen. Ich trat ein und grüßte, und die Dame berichtete mit schlichter Würde, sie hätte es nicht über sich gebracht, Antwerpen in der Zeit seiner harten Heimsuchung zu verlassen, und bei ihren siebzig Jahren auch nicht gewagt, sich den Gefahren einer Reise auszusetzen. In ihren Park hatten fünf Granaten eingeschlagen, ihr Haus aber unbeschädigt gelassen. Doch hatte sie, wie man wohl begreifen kann, in Todesangst geschwebt. Nun ging sie zum erstenmal aus und schöpfte nach der qualvollen Stimmung der letzten Tage frische Luft. Unglücklicher waren ihre nächsten Nachbarn, denn von ihrem Haus standen nur noch die nackten Mauern. Sie selbst waren fortgereist, doch schienen ihre Diener dageblieben zu sein, denn man wollte aus der Richtung, wo die Granaten einschlugen, Hilferufe gehört haben. Schließlich erfuhr ich, die Dame sei die Witwe des berühmten belgischen Historienmalers Carel Ooms; sie bewohnte die Villa seit dem 1900 erfolgten Tod ihres Mannes, dem zu Ehren die Straße benannt worden war.
Nach einem einfachen Frühstück unternahmen wir schließlich eine Tour nach der Nordseite des Hafens und besichtigten flüchtig die Dampfer in den Hafenbassins und Docks. Ich ging an Bord eines deutschen Dampfers, »Celadon«, der auf dem Vorderdeck Spuren eines Sprengschusses zeigte. Wie ich später hörte, waren in allen diesen Fahrzeugen die Dampfkessel zerstört, damit sie nicht von den Deutschen benutzt werden konnten.
»Comte de Smet de Naeyer« war der Name eines schönen belgischen Schulschiffes mit graublauem Rumpf, weißen Masten und feinem Takelwerk. Aber an Bord war nichts von Interesse. Ich stattete auch dem großen Australiendampfer »Tasmania« einen kurzen Besuch ab. In den Offizierskajüten waren alle Schubfächer ausgezogen und alle Wertsachen fortgenommen, nur Bücher, Papiere, Rechnungen und andere wertlose Dinge fanden sich noch vor. Aber auf einem Schreibtisch in der Kajüte des Kapitäns stand das Porträt einer Frau und die Photographie einer Gruppe blühender Kinder. Im Speisesaal stand ein gedeckter[S. 136] Tisch mit noch nicht geleerter silberner Kaffeekanne und Tassen, sowie einer fast leeren Zigarrenkiste. Alle Passagierkajüten waren leer und verlassen. Wir wanderten durch die langen Korridore, wo unsere Schritte hohl und laut widerhallten, und blieben zuweilen stehen, um zu lauschen, ob es unsere eigenen Schritte waren, die wir hörten, oder ob uns jemand nachging. Man konnte ja in diesen Zeiten alles mögliche annehmen. Vielleicht hielten sich Flüchtlinge an Bord verborgen. Wir riefen, aber unsere Stimmen verhallten in dem leeren Schiffsrumpf, und niemand antwortete. Wir sahen in die Mannschaftskajüten hinein, aber niemand schlief mehr in diesen Kojen, die sich so oft auf den Wogen des Ozeans geschaukelt hatten. Alles gleich still, gleich stumm und verlassen. Es konnte einem an Bord dieses Gespensterschiffs, dieses fliegenden Holländers mit einer Besatzung von unsichtbaren Geistern, die uns aus allen Winkeln und Ecken anstarrten, unheimlich zumute werden. —
Die Zeit zum Aufbruch nahte heran, und wir kehrten wieder nach Brüssel zurück. Weit waren wir nicht gekommen, als wir drei Reservebataillonen begegneten. An der Spitze marschierte ein Musikkorps, und jedem Bataillon wurde eine Fahne vorangetragen. Die Soldaten hatten ihre Gewehre mit Blumensträußchen geschmückt, und ihre Gesichter strahlten wie gewöhnlich von guter Laune.
Auch diesmal besichtigte ich ein Schloß am Wege. Nie werde ich die Eindrücke vergessen, die auf mich eindrangen, als ich durch die leeren, dämmerigen Zimmer wanderte. Im Schlaf- und Gastzimmer im ersten Stock standen die Betten unverändert, wie sie von den Besitzern und Gästen des Hauses verlassen worden. Decken und Laken waren beiseite geworfen, über die Stuhllehnen hingen nachlässig die Handtücher, die Waschschüsseln standen halbvoll von benutztem Wasser, und die Seifestücke lagen in ihren Schalen festgetrocknet. In dem großen prächtigen Speisesaal im Erdgeschoß war der Tisch noch gedeckt, auf einer Schüssel lag etwa die Hälfte des zuletzt servierten Gerichts, einer Eierspeise.[S. 137] Etwa zehn Personen hatten an dem Essen teilgenommen. Einige Teller waren leer, andere noch bedeckt mit Resten der Mahlzeit. Messer und Gabeln — Brotstücke — Gedecke — ein paar Champagnerflaschen waren geleert, eine dritte enthielt noch einen Rest des Weins, der nun seine schäumende Frische verloren hatte. Servietten auf dem Tisch — auf den Stuhllehnen — auf dem Boden — schnell und überstürzt waren die Gäste aufgebrochen, als der Kanonendonner näher kam oder vielleicht eine Granate in der Nachbarschaft einschlug. Vielleicht hatte auch ein Bote gemeldet, die äußeren Forts seien gefallen und die Deutschen marschierten geradeswegs auf Antwerpen los. Und wer waren die Gäste, die hier am Tisch gestört wurden? Die Familie des Hauses, oder Offiziere, die auf ihrem Rückzug eine Nacht in dem verlassenen Haus zugebracht hatten?
Auf dem Heimweg konnten wir nicht so schnell dahinrasen wie am Morgen. Die Straße wimmelte von Kolonnen und Lanzenreitern, sie sollten nach Antwerpen und von dort nach Gent. Fern aus dem Westen ertönte Kanonendonner. Die Deutschen ließen sich keine Ruhe. Das uneinnehmbare Antwerpen war im Lauf weniger Tage gefallen, und sofort zogen die Eroberer weiter nach Westen. Thalatta, Thalatta! Ans Meer! England hatte den Krieg haben wollen — es sollte ihn mehr als je seit Wellingtons Tagen satt bekommen!
Abends um 9 waren etwa dreißig Offiziere beim Feldmarschall zur Tafel. Dort sah ich Prinz Waldemar von Preußen wieder und Hauptmann Dreger und machte die Bekanntschaft des Stabschefs Oberstleutnants Scheerenberg, sowie des Generaloberarztes Dr. Stecho, der Schwedisch sprach und viele Freunde in Schweden hatte. Dann war Bierabend in den oberen Gemächern, zu dem sich auch der Kriegsminister von Falkenhayn einfand. Der alte gesprächige von der Goltz berichtete mancherlei[S. 138] über Antwerpens Fall und seine Vorgeschichte, und war unerschöpflich in Anekdoten und Episoden aus den letzten Tagen.
An einem der nächsten Abende traf ich dort noch mehrere interessante Gäste. Eine hohe Erscheinung von königlich aufrechter Haltung, trat Großadmiral von Tirpitz ins Zimmer, der sich neben dem Kaiser das größte Verdienst um das Zustandekommen der deutschen Flotte erworben hat. Hohe Stirn, fröhliche, offene Augen, blonder Vollbart, sichere, männliche Haltung, ein echter Germane. Es war eine Erquickung, sich mit ihm zu unterhalten. Für solche Männer gibt es keine Unmöglichkeiten und nicht die Spur von Unruhe über den Ausgang des Kriegs.
Direktor K. F. von Siemens, der Chef von Siemens & Halske, ist auch ein ungewöhnlich kraftvoller Germanentypus und von einer Gemütsart, in der Humor und Ernst eine angenehme Mischung bilden. Die deutschen Verluste schätzte er auf 250000 Mann, der großen Mehrzahl nach Leichtverwundete, die bereits an die Front zurückgekehrt seien oder bald zurückkehren würden und vor den neuen Ankömmlingen das voraus hätten, schon im Feuer gewesen zu sein und ihre persönlichen Erfahrungen gemacht zu haben. Es fand sich, daß wir einen gemeinsamen Freund besaßen, den liebenswürdigen Sir Walter Lawrence, seinerzeit Privatsekretär Lord Curzons, als dieser Vizekönig in Indien war. Vermutlich hatten wir ihn nun beide verloren, da dieser Krieg es fertig gebracht hat, auch die festesten Freundschaftsbande zu zerreißen.
Am Tisch saß auch der fünfundsiebzig Jahre alte Geheimrat Kreidel, der Chef der Armeeintendantur. Er hatte in der letzten Zeit infolge von Überanstrengung einige Schwindelanfälle gehabt und sollte nun zur Erholung nach Deutschland zurückkehren. Dann war auch der neue Gouverneur von Antwerpen da, General der Infanterie Freiherr von Hoyningen genannt Huene, den ich schon von Karlsruhe her kannte. Der Befestigungsgeneral Bailer, sanft und liebenswürdig wie ein Dozent der Ästhetik, gehörte zu meinen besonderen Freunden. Er war so glücklich, im Lauf des Tags seinen Sohn gesehen zu haben, der als Leutnant an der Westfront stand und von dem er lange[S. 139] nichts gehört hatte; Leutnant Bailer hatte die lange Reise hierhin auf dem Luftwege zurückgelegt und sollte nun wieder in seinem Aeroplan zurückkehren. Im übrigen sprachen wir von Gent, das gerade nach ziemlich heftigen Kämpfen in offener Feldschlacht gefallen war. Der General wollte dort die belgischen Feldbefestigungen studieren; die Stadt selbst ist unbefestigt. Von Gent sollte das deutsche Heer nun weiter nach Brügge und Ostende. Und schließlich sprachen wir von den 300000 Freiwilligen, die eben an die Front gekommen waren, wo die jungen Studenten mit ihren munteren Scherzen die älteren Landsturmleute erfreuten, die ihnen dafür mit ihren Erfahrungen an die Hand gingen.
Der Generalgouverneur gab mir die Erlaubnis, noch mehrere Male nach Antwerpen zu fahren und einige Tage dort zu bleiben. Für den 11. Oktober verabredete ich daher mit Dr. Hütten, der selbst unser Auto lenkte, den nächsten Besuch. Mir lag vor allem daran, einige Aufnahmen von dem malerischen Soldatenleben zu machen, das sich in den Straßen Antwerpens abspielte. Was könnte wohl für eine Kamera verlockender sein als die Grand' Place, der kleine, vornehme Platz am Rathaus und zwischen den Giebelfassaden der alten Häuser. Mitten auf dem Platz hat man vor nicht langer Zeit eine Bronzefigur aufgestellt, eine Darstellung des Märchens von dem Jungen, der die Hand des Riesen wirft: »Handwerfen« — »Antwerpen«. In einem Haus in der Nähe wurde einer der größten Maler aller Zeiten geboren, wie auf einer Tafel über der Haustür zu lesen ist: »Geboortehuis von Antoon van Dyck, Kunstschilder 1599–1641.« van Dycks Modelle und ihre Nachkommen sind verschwunden, nun bilden deutsche Soldaten die Staffage der Grand' Place, Marinesoldaten mit Tornistern auf dem Rücken, das Gewehr über der Schulter, die Patronentasche am Leibriemen, Bajonett und Beutel an der Seite. Ein Hund läuft treu neben einem von ihnen her — man sieht immer wieder deutsche Soldaten, die sich herrenloser[S. 140] Hunde angenommen haben. Dort sind einige Batterien von 6-cm-Schiffskanonen — die Bedienung selbst hat sich vorgespannt an Stelle von Pferden. Vor dem Rathaus rastet eine Kompagnie Infanterie; einige Soldaten machen auf dem Steinpflaster ihr Schläfchen und benutzen die Tornister als Kopfkissen. Da stehen Proviantkolonnen mit Zeltdächern über den Wagen und Heubündeln vor den Pferden, und die Marineradfahrer sitzen auf ihren lautlos rollenden Rädern. An einem Automobil stand der große Ingenieur Hauptmann Dreger und betrachtete eine Karte, die Leutnant Dr. Hütten ihm zeigte. Aber all diese Bilder wechselten in einem fort, ein ewiges Kommen und Gehen, Fahren und Autosausen, Getrappel von Pferdehufen und Gerumpel der Artilleriewagen, dazu der Gesang der Marinetruppen, wenn sie unter den Klängen der »Wacht am Rhein« über den Platz marschierten.
Weiter zur Fähre unterhalb der Kathedrale. Dort ist das Leben noch bunter; dort herrscht unentwirrbares Gedränge. Wir lassen das Auto unter der Aufsicht unseres Soldaten zurück und schieben uns selbst zwischen Pferden und Wagen vorwärts. Auf der Straße, die zur Fähre hinabführt, bewegen sich langsam doppelte Kolonnen. Ein donnernder Kommandoruf erschallt — sie stehen; dann bewegen sie sich wiederum und bleiben wieder stehen. Belgische Polizisten in schwarzen Röcken mit silbernen Knöpfen und schwarzen Helmen, flämisch sprechend, helfen bei der Ordnung des Verkehrs. Wohin sollen die Wagen und Mannschaften? Sie werden auf den Fähren über die Schelde nach Tête de Flandre gebracht, dort beginnt die Straße nach Gent. Sie sollen an die Küste und einen Blick nach England hinüberwerfen!
Mitunter ist es nicht möglich vorwärtszukommen. Alles ist so zusammengeschoben, daß ich kaum photographieren kann. Ich will eben eine Feldküche knipsen, als ein Ulan, der auf einem Bagagewagen sitzt, mir zuruft: »Nachbar, es ist verboten, die Feldküche zu photographieren.« »Schön«, antworte ich. Unnötig war es gewiß, da ich schon Bilder von ihr hatte. Der Titel »Nachbar« war nicht übel.
[S. 141] Am Kai an den Brücken, die mit Rücksicht auf den bedeutenden Niveauunterschied zwischen Ebbe und Flut gebaut sind, waren die Fähren in vollem Betrieb. Über drei Pontons war ein fester, rechteckiger mit Geländer versehener Boden gelegt. Ein Dampfer nahm zwei solche Fähren ins Schlepptau, und drei Dampfer waren nun dabei, auf sechs Fähren Proviant- und Munitionswagen, Feldküchen, Feldtelegraphen, Post, Lazarette, Pferde und Soldaten hinüberzufahren. Unter den Soldaten waren auch österreichische Artilleristen, die zu den 30,5-cm-Kanonen gehörten.
»Vorwärts!« kommandiert ein Offizier am Kai. Eine Reihe Wagen fährt vor, die Pferde werden abgespannt, die Wagen von Marinesoldaten an Bord geschoben, die Pferde dann auf die Landungsbretter geführt; sie stampfen, prusten, bäumen sich zuweilen und scheuen vor dem entsetzlichen Untier von Fahrzeug. Aber an Bord müssen sie, und sobald beide Fähren voll sind, legt der Dampfer los und bugsiert sie im Handumdrehen über die Schelde nach Tête de Flandre. Dort werden die Landungsbretter ausgeworfen, die Wagen ans Land geschoben, die Pferde vorgespannt, und die Kolonnen setzen ihre Fahrt nach Gent fort.
Sobald die Ladung den Kai verlassen hatte, legte ein anderer Dampfer mit seinen zwei Pontonfähren an derselben Stelle an und nahm ein neues Kontingent an Bord. So ging das den ganzen Tag hin und her und sollte es die ganze Nacht hindurch beim Schein der elektrischen Lampen weitergehen! Und den ganzen nächsten Tag ebenso, solange noch Kolonnen über die Schelde zu befördern waren, immer mit der gleichen Schnelligkeit, Ordnung und Disziplin, die das deutsche Heer bei all seinem Tun und Lassen bis in die kleinste Einzelheit auszeichnet.
Die Fähren kehren von Tête de Flandre nicht leer zurück, denn dort haben sich unübersehbare Scharen zurückkehrender Flüchtlinge angesammelt, Männer, Frauen und Kinder mit Korbwagen, Zweirädern und kleinen Karren und mit allerhand Bündeln und Paketen, eine bunte Schar von Zivilisten, ähnlich einem Zug Auswanderer. Die meisten sind Flämen. Auch unter ihnen herrscht[S. 142] bemerkenswerte Ordnung. Sie trotzen nicht, sie schreien nicht, sie drängen sich nicht vor, um auf den Fähren Platz zu bekommen, sondern warten ruhig, bis die Soldaten ihnen den Weg zeigen. Zwischen Militär und Zivilisten herrschte das beste Einvernehmen, und man sah sie unter Scherzen und Lachen alles aufbieten, um sich in den verschiedenen Sprachen, Deutsch, Flämisch, Französisch durcheinander, verständlich zu machen.
Der 12. Oktober war ein strahlend schöner Tag. Die Chaussee de Louvain führte, schön gepflastert, durch dichten Buchenwald, wo kaum ein Sonnenstrahl bis zum Boden durchdrang. Man sieht in dieser Gegend keine deutschen Soldaten, es ist, als wäre nichts anderes geschehen, als daß der Herbst über dieses unglückliche Land hereingebrochen ist. Hier fahren keine Kolonnen. Die Wagen, die die Straße benutzen, sind bürgerliche Lastfuhrwerke. Die Equipagen der vornehmen Welt aber sind verschwunden, seit ihre Besitzer nach andern Ländern aufgebrochen sind.
Achtzehn Kilometer bis Löwen. Innerhalb der Stadt fährt man ein gutes Stück, bis man die ersten Ruinen erreicht. Ganz Löwen ist keineswegs zusammengeschossen, wie man sich vorgestellt hat. Kaum ein Fünftel der Stadt ist zerstört. Zwar kommen auf dieses Fünftel mehrere kostbare und unersetzliche Bauten; besonders beklagenswert ist der Verlust der Bibliothek. Inmitten dieser Verwüstung erhebt sich aber wie ein Fels im Meer das Rathaus, das stolze Kleinod aus der Zeit von 1450 mit seinen sechs schlanken Türmen in durchbrochener Arbeit. Ich ging um das Rathaus herum und konnte mit dem besten Willen keine Schramme in diesen mit verschwenderischem Reichtum geschmückten Mauern entdecken. Vielleicht findet sich irgendwo eine Ritze von einem Granatsplitter, die meiner Aufmerksamkeit entgangen ist. Dank der Treffsicherheit der deutschen Artillerie ist auch nicht ein Gesims der sechs Türme beschädigt. Der Anlaß zum Bombardement von Löwen ist bekannt. Beim Einzug in die Stadt wurden die[S. 143] deutschen Truppen von der Zivilbevölkerung aus den Fenstern beschossen, und da das Verbrechen nicht auf andere Weise bestraft werden konnte, wurden die Häuser in Brand geschossen. Als dann deutsche Soldaten das Feuer in den dem Rathaus benachbarten Häusern zu löschen suchten, lauerten ihnen die Franktireurs wieder mit ihren Büchsen auf! Jede andere Armee der Welt hätte ebenso gehandelt, und die Deutschen haben es selber tief beklagt, daß sie gegen ihren Willen gezwungen wurden, zu solchen Mitteln zu greifen.
Von Löwen fuhr ich nach Mecheln, eine lange Strecke den Kanal entlang, der die beiden Städte vereint und wo man plötzlich die Masten von Schuten zwischen den Bäumen der Parks und Alleen hervorlugen sieht. Nach Mecheln kamen wir gerade zu der Beerdigung eines Marinesoldaten, der auf seinem Posten gefallen war. Der Tote wurde auf einem belgischen Leichenwagen zu Grabe gefahren, hinterdrein gingen etwa hundert Soldaten aus der Armee und Flotte. Nach Hinabsenkung der Leiche wurden drei Gewehrsalven abgegeben und das Grab zugeschüttet. Auf dem kleinen Kirchhof waren viele deutsche, mit Kränzen und Helmen geschmückte Gräber und zwei Massengräber.
Ein trüber Tag, der 16. Oktober! Kein Zipfel zu sehen von der deutschen Reichsflagge, die schon eine ganze Woche vom Turm der Kathedrale Antwerpens, hundertdreiundzwanzig Meter über der Erde, herabwehte. An dem Eingang nach der Place Verte zu stand ein älterer Portier mit unbeschreiblich strenger Amtsmiene. Er würdigte mich kaum eines Blicks, als ich in höflichstem Ton fragte, ob die Kathedrale offen sei. »Die Kathedrale ist offen,« antwortete er, »aber nur für deutsches Militär.« Schön, mein Alter, dachte ich und zog meinen »Sesam, öffne dich« heraus, den Ausweis General Moltkes. Der Portier las das Papier und bekam von Zeile zu Zeile ein immer längeres Gesicht. Als er zu Ende war, nahm er seine Mütze ab und sagte: »Ist es wirklich wahr, da[S. 144] kann ich ja dem Herrn Doktor sagen, daß ich Schwede bin, geboren in Wisby, seit dreißig Jahren ansässig in Antwerpen, und Dahlgren heiße.«
Genug, die Kathedrale stand auch für mich offen, und der ehrenwerte Dahlgren führte mich umher. Nur eine einzige Granate oder besser ein einziger Granatsplitter ist in die Mauer unter dem großen Fenster über dem Eingang an der Place Verte eingeschlagen. Der Schaden ist nicht der Rede wert, er kann in einem Tag ausgebessert werden. Wäre aber diese Granate bösartig gewesen, und hätten Rubens' berühmte Gemälde, die Kreuzigung und die Kreuzabnahme, an ihren früheren Plätzen im Kreuzgang gehangen, dann hätten sie in großer Gefahr geschwebt. Man hatte sie indes vor dem Bombardement in Sicherheit gebracht, wie alle andern kostbaren Gemälde und Kunstschätze Antwerpens. Und die einzige Spur, die die Granate im Innern der Kirche hinterlassen hat, ist ein Riß in einer Säule.
Inmitten des nördlichsten Seitenschiffs steht auf einer Bahre ein Bild der heiligen Jungfrau, die prächtige bis auf die Füße reichende Kleider und eine goldene Krone trägt. Am Sonntag nach dem 15. August wird sie alljährlich in Prozession durch die Stadt getragen. Heuer aber, wo ihre Hilfe so sehr not tat, begnügte man sich damit, lange Opferlichte vor der himmlischen Königin anzuzünden. Und dieses Jahr blieb sie allen Bitten taub! Und dabei zeigt die Glasmalerei eines Fensters, wie Karl V. diesem Marienbild die Schlüssel Antwerpens übergibt. Die Schlüssel Antwerpens! Die »schwarze« Marie hatte sie jetzt im Besitz, nicht ihre weiße Namensschwester!
Die Kanzel ist von van der Voort aus kernigem Eichenholz geschnitzt. Sie ist zweihundert Jahre alt, aber die Eichen waren vielleicht fünfhundertjährig, als sie ihr Holz der Verkündigung von Gottes Wort opferten. Die vier Frauengestalten, die die Kanzel selber tragen, sind bemerkenswert; sie stellen die vier Weltteile dar — Australien war damals nur mangelhaft bekannt. Drei Figuren erhalten genügend Licht, aber die mit den dicken Lippen[S. 145] und der platten Nase, das dunkle Afrika, der Weltteil der Schwarzen, steht in tiefem Schatten. Vier Kontinente tragen den Platz, von dem den Menschenkindern Gottes ewige Liebe gepredigt wird — ein schöner Gedanke des Künstlers. Er glaubte wahrscheinlich, die Welt werde in den kommenden Jahrhunderten vorwärtsschreiten. Nun aber verkünden fünf Weltteile das Evangelium des Kriegs und des Hasses! Die beiden Westmächte der Entente tragen die Verantwortung für den großen Totentanz. Denn sie kämpfen mit Massen zusammengeraffter Völker. Da kommen Kanadier auf ihren Schiffen aus Amerika, Turkos und Senegalneger aus Afrika; sonnverbrannte Hindus und Gurkhas aus Indien liegen frierend in den Schützengräben, und die Antipoden Australiens und Neuseelands senden Hilfstruppen. Und das Ziel dieses Weltaufgebots? Die germanische Kultur soll vom Erdboden vertilgt werden! Die Träger dieser Kultur, das Volk Luthers, Goethes, Beethovens, Helmholtz' und Röntgens, werden Barbaren und Hunnen genannt und sind eine Gefahr für die Zukunft und Zivilisation der weißen Rasse! Gurkhas und Senegalneger mußten ja wohl kommen, uns vor der Verfinsterung zu bewahren! Der Künstler, der einst die Stirn hat, das Völkeraufgebot von 1914 zu verherrlichen, sollte nicht vergessen, daß er in van der Voorts Frauengestalt mit den dicken Lippen und der platten Nase ein dankbares Motiv vorfindet.
Während meines Aufenthaltes in Antwerpen erhielten wir fast täglich Nachrichten über das schnelle Tempo, in dem die Deutschen sich dem Meere näherten. »Gent ist genommen — Brügge genommen — unsere Truppen sind in Ostende eingerückt.« Bei meiner Rückkehr nach Brüssel sah es jedoch so aus, als ob die Verbündeten alles daran setzten, die deutschen Truppen wieder aus Ostende zu vertreiben, und ein Gerücht war im Umlauf, die Engländer bombardierten die Stadt.
[S. 146] Begleitet von dem liebenswürdigen Konsul Petri reiste ich am 20. Oktober mit besonderer Erlaubnis des Generalgouverneurs nach Ostende ab. Es war trübes Wetter, Regen, und schwere, schwarze Wolken hingen über dem flachen Lande.
In Gent, das völlig unbeschädigt war, übernachteten wir. Die Stadt hatte ihr gewöhnliches Aussehen, die Straßenbahnen waren in Betrieb, alle Geschäfte offen und viele Menschen unterwegs trotz des schlimmen Wetters; nur die zahlreichen deutschen Uniformen verrieten, was geschehen war.
Durch das berühmte, altertümliche Brügge mit seinen malerischen Häusern und Brücken und seinen gewaltigen Stadttoren mit den runden Türmen fuhren wir am folgenden Tag ohne Aufenthalt durch. Hinter dem Dorfe Ghistelles hielt uns an einem Kreuzweg ein Posten an, und als wir haltmachten, hörten wir in der Nähe wahnsinnigen Kanonendonner.
Der Soldat berichtete, in Middelkerke stehe ein harter Artilleriekampf, und die Deutschen hätten ihre Stellungen diesseits des langen Kanals, der Ostende mit Nieuport und Dünkirchen verbindet. Ein Geschwader von englischen Kriegsschiffen liege vor der Küste und beschieße die deutschen Stellungen, die auch von der Landseite von belgischen und französischen Truppen angegriffen würden. Aber die Straße nach Ostende, die erst nach Nordwesten und dann nach Nordnordost geht, sei ziemlich sicher. Der gefährlichste Punkt sei die Biegung jenseits des Kanals, wo der Weg seine Richtung ändert. Von Ostende kamen Munitionskolonnen, die an die Front bei Middelkerke gingen, und von der Front kamen Kolonnen mit verwundeten Soldaten, die auf dem Wege nach Ostende waren.
Wohlbehalten fuhren wir an der gefährlichen Ecke vorüber, und dann in die schöne, vornehme Stadt am Meer, die von Baedeker das Zeugnis erhält: »Ostende ist vielleicht zurzeit das eleganteste Meerbad Europas.« Wir bogen in die Strandstraße ein, wo eine endlose Reihe großer Hotels auf das Meer hinaussieht. Die meisten sind nur während der Saison geöffnet, die[S. 147] am 15. September schließt. Die Stadt wird da von 45000 Badegästen besucht! Aber Ostende ist auch Überfahrtsstelle zwischen dem Festland und England, und dieser Verkehr hält das ganze Jahr über an. Für Reisende, die Sturm oder Ermüdung aufhält, gibt es einfachere Hotels, aber die liegen in der Stadt.
Es war 2 Uhr. Ich war niemals in Ostende gewesen und kannte keinen von den deutschen Offizieren. Aber ich hatte meine Papiere und mußte mich bei dem Kommandanten im Hotel Littoral an der Strandstraße melden.
Das graue, düstere Meer bot einen höchst eigentümlichen Anblick, wenn man die Augen nach Westen richtete. Der Regen hatte aufgehört, die Luft sich geklärt, aber der Himmel war noch wolkenbedeckt. Genau im Westen, neun oder zehn Kilometer entfernt, erkannte man scharf und deutlich die Umrisse von dreizehn englischen Kriegsschiffen; einige von ihnen waren Kreuzer, die übrigen große Torpedoboote älterer Jahrgänge. Sie beschossen die deutschen Stellungen an der belgischen Küste und wurden selber beschossen. In einemfort änderten sie ihren Platz, um der deutschen Treffsicherheit entgegenzuarbeiten, blieben aber doch in derselben Entfernung, und ihre schwarzen Rümpfe hoben sich imponierend von dem hellen Horizont ab. Aus ihren Schornsteinen stiegen schwarze Steinkohlenrauchsäulen schräg nach links mit dem Wind, so daß der Himmel wie gestreift aussah.
Ich besuchte den Kommandanten von Ostende, Kapitän zur See Tägert. Er wohnte im zweiten Stock des Hotels Littoral. Von seinem Balkon aus beobachteten wir wieder die englischen Schiffe. Er erzählte, er und seine Kameraden von der Marine seien am selben Tag, dem 21. Oktober, morgens nach Ostende gekommen. Sie hatten sich ins Hotel Majestic begeben, das für das beste in der Stadt galt. Der Hotelwirt erklärte aber, er habe kein Zimmer frei, eine Unwahrheit, denn die Saison war längst vorüber. Vielleicht gab der Name des Hotels die Erklärung dafür, daß keine Zimmer frei waren — für deutsche Offiziere. Anstatt sich ihres Rechtes zu bedienen, durch einen[S. 148] Machtspruch Zimmer zu verlangen, gingen die Deutschen ganz bescheiden ins Hotel Littoral, das ihnen bis unters Dach zur Verfügung gestellt wurde. Später zeigte sich, daß der Tausch für sie ein Glück wurde. Die Landoffiziere waren weniger nachgiebig gewesen und hatten sich ohne weiteres im Hotel Majestic eingerichtet, wo Küche und Bedienung bald in vollem Gange waren.
Kapitän zur See Tägert, ein vornehmer, gewissenhafter Mann, gab Befehl, mir das letzte freie Zimmer zur Verfügung zu stellen. Ich nahm es sofort in Besitz. Vom Korridor des zweiten Stocks kam man in die Zimmer, die nach dem Meere zu lagen, und deren Türen die Namen der Marineoffiziere trugen. Die Glastüren nach außen führten auf einen Balkon mit bequemen Korbstühlen; von dort hatte man freie Aussicht übers Meer, auf das englische Geschwader und seine kriegerischen Unternehmungen.
Von meinem herrlichen Aussichtspunkt aus genoß ich einen ungewöhnlich prachtvollen Sonnenuntergang. Im Westen glühte die Sonne in einem eigentümlich hellen Ton mit einem Stich ins Gelbe. Die Wolken in ihrer Nähe waren mit goldgelben Rändern geschmückt, und der Widerschein glänzte auf dem Meere. Im übrigen war der ganze Himmel mit Wolken bedeckt, und ab und zu ging obendrein ein feiner Staubregen nieder, aber die Fensterscheiben nach der Strandpromenade glühten, als ob es in den Häusern brenne. Gerade dort, wo der blendende Sonnenglanz das Meer vergoldet, liegt das englische Geschwader. Den ganzen Tag hat es auf die deutschen Stellungen geschossen, ich sehe die Blitze der englischen Schiffskanonen und höre nach einer Weile das Donnern des Schusses. Jetzt, 5 Uhr 20 nach deutscher Zeit, donnerten die Kanonen so heftig und rasch hintereinander, daß die Fenster des Kursaals rasselten und klirrten. Eine halbe Stunde später hörte das Feuer auf. Man glaubte, das Geschwader gehe nach Norden, um Munition zu holen. Das Gold über dem Meer verblich, die Dämmerung fiel herein, und ein paar Bojen mit Blinklicht wurden sichtbar.
[S. 149] Im Lauf des Tages hatten sich viele Zivilisten gezeigt, gegen Abend aber verschwanden sie. Niemand durfte nach 9 oder früh vor 5 Uhr ausgehen. Die Straßen wurden nicht erleuchtet, aber viele Geschäfte hatten Licht bis 9 Uhr. An der Strandpromenade brannte nicht eine einzige Laterne, hier wanderte man in der Dunkelheit unter deutschen Soldaten. Von vielen Fenstern aber strahlte Licht aufs Meer hinaus, das galt nicht als gefährlich, da die feindlichen Schiffe auf alle Fälle genau orientiert waren. Man glaubte jedoch nicht, daß die Engländer Ostende beschießen würden, da hundert gefallene Deutsche oder mehr und die Räumung des Platzes nicht den Verlust vieler Millionen englischen Kapitals aufwiegen würden, das in der Stadt angelegt sein soll!
Ich wurde aufgefordert, mich dem Kreis der deutschen Marineoffiziere mittags und abends im Hotel Littoral anzuschließen. Als wir uns nun um 8 Uhr zum erstenmal im Speisesaal versammelten, wurde ich mit ihnen allen bekannt gemacht. Meine speziellen Freunde wurden außer dem Chef Kapitänleutnant Beß, Leutnant Haak, Stabsarzt Dr. Schönfelder und Dr. Kübler. Wir hielten die folgenden Tage gut zusammen und werden unsere gemeinsamen Erlebnisse in Ostende wohl niemals vergessen.
Freitag den 23. Oktober weckte mich Dr. Kübler, um mir eine Promenade zum Leuchtturm und dem alten Fort vorzuschlagen. Zurück fuhren wir mit der elektrischen Bahn. Im Wagen saßen Soldaten und Zivilisten. Unter jenen war ein alter Landsturmmann, der erzählte, er habe drei Söhne im Krieg, aber er habe keine Ahnung, wo sie ständen und ob sie noch lebten. »Sie mögen immerhin fallen,« sagte er, »fürs Vaterland opfert man alles.«
Auf die Strandpromenade zurückgekehrt, setzten wir uns auf eine Bank am Kursaal und betrachteten das englische Geschwader durchs Fernrohr. Die Luft war ungewöhnlich klar, das Wetter strahlend.
[S. 150] Kurz vor ½1 Uhr suchte mich Kapitänleutnant Beß auf. Er war eben mit Admiral von Schröder von Middelkerke zurückgekehrt und erzählte, die Straße, auf der wir gestern laubgeschmückte Wagen gesehen hatten, sei jetzt alles andere als sicher, da ein paar Granaten dort eingeschlagen hätten. Auf der Strandpromenade durfte sich jetzt das Militär nicht mehr zeigen; Beß riet mir daher ab, Middelkerke einen Besuch abzustatten; vielmehr hatte er einen andern, weniger gefährlichen Vorschlag, nämlich ein paar seiner Seekompagnien und ihre Quartiere zu besichtigen.
Anderthalb Kompagnien waren im Theater einquartiert. Davor standen sogenannte Schiffskanonen, kleine, leichte Geschütze von derselben grauen Farbe, wie sie die Panzerschiffe haben, und von 6-cm-Kaliber. Die zugehörigen Munitionswagen standen auf dem Fußsteig. Wir betraten das große, schöne Foyer. An den Wänden entlang hatte die Mannschaft ihre Betten aufgestellt, Matratzen und Kissen, die der Bürgermeister von Ostende hatte requirieren müssen. Auf den Stühlen sah man Waffen und Kleider, auf den Tischen Schüsseln und Tassen. Die Logen des ersten Ranges waren gleichfalls in Schlafplätze und Aufbewahrungsräume für Kriegsmaterial verwandelt. Den ganzen Rundgang nahmen Betten ein. In einigen Logen putzten Marinesoldaten ihre Gewehre oder brachten Kleider und Leibriemen in Ordnung.
Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, der Küche im Theater einen Besuch abzustatten. Hier hantierten dicke, joviale Marineköche in weißen Anzügen und Mützen mit aufgestreiften Ärmeln. Die Kessel brodelten, und appetitreizende Dämpfe erfüllten den Raum. Ich mußte natürlich die Gerichte kosten und erhielt eine riesige Portion Gulasch in einem tiefen Teller vorgesetzt, gekochtes Fleisch, Kartoffeln, Gemüse und Brühe — vortrefflich! So gutes Essen bekomme ich nicht im Hotel, dachte ich, und aß mich satt. Kein Wunder bei solcher Kost, wenn die deutschen Soldaten so stark, frisch und blühend sind! Läge ich längere Zeit im Felde und hätte zwischen Offiziers- und Mannschaftskost zu wählen, ich würde ohne Zaudern die letztere wählen![S. 151] Sie ist gesund, kräftig und wohlschmeckend und verschont den Magen der Leute mit allem unnötigen Ballast. Der gute Gesundheitszustand in der deutschen Armee beruht zum großen Teil auf der ausgezeichneten und reichlichen Verpflegung.
Aber nun fehlten nur noch fünf Minuten an 1 Uhr, und wir mußten beim Mittagstisch der Offiziere pünktlich sein. Wir gingen durch die Rue du Cerf. An der Ecke dieser Straße und der Digue de Mer, der großen Strandstraße am Meer, ist das Hotel Littoral. Die Rue du Cerf liegt einige Meter tiefer als die Strandstraße, die auf der Dünenreihe an der Küste angelegt ist. Ihr Ende steigt zu der großen Strandstraße hinan. Oben an der Ecke des Littoral stand eine Gruppe Offiziere in lebhafter Unterhaltung. Sie zeigten nach Westen und benutzten eifrig ihre Fernrohre. Wir gingen zu ihnen, neugierig, was wohl los wäre. Das englische Geschwader lag auf seinem gewöhnlichen Platz im Westen und Westsüdwest, vielleicht uns etwas näher als sonst, sieben oder acht Kilometer entfernt.
Aber ein Torpedoboot hatte sich von den andern getrennt und fuhr in voller Fahrt auf Ostende zu, parallel mit der Küste und dem Lande so nahe wie möglich. Bald darauf sah man ein anderes Torpedoboot im Kielwasser des ersten steuern. Was wollten sie, diese Gauner? Man hörte derbe Worte. »Es ist doch stark, einem so direkt auf den Leib zu rücken! Offenbar sind sie auf Kundschaft aus, aber welche Frechheit, sie wissen doch, daß wir Ostende besetzt haben. — Aha, sie vermuten Unterseeboote und Torpedoboote im innern Hafen und wollen nun sehen, ob man etwas draußen von der Reede erkennen kann.«
Nun, ihre Absicht mochte sein was sie wollte, ich ging in mein Zimmer hinauf und machte mich zum Essen fertig. Dann trat ich auf meinen Balkon hinaus, überzeugt, die Torpedoboote seien umgekehrt oder wieder aufs Meer hinausgefahren. Aber nein, sie steuerten noch denselben Kurs wie bisher und der Schaum stand an ihren Vordersteven!
Unten vor meinem Balkon hörte ich einen Offizier mit[S. 152] Stentorstimme kommandieren, die Straße solle geräumt werden, kein Mensch dürfe sich vor der langen Häuserreihe blicken lassen. Nur die Wache vor dem Littoral durfte auf ihrem Posten bleiben, bis auch sie eine Minute später Deckung suchte.
Da nahm ich mein Fernrohr und eilte die Treppen hinunter. In dem eleganten, teppichbelegten Vestibül des Hotels, wo Sofas, Tische und Stühle zwischen riesigen Topfpflanzen kleine Gruppen bildeten, gingen Offiziere eilig hin und her, und man erkannte leicht, daß etwas Außergewöhnliches bevorstand. »Wird man schießen?« fragte ich Beß. »Ja, es wird geschossen«, antwortete er mit stoischer Ruhe. Durch die Glastüren des Vestibüls konnte man beobachten, was sich an der Mündung der Rue du Cerf zutrug: dort kommandierte Admiral von Schröder, dort sah man Kapitän zur See Tägert, und dort rollte die Mannschaft der Matrosenbrigade mit fieberhafter Hast die zwei 6-cm-Schiffskanonen heran und ihre Munitionswagen — andere Artillerie war zurzeit in der Stadt nicht zur Hand.
Die Straße war von Zivilisten geräumt, und kein anderes Militär als Bedienung und Leitung der Batterie hielt sich dort auf. Ich durfte daher nicht ausgehen, konnte aber doch beobachten, wie schnell und genau die beiden Kanonen gerichtet und wie sie geladen wurden: »Laden! — Fertig! — Feuer!«
Der erste Schuß erdröhnte! Das Echo hallte in der Straßenmündung wider, und die Fensterscheiben des Hotels klirrten in ihren Rahmen. Ich ging in den Speisesaal. Von dort war freie Aussicht über das Meer und auf das erste Torpedoboot. Einen Augenblick später folgte der zweite Schuß. Der erste schlug unmittelbar vor dem Torpedoboot ins Wasser ein, ohne daß sich entscheiden ließ, ob er Schaden angerichtet hatte. Auch der zweite Schuß ging ganz in der Nähe des Ziels nieder.
Im Speisesaal waren mehrere Offiziere. Ich stand zusammen mit dem Leutnant des ersten Reserve-Seebataillons Dr. Algermissen aus Colmar. Acht Fenster des großen Saals gehen aufs Meer hinaus, zwei und der Eingang auf die Rue du Cerf. An[S. 153] den ersteren stehen gedeckte kleine Tische, im östlichen Teil des Saals der große Tisch, an dem wir unsere Mahlzeiten einzunehmen pflegten. Die Decke wird von vier Pfeilern getragen. An dem zweiten von Westen standen Algermissen und ich.
Sofort als die beiden deutschen Schüsse abgefeuert waren, machten beide Torpedoboote kehrt, und im selben Augenblick begannen sie zu feuern. Es blitzte aus den Schiffskanonen, wie es schien, direkt auf uns zu. »Deckung!« rief Algermissen mir zu, und ich stellte mich hinter die Säule, die wie Papier fortgeflogen wäre, wenn sie eine 10-cm-Granate getroffen hätte! Einige im Saal folgten unserm Beispiel, andere aber verschmähten kaltblütig diese Vorsichtsmaßregel, die sie wohl für ungenügend hielten. Das erste Torpedoboot war etwa 1400 Meter entfernt, die Geschosse kamen also schnell genug ans Ziel. Die ersten flogen zu kurz, schlugen gerade vor dem Littoral ins Wasser, und hohe, weiße Wassersäulen stiegen von der Einschlagstelle auf. Sobald sie eingeschlagen haben, richten wir unsere Fernrohre auf das Torpedoboot, es blitzt wieder, und wir suchen Schutz, doch bloß für den Körper, nicht für den Kopf, denn man kann seine Augen von einem solchen Schauspiel nicht abwenden, man will, man muß es um jeden Preis sehen! Vergeblich aber wäre es, die Spannung zu schildern, in der man sich befindet in der Zeit zwischen dem Aufblitzen der Kanonen und dem Einschlagen der Geschosse. Wenn man fühlt und weiß, daß man selbst das Ziel des »Mantelsacks« ist, der angeflogen kommt! Es ist das keine Furcht, denn wenn mich jemand gebeten hätte, ihn an eine sichere Stelle im Innern der Stadt zu begleiten, ich wäre nicht mitgegangen. Es ist eine Mischung von atemloser Spannung, intensivem Interesse und einer Aufmerksamkeit, die sich nichts von dem entgehen lassen will, was vor sich geht. Deshalb hält man ununterbrochen das Fernrohr bald auf das Boot, bald auf die Einschlagstelle gerichtet. Ein Geschoß prallte von der Wasserfläche ab und schlug in ein Dachgesims, 58 Schritte von mir entfernt, wie ich später feststellte. Ein anderes beschrieb eine[S. 154] höchst merkwürdige Bahn, ich weiß nicht wie, landete aber schließlich auf der Steinpromenade am Meer und blieb an dem eisernen Geländer liegen, ohne zu krepieren. Dort lag es noch ein paar Tage, und die Wache paßte auf, daß niemand das gefährliche Ding berührte. Ein paarmal konnte ich sehen und hören, wie die Granaten aufs Wasser schlugen, abprallten, wie flache Steine über das Wasser tanzten und in die Kaimauer einschlugen. Erst der Blitz aus der englischen Kanone — dann das Einschlagen aufs Wasser — dann der Knall; bald darauf das Krachen, wenn eine Fassade getroffen war, dann das Poltern der Ziegel oder Mauerteile auf die Straße.
Das zweite Torpedoboot, das ich von meinem Platz aus nicht sehen konnte, schoß ebenso munter wie das erste. Da ich nicht sehen konnte, wann es schoß, war der Schutz, den mir der Pfeiler bot, erst recht illusorisch. Die beiden deutschen Kanonen gaben jede fünf oder sechs Schüsse ab. Ob sie Schaden anrichteten, weiß ich nicht. Alles ging zu schnell, als daß völlige Treffsicherheit hätte erreicht werden können. An der abschüssigen Straßenmündung liefen die Kanonen zu stark zurück und mußten bei jedem Schuß von neuem vorgerückt werden. Das Ganze war in zwölf Minuten vorüber. Die Boote machten fast kehrt und fuhren schleunigst nach Westen zurück, fortwährend feuernd. Sie gaben etwa dreißig Schuß ab, wie mir die deutschen Offiziere sagten. Gleichzeitig schossen sie mit Maschinengewehren. Aber der Abstand nahm zu, und schließlich hörte das Feuer auf.
»Wie kommt es, daß nicht ein einziger Schuß unser Hotel getroffen hat?« fragte ich. »Die Engländer müssen doch gesehen haben, daß die Quelle des deutschen Feuers gerade unsere Straßenecke war, und daß die Bedienung der Kanonen die einzigen lebenden Wesen auf der ganzen Strandstraße bildete.«
»Das scheint uns so, aber bei der schnellen Bewegung der Boote konnten sie wohl kaum entscheiden, woher das Feuer kam. Vielleicht hatten sie ihre Aufmerksamkeit auf den Hafen gerichtet in dem Glauben, daß wir dort Torpedoboote liegen hätten. Mehrere Schüsse gingen auch auf den Hafen.«
[S. 155] »Merkwürdig,« warf ein anderer ein, »daß mehrere Schüsse das Hotel Majestic getroffen und dort ein paar Offiziere getötet haben. Majestic ist ein großes, weißes Prachtgebäude, wo die Engländer vermutlich einen guten Fang zu tun glaubten.«
»Es ist sehr bezeichnend,« fügte ein dritter hinzu, »daß sie uns mit ihrem Besuch gerade um 1 Uhr beehrt haben, wo sie wußten, daß alle Offiziere bei Tisch saßen. Offenbar haben sie gedacht, sie könnten ungehindert vorüberkommen und nach ausgeführter Erkundung wieder verschwinden, ehe wir fertig wurden.«
Als alles ruhig war, setzten wir uns zu Tisch, und dann begaben Beß, Kübler und ich uns nach dem Hotel Majestic.
Im Baedeker von 1910 kommt Hotel Majestic unter dem Namen Grand Hôtel des Bains vor. Seitdem hat es seinen Namen und wahrscheinlich auch den Besitzer gewechselt. Seine schöne, weiße Fassade war von sechs Granaten, deren Einschlagstellen wir betrachteten, übel mitgenommen. Sie hatten große, klaffende Löcher in die Mauern gerissen; auf dem Fußsteig davor Haufen von Steinen, Ziegeln und Bewurf, und ein dekorativer Gipsengel mit ausgebreiteten Flügeln lag in Scherben am Boden.
Im Vestibül lagen Schränke, Tische und Stühle durcheinander. Der Speisesaal war vor einer Stunde noch einer der elegantesten von Europa gewesen: der Fußboden mit dicken, roten Brüsseler Teppichen belegt, die Wände in Weiß und Gold und mit Spiegeln dekoriert, an der Decke prachtvolle Kronleuchter — jetzt alles ein Bild grauenhafter Verwüstung! Zwei Granaten hatten gerade in den unteren Teil der langen Fensterreihe eingeschlagen, und ihre Splitter hatten klaffende Löcher in Wände und Decke gerissen. Die Gipsornamente waren heruntergefallen und lagen in Trümmern, und der Teppich verschwand fast unter ihrem dicken weißen Staub. Die Fenster waren zu Pulver zermalmt, und die Spiegelscheiben in merkwürdige Sternfiguren zersprungen, deren Scherben bei der geringsten Berührung herabzufallen drohten. Tische und Stühle in Trümmern, die Tischtücher in Fetzen. Nur an den Ecken des Saals, besonders den westlichen, standen die Tische noch auf den[S. 156] Beinen, aber Teller und Gläser waren zerschlagen. Füße von Rotwein- und Champagnergläsern standen noch da, die oberen Teile waren abgeschlagen.
Bei Beginn der Beschießung waren etwa fünfzig Offiziere zum Essen versammelt gewesen; an einigen Tischen hatte man schon zu essen begonnen. Die meisten hatten in der Westhälfte des Saals gesessen und waren deshalb auf wunderbare Weise gerettet worden. An einem Fenstertisch in der Osthälfte aber hatte der Marinearzt Dr. Lippe und ein Adjutant der Matrosenbrigade Platz genommen und bereits zu dinieren angefangen. Durch den unteren Teil gerade dieses Fensters hatte eine Granate ihren Weg genommen. Nach den ersten Treffern hatten sich die beiden Herren wahrscheinlich zu sehr ausgesetzt gefühlt. Dr. Lippe war deshalb aufgestanden, aber nur bis an das andere Ende des Tisches gekommen, als eine Granate hereinsauste und ihn mitten in den Rücken traf. Er wurde vollständig zerrissen! Was von ihm noch übrig war, lag vornüber, der Kopf auf den Armen, in einer Blutlache. Von der Uniform nur noch Fetzen, ein Stück des einen Beines fand man unter einem Tisch auf der andern Seite des Saals, alles übrige klebte in Form von Blutflecken und Eingeweiden an Wänden, Decke und Tischtüchern ringsum. Dr. Schönfelder, der sofort herbeigeeilt war, konnte nur die Überreste seines Kameraden in einem Tischtuch sammeln und in ein Leichenhaus bringen lassen. Der Adjutant hatte eine schwere Kopfwunde erhalten und wurde ins nächste Krankenhaus getragen.
Ein prächtiger Landsturmmann, der sich mit seinem jungen Sohn im Saal aufgehalten hatte, erzählte mir, alle andern Mittagsgäste seien mit dem Leben davongekommen, die meisten aber infolge des Luftdrucks bewußtlos zu Boden gestürzt, einige auch durch herumfliegende Splitter leicht verwundet. Die Betäubten erholten sich aber bald wieder.
Das Schicksal ist unergründlich. Weshalb mußte gerade er, der die Gefahr erkannte und einen sichereren Platz aufsuchen wollte, vom Tode erreicht werden, während wir, die wir von einem[S. 157] andern Hotel aus das Schauspiel beobachteten, verschont blieben? Man sagte mir später, mein Platz sei durchaus nicht sicher gewesen, denn eine Granate kann von einer Mauer im Hintergrund abprallen, und man kann daher von rückwärts durch ihre Splitter getroffen werden. In freiem Gelände hat man mehr Aussicht, unverletzt zu bleiben. Streng genommen hatten also die Artilleristen an der Straßenmündung einen besseren Platz als wir! Wir Gäste des Littoral hatten indessen keinen Anlaß, uns über die nichts weniger als gastfreie Aufnahme zu beklagen, die uns zuerst im Hotel Majestic zuteil geworden war. Wären die deutschen Marineoffiziere dort gut aufgenommen worden, dann hätte vielleicht mancher von uns das Schicksal Dr. Lippes geteilt.
In der Nacht vom 26. zum 27. Oktober kehrte ich nach Brüssel zurück.
Als ich am 27. Oktober im Hotel zu Brüssel mein Frühstück einnahm, kam ein stattlicher Offizier gerade auf meinen Tisch zu. Er lächelte schelmisch, ob ich ihn wohl wiedererkennen würde. Ja, natürlich, ich rief seinen Namen, ehe er noch ein Wort hervorgebracht hatte: Herzog Adolf Friedrich zu Mecklenburg! Der Herzog gehört seit mehreren Jahren zu meinen Freunden. In der geographischen Welt hat er einen berühmten Namen wegen seiner gewissenhaft vorbereiteten, meisterhaft ausgeführten und gut und unterhaltend geschilderten afrikanischen Reisen. Jetzt war er Gouverneur von Togo, befand sich aber gerade auf Urlaub in Deutschland, als der Krieg ausbrach. Unter solchen Verhältnissen in Deutschlands großer Schicksalsstunde konnte er nicht nach Afrika fahren, und da er als Leiter einer Kolonie in der Heimat kein Kommando hatte, meldete er sich bei seiner alten Truppe, dem Gardekorps, das in Bapaume lag und zur sechsten Armee gehörte, als Ordonnanzoffizier.
Wir unterhielten uns, bis er wieder zu seinem Korps zurückkehren mußte. Das Ergebnis der Unterredung war, daß ich[S. 158] hoch und heilig versprechen mußte, einige Tage in Bapaume sein Gast zu sein. Ich könne kommen, wann es mir passe, jederzeit. Dann nahmen wir bis auf weiteres Abschied.
Am 28. besichtigte ich mit General Bailer und Geheimrat von Lumm nochmals die Forts von Antwerpen, um photographische Aufnahmen zu machen. Am 29. sollte ich den Generalgouverneur an die Front in der Umgegend von Dixmuiden begleiten, ein Plan, dessen Ausführung die Ankunft des Königs von Sachsen, der Antwerpen sehen wollte, durchkreuzte. Ich faßte also einen kurzen Entschluß und fuhr am 30. Oktober mit einem Auto, das Herr von Siemens, der Chef der Firma Siemens & Halske, selbst lenkte, nach Bapaume.
Ich hatte mich auch dort auf der Kommandantur zu melden und wurde wie gewöhnlich mit der größten Freundlichkeit aufgenommen. Dann kam der Chef, ein alter bayrischer Oberst, der seinen Abschied genommen hatte, aber bei Kriegsausbruch wieder in Dienst getreten war. Und nun ging es aus einem andern Ton. »Was ist das dort für ein Zivilist? Was haben Sie hier zu tun? Woher kommen Sie? Sind Sie Zeitungsmensch? Ich werde schon herausbringen, was Sie für einer sind, und ob Sie die Erlaubnis haben, sich in Bapaume aufzuhalten.« Auf alle erdenkliche Weise versuchte ich, den Obersten zu beruhigen, aber er fuhr mich an wie ein richtiger Korporal. Als ich ihn ein paar Tage später wiedertraf, fragte er mich: »Können Sie mir je verzeihen, daß ich neulich so grob zu Ihnen war?« — »Mein lieber Oberst,« erwiderte ich, »ich kann Sie versichern, daß es mir ein unbezahlbares Vergnügen gewesen ist, einen bayrischen Kriegsmann in seiner vollen Kraft und Autorität zu sehen. Ich konnte ja ein Spion sein, und Sie hatten nur Ihrer Instruktion zu folgen.«
Darauf führte mich ein Unteroffizier in das Haus, wo ich wohnen sollte. Ich hatte mich kaum eingerichtet, da klopfte es an meine Tür. »Entrez!« rief ich so neutral wie möglich, und herein trat Herzog Adolf Friedrich zu Mecklenburg. Jung, froh und[S. 159] herzlich hielt er mir beide Hände hin und hieß mich in Bapaume willkommen. »Aber dies Zimmer ist zu klein.« — »Nein, es reicht vollkommen.« — »Schön! Wir nehmen die Mahlzeiten zusammen ein, ich bin jetzt mehrere Tage dienstfrei und werde Ihnen alles zeigen, was hierherum sehenswert ist.«
Dann plauderten wir, bis es Zeit war zum Abendessen im Offizierskasino. Als wir eintraten, waren schon alle versammelt. Am großen Tisch präsidierte Exzellenz von Plettenberg, kommandierender General des Gardekorps, Generaladjutant des Kaisers und ein alter Freund des schwedischen Generals Bildt. Ein großer, schlanker, weißhaariger Mann, ein echter Soldat, fühlte er sich nirgends so wohl wie im dichtesten Kugelregen. Er setzte sich gleich den Feldmarschällen von Haeseler und von der Goltz unbedenklich den schlimmsten Gefahren aus, er konnte mitten in der Nacht zu den vordersten Schützengräben gehen und in einer Entfernung von 200 Metern das französische Gewehrfeuer auf sich lenken — nur um zu sehen, wie es den Soldaten ging, und sich persönlich davon zu überzeugen, ob alles in bester Ordnung sei. Ein großartiger Zug nach meinem Dafürhalten; denn der Mut des Heerführers stählt den der Soldaten. General Plettenberg hatte eine frische, impulsive Art, war aber jetzt sehr ernst, wohl weil er kürzlich einen Sohn im Kriege verloren hatte. Oft schwieg er lange und saß nachdenklich am Tisch, dann aber blitzten plötzlich seine Augen, und er scherzte, wie gesundheitsgefährlich doch der Krieg sei; man schösse so fahrlässig, die Kanonen würden so unvorsichtig aufgestellt und die Granaten schlügen manchmal gerade da ein, wo sich Menschen aufhielten.
Als der General die Gesellschaft zeitig verließ, um an seine nächtliche Arbeit zu gehen, lud der Herzog ein Dutzend fröhliche Offiziere in sein Haus. Im Salon wurden die Zigarren angebrannt und schäumender Wein geschenkt. Die Stimmung war großartig. Nirgends eine Verdrießlichkeit bei diesen Männern, von denen viele noch am selben Tage dem Tod ins Angesicht geschaut hatten, aus Schützengräben oder Luftschiffen oder auf gewagten[S. 160] Patrouillen. Hier waren Deutschlands vornehmste Familien vertreten. Bald debattierte man in kleinen Gruppen, bald war die Unterhaltung allgemein, laut, lebhaft, munter. Als aber ein Generalstäbler geradeswegs vom Generalkommando kam und die letzten Nachrichten vom östlichen Kriegsschauplatz und von fernen Seekämpfen brachte, da wurde es still, alle hörten zu, und dann drehte sich die Unterhaltung um das ernste Wagespiel des Kriegs.
Unter den Gästen war der junge Erbprinz Friedrich von Hohenzollern, ein bartloser Held, durch verwandtschaftliche Bande mit nicht weniger als drei Königen verbunden. Er ist ein Neffe des Königs von Rumänien, außerdem mit dem unglücklichen Könige von Belgien verwandt, und endlich Schwager des Exkönigs Manuel von Portugal. Der Erbprinz war gemütlich und voll witziger Einfälle, lachte selbst aber niemals.
Ferner war unter den Anwesenden Herr Schoelvinck, der Direktor von Benz & Co. Jetzt stand er als Hauptmann im Felde. Er war einer von den vier Offizieren, die unter dem Schutz der weißen Parlamentärflagge nach Reims entsandt wurden, um über die Kapitulation der Stadt zu unterhandeln. Sie wurden gefangen genommen und als Spione angesehen, und hätten wahrscheinlich das übliche Schicksal der Spione erlitten, hätte sich der Kaiser nicht an den amerikanischen Gesandten in Paris gewandt, der ihre Freilassung erwirkte. Über die Behandlung, die sie erfuhren, werden sie, denke ich, wohl später selbst dies und jenes zu berichten haben.
Noch einer von den vier Parlamentären war zugegen, der Freiwillige Carl Clewing, Mitglied des Königlichen Schauspielhauses zu Berlin, ein entzückender Mensch voll Humor, Schauspieler und Sänger zugleich. Ein Schauspieler mit dem Eisernen Kreuz ist nicht gerade etwas Alltägliches; aber was sieht man dieser Art nicht an der endlos langen deutschen Front! Clewing ist ein Lautensänger im Stil Sven Scholanders; die beiden Troubadours hatten gerade im Herbst eine gemeinsame Sängerfahrt unternehmen wollen. Aber in Clewings Ohren sollten[S. 161] andere Töne klingen, die der Schrapnells, und auf einer andern Bühne sollte er auftreten als auf der des Schauspielhauses! Er klagte nicht über den Tausch; früher hatte er als Schauspieler und Sänger Freude verbreitet, nun ging von ihm auch der Glanz des Kriegers aus, der tapfer für sein Vaterland gekämpft hat.
Von der Laute hatte ihn aber nicht einmal der Krieg ganz zu trennen vermocht. Er hatte sein Saitenspiel bei sich, setzte sich mitten unter uns auf einen Stuhl, sah sein Publikum an und lachte schelmisch. Er sang französische Chansons, sang deutsche Soldatenlieder aus alter Zeit, sang Winterweisen aus dem Jahre 1530 und »Die goldene Kugel«, komponiert von ihm selbst. Aber das Beste war doch, daß er mich mit Bellmann überraschte. Er sang ein paar von Fredmans Episteln in Niedners Übersetzung:
Und dann sang er ein frisches, hinreißendes Soldatenlied; der Text war vermutlich von ihm selbst, die Melodie aber die unseres bekannten Liedes: »Es gingen drei Mädchen im Sonnenschein«, und in den Refrain: »Trarallalalala«, stimmten alle deutschen Offiziere mit so wildem Entzücken ein, daß die Leuchter klirrten und die Ofenklappen rasselten.
So ging der Abend hin, unmerklich überschritt die Zeit die Mitternachtsstunde, und sie war in die Nähe des zweiten Glockenschlags gerückt, als wir zum letztenmal in den Refrain einstimmten: »Trarallalalala, trarallalalala, trarallallallallallallallalla«.
Am Morgen des 30. Oktober bestiegen wir das Auto des Herzogs, um zur Feuerlinie zwischen Lille und Armentières hinauszufahren. Wir waren zu viert: Am Steuer der Chauffeur des Herzogs, neben ihm der Erbprinz von Hohenzollern, das Signalhorn besorgend, der Herzog und ich. Es hatte geregnet. Die[S. 162] Landwege waren schrecklich, die Chausseen schlüpfrig und gefährlich, und über dem nordöstlichen Frankreich lag kühler Nebel.
Zunächst bogen wir auf die große Landstraße nach Arras ein und behielten diesen Kurs bei, solange man ruhig fahren konnte, ohne gerade totgeschossen zu werden. Bei dem zusammengeschossenen und verbrannten Boiry bogen wir rechts ab, verloren aber in dem Gewirr von Dorfstraßen den Kurs. In Croisilles waren wir wieder auf dem rechten Weg. Hier zeigten sich Flaggen des Roten Kreuzes, Schwerverwundete wurden in die Krankenhäuser getragen. Eine Kolonne leichte Feldhaubitzen rollte nach Arras. Auf dem Felde nahmen Soldaten friedlich Kartoffeln aus, und in ihrer Nähe waren alte Männer, Frauen und Kinder mit der Ernte von Zuckerrüben beschäftigt, die hier viel angebaut werden.
Endlich sind wir auf der großen Straße zwischen Cambrai und Douai. Über Pont-à-Marcq kommen wir bis an den äußeren Fortgürtel von Lille heran und dann nach wenigen Minuten durch die Porte Douai in die Stadt hinein. Der Stadtteil in der Nähe dieses Tores liegt in Trümmern.
Im übrigen ist Lille ganz unversehrt. Man kann straßauf, straßab fahren, ohne irgendwo eine Wirkung des Granatfeuers zu sehen. In der Mitte der Stadt sind die Straßen obendrein belebt, und viel Volk ist unterwegs. Junge Damen von unzweifelhaftem Ruf schweben in modernen Kostümen über die Fußsteige wie Schmetterlinge. Viele Geschäfte und Hotels sind offen und in Betrieb, als wenn nichts geschehen wäre. Das einzige, was an den Krieg erinnert, ist außer den zerstörten Stadtteilen das deutsche Militär — Reiter, Wagen und Kolonnen.
Hinter dem Dorf Lomme fahren wir weiter in der Richtung nach Armentières. Rechts und links Wäldchen, Gärten, Parks, Gehöfte und Dörfer; der Weg ist schmal und aufgeweicht. Eine gut maskierte Batterie ist in voller Tätigkeit. Von der feindlichen Seite kommt der Kanonendonner immer näher, wird aber meist von dem steten Surren des Automobils übertönt. Nur wenn wir die Fahrt verlangsamen oder halten, scheint der Donner[S. 163] beunruhigend nahe zu sein. Bei einem Landgut, vielleicht einem Herrensitz, lag etwa 100 Meter nördlich der Straße ein Wäldchen kaum bis zur Hälfte entlaubter Bäume. In voller Schnelligkeit fuhren wir, sahen aber glücklicherweise einen jungen Leutnant und zwei oder drei Soldaten, die unter den Bäumen standen, uns verzweifelte Zeichen machten und so laut als ihre Lungen es vermochten, »Halt!« riefen.
Wir hielten sofort, so schnell das bei der raschen Fahrt möglich war, und gingen über eine sumpfige Wiese zu dem Leutnant hin, der an einem Tisch mit Karten, Schmiegen, Federn, Ferngläsern usw. stand, und hörten, jeder Schritt weiter in dieser Richtung sei lebensgefährlich. Und er schien recht zu haben: es klang, als wären wir von allen Seiten vom Feuer umgeben! Vor uns, auf einer Linie von Nordnordost nach Südsüdwest, lagen die nächsten deutschen Schützengräben; deutsche Artilleriestellungen waren vor, hinter und neben uns. Die Batterie, an der wir eben vorübergefahren waren, entsandte ihre vollen Ladungen, ihre Geschosse pfiffen nur so über die Baumwipfel. Vor uns im Norden, Westen und Südwesten donnerten französische Batterien. Wir waren wie in einem Ring von Kanonen, die einander laute Liebenswürdigkeiten zuriefen.
In nächster Nähe des Wäldchens stand eine Batterie von 15-cm-Haubitzen, zwischen Bäumen und Büschen vortrefflich versteckt; man sah sie erst aus nächster Nähe. Die Kanonen waren zum Teil mit Laub bedeckt, damit sie nicht von obenher erkannt würden; Munitionsvorrat, Hütten und Proviant der Bedienung war ebenso sorgfältig verborgen. Zum Schutz gegen feindliches Feuer hatten die Leute unterirdische Höhlen. Aber jetzt saßen sie oben bei ihren Geschützen in voller Bereitschaft. »Warum schießen Sie nicht?« fragte ich. »Dort über dem Wäldchen«, antwortete der Leutnant und zeigte nach Südwesten, »kreist ein französischer Flieger, jedenfalls will er unsere Batterie feststellen. Wir haben wahrscheinlich auf der französischen Seite Schaden angerichtet, und nun suchen sie uns, bisher aber vergeblich. Die[S. 164] feindlichen Granaten krepieren südwestlich von hier in einem Abstand von nur 500 Metern. Noch gehen sie nicht bis hierhin, aber sie kommen näher und können die Batterie jeden Augenblick erreichen. Wenn wir jetzt schießen, während der Flieger in der Luft ist, dann hätten wir bald das feindliche Feuer über uns.«
Der Flieger zog ein ums andere Mal seine Kreise rings um das Wäldchen. Solange wir an dem Beobachtungsplatz des Leutnants verweilten, kreiste er über demselben Fleck; er suchte offenbar die Antwort auf eine ganz bestimmte Frage. Jedenfalls sollte die Projektion seiner Flugbahn auf dem Erdboden das Ziel für die feindlichen Granaten angeben; auch schien er mit Flaggen und mit weißem und rotem Licht Signale zu geben. Die Batterien, die an diesem Teil der Front den Deutschen gegenüberstanden, sollten alle englische sein.
Der Leutnant und die Soldaten auf dem Beobachtungsplatz und an der Batterie verfolgten die Bewegungen des Fliegers mit größter Aufmerksamkeit, und unter den Bäumen standen besondere Wachen, die »Halt!« rufen mußten, falls jemand in der Nähe ging oder sich rührte, während der Flieger seinen Aeroplan so steuerte, daß er freie Übersicht auf dieser Seite hatte. Wenn er aber langsam umgekehrt war und uns den Rücken wandte, durften wir uns wieder frei bewegen. Doch war sein Kreis nur klein, und wer von der Batterie zum Beobachtungsplatz ging, mußte sich beeilen, denn bald war der Feind wieder da, und man lief Gefahr, entdeckt zu werden.
Bei den Haubitzen hatten die Artilleristen jetzt nichts zu tun. Bei der einen frühstückten sie, bei einer andern las ein Soldat laut aus der Zeitung vor. Zu ihrem großen Vergnügen machte ich ein paar Aufnahmen von ihnen. Als der Flieger uns dann wieder den Rücken zukehrte, gingen wir schnell im Schutz der Bäume über die Wiese zum Auto zurück.
Um nach Hause zu fahren, war es noch zu früh; wir konnten noch der Front im Nordwesten einen Besuch abstatten. Deshalb kehrten wir nach der Außenlinie von Lille zurück und schlugen dann die Straße nach St. André, Verlinghem und Quesnoy ein. In[S. 165] St. André lag das Oberkommando des Korps; hier machten wir halt, und der Herzog fragte den kommandierenden General, wie weit wir in dieser Richtung fahren könnten. Bis Quesnoy und noch ein Stück weiter; vielleicht könnten wir auch die österreichischen 30,5-cm-Kanonen in Tätigkeit sehen!
Wir fuhren in der angegebenen Richtung und überholten verschiedene große Kolonnen, die die Front mit immer neuem Material und neuem Proviant versehen. Wachtposten wiesen uns auf die Straße zur österreichischen Batterie. Die Straße war nicht gerade breit; in der Mitte war sie gepflastert, zu beiden Seiten aber lief ein ungepflasterter, etwa drei Meter breiter Streifen, der bei dem jetzigen Wetter einem Schlammbad glich. Der Verkehr war lebhaft, schnelles Fahren also unmöglich. Ein Stück weiter vorn erreichten wir die hintersten Automobile von der gewaltigen Kolonne der Mörserbatterie. Die beiden Mörser waren am weitesten vorn, der Zug hielt und nahm die rechte Hälfte des Weges ein. Wir stiegen daher hinter der Kolonne aus und gingen zu Fuß weiter.
Der Weg lag gut einen Meter höher als das Feld rechts. Von links her, von Südwesten, wurde tüchtig in der Richtung auf uns geschossen. Ein ums andere Mal krepierten Schrapnells in unserer Nähe, und unaufhörlich bildeten die Explosionen am Himmel kleine weiße Wölkchen, aus deren Kern ein Blitz aufflammte. Dann wußten wir, daß der Schrotkegel unterwegs war. In Hockstellung suchten wir daher Schutz hinter dem Weg und den Automobilen der Batterie. Wir waren mitten im Feuer und konnten jeden Augenblick getroffen werden. Unsere Deckung war durchaus ungenügend, denn die Wagen standen einige Meter voneinander entfernt, und im übrigen hätte ein Schuß bequem durch mehrere von ihnen hindurchgehen können.
Je weiter wir vorkamen, desto häufiger schienen die Explosionen zu werden. Da trafen wir einen Offizier, der uns mitteilte, die österreichische Batterie sei nicht in Tätigkeit, und weiterzugehen sei mehr als gefährlich. Wahrscheinlich hatte man durch Flieger die Kolonne festgestellt und sie zum Ziel für das Feuer mehrerer[S. 166] Batterien genommen. Das häßliche Pfeifen durchschnitt die Luft, man schoß sich auf die Mörser und ihre Wagen ein. Wir hielten es daher für das klügste, diese gefährliche Stelle zu verlassen.
Wie wir eben zu unserm Automobil auf die Landstraße hinaufgekommen waren, erhielten wir von der englischen Batterie eine ganze Salve. Die vier Schüsse erfolgten in kurzen Zwischenräumen, alle vier schienen unser Auto zu suchen. Das erste Schrapnell krepierte etwa zwanzig Meter hoch über dem Felde und gerade vor uns und dem Automobil. Ich hatte das deutliche Gefühl, mich mitten in seinem Schrotkegel zu befinden und war erstaunt, daß ich nicht plötzlich irgendwo in meinem Körper einen Schmerz fühlte. Die zwei folgenden Schüsse krepierten etwas seitwärts von dem ersten. Der vierte kam besonders nahe. Es ist, als hörte man den Tod pfeifen, wenn ein solches Dings gerade auf einen zukommt. Wir hörten ihn — er kam von Südwesten. Wo er flog, schien die Luft zu zischen und zu brennen. Das Pfeifen kam näher, ging über uns weg und verklang hinter uns. Wir bückten uns alle drei. Die Bewegung macht man ganz unwillkürlich, und auch Offiziere, die schon im Feuer gewesen sind, wenden diese Vorsichtsmaßregel an. Mit der Zeit aber gewöhnt man sich das ab, wenn man sich klar gemacht hat, wie nutzlos es ist, Schrapnells aus dem Wege gehen zu wollen. Ich hörte später Artillerieoffiziere sagen, wenn man das Pfeifen ganz in der Nähe vernähme und das Geschoß unmittelbar vor sich glaube, dann sei es bereits vorüber.
In welcher Höhe wohl das Geschoß über uns hingegangen war? Der Herzog schätzte den Abstand auf etwa 8 oder 10 Meter, der Erbprinz auf höchstens 15. Mir schien es so nahe gewesen zu sein, daß es meine Mütze hätte streifen können. Das Merkwürdigste aber an diesem freundlichen Gruß der Engländer war, daß, während die drei ersten Geschosse explodiert waren, das vierte gar nicht krepierte. Wäre das geschehen, dann hätten wir aller Wahrscheinlichkeit nach alle drei dagelegen! Das Geschoß ging in einiger Entfernung hinter uns in den weichen Boden hinein und,[S. 167] wie ich zu hören glaubte, mit einem Laut, wie wenn man einen Stein ins Wasser wirft.
Gewöhnlich ist es eine Weile still, wenn eine Batterie ihre vier Schüsse abgegeben hat. Hat man ein Auto oder ein Pferd zur Hand, so sucht man einen sichereren Platz, wenn man nicht von der ersten Feuertaufe so abgehärtet ist, daß man sich nicht weiter darum kümmert. Wir konnten als sicher annehmen, daß wir so lange Zeit Ruhe hatten, als die Engländer brauchten, um zu laden, und hielten es für das beste, uns etwas zurückzuziehen. Der Herzog, ein ungewöhnlich kaltblütiger Mensch, meinte doch, er wolle mein Leben nicht auf dem Gewissen haben, zum allerwenigsten jetzt, wo ich sein Gast sei.
Wir nahmen also wieder unsere Plätze ein und fuhren zurück. Rechts von uns pfiff es zuweilen in den Baumwipfeln und eine Explosion erfolgte wie von einem Feuerwerkskörper. Dann begegneten wir einer Munitionskolonne, der wir in den Schlamm hinein ausweichen mußten. Solange wir geradeaus fuhren, ging das; als wir aber hinter der Kolonne wieder auf das Pflaster hinaufwollten, schleifte das Rad, und das Auto fuhr sich in dem Morast fest! Seine Absicht schien zu sein, uns noch mehrere englische Grüße zu verschaffen! Schließlich war nichts anderes zu tun, als auszusteigen, bis das erleichterte Auto wieder aufs Pflaster hinaufkam. Dann ging es weiter nach Lille und von da nach Bapaume zurück, wo wir bei Einbruch der Dunkelheit ankamen.
Bapaume hat auf seinem kleinen Marktplatz ein Rathaus, das für ein Landstädtchen eine ganz prächtige, auf einer Arkade in gotischem Stil errichtete Fassade hat. An einer Säule hängt eine Anschlagtafel, auf der täglich die letzten Kriegsnachrichten zu lesen sind. In Bapaume erscheint nämlich eine am Orte gesetzte und gedruckte Zeitung, die »B(apaumer) Z(eitung) am Mittag«, deren Redakteur Herr Clewing ist. Sie erscheint in einer Auflage[S. 168] von 600 Exemplaren, immer nur eine Seite mit großen Lettern auf gelbem, dünnen Papier.
Die »Bapaumer Zeitung am Mittag« befolgt die gleichen ehrlichen Grundsätze wie die ganze deutsche Presse, die ihre große Verantwortung gegenüber der Nation und der kämpfenden Armee wohl erkannt hat. Für die Soldaten, die Tag und Nacht die schwerste Last zu tragen haben und fürs Vaterland ihr Leben hingeben, ist nur die Wahrheit, die reine, klare Wahrheit gut genug. In den Ländern der Entente hat die Presse noch eine besondere und sehr wichtige Aufgabe, die der deutschen Presse nicht obliegt, nämlich die, den Mut der Soldaten anzufeuern und die Hoffnungen der Masse des Volkes aufrechtzuerhalten. Da nun frohe Nachrichten dort sehr dünn gesät sind, werden sie in den Redaktionen der verschiedenen Zeitungen fabriziert. Die deutsche Presse braucht nicht den Mut der Nation anzufeuern, er brennt in klarer, reiner Flamme! Das deutsche Volk verlangt von seiner Presse, die ganze Wahrheit zu erfahren, sei sie nun gut oder schlimm. Gute Nachrichten werden nicht aufgebauscht, schlimme nicht unterschätzt. Die ganze Nation will über alle Kriegsschauplätze gut orientiert sein und ihre Zukunftspläne nicht auf einem auf die Dauer doch unhaltbaren Gewebe von Lügen aufbauen. Ist es verkehrt gegangen, so ist es am besten, man erfährt das Unglück in seinem ganzen Umfang, um die Schäden wieder gutmachen und sie in Zukunft vermeiden zu können. In Deutschland verläßt sich das Volk auf die Wahrhaftigkeit und das Verantwortlichkeitsgefühl der Presse. Da strömen die Freiwilligen zu Hunderttausenden unter die Fahnen, ohne daß Künste und Fälschungen angewandt werden müssen. Sie treibt der germanische Geist, Nationalstolz, Pflichtgefühl und Ehrgeiz. Nicht ein Waffenfähiger zaudert, hinauszuziehen und zu sterben; denn das ist allen klar: will die Vorsehung, daß Deutschland untergeht, so soll wenigstens der letzte Deutsche auf der letzten Schanze gefallen sein, wenn die Wellen über dem Wrack zusammenschlagen. Deshalb hat in diesem Krieg die Presse der Zentralmächte eine viel[S. 169] leichtere Aufgabe als die Presse der feindlichen Länder. Sie hat nur den Verlauf der Ereignisse zu registrieren und die Neuigkeiten aus Ost und West und von fernen fremden Meeren mitzuteilen; sie braucht aber nicht zu dem ehrlosen Mittel zu greifen, ihre Leser zu betrügen und mit erdichteten Siegesnachrichten neue Scharen in die Werbelokale zu treiben.
Jeden Tag, sobald die »B. Z. am Mittag« erschienen ist, versammelt sich vor der Anschlagstafel des Bapaumer Rathauses eine Gruppe eifrig lesender Soldaten. Es ist erfrischend, sie zu beobachten. Zigaretten oder Pfeifen im Munde, die Hände in den Hosentaschen, lesen sie langsam und genau. Noch sind kaum andere als frohe Nachrichten zu melden gewesen, aber die Soldaten bewahren ihre Ruhe. Höchstens kann man ein schwaches Lächeln bemerken oder ein Aufblitzen in den Augen. Dieselbe Ruhe zeigen sie, wenn einmal eine betrübende Nachricht gebracht wird, zum Beispiel daß ein Kriegsschiff verloren gegangen ist.
Zuweilen sieht man Soldaten, die sich nicht damit begnügen, zu lesen — sie schreiben gleich die ganze Zeitung in ihre Notizbücher ab. Weshalb? Wahrscheinlich sind sie nach der vordersten Front unterwegs, nach den Schützengräben, wo sie ihren von der Welt abgeschlossenen Kameraden den Inhalt der Telegramme mitteilen wollen. —
In der letzten Oktobernacht war es unmöglich, die Besatzungen der Schützengräben bei dem Dorfe Monchy-au-Bois, nicht weit von Bapaume, in der üblichen Weise zu wechseln. Bloß ein Mann oder ein paar konnten auf einmal zu den Gräben kriechen. Wenn der Mond nicht scheint oder die Gegend in Nebel gehüllt ist, können die Soldaten truppweise vorgehen; heute nacht aber waren sie der Gefahr ausgesetzt wie am Tage und mußten die größte Vorsicht beobachten.
Auch dem kaltblütigsten Soldaten muß es seltsam vorkommen, wenn er auf Fußspitzen und Ellenbogen durchs Gras kriechen soll,[S. 170] zumal da er noch das Gewehr zu schleppen hat. Er muß zuweilen haltmachen, teils weil er müde wird, teils um nach dem Graben auszuschauen und zu lauschen. Dann kriecht er wieder ein Stück vorwärts und lauscht wieder. Alles ist still, aber jeden Augenblick kann ein Schuß knallen, können die Kugeln pfeifen. Schließlich liegt der Schützengraben vor ihm wie eine dunkle Linie. Wird er hinkommen, ohne von den Franzosen entdeckt zu werden? Er drückt sich immer näher an den Boden heran und bewegt sich immer vorsichtiger und langsamer. Jetzt fehlen noch 20 Meter — jetzt nur noch 10. Der Graben liegt scharf gezeichnet vor ihm, noch ein Katzensprung trennt ihn davon. Und doch ist der Abstand ungeheuer, denn hier ist die Gefahr am größten! Auf den Graben selbst halten die französischen Wachtposten und Patrouillen vor allem ihre Aufmerksamkeit gerichtet. Diese zwei Meter tief und einen Meter breit ins Feld gegrabene Furche ist voll von bewaffneten, wachenden Männern — aber kein Laut ist zu hören, kein lebendes Wesen, kein Schein eines vorsichtig abgeblendeten Feuers zu sehen. Kein Duft einer Zigarette, wohl aber andere Gerüche, die Menschen anzeigen. Endlich hat der Soldat bloß noch einen Meter. Es ist still auf der französischen Seite — lautlos wie eine Katze schlüpft er über den Rand und ist gerettet. Nun kann einer seiner Kameraden seinen Platz verlassen und unter denselben Vorsichtsmaßregeln in die unterirdischen Höhlen hinter den Schützengräben zurückkriechen, wo er seine warme Suppe erhält und dann schlafen, schlafen, schlafen kann wie ein Toter!
Der Abgelöste hat 48 schwere Stunden hinter sich. Nachts oder bei Nebel müssen er und seine Kameraden sich wachhalten, denn dann ist die Gefahr eines Überfalls am größten. Der eine oder der andere kann wohl eine Weile schlummern, aber mancher Wachtposten darf überhaupt nicht schlafen, wenn ihm das Leben lieb ist. Tagsüber kann die Mehrzahl in ihren Höhlen schlafen, aber auch da sind immer Wachen ausgestellt.
In die dem Feind zugekehrte Wand des Grabens sind schalenförmige Aushöhlungen oder Nischen eingegraben, die gegen das[S. 171] Feuer Schutz gewähren. Es kann aber vorkommen, daß eine Granate in die andere Wand einschlägt, und dann sind die Soldaten verloren. Deshalb gräbt man auch hier und da Grotten, ja geradezu unterirdische Zimmer, die zuweilen so luxuriös eingerichtet sind, daß sie Vorhänge vor dem Eingang haben. An den Wänden der Kammern ist Stroh für Schlafplätze aufgeschichtet, und nicht selten wird der kleine Zeltstreifen, den jeder Soldat bei sich hat, als Decke benutzt. Ist der Abstand zwischen den Schützengräben, wie hier, nur achtzig Meter, so darf, selbst in den unterirdischen Höhlen, kein Licht angezündet werden, noch weniger Feuer, weshalb die Luft recht kalt und feucht wird. Beträgt aber der Abstand drei- oder vierhundert Meter, dann darf Licht brennen.
Die Soldaten haben Proviant bei sich, aber es kann vorkommen, daß sie durch heftiges Feuer von aller Verbindung abgeschnitten werden und dann einen oder mehrere Tage hungern müssen. Aber auch dieses Unglück nehmen sie mit gutem Humor hin.
Bei Regen werden die Schützengräben entsetzlich. In Belgien sah ich das schon. Das Regenwasser sammelte sich in ihnen an; halb angefüllt mit graugelbem Wasser und Lehmschlamm, ähnelten sie Abzugsgräben neben einem Acker. General von Winckler erzählte, seine Leute hätten 24 Stunden bis ans Knie im Wasser gestanden, ohne zu klagen und ohne krank zu werden. Wenn sie zurückkehrten, schildern sie ihren Kameraden ihre Erlebnisse mit unverwüstlichem Humor. Man sollte meinen, die Leute würden mißmutig, wenn sie 24 Stunden lang im Wasser liegen. Aber bei den deutschen Soldaten kommen verdrießliche Mienen nicht vor. Um der Überschwemmung abzuhelfen, ließ der General Ablaufgräben graben, durch die das Regenwasser nach Zisternen geleitet wurde.
An manchen Stellen wird die Verbindung mit den Schützengräben durch Laufgräben erleichtert, die von einem geeigneten, im Gelände verborgenen Punkt im Zickzack dorthin führen und den Mannschaftswechsel in hohem Maße erleichtern.
Die Schützengräben verlaufen nicht in geraden Linien, wenn nicht etwa, wie südlich von Antwerpen, das Land völlig eben ist.[S. 172] Sonst richten sie sich nach den Formen des Bodens. Im allgemeinen werden sie so angelegt, daß sie nach dem Feinde zu freie Aussicht haben und Überrumpelungsversuche erschweren. Ein Schützengraben hat daher gewöhnlich eine sehr unregelmäßige Form, er gleicht einer Kurve mit Ausbuchtungen nach vorn und hinten. Oft zerfällt er auch in mehrere kleine Sektionen. Den Zwischenraum zwischen den verschiedenen Teilen füllen Stacheldrahtnetze und andere Hindernisse aus. Oft ist ein Schützengraben dem Artilleriefeuer besonders ausgesetzt; wenn er in einer stark gewellten Linie verläuft, können einzelne Strecken den Bahnen der feindlichen Geschosse parallel liegen und von dem Artilleriefeuer buchstäblich reingefegt werden. Um sich dagegen zu schützen, graben die Soldaten sogenannte Traversen, ganz kurze Zweiggräben, die sich von dem großen Schützengraben im rechten Winkel abzweigen. Zu diesen Schutzgängen nehmen die Soldaten ihre Zuflucht, wenn das Feuer auf den Hauptgraben eingestellt ist.
Wenn man wie bei Monchy-au-Bois auf Grund des allgemeinen strategischen Plans lange Zeit stillgelegen hat — hier seit dem 6. Oktober —, so hat man Zeit und Gelegenheit, an den Schützengräben, Traversen und den unterirdischen Höhlen Verbesserungen und Erweiterungen vorzunehmen.
Auf der dem Feinde zugewandten Seite der deutschen Schützengräben bei Monchy-au-Bois laufen breite Gürtel von Stacheldrahtnetzen und tiefe Wolfsgruben mit spitzen Pfählen auf dem Grund. Solche Verteidigungswerke, die bloß an einigen Stellen von offenen Passagen unterbrochen werden, lassen sich nur im Dunkel der Nacht oder bei Nebel errichten, aber auch unter günstigen Verhältnissen ist die Arbeit mit Lebensgefahr verbunden, nicht zum wenigsten wegen der Patrouillen, die des Nachts umherstreifen und sich natürlich gerade auf dem schmalen Streifen zwischen den deutschen und den französischen Schützengräben bewegen. Ihre Aufgabe ist, sich über die Verteidigungswerke der Feinde zu orientieren. Erst wenn die Patrouillen erfolgreiche nächtliche Streifzüge unternommen haben, läßt sich ein Angriff[S. 173] wagen. Bei Monchy sollen die Franzosen mehr Angriffe gemacht haben als die Deutschen, und die Massen von Leichen, die zwischen den Schützengräben lagen und einen unerträglichen Geruch verbreiteten, waren daher zum größten Teil Franzosen. Oft geschieht es, daß sich Patrouillen beider Parteien begegnen, dann entsteht sofort ein Kampf auf Leben und Tod, bis die eine Partei zurückgeht. Den Verwundeten helfen ihre Kameraden, sich in den Schützengraben zu retten, aber die Toten bleiben liegen und verpesten die Luft, denn niemand kann sich ihnen ohne Lebensgefahr nähern. Solche kleine Scharmützel fanden bei Monchy jede Nacht statt.
An einer Stelle, nahe von Monchy, sollen Franzosen und Deutsche in einem und demselben Graben liegen. Eine französische Patrouille hatte sich im Dunkel der Nacht verirrt und zu einem zufällig leeren Teil eines deutschen Schützengrabens ihre Zuflucht genommen. Als sie ihren Irrtum bemerkte, errichtete sie in dem Graben selbst nach beiden Seiten Erdwälle, und von diesen Wällen aus hatten sich die Gegner in einem Abstand von wenigen Schritten beschossen. Ich weiß nicht, wie es den Franzosen zuletzt ergangen ist; wahrscheinlich waren sie verloren. Ihre Stellung war absolut unhaltbar, und bestenfalls mußten sie sich gefangen geben, wenn der Proviant ausblieb.
Natürlich sind die Verhältnisse in den Schützengräben sehr verschieden. Liegen sie weit voneinander entfernt, so sind die Verbindungen leichter und das Leben ist in ihnen erträglicher, nicht zum wenigsten deshalb, weil man sie leichter reinhalten kann. Bei Monchy-au-Bois sollten die Zustände in diesen unterirdischen Wohnungen unbeschreiblich sein. Um so mehr ist der frohe, frische Mut, die Bereitwilligkeit und die Opferwilligkeit der Soldaten zu bewundern. Wenn sich einer über Kälte oder Verpflegung unter der Erde beklagen wollte, würde er von seinen Kameraden ausgelacht und gescholten werden, aber ich hörte nicht, daß sich solch ein Fall ereignet hätte.
In einem Dorf in der Nähe hatte Prinz Eitel Friedrich sein[S. 174] Quartier. Man erzählte, er wohne in einem ziemlich zusammengeschossenen Bauerngut und lebe nachts auf dem Felde, immer dem Feuer ausgesetzt. Alle priesen seinen Mut, seine Energie und seine hervorragenden Eigenschaften als Mensch und Soldat.
Seit tausend Jahren wird in der katholischen Kirche am 2. November das Allerseelenfest gefeiert zur Erinnerung an die Toten und als Mahnung für die Lebenden, zu Gottes Thron Fürbitten für die Seelen hinaufzuschicken, die im Fegefeuer schmachten. In den Kirchen wird eine Messe für die Verstorbenen gelesen, und auf den Kirchhöfen werden die Gräber mit Kränzen und Blumen geschmückt.
In der Stadtkirche von Bapaume wurde am Sonntag, 1. November, eine deutsche Allerseelenfeier zur Erinnerung an die gefallenen Soldaten abgehalten. Der Herzog und ich begaben uns rechtzeitig zum Gottesdienst. Wir fanden aber die Kirche bereits gedrängt voll von 4000 Soldaten. Wir bahnten uns einen Weg zum Chor, wo uns zwei Stühle in einer Gruppe von Offizieren angewiesen wurden.
Die alte Kirche macht einen wahrhaft großartigen und prächtigen Eindruck. Wenn man Platz genommen hat, betrachtet man zunächst das Gotteshaus mit seinen hohen, gotischen Wölbungen und seinen schönen Fenstern. Zu beiden Seiten des mächtigen Langschiffs werden schmale Seitenschiffe von soliden Säulen getragen. Die Wände sind mit großen Gemälden, wahrscheinlich von zweifelhaftem Kunstwert, geschmückt. Durch die gemalten Fenster sickert das Sonnenlicht herein und fällt in allen Farben des Regenbogens auf die weißen Säulen. Man ist erstaunt darüber, daß eine Stadt von wenig mehr als 3000 Einwohnern eine Kirche braucht, die 4000 Mann faßt! Aber an den großen Festen versammelt dieses Gotteshaus die Bevölkerung der ganzen Umgegend.
Alle Bänke sind überfüllt, in allen Gängen stehen die Soldaten dicht gedrängt, die Helme im Arm. Man sieht katholische Schwestern[S. 175] in ihren schwarzen Trachten, weißen Hauben und Rote-Kreuz-Binden. Das Militär ist ohne Waffen, man hört keine Säbel rasseln. Niemand wird zum Gottesdienst kommandiert, es steht den Soldaten frei, die Kirchzeit zu verbringen, wie sie wollen. Und doch ist die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt. Diese abgehärteten Krieger fühlen das Bedürfnis, Gottes Wort zu hören, bevor sie dem Tode entgegengehen.
Als ich meine Blicke von dem erhöhten Platz auf dem Chor über das Langschiff schweifen ließ, fühlte ich mein Herz im Takt mit den 4000 Südgermanen schlagen. Rotbäckig und sonnenverbrannt standen sie da, ein Bild gesammelter Manneskraft, eisenharten Willens und demütigen Glaubens an Gottes Hilfe. Ihre feldgrauen Uniformen hatten meist durch die Berührung mit der Erde in den Schützengräben und unterirdischen Wohnungen einen Ton erhöhter Echtheit erhalten; hier und da sah man auch die dunkelblauen Uniformen der bayrischen Landsturmleute.
Der festliche Schmuck der Kirche war das Verdienst dieser Landsturmleute. Der Chor bildete eine einzige Laube von Blattpflanzen, und an allen Pfeilern hingen große, grüne, zum Gedächtnis der Gefallenen gewundene Kränze. Das Merkwürdigste war aber doch die Achtung, die die guten Bayern einer kleinen Statue der Jeanne d'Arc gewidmet hatten, die links am Chor stand, innerhalb des Triumphbogens. An und für sich hatte dieses Gipsbild der 17jährigen Jungfrau von Orleans gar nichts Merkwürdiges an sich. Sie war so, wie man sie an vielen andern Orten sieht. Sie stand königlich aufgerichtet in ihrer Rüstung und hielt in ihrer Hand die weiße, liliengeschmückte Fahne, und doch konnte ich meine Blicke nicht von ihr wenden. Sie schien die deutschen Soldaten im Langschiff zu betrachten, und ihre Lippen umspielte ein ironisches Lächeln.
Wie war sie hierher gekommen? Zwar war sie von Leo XIII. vor 20 Jahren selig gesprochen worden. War sie unterdes auch in die Schar der Heiligen aufgenommen? Jedenfalls war sie in diesem Teil Frankreichs Gegenstand tiefster Verehrung. Daß sie[S. 176] nicht zum Schmuck der Kirche selbst gehörte, konnte man sehen, denn sie stand auf einem dürftig mit einen Tuch drapierten Kasten. Als der Krieg wie eine finstere Gewitterwolke über Frankreich hing, hatte man sie in die Kirche getragen, und die Gläubigen waren vor ihr niedergekniet und hatten sie gebeten, ihren Geist und ihre siegreiche Hilfe den Franzosen zu schenken. Die Bürger von Bapaume hatten ihr, um sie zu gewinnen, zahlreiche Lichter geschenkt, die vor dem Bild befestigt waren. Und nun kommt das Merkwürdigste: Die guten Bayern hatten ihr einen Hintergrund von hohen Topfpflanzen gegeben und alle Lichter angezündet, dieselben Lichter, die brennende Gebete um Sieg über die Deutschen sein sollten!
Die Jungfrau hatte sicher einen anderen und tieferen Grund, über die Torheit der Menschen zu lächeln. Zu ihrer Zeit war halb Frankreich von den Engländern und ihren Verbündeten überschwemmt worden. Gegen diese Engländer kämpfte sie, die besiegte sie, und als man sie schließlich den Engländern auslieferte, wurde sie von ihnen als ketzerische Hexe der Inquisition übergeben! Sie wurde beschimpft, mit rohen Soldaten eingesperrt und schließlich verbrannt — alles das von diesen Engländern, denen gegen die Deutschen zu helfen sie nun mit brennenden Gebeten und Lichtern angefleht wurde! Man wird ihr verzeihen, daß sie den Mund verzog und sich etwas verwirrt fühlte.
Nun steigen die Töne der Orgel machtvoll und klar zur Wölbung empor, und volltönende Stimmen aus den Kehlen von 4000 jungen Kriegern singen:
[S. 177] Nachdem Clewing, von unserm Platz aus unsichtbar, aber überall vernehmbar, seine klangvolle Stimme hatte hören lassen, betrat der Divisionspfarrer Franz Xaver Münch die Kanzel. Mit würdiger Autorität sah er auf seine Gemeinde herab, Soldaten aller Grade und Waffengattungen, barmherzige Schwestern, Protestanten und Katholiken. Der Gottesdienst war interkonfessionell, der Prediger selbst Katholik. Aber jetzt, in der größten Zeit des deutschen Volkes, sind alle konfessionellen Schranken zusammengebrochen, es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Protestanten, Katholiken und Juden, es gibt nur noch Deutsche! »Jetzt sind wir alle ein Mann geworden, und alle haben wir einen Gott.«
Die ergreifenden Worte des Priesters vollständig wiederzugeben, muß ich mir hier versagen; meine Leser werden sie in der großen Ausgabe meines Buches finden. Nur eine besonders erschütternde Stelle der Predigt möge hier folgen:
»Und ein zweiter Ruf tönt aus den Massengräbern: ‚Vergesset unsere Leiden und unsere Wunden nicht!‛ Meine lieben Kameraden. Der große Völkerapostel hat einmal seiner Gemeinde in stolzer Liebe zum Gekreuzigten zugerufen: ‚Ich trage die Wunden des Herrn an meinem Leibe.‛ Wer von unserem Volke sich noch etwas sittlichen Ernst bewahrt hat, wird die Wunden und die Leiden dieses Krieges zeitlebens in seiner Gesinnung tragen. Der Preis unserer Befreiung und unserer Siege war der teuerste und kostbarste, den eine Nation zu zahlen hat: das Blut der Jugend! Kommt und schauet, wie wir sie begraben! Nicht einmal einen armen Sarg können wir ihnen gewähren. Wir können sie nicht wie die Germanen auf die Schultern heben und über die Berge in die deutsche Heimat tragen. Aber, meine lieben Brüder, ich kenne einen Sarg, der kostbarer ist als der Sarg, gezimmert von einem fremden Meister: das ist der Sarg des deutschen Herzens! Dahinein, tief und verborgen, wollen wir unsere teuren Toten betten; ihn führen wir heimwärts in die deutsche Heimat. Und wenn einmal — was Gott, der Schirmherr unserer deutschen Sache verhüten möge — die Zeit[S. 178] kommen sollte, wo eine Generation, unsere Jünglinge, unsere Töchter und Frauen nicht mehr wissen, was uns der Friede und eine neue Blüte des Reiches gekostet hat, wo man nur der Früchte in einem erschlaffenden Genußleben sich freut, wo man entnervenden und zersetzenden Sitten wie fremden Göttern zu huldigen beginnt — dann, meine lieben Brüder, ist für uns, die wir heute hier an den Massengräbern trauern, die Stunde gekommen, wo wir die Särge öffnen und einer nur genießenden Nation unsere Toten, ihre Wunden und ihre letzten Stunden zeigen werden, dann zeigt, ihr Väter, eure gefallenen Söhne. Dann mögen die Geister der Gefallenen den schwersten Kampf gegen das eigene Volk führen, das die Wunden des Kriegs nicht mehr in seiner Seele trägt.
So ist der heutige Tag, der unsern Toten gilt, im Grunde ein Tag quellenden Lebens, neuer Hoffnung, machtvollster Aufgaben. Für unsere Gegner sind die Gräber eine gigantische Anklage, für uns ein heiliger Hinweis auf die Zukunft. Sie haben Sturm gesät, sie werden auch Sturm ernten. Und dieser Sturm sind wir. Aus kleinlichen Motiven und geführt und verleitet von selbstsüchtigen kleinen Gruppen, haben sie auf das Fleisch gesät und sie werden Verderben ernten. Wir dürfen vor Gott beschwören, daß wir auf den Geist der Gerechtigkeit und des Friedens gesät haben. Der Krieg ist für uns eine monumental-geistige Sache einer einheitlich auferstandenen, in ihren heiligsten Gefühlen gekränkten und zur Gegenwehr gezwungenen Nation. Diese Nation wird aber auch vom Geiste der Gerechtigkeit und des Friedens ewiges Leben ernten. Amen.«
Das Musikkorps spielte eine Hymne, deren prachtvolle, festliche Töne in der Kirche widerhallten. Ein Quartett stimmte das Ave verum corpus natum an, und schließlich sang die Gemeinde den Choral:
[S. 179] Der Gottesdienst war zu Ende, und die Soldaten gingen hinaus, an der kleinen Jungfrau von Orleans vorüber, die ihnen dank Schillers herrlichem Gedicht keine Fremde war. Gewiß durften die Lichter vor ihr brennen — sie hatte ja die Engländer besiegt. Jetzt wurden sie schnell ausgelöscht, und sie stand wieder einsam träumend und still.
Eine blutige Erinnerung aus dem Französisch-Deutschen Krieg ist mit Bapaume verknüpft. Am 3. Januar 1871 griff General Faidherbe an der Spitze des XXII. und XXIII. Armeekorps General Goeben an, der die 15. Division kommandierte, die 3. Kavalleriedivision und ein kombiniertes Detachement unter Prinz Albrecht. Die deutsche Truppenstärke, wenig mehr als 15000 Mann und 84 Kanonen, war kaum halb so groß wie die französische, zwang jedoch Faidherbe nach neunstündigem Kampf, sich auf Arras und Douai zurückzuziehen.
Nun waren seitdem 44 Jahre vergangen, und Bapaume war wieder in den Händen der Deutschen. Mitten auf dem Markt hatten die Franzosen eine Statue Faidherbes errichtet, ein würdiges Denkmal einer glänzenden Laufbahn. Mehrere Male hatte ihm sein Vaterland die Lösung dringender Aufgaben anvertraut, daheim auf Guadeloupe, in Algier, Senegal, Kabylien, und schließlich war er im November 1870 von Gambetta zum Chef der Nordarmee ernannt worden. Mut, Zuversicht, Initiative und glühender Eifer fehlten ihm nicht, aber gegen die systematisch ausgebildete deutsche Armee vermochte er mit seinen Miliztruppen nichts auszurichten.
Faidherbe überlebte seine Mißerfolge lange, er starb in Paris erst 1889, nach achtzehn Jahren des Grams darüber, daß sein Feldherrntalent nutzlos vergeudet worden war, und zwar durch Verblendung und Unkenntnis der Volksvertreter, die ihr Land an den tiefsten Abgrund nationalen Unglücks führten, dessen unsere Zeit Zeuge gewesen ist.
[S. 180] Da steht er nun in Bronze auf seinem weißen Sockel, eins der Opfer der Verblendung seines Volks. Und um ihn herum stehen die Söhne des Volks, das ihn besiegte, und das nun wieder in den Spuren seiner Väter gesiegt hat. Trotzig und entschlossen steht er da, die Arme gekreuzt; mit der rechten Hand packt er den Griff des Degens. Seine ganze Haltung scheint den unerschütterlichen Entschluß zu verraten, keinen Schritt zurück, nur vorwärts zu gehen; sein Uniformmantel flattert im Winde, seine Mütze sitzt keck und schief. Den Kopf trägt er hoch und stolz. Sein Blick ist auf — deutsche Truppen gerichtet, jetzt wie damals! Viele von denen, die eben in der Kirche waren, haben sich auf dem Markt versammelt. Das Musikkorps bildet einen Halbkreis vor Faidherbes Denkmal. Der Kapellmeister hebt den Taktstock, und nun schallt die »Wacht am Rhein« über den Markt. Zündend umbrausen die Töne der Messinginstrumente den Helden oben auf seinem Sockel. Er scheint trotziger denn je. Er steht da mit gezogenem Degen, auf seinem Gesicht ruht der Ausdruck tiefer Tragik.
Ruhig und sicher stehen die deutschen Musikanten und ihre Kameraden, die sich in Gruppen um sie versammelt haben. Eine Stimmung von Siegessicherheit erfüllt all diese Krieger. Clewing beginnt zu singen, andere folgen seinem Beispiel, und machtvoll wogt der Gesang über den Markt:
Am Abend des 1. November fuhr ich um 7 Uhr mit dem Herzog Adolf Friedrich zu Mecklenburg von Bapaume nach Douai, wo wir um 8 Uhr zum Abendessen beim Chef der sechsten Armee,[S. 181] Kronprinz Rupprecht von Bayern, eingeladen waren. Die Entfernung beträgt gegen 34 Kilometer und wird bequem in dreiviertel Stunden zurückgelegt. Aber die Wachtposten kosten auch Zeit, und es war 5 Minuten vor 8, als wir endlich ankamen. Ein Adjutant führte uns in einen Salon, und dort hatten wir kaum eine halbe Minute gewartet, als Kronprinz Rupprecht schon hereintrat.
Er gehört zu den seltenen Menschen, die alle lieben und bewundern, die Engländer vielleicht ausgenommen, doch ich glaube, die Franzosen würden nicht umhin können, ihm Achtung zu zollen. In der deutschen Armee gilt er als ein ganz hervorragender Heerführer und gründlich geschulter Soldat. Aussehen, Haltung und Sprache sind im höchsten Grade gewinnend und sympathisch. Er ist weder stolz noch herablassend, sondern prunklos und einfach wie ein gewöhnlicher Mensch. Wenn man weiß, daß ihn kürzlich der schlimmste Schlag getroffen hat, der ihn treffen konnte, dann glaubt man vielleicht Spuren davon auf seinem Gesicht zu entdecken, einen Zug von Wehmut, sonst aber verrät weder eine Miene noch ein Seufzer, wie tief er den Tod seines 13jährigen Sohnes betrauert. Wo es Vaterland und Reich gilt, muß alle private Trauer zunächst zurücktreten. Der Kronprinz hat auch keine Zeit, zu trauern oder an den Verlust und die Leere zu denken, die er bei seinem siegreichen Einzug in München fühlen wird. Er lebt für und mit seiner Armee und ist jedem Soldaten ein Vater. Seine ganze Denkkraft, seine ganze physische Stärke, seine ganze Zeit opfert er diesem einzigen großen Ziel.
Kronprinz Rupprecht kommt schnell und ungezwungen herein, streckt uns seine Hände entgegen und heißt uns herzlich willkommen. Dann fügt er mit scherzhaftem Tonfall in der Stimme hinzu: »Ich habe heute abend an meinem Tisch noch andere vornehme Gäste.«
»Wen denn?« fragt der Herzog.
»Den Kaiser«, antwortet der Kronprinz und schlägt die Hände zusammen.
»Den Kaiser?« rufen wir. Wir hatten keine Ahnung, daß er sich überhaupt in dieser Gegend befand.
[S. 182] »Ja, der Kaiser hat heute hier verschiedene Truppenteile besucht und versprochen ..... Doch still, ich höre sein Automobil«, und damit eilte der Kronprinz hinaus.
Inzwischen kam das Gefolge des Kronprinzen herein und begrüßte uns, dann auch die Herren des Kaisers, von denen ich einige kannte. Ehe ich noch hatte fragen können, woher der oberste Kriegsherr gekommen sei, wurden wir in den Speisesaal gerufen. Dort saß der Kaiser bereits auf seinem Platz am Tisch. Wir traten alle an unsere Stühle, aber niemand setzte sich. Der Kaiser saß mit gesenktem Kopf und sah sehr ernst aus. Plötzlich aber schlug er seine blitzenden blauen Augen auf und nickte freundlich nach allen Seiten. Als er mich sah, streckte er die Hand über den Tisch und rief scherzend: »Guten Tag, mein lieber Sven Hedin. Es scheint Ihnen gut zu gefallen in meiner Armee«, was ich ohne einen Augenblick zu zögern bejahte.
Der Kaiser war brillanter Laune. Ich weiß wirklich nicht, ob er schlechter Laune sein kann, denn so oft ich die Ehre hatte, mit ihm zusammen zu sein, war er immer froh, liebenswürdig und lebhaft. Wohl kann er mit scharfen Worten seinem Unmut über eine verächtliche Handlung des Feindes Ausdruck geben, aber bald wird er wieder der reine Sonnenschein und lacht ansteckend über einen lustigen Einfall. Er hat eine großartige Fähigkeit, Leben in eine Gesellschaft zu bringen und das Gespräch in Spannung zu halten, so hier über zweiundeinhalb Stunden. Dabei erzählt er eine Masse merkwürdige Neuigkeiten, Dinge, die sich an den verschiedenen Orten in den letzten Tagen zugetragen haben und wenigstens dem Herzog und mir vollkommen neu waren. Wenn man den Kaiser nach den Verhältnissen irgendeines fernen Landes fragt, aus dem lose, widerspruchsvolle Nachrichten gekommen sind, hält er sofort mit meisterhafter Disposition eine ordentliche Vorlesung über seine innere und äußere Politik, seine Volksstimmungen, seine Hilfsquellen und seine Waffenmacht. Ich erinnere mich nicht, jemand begegnet zu sein, der in dieser Hinsicht sich mit Kaiser Wilhelm messen könnte.
[S. 183] Er hat auch die Gabe, blitzschnell was andere sagen aufzufassen und zu beurteilen. Mit lebhaftem Interesse hörte er Kronprinz Rupprecht zu, als dieser allerlei von seiner Armee berichtete, und mir, als ich das Bombardement von Ostende beschrieb.
Es war ½11 Uhr, als der Kaiser seine Zigarre weglegte und aufstand, um sich mit jenem kräftigen Händedruck zu verabschieden, der durch Mark und Bein geht. Nur der Kronprinz begleitete ihn in das unmittelbar neben dem Speisesaal gelegene Vorzimmer, von dem einige Stufen auf die Straße hinausführten. Ein Soldat stand bereit und hielt den hellen blaugrauen Mantel mit dem dunklen Pelzkragen, ein anderer überreichte die gewöhnliche preußische Offiziersmütze. Nachdem Wirt und Gast sich noch einige Minuten unterhalten hatten, gingen sie zusammen zum Automobil, der Kaiser stieg ein und der Wagen fuhr schnell in die Nacht hinaus.
Um 8 Uhr morgens wieder heraus und fort über das öde Feld von Artois nach Douai! Bald darauf kreuzten wir die Stadt Lille in schneller Windung, fuhren durch die Porte de Roubaix wieder hinaus und folgten in nordöstlicher Richtung der langen, dichtbebauten Straße, die Lille und Roubaix verbindet.
In Roubaix lagen noch 250 Engländer und eine Anzahl Offiziere, die am Nachmittag nach Deutschland transportiert werden sollten. Die Mannschaft war in einem großen Saal untergebracht, vermutlich einem geräumten Restaurant. Möbel waren nicht zu sehen, aber große Bündel Stroh auf dem Boden, besonders an den Wänden. Hier konnten sich die Soldaten ihr Nachtlager herrichten, und sie litten wahrhaftig keine Not. Ein Tommy, der eine ungefährliche Kopfwunde hatte, wurde gerade von einem englischen Arzt, der selbst Gefangener war, behandelt. In einem angrenzenden Zimmer mit Glasdach standen lange Reihen von Tischen und Stühlen, wo die Gefangenen ihre Mahlzeiten einzunehmen pflegten. Hier photographierte ich ein paar Gruppen,[S. 184] durch die der Leser sich überzeugen kann, daß die Engländer in der Gefangenschaft weder betrübt noch leidend aussehen. Auf dem einen Bild haben sie sogar eine muntere, mollige Französin bei sich, aber ich muß zu ihrer Ehre zugestehen, daß die edle Dame selbst darum gebeten hatte, mit ihren Verbündeten und zufälligen Eßkunden zusammen porträtiert zu werden. Sie war nämlich die Wirtin und überwachte die Verpflegung der Gefangenen.
In der Wirtschaftsküche kochte die Gefangenenkost in großen Kesseln; auch dort war das Personal zum überwiegenden Teil französisch. Wer die Deutschen anklagt, daß sie mit der Verpflegung der Gefangenen knausern, der sollte sich im Restaurant zu Roubaix umsehen. Dort war alles reichlich und gut. Austern, Trüffeln und Plumpudding gab es zwar nicht, aber die Söldner, die zufällig aus Eastend waren, hatten wahrscheinlich lange nicht so gut gegessen wie in Roubaix. Dazu kam, daß die französische Wirtin in Tommy Atkins ziemlich verliebt war und wie eine Adlermutter dafür sorgte, daß er das nötige Essen bekam.
Es geschieht nicht, um meiner Kamera zu schmeicheln, wenn ich behaupte, das eben erwähnte Bild sei eine treffliche Illustration der »Entente cordiale« der Westmächte. Die französische Dame lächelt und strahlt und kann sich keine feinere Einfassung denken als zwischen handfesten englischen Soldaten. Sie sollte an den Sinn des lustigen Liedes denken, das mit den Worten schließt: »I love you my darling, cette phrase vous coutera beaucoup«, und dessen Moral ist: La France pour les Français! Es ist gefährlich, mit Tommy Atkins zu kokettieren. Es läßt ihn ganz kühl, das sieht man auf dem Bild. Er sitzt kalt wie eine Marmorstatue und schenkt seiner Pflegerin keinen andern Gedanken als den: Geh zu, wir werden die Suppe essen, die du kochst! Wann wird sie es satt sein, so undankbar behandelt zu werden? Wird sie damit fortfahren, bis ihr das Letzte genommen ist?
In dem großen Saal lagen nun Tommy Atkins und seine Kameraden und ruhten im Stroh. Sie sahen frisch und munter aus, und viele hatten sympathische, männliche Züge. Als ich vor[S. 185] einer Gruppe stehen blieb und mich mit den Leuten unterhielt, blieben sie ungeniert liegen, antworteten aber sehr höflich und mit der unerschütterlichen Ruhe, die für ihre Rasse charakteristisch ist. Sie gestanden offen zu, daß sie mit der Behandlung, die sie erfuhren, und mit ihrer Kost zufrieden seien. Einer von ihnen fand, man könne es im Kriege gar nicht besser haben. Das einzige, was ihnen nicht gefiele, wäre, daß sie im Saal nicht rauchen dürften. Ein deutscher Offizier, der neben uns stand, erklärte ihnen, der Saal sei feuergefährlich, nicht zum wenigsten wegen des trockenen Strohs, und die Deutschen wünschten nicht, daß ihre englischen Gefangenen hier verbrennten.
In einem großen, gemütlichen Zimmer im ersten Stock wurden drei Offiziere gefangen gehalten, ein Hauptmann und ein Leutnant, beide Engländer, und ein französischer Leutnant. Jeder von ihnen hatte sein gutes, reinliches Bett und im übrigen Tisch und Stühle und andere notwendige Möbel.
Der englische Leutnant war ein feiner und angenehmer junger Mann, der Sohn eines angesehenen Londoner Kaufmanns. Sein Vater stand in Geschäftsverbindung mit Deutschland, und er selbst war, ich glaube, in Hamburg gewesen, um Deutsch zu lernen. Der Krieg hatte alle seine Pläne auf den Kopf gestellt. »Aber wir hatten doch keine andere Wahl und mußten mit!« meinte er.
Gar zu gern hätte ich noch gesehen, wie es den Indern in dem nebligen Herbst von Artois und Flandern erging. Aber die indischen Gefangenen der Zitadelle von Lille hatte man eben nach Osten abgeschoben, um neuen Scharen Platz zu machen. Ich selbst hatte einmal erfahren, wie es sich rächt, Inder in ein kälteres Klima zu verpflanzen. Auf meiner letzten Reise nach Tibet hatte ich zwei Radschputen aus Kaschmir mit. Als wir in die Berge hinaufkamen, waren sie dem Erfrieren nahe, und mein Karawanenführer Muhamed Isa erklärte, sie seien so nutzlos wie junge Hunde. Ich mußte sie deshalb verabschieden. Ähnlich erging es[S. 186] mir mit meinem indischen Koch; er war außerhalb Indiens völlig unbrauchbar. In Tibet lebt man von Fleisch, in Indien von Vegetabilien. Wie hätte er eine so plötzliche Veränderung des Klimas und zugleich der Diät ertragen können!
Nun berichtete die Presse, die Engländer hätten einen vollständigen Import von Indien nach Europa angeordnet. Es fiel mir schwer, das zu glauben, aber an der Front erfuhr ich, es sei wahr. »Wie behandeln Sie die indischen Soldaten?« fragte ich einmal ein paar Offiziere. — »Wir arretieren sie«, antwortete einer, und ein anderer fügte hinzu: »Das braucht es gar nicht; sie werden bald in den Schützengräben erfrieren.«
Wenn ich zugestehe, daß ich selbst eine Dummheit beging, als ich glaubte, Inder könnten in Tibet Dienste tun, so darf ich wohl behaupten, daß Lord Charles Beresford eine noch siebenmal größere Dummheit beging, als er die Hoffnung aussprach, »indische Lanzenreiter die Berliner Straßen räumen und die kleinen braunen Gurkhas es sich im Park von Sanssouci bequem machen zu sehen.«[*] Aber dieser Import ist mehr als eine Dummheit — er ist ein Verbrechen!
[*] Dieses Zitat ist Professor Steffens Buch »Krieg und Kultur« entnommen, das ich aufs wärmste jedem empfehle, der in die sozial-psychologischen Irrgänge des Weltkriegs eindringen will.
Großbritannien hat bald hundertundfünfzig Jahre glänzend seine Mission erfüllt, Indiens Vormund zu sein; einem andern Volk würde diese Riesenaufgabe kaum so gelingen. Indische Truppen haben mit Ehren gegen ihre Nachbarn gekämpft und dazu beigetragen, die Ordnung unter 300 Millionen aufrechtzuerhalten. Aber niemals ist es einer englischen Regierung eingefallen — »vor dem jetzigen Liberal Government« —, farbige Heiden gegen christliche Europäer zu verwenden! Das ist ein Verbrechen an Kultur, Zivilisation und Christentum. Und wenn die englischen Missionare es billigen, dann sind sie Heuchler und schlechte Verkündiger des Evangeliums. Indiens englische Herren[S. 187] verachten mit Recht alle ehelichen Verbindungen zwischen Weißen und Hindus; die Kinder aus solchen Ehen werden wie Maulesel betrachtet, oft auch so genannt; sie sind weder Pferd noch Esel, sie sind halfcast. In Kalkutta haben sie ihr eigenes Viertel und dürfen in keinem andern Stadtteil wohnen. Aber — wenn es sich darum handelt, die »deutschen Barbaren« niederzuwerfen, dann ist eine Verbindung mit dem bronzefarbenen Volk Indiens für den Engländer gut genug!
Ist es ein des zwanzigsten Jahrhunderts würdiger Fortschritt in Kultur und Zivilisation, daß man die ahnungslosen Inder Hunderte von Meilen über Meer und Land schleppt, um sie auf den Schlachtfeldern Europas gegen die ersten Soldaten der Welt, die deutsche Armee, ins Feuer zu treiben? Wenn diese Frage mit Ja! beantwortet werden kann, bleibe ich doch unerschütterlich bei meiner Auffassung, daß eine solche Handlungsweise der Gipfel der Grausamkeit ist! Grausam nicht gegen die deutschen Soldaten, denn ich weiß, was für Empfindungen die indischen Gegner ihnen einflößen: Verachtung und Mitleid! Auch geht es nicht recht vorwärts mit der »Räumung der Berliner Straßen«, und die Linden von Sanssouci werden wohl kaum über den Kriegerstämmen von den Abhängen des Himalaja rauschen.
Was mögen diese indischen Truppen von ihren weißen Herren denken! Das wird die Zukunft zeigen. Wer etwas von dem Land der tausend Sagen gesehen hat, wer über die Kämme des Himalaja geritten ist, wer im Mondschein beim Tadsch Mahal träumte, wer den heiligen Ganges in grauen Ringen leise an den Kais von Benares vorübergleiten sah, wer entzückt war von dem Zug der Elefanten unter den Mangobäumen in Dekkan, mit einem Wort, wer Indien liebt und die Ordnung und Sicherheit bewundert, die unter der englischen Verwaltung dort herrscht, der bedarf keiner starken Phantasie, um zu begreifen, mit welchen Gedanken die indischen Soldaten zurückkehren werden, und mit welchen Gefühlen ihre Familien und Landsleute in den kleinen engen Hütten an den Abhängen des Himalaja ihren Berichten[S. 188] lauschen werden. Er kann nur mit Schaudern daran denken, denn er muß sich sagen, daß hier im Namen der Zivilisation ein Verbrechen an Zivilisation und Christentum begangen wird.
Die Frage läßt sich nicht unterdrücken: werden diese indischen Kontingente wirklich gebraucht? Reichen die weißen Millionen Großbritanniens, Kanadas und Australiens nicht zu, von Franzosen, Belgiern, Russen, Serben, Montenegrinern, Portugiesen, Japanern, Turkos und Senegalnegern nicht zu reden? Es scheint wirklich so. In der »Times« vom 5. September liest man in den fettesten Lettern die Überschrift: The need for more men. (Mangel an Leuten.) Schon damals brauchte man mehr Leute, um die »Kultur« der »deutschen Barbaren« auszurotten! Das englische Volk muß mit besonderen Mitteln dazu erzogen werden, Anlaß und Zweck des Kriegs zu begreifen! Sonst bleiben die Engländer zu Hause und spielen Fußball und Cricket.
Und wie steht es nun um diese neue Volkserziehung? Darüber unterrichtet uns die englische Presse täglich. Sie ist eine systematische Lüge! Die verhängnisvolle Wirklichkeit, die England langsam einer Katastrophe zuführt, muß durch eine strenge Preß- und Telegrammzensur verheimlicht werden. Von Hindenburgs Siegen hat das englische Volk keine Ahnung. Die Entwicklung der deutschen Operationen in Polen wird in ein siegreiches Vorrücken der Russen auf Berlin umgedeutet! Über den deutschen Kaiser verbreitet man die schändlichsten Verleumdungen! Die Germanen sind Barbaren, die zerschmettert werden müssen, und an diesem preiswürdigen Unternehmen müssen die zivilisierten Völker Serbiens, Senegambiens und Portugals teilnehmen! England führt den Krieg durch konsequente Fälschung der Wahrheit, die in der englischen Presse so selten ist wie in der deutschen die Lüge.
Aber glaubt denn das Volk wirklich alles, was in den englischen Zeitungen steht? Ja, ganz blind! Davon habe ich mich durch Briefe aus England überzeugen können. Ein mir zugeschickter Aufruf, der von vielen Gelehrten — darunter mehrere Träger des Nobelpreises! — unterzeichnet ist, schließt mit den[S. 189] Worten: »Wir beklagen tief, daß unter dem unheilvollen Einfluß eines militärischen Systems und seiner zügellosen Eroberungsträume der Staat, den wir einmal geehrt haben, jetzt als Europas gemeinsamer Feind und Feind aller Völker, die die Rechte der Nationen achten, entlarvt ist. Wir müssen den Krieg, in den wir uns eingelassen haben, zu Ende führen. Für uns wie für Belgien ist er ein Verteidigungskrieg, der für Freiheit und Frieden durchgekämpft wird.«
Die alte Geschichte vom Splitter und Balken! Ist denn Englands Weltmeerherrschaft kein militärisches System? Läßt sich ein ausgedehnterer Militarismus denken als der, der seine Werbungen über fünf Kontinente ausdehnt? Der sogar nach dem Strohhalm greift, den das republikanische Portugal darreicht, und in den Zeitungen The need for more men annonciert?
Was war denn der Burenkrieg? Vielleicht eine Äußerung derselben humanen »Fürsorge für die kleinen Staaten«, die jetzt England eine Lanze für Belgiens Selbständigkeit brechen läßt?
Es wäre nutzlos, jetzt, wo es zu spät ist, ergründen zu wollen, wie sich der große Krieg würde entwickelt haben, wenn England ruhig geblieben wäre. So viel aber ist sicher, daß Belgien dann seine Selbständigkeit nicht länger eingebüßt hätte als bis zum Friedensschluß. Der Krieg wäre dann auch nicht zu einem Weltkrieg angewachsen wie jetzt — zu der größten und tragischsten Katastrophe, die je das Menschengeschlecht heimgesucht hat. Keine Nation hat je eine größere, weltumfassendere Verantwortung getroffen als England! Und man kann die Männer nur tief beklagen, die vor Gegenwart und Nachwelt diese erdrückende Verantwortung werden zu tragen haben.
Am 4. November war die Zeit meines Aufenthalts an der Front abgelaufen, und ein Auto brachte mich nach Metz. Nie habe ich einen vornehmeren Chauffeur gehabt als diesmal, denn der Herzog Adolf Friedrich selbst hatte am Steuer Platz genommen.[S. 190] Es war die wildeste Fahrt, die ich je mitmachte. Der Herzog lenkte mit verblüffender Ruhe und Kaltblütigkeit; wo es auf freier Chaussee geradeaus ging, legten wir 90 bis 100 Kilometer in der Stunde zurück. Zuweilen konnte man kaum Atem holen, aber herrlich war es doch, mit solcher Schnelligkeit das Land zu durchfliegen. Um 9 Uhr 20 morgens waren wir abgefahren, und bald nach Einbruch der Dunkelheit langten wir in Metz an.
Von den mannigfachen Abenteuern meiner Rückfahrt kann ich in diesem Büchlein, das ja nur einen kleinen Teil meiner Erlebnisse an der deutschen Front wiedergibt, nicht weiter erzählen. Auch meinen Aufenthalt in Metz, meinen letzten Besuch an der Front bei Blamont, meine Heimfahrt über Ludwigshafen und Mannheim, meine »Verhaftung« in Heidelberg als Spion und die köstliche Gestalt, die diese harmlose Episode in der französischen und englischen Presse annahm, meinen Besuch bei der Großherzogin Luise von Baden und im Lazarett zu Karlsruhe, meinen schließlichen Aufenthalt in Berlin — alles dies werden meine Leser in meinem großen Buche geschildert finden, in dem ich weit ausführlicher über meine Eindrücke an der deutschen Front, die zu den stärksten meines Lebens gehören, Rechenschaft ablege.
Nur eine Anekdote sei hier noch mitgeteilt, da sie ein treffliches Gegenstück zu Tommy Atkins und seiner französischen Wirtin bildet. Gewisse Zeitungen hatten behauptet, die Deutschen behandelten ihre Kriegsgefangenen grausam und unmenschlich. In dem großen Gefangenenlager in Döberitz bei Berlin, das ich mit Erlaubnis des stellvertretenden Generalstabs gründlich besichtigen durfte, hatte ich Gelegenheit festzustellen, daß diese Behauptung ebenso eine Lüge ist wie alles andere, was augenblicklich zur kriegerischen »Erziehung« des englischen Volkes von seiner Regierung in die Welt hinausposaunt wird. Das Döberitzer Lager enthielt 4000 Russen, 4000 Engländer und einige hundert Franzosen, Belgier und Turkos; Exemplare des übrigen ethnologischen Farbenkastens waren leider nicht da.
Die jetzige Freundschaft zwischen Engländern und Russen bewährt[S. 191] sich im Gefangenenlager keineswegs. Tommy betrachtet Ivan als einen verlausten Wilden, und Ivan sieht in Tommy einen aufgeblasenen Renommisten, mit dem die anspruchslosen Gäste des Samovars nicht verkehren.
Im Krankenhaus in Döberitz ging ein Tommy auf und ab. Er sah bleich aus, war aber Rekonvaleszent.
»How are you getting on?« fragte ich. — Keine Antwort.
»I hope you will become a little bit of all right, by and by«, begann ich von neuem. Tommy sah mich nur lächelnd an.
»Ist er taub oder blöd?« fragte ich den Arzt, der uns begleitete.
»Nein, er ist — Russe«, antwortete der Arzt lachend.
Wie dieser Russe in Tommys Uniform geraten war, blieb ein ungelöstes Rätsel! —
Wahrlich, es wird einem wunderlich zumute, wenn jetzt, wo es die Vernichtung Deutschlands gilt, Tommy Atkins und Ivan Ivanowitsch sich einreden, gute Freunde zu sein! Ist die Gefahr einer russischen Invasion in Indien, die einsichtige Engländer wie Lord Curzon, der bedeutendste Vizekönig, den Indien bisher hatte, seit vielen Jahren prophezeien, weniger drohend geworden?
Gewiß, es gibt für Rußland einen andern Ausweg nach dem Meere, und zwar nach Westen — und meine schwedischen Landsleute sollten das nicht vergessen!
Gott schütze mein Vaterland!
Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.
Der Name Sven Hedin ist ein Programm, ein Kennwort für Reiselust und Forscherdurst, für Wagemut und Unerschrockenheit (Schlesische Ztg.). Hedins Verdienst ragt über die Fachwissenschaft riesengroß empor; er lehrt uns, neue Teile der Erde mit den Augen des Kulturmenschen sehen. Mit um so größerer Freude bekennen wir das, als er selbst erklärt hat, daß die Wurzeln seiner Wissenschaft in deutschem Boden stecken (Konservative Monatsschrift). Von allen Forschungsreisenden der Gegenwart steht er uns menschlich am nächsten, denn es gibt keinen andern, der sich so unbefangen und vielseitig zeigt (Neue Hamburger Ztg.). Seine Erzählerkunst ist von einer zwingenden Objektivität; er berichtet die gefahrvollsten Abenteuer, die merkwürdigsten Wunder mit solcher Selbstverständlichkeit, daß man den schweren Ernst seiner Aufgabe oft verschwinden sieht. Es gibt wohl in der heutigen Reiseliteratur wenig Werke, die wissenschaftlich so bedeutsam und dabei als reine Unterhaltungsmittel so plastisch und fortreißend sind (Berliner Tageblatt). Er versteht es meisterhaft, im leichten Plauderton seine wissenschaftlichen Ergebnisse mitzuteilen, so daß man belehrt wird, ohne es zu merken (Vorwärts). An Hedin am meisten zu schätzen ist jedoch die geradezu geniale Art, wie er uns all die fremden Menschen, die entweder die wechselvollen Schicksale seiner Reisen teilten oder ihm auch nur flüchtig begegneten, vertraut und lebendig macht. Diese lebensvolle Menschenschilderung bildet unbedingt den Gipfelpunkt seines schriftstellerischen Könnens (Rud. Greinz im Deutschen Literaturspiegel). Wohl kein Geograph unserer Tage versteht es wie Hedin, die Resultate großer wissenschaftlicher Fragen mit dem liebevollen Auge des edlen Menschen zu sehen und zu schildern (Echo der Gegenwart). Zu alledem kommt noch, daß Hedin nicht nur ein Meister der geographischen Wissenschaft, eine auch in ihrer reinen Menschlichkeit interessante und fesselnde Persönlichkeit und glänzender Darsteller, sondern auch ein virtuoser Zeichner und Aquarellist ist und seine Werke nicht nur mit vortrefflichen Photographien, sondern auch mit einer Menge individuell gesehener Figuren- und Landschaftsbilder schmücken konnte (Düsseldorfer Ztg.). — Hedins Werke sind:
Durch Asiens Wüsten. (107 Abb., 2 farbige Tafeln, 5 Karten) Gebunden 10 M.
Im Herzen von Asien. (407 Abbildungen, 5 Karten) 2 Bände, gebunden 20 M.
Transhimalaja. (397 Abbildungen, 10 Karten) 2 Bände, geb. 20 M. Ergänzungsband geb. 10 M.
Zu Land nach Indien. (308 Abb., 6 Taf., 15 Panoramen, 2 Karten) 2 Bde. geb. 20 M.
Als Volks- und Jugendbücher besonders zu empfehlen:
Abenteuer in Tibet. (137 Abbildungen, 8 farbige Tafeln, 4 Karten) Gebunden 8 M.
Von Pol zu Pol. Vom Nordpol zum Äquator. ◇◇◇◇ Rund um Asien. ◇◇◇◇ Durch Amerika zum Südpol. Jeder Band einzeln käuflich, gebunden 3 M.
Durch den Weltkrieg 1914–15 gewinnt schließlich Hedins politische Broschüre:
Ein Warnungsruf. (Geheftet 50 ₰) die Bedeutung einer scharfsinnigen Prophezeiung.
Verlag F. A. Brockhaus, Leipzig.