Title: Komödiantinnen: Roman
Author: Walter Bloem
Release date: January 12, 2014 [eBook #44647]
Most recently updated: October 23, 2024
Language: German
Credits: Produced by Tor Martin Kristiansen, Jan-Fabian Humann,
Norbert Müller and the Online Distributed Proofreading
Team at http://www.pgdp.net
Ullstein-Bücher
Eine Sammlung
zeitgenössischer Romane
Ullstein & Co / Berlin und Wien
Komödiantinnen
Roman von
Walter Bloem
Ullstein & Co / Berlin und Wien
Alle Rechte, insbesondere das der Uebersetzung vorbehalten. — Copyright 1914 by Ullstein & Co
Aus tiefdunklem Jugendschlummer fuhr Hans Thumser mit einem Ruck in die Höhe. Teufel auch! das nenn' ich dachsen! Und diese Pestbeule von einem Korpsdiener hatte mich doch wecken wollen? Wieviel mag's denn sein? Uhr steht natürlich — Skandal! schon wieder mal das Aufziehen verbummelt! Und schon ganz hell! Jeden Augenblick muß der Wagen kommen mit Pilgram, dem gestrengen Senior, der so verdammt ungemütlich werden kann ... und mit Durchlaucht, dem fürstlichen Konkneipanten eines wohllöblichen C. C. der Franconia ... und dann warten lassen?! Herrgottsakra — rin' in die Buchsen —!
Durchs offene Fenster schwamm herbstlicher Frühnebel in das schummrige Studentenbudchen. Matt flimmerten an den Wänden die dreifarbenen Wappenschilde, die gekreuzten Schläger, die langsam einstaubenden Mützen und Bänder — weit matter noch vom Schreibtisch her die Goldtitel des corpus iuris, der spärlichen Lehrbücher der Rechtswissenschaft ... Und weiß blinkte nun der gertengeschmeidige Körper des jungen Studenten: Hals und Nacken wurden mit raschen, scharfen Güssen erfrischt, und dann wusch der Jüngling sorgsam das dichte braune Haar mit schäumendem Bay-Rum durch, um alle septischen Stoffe zu entfernen und der Säuberungsarbeit des Paukarztes vorzuarbeiten ... Denn heute bekam Hans Thumser Prügel, das stand in den Sternen geschrieben. Herr Borgmann, Neo-Borussiae gewesener Zweiter, Erster ad interim war der S. C. Fechter ... gegen den konnte der schlanke Fuchsmajor der Franken nicht an. Da galt es nur, sich gegen die unvermeidliche Abfuhr zu wehren, solange Faust und Klinge hielten ... Schade, daß es gerade der Borgmann sein mußte, der einen unterkriegte — dieser üble Geselle, den man nicht riechen konnte, mit seinem suffisanten Gesicht, seinem fatzkigen Lächeln, den frostigen Froschaugen — dem mal einen Streicher über die Ohrfeigenvisage ziehen, von der Temporalis bis ins Kinn — aber nee, nich dran zu denken, er konnte zu viel, der Affe, der miserablichte!
So — die Toilette wäre beendigt! Noch einen Blick in den Spiegel — ade, du große schmale Nase, vielleicht auf Nimmerwiedersehen — na, und auf Stirn und Wange ist ja auch noch eine ganze Menge Platz, zwischen den alten Abfuhren aus Heidelberg und denen vom Sommer, und nun statt der grünen Mütze für heute den weichen Knockabout auf die Stirn gestülpt — denn in jener Stadt, in der das Reichsgericht saß, die erleuchtete Körperschaft, welche die Schlägermensur für einen Zweikampf mit tödlichen Waffen im Sinne des Strafgesetzbuches erklärt hatte — im guten biedern Leipzig waren Staatsanwaltschaft und Polizei nach der Mahnung jenes schönen Würzburger Studentenverses tätig:
Auch das dreifarbene Band wanderte zusammengerollt in die Tasche — erst draußen im braunen Herbstwalde bei Knauthain würde es sich um die junge Brust schlingen dürfen ... und nun hinaus ... das Frühstück mußte man sich für heut verkneifen, denn Frau Marie Wehe, genannt Mutter Ach, stand um fünf Uhr noch nicht auf aus ihrem keuschen Witwenbette ...
Als Hans Thumser im dunklen Korridor an der Tür zu der Nachbarbude vorüberschritt — der Nachbarbude, die dies Semester zu Mutter Achs bittrem Schmerz unvermietet geblieben war — da stolperte er plötzlich über etwas Zierliches, Weiches ... was Teufel — also doch noch Nachbarschaft gekommen —?!
Hans Thumser bückte sich und hob ein Etwas auf, das nur ... ein Lackschuh sein konnte ... und zwar ein winziger ... mit knisternder Seidenschleife besetzter ... ein feiner, geheimnisvoll irritierender Duft entstieg ihm ... Hans Thumser trat mit seinem seltsamen Fund an die Mattscheibe der Korridortür, die ein falbes Licht einfallen ließ, und betrachtete mit der naiven Andacht seiner unverwöhnten zwanzig Jahre das zierliche Wunder. Gott, welch eine Wirrnis von Träumen stieg empor aus diesem schmalen Kahn der Sehnsucht ... Mit einem tiefen Seufzer, von fröstelnden Schauern überrieselt setzte der Jüngling seine Beute sacht und herzklopfend wieder vor die Tür, die nun auf einmal ein Eden barg. Ein weißes Viereck schimmerte matt vor dem des Dämmers nun gewöhnten Blick, als der Student sich wieder zu seiner ganzen Länge aufgerichtet ... in unzähmbarer Neugierde tastete er nach seiner Zündholzschachtel und las im zuckenden Flackerlichte die lithographischen Schriftzüge:
Asta Thöny
Herzoglich Meiningische Hofschauspielerin
Was ... war das?!
Hans Thumser hatte auf eines jener Dämchen geraten, die sich wohl bisweilen im Quartier latin einnisteten, um Jugendglut und Monatswechsel der akademischen Bürger zu brandschatzen ... und nun —?!
Eine Künstlerin ... ein Mitglied jener erlauchten Komödiantengilde, deren Siegeszug dem staunenden Deutschland, nein der Kulturwelt erst erschlossen die ganze Herrlichkeit des klassischen deutschen, des klassischen germanischen Dramas —?!
Hans Thumser sah sich in der Heimatstadt, auf einem Platze des zweiten Ranges, den er vom Taschengeld abgeknausert, abgebettelt dem gütigen Vater, der so schlecht nein sagen konnte — sah sich sitzen als ahnungsvollen Primaner und lauschen — lauschen in Verzückung und Tränen ... schauen voll seliger Gier und ungläubig-gläubigen Ueberschwangs in eine Wunderwelt hinein, da alle seine Träume die Erfüllung fanden ... und sah sich am andern Tage auf der Schulbank, stumm und stumpf bei jeder Frage der Lehrer, gleichgültig gegen ihren Zorn und den Spott der Mitschüler, die nicht ahnen konnten, was mit dem Primus vorgegangen ... was ihm die flinke Zunge, das unfehlbare Gedächtnis lähmte ...
Und nun —?! Eine Meiningerin — und seine Zimmernachbarin?
Was konnte das bedeuten —?
Etwa dies: daß die Meininger in Leipzig wären — gastierten drüben im Carolatheater —?
Und davon — davon hatte man nichts erfahren?
Freilich — unmöglich wär's nicht — wie man so dahinlebte, das Gladiatorendasein des aktiven Korpsstudenten ...
Asta Thöny? Nein — den Namen Asta Thöny verzeichnete seine Erinnerung nicht — das mußte wohl ein neues Mitglied sein, schlank und ... duftig wie die Schuhchen, von denen nun, im wachsenden Tageslicht, ein paar Lichtpünktchen aufgleißten aus dem Dämmer des Korridors ...
Aber ein anderer Name stieg nun auf, ein weißleuchtendes Mädchenbild tauchte glorienumstrahlt aus der Tiefe seiner Visionen: Jucunda Buchner, die kaum Sechzehnjährige, die Thekla der Meininger ...
Sie sah er, im dritten Akt der »Piccolomini«, einsam im finstern Schloßgemach, mit der Laute hineingeschmiegt in einen faltenstarren rotsamtenen Vorhang, scharf abgehoben die weiße Gestalt vom riesigen Fenster, durch dessen hundert kreisrunde Scheiben die sternlose Nacht hineinglotzte ... und wie ein Kind im Finstern singt, die Herzensbangigkeit zu betäuben, so verloren, so verlassen, so angstumschauert hatte das junge Weib seine schmachtende Weise vor sich hingelallt:
O Erinnerung ... o Ahnung ... o Kunst, du mächtige Weckerin, Vorschule des Lebens, Tummelplatz der werdenden, in Werdeschauern erzitternden Seele —!
Gelebt und geliebet ... und du, junges Studentlein im finstern Korridor — aus dessen Dunkel die weißen Lichtpünktchen glitzern von Asta Thönys Lackschuhchen — —?!
Hans Thumser schrak zusammen. Ihm war's, als hätte er aus weiter Ferne, ungeduldig, seinen Namen rufen gehört ...
Und richtig:
»Thumser! Thumser! Zum Donnerwetter, wenn Du jetzt nicht kommst, fahren wir ohne Dich!«
Ach so ... ach ja ... die Stunde, die heischende ... die Stunde des Burschenkampfes ...
Hans Thumser fuhr auf, reckte sich — kein Abschiedsblick mehr zurück zu den Lichtpünktchen drunten, dem weißen Kärtchen an der Pforte des Geheimnisses — fort — hinaus —!
Er flog die krachenden Stiegen hinunter, der mächtige Haustürschlüssel knarrte im Schloß — und draußen auf der morgenstillen, morgenleeren Sophienstraße empfing ihn ein Durcheinander von Begrüßung und Vorwurf —
»Na, Du Schlafratze — endlich ausgepennt?« zürnte der Senior vom Rücksitz aus. Und:
»Hatten schon alle Hoffnung aufgegeben, Sie noch unter den Lebenden begrüßen zu dürfen!« schnarrte der Major von Gorczynski, dessen kantige Reiterfigur sich noch immer nicht in das elegante Zivil des Prinzenbegleiters eingewöhnen mochte.
Erbprinz Heribert aber, der durchlauchtigste Konkneipant der Franken, zog nur stumm und mit indignierter Miene den steifen grauen Filzhut. Also man ließ warten! na ja, an einer deutschen Hochschule funktioniert der Betrieb nun einmal nicht wie am herzoglichen Hofe zu Nassau-Dillingen ... man mußte Nachsicht üben ...
Mit einem Ruck saß Hans Thumser neben seinem Korpsbruder auf dem Rücksitz, dem Prinzen gegenüber, der ihn durch sein Monokel mit kühl-durchdringendem Blick niederzuschmettern suchte, was ihm freilich nicht gelang.
»Also wenn Durchlaucht gestatten, fahren wir ab!« sagte Valentin Pilgram mit korrektem Gesicht. Er war auch nicht sehr erbaut von der Ehre, einen prinzlichen Mitkneipanten im Korps durch das Semester schleppen zu müssen, zumal einen solchen faden Burschen, der nicht warm wurde unter den Kommilitonen, deren Mütze er wie zum Maskenscherz die wenigen Male aufsetzte, wenn er gelangweilt und verständnislos an den offiziellen Veranstaltungen des Korps teilnahm ... indessen das gehörte nun einmal dazu ...
»Also los, Kutscher und lassen Sie gefälligst die Gäule loofen, sonst fällt der erschte Hieb, ehe wir draußen sind!«
»I herrjemerschnee, Herr Pilgram, das kann Sie ja gar nich passier'n — de Allererschten wär'n mer sein am Platze, da genn' Se sich drauf verlass'n!« ...
Als der Wagen anzog, fiel der Blick der Abfahrenden auf eine lange Kolonne riesiger Möbeltransportwagen — drüben waren sie aufgefahren vor der nüchternen Häuserfront, deren Erdgeschoß die Einfahrt zum Carolatheater durchstieß. Das Theater selber lag verborgen und schmucklos dahinter im Hofe. Um die Wagen aber sammelte sich eine Rotte herkulischer Blusenmänner und begann sie zu entladen. Was kam da alles zum Vorschein!
Das erste, was das Auge der Wageninsassen entdeckte, war der riesige Körper eines schwarzen Pferdes, in liegender Stellung, in der Stellung des Todes ausgestopft ... Unter derben Späßen hoben die untersetzten Arbeiter die Bestie aus dem Finstern des Wagens und trugen sie in die Dämmerung des Flurs. Und im schnellen Davonfliegen des Wagens erfaßte der Blick der Enteilenden noch ein Chaos von Gegenständen, die bereits ausgepackt an den Hauswänden lehnten: ein ganzes Arsenal eiserner Rüstungen, Schwerter, Hellebarden, Federhelme ... und noch allerhand Dinge, seltsam durch ihre Lage und Zusammenstellung: einen prunkvollen gotischen Altar, einen mächtigen Eichbaumstumpf, dessen papierene Blätter im Herbstmorgenhauche gespenstisch raschelten — und endlich ein kolossales Renaissance-Büfett, das Hans Thumser auf den ersten Blick wiedererkannte: es hatte im Bankettsaal des Grafen Terzky gestanden, der Zecherrausch der Friedländischen Generale hatte es umbrandet — damals, im Barmer Stadttheater, als Hans Thumser in Fieberschauern den »Wallenstein« erlebte ...
»Die reine Trödelbude —« sagte Valentin Pilgram, der Senior, und zog die Winkel des schmalen Mundes verächtlich herab. »Ooch 'n Geschäft, sich Abend für Abend die Visage zu beschmieren, sich vor so'ne Lappen hinzustellen und mit Armen und Beinen zu fuchteln ...«
Die blassen, matten Züge des Erbprinzen hatten sich plötzlich belebt. »Sie vergessen, lieber Pilgram, daß diese Fuchtelei mit Armen und Beinen doch manchmal ganz niedlich anzusehen ist ... namentlich wenn diese Arme und Beine — halten Sie sich mal die Ohren zu, Herr Major! — na also, wenn sie schlank, jung und ... feminini generi sind ...«
»— generis, Durchlaucht!« erlaubte sich der Erzieher zu bemerken.
»Echauffieren Sie sich nicht, lieber Major — als Sprachlehrer sind Sie nicht engagiert — Sie haben nur für meine Moral zu sorgen — wenn's auch schwer fällt ... aber nun sagen Sie mal, Sie Alleswisser — was bedeutet denn dieser Apparat da vor dem ollen muffigen Carolatheater?«
»Die Meininger, Durchlaucht, beginnen in fünf Tagen ein vierwöchiges Gastspiel in Leipzig,« sagte der Major.
»Und das haben Sie mir bis jetzt unterschlagen, Sie Cerberus?«
»Ich habe nicht gewußt, daß Durchlaucht sich auch für ernste Kunst interessieren ...«
»Ah bah — Theater ist Theater ... und wo kann der Thronfolger eines — na sagen wir mal eines Staates von mäßigem Umfang — wo kann ich mich besser auf meinen künftigen Beruf vorbereiten als im Theater? Mein Hoftheater, das ist doch der einzige Platz, wo ich später ... gewissermaßen ... wirklich mal was zu sagen haben werde ...«
»Durchlaucht ... ich darf wohl bitten ...« warf der Major ein.
»Na, jedenfalls ist das meine Auffassung!« lachte der Erbprinz, »— können Sie meinetwillen nach Dillingen berichten! Und das bitte ich mir aus, Herr Major: bei den Meiningern belegen Sie heut abend sofort die vorderste Proszeniumloge! Ich sehe mir die ... Kunst ... gern aus der nächsten Nähe an! Lieber Pilgram — zur Eröffnungsvorstellung sind Sie mein Gast, nicht wahr?«
»Sehr gütig, Durchlaucht ...« sagte Valentin Pilgram und sann nach. »Das wäre, soviel ich weiß, am nächsten Mittwoch ... da haben wir allerdings offizielle Kneipe, und ich als Erster Chargierter dürfte eigentlich nicht ... und dann ... habe ich auch nicht allzuviel fürs Theater übrig ...«
»Philister Sie! Na und Sie, Herr Thumser — wie wär's mit Ihnen?«
Hans Thumser wurde glühendrot ... halb in Glück, halb in Befangenheit ... er hatte sich bereits schmerzlich bewegt ausgerechnet, daß es gegen Ende des Monats gehe, und sein Wechsel ihm einen Besuch der Meininger wohl schwerlich vor dem ersten November gestatten würde ... also das fiel ja geradezu vom Himmel ... andererseits ... mit diesem blasierten, schwunglosen Menschen zusammen — wie würde er's ertragen, in seine Andacht hinein solche Reden vernehmen, gar ihnen ehrerbietig lauschen zu müssen?
Dennoch ... besser als gar nichts ...
»Ich nehme mit Freuden an, Durchlaucht ...«
»Also abgemacht! Was gibt's denn, Herr Major?«
»Jungfrau von Orleans ...«
»Ausgerechnet —!« schnarrte der Prinz — »Schiller —! Gymnasium in Wiesbaden — verfluchten Angedenkens! Schiller! Was ist Schiller? Eine Serie von Aufsatzthemen —!!«
»Stimmt!« rief Pilgram. »Keine zehn Pferde ziehen mich ins Theater, wenn Schiller gespielt wird! 'Die tragische Schuld der Maria Stuart' — 'Wallenstein, ein tragischer Charakter' — 'Die poetische Gerechtigkeit in der Braut von Messina' — pfui Deuwel! um junge Hunde zu kriegen —!«
Wie bin ich unter diese Menschen geraten? dachte Hans Thumser. Warum trage ich die gleiche Mütze und die gleichen Farben wie sie? Kein Takt des Herzschlags, kein Gefühl, kein Wort ist mir mit ihnen gemeinsam ...
Und derweil rollte der Wagen seitwärts durch die nüchternen, morgenleeren, hallenden Straßen der Südstadt, dem fernen Kampfplatz entgegen, wo Hans wieder einmal seine Zusammengehörigkeit mit seinen Korpsbrüdern, seine Zugehörigkeit zum Frankenbunde mit seinem Herzblut besiegeln sollte ...
»Vergessen Sie nicht, Durchlaucht, daß Jucunda Buchner die Jungfrau spielt ...«
»Jucunda Buchner? Ist — wer?«
»Nun, der jugendliche Stern der Meininger — einfach Sehenswürdigkeit — gewissermaßen das deutsche Mädchen in Reinkultur —«
»Schön — also abgemacht!« sagte der Erbprinz. »Aber halten Sie mich fest, lieber Major, sonst mach' ich Dummheiten...«
»Buchner?« sagte der Senior, »hm — da fällt mir was ein. Mein Hauswirt, der Kanzleirat Buchner, der hat ja, soviel ich weiß, irgendwo 'ne Tochter beim Theater ... das wäre doch ulkig ... soviel ich weiß, wurde ihre Ankunft erwartet ... und ich mein' auch, daß sie in Leipzig spielen sollte, hätte die Alte erzählt — ich hab' aber nicht recht hingehört — was geht mich das Theater an ...«
»Herrgott, Mensch — das Theater!« platzte Thumser heraus. — »Hier handelt sich's doch um die Meininger! Hast Du davon überhaupt eine Ahnung, was dieses — dieses Theater bedeutet? Die Entdeckung der Klassiker, ihre Eroberung für die Bühne unserer Zeit, die Entbindung all der tausend köstlichen Sinnlichkeiten, die im Drama unserer Großen schlummern — bist Du denn solch ein Barbar, solch ein Banause, daß Du von all dem nichts weißt — daß all das für Dich nicht existiert?«
»Na, entschuldige schon, daß ich existiere!« schnarrte der Erste. »Ne wirklich, teures Thumserherz, das alles ist mir schnuppe, schnupper, am schnuppesten! Ich halt's mit meinem Vater, der nie in seinem Leben ins Theater gegangen ist und doch Senatspräsident am Oberlandesgericht in Dresden geworden ist, und jedenfalls noch ein Endchen weiter kommen wird im Leben, eh er Schluß macht! Kunst ist Spielzeug für charakterlose Müßiggänger — unsere Zeit aber braucht Arbeiter, Charaktere — Männer, verstehste?!«
»Bumm, bumm, bumm! Tusch!« sagte der Prinz. »Sie sind zum Landtagsabgeordneten qualifiziert, lieber Pilgram ...«
»Verzeihung, Durchlaucht, es muß auch — Landtagsabgeordnete geben! Ne, lieber Thumser, lauf Du nur immer ins Theater und laß Dir — wie hast Du so schön gesagt? — laß Dir Deine tausend köstlichen Sinnlichkeiten entbinden — mein Bedarf ist mit Fechtboden, Kneipe und Windscheids Drogenweltkolleg vollkommen gedeckt!«
»Und so was hat nun das Glück, mit Jucunda Buchner unter einem Dache zu wohnen ...« seufzte Erbprinz Heribert.
»Das weiß ich noch nicht, das ist nur eine Vermutung von mir, Durchlaucht ... Uebrigens ist die Sache wirklich ohne Interesse für mich. Mit einer Komödiantin möcht' ich noch nicht mal eine Poussage haben ... man kann ja doch nie wissen, ob sie einem nicht was vormimt und einen innerlich auslacht ...«
»Na, teurer Pilgram, nu sei'n Se aber friedlich!« schmunzelte der Erbprinz. »Davon versteh'n Sie nu wirklich nischt — det haben Sie noch nich gehabt!«
»Sie doch auch nicht, wie ich hoffe, Durchlaucht!« sagte der Major und blinzelte seinem jungen Herrn unter grimmig zusammengezogenen Brauen verschmitzt zu. Und Erzieher und Zögling wechselten ein Augurnlächeln ...
Der Wagen rollte. Niederer wurden die Häuser, die beiderseits die Connewitzer Landstraße umsäumten. Und bald wurde die Bebauung offener, ländlicher. Dann bog die Fahrt nach rechts, und in die braunen Schattenhaine des Streitholzes ging's hinein, die Pleiße wurde überschritten auf knarrender Holzbrücke, unter der sich die gelben Fluten träge hinwälzten, noch angeschwollen von den ersten Herbstregen, welche die vergangene Woche gebracht. Aber heut rang sich aus Nebelbrodem die verschlafene Morgensonne mühsam durch, umgoldete das rötliche Buchenlaub zu Häupten der Dahinrollenden, verhieß einen lustig blanken Fechtertag, den letzten unter freiem Himmel für dies Jahr: der nächste würde schon im benachbarten Halle, richtiger im Vorort Cröllwitz, steigen müssen, an der murmelnden Saale, gegenüber den reckenhaften Trümmern des Giebichenstein.
Allmählich wandte sich das Gespräch von dem strittigen Thema des Theaters zum minder kontroversenreichen des nahen Bestimmtages hinüber. Daß der Fuchsmajor der Franken heute seine todsichern Senge bekommen würde, galt als ausgemachte Sache, über die niemand Worte zu verlieren brauchte. Es fragte sich bloß, ob Hans Thumser auf seine notorische vielgeprüfte Quartblöße oder auf Borgmanns allgefürchteten Durchzieher abgestochen werden würde — von dem Valentin Pilgrim, der Senior, im Gesicht bereits ein stattliches Exemplar trug, welches Ohrläppchen und Mundwinkel mit einem linealgraden breiten Strich verband ...
Aber während man also über Hans Thumsers nächste Zukunft verhandelte, das Schicksal seiner linken Gesichtshälfte sachverständig abtaxierte — — war Hans Thumsers Inneres auf geheimnisvolle Weise in Gleichgültigkeit und Fernsein untergetaucht.
Jungfrau von Orleans ... sang es in seinem Herzen ... Jucunda Buchner ... das war wie eine leuchtende, gnadenvolle Nähe, wie ein offener Himmel, aus dem eine lichte Madonna sich neigt, gegenwärtig und doch unnahbar, bekannt und doch undurchdringlich ...
Und zwischen die Choralmelodien, die Harfenarpeggien, welche das Heiligenbild umschauerten, kicherte und schwirrte es hinein wie Flötentriller, wie kecke Geigenpizzicati:
Asta Thöny ... Asta Thöny ...
Und ein paar neckische, blinkende Lackschuhchen tanzten auf und nieder, aus denen zwei schlanke, seidenbestrumpfte Knöchel guckten — was darüber war, verschwand in rosigen Schleiern, aus denen es lachte und girrte wie Taubengurren:
Asta Thöny ... Asta Thöny ...
Ernsthaft und aufrecht saß Valentin Pilgram, der gestrenge Senior des Korps Franconia. Als läge die Regierungslast eines Millionenstaates auf seinen Schultern, so pflichtdurchdrungen, so würdeumbauscht saß er und übersann das Programm des Tages ... Ob Heinz Hartwig, das muntre, taprige, ewig korkende Füchslein, wohl heute endlich eine einwandfreie Mensur liefern würde und daraufhin ins engere Korps rezipiert werden könnte? Und Ivo Volkner, der leichtblütige Rheinländer aus Düsseldorf, dessen letzte Mensur auch keineswegs tadelsfrei gewesen war — ob er wohl sein unstätes Musikantentemperament heute so weit im Zaume halten würde, um sich herausreißen zu können?
Und was sollte der C. C. auf den merkwürdig schnoddrigen Brief unseres lieben Kartellkorps Pomerania zu Göttingen antworten? Ob es nicht doch besser war, das alte Kartellverhältnis zu lösen und ein frisch-fröhliches P. P. zu fechten?! Aber was würden die gemeinsamen Alten Herren sagen?
Und ob man den Rektor zur C. C.-Antrittskneipe einladen mußte — anläßlich der hohen Ehre, daß ein richtiggehender Prinz und Thronfolger zu den Konkneipanten des Korps zählte?
Ja, man hatte schon seine Sorgen ... Der Reichskanzler war am Ende auch nicht viel schlimmer dran als der Erste Franconiae-Leipzig ...
Der Erbprinz aber träumte von einer fernen Zukunft ... noch war der alte Herr ja ... hm, hm! — erheblich rüstig ... und seine Altersgenossen, die Leutnants des Sophien-Regiments, hatten ihm gelegentlich in später Stunde, wenn der Sekt die Zungen gelöst, das Gefühl der Distanz ein wenig gemildert hatte — na ja, dann hatten sie ihm gelegentlich etwas gesteckt von all dem Gemunkel, das in der Residenzstadt umlief über die zarten Beziehungen des hohen Herrn zu der weiblichen Elite des Hoftheaters ...
Er, Heribert Hans Herwig, würde sich das erlauchte Vorbild seines gnädigsten Vaters zum Muster nehmen, wenn er einmal als Heribert XIV. das Thrönchen seiner Väter bestiegen haben würde.
Inzwischen hielt man sich studienhalber in Leipzig auf und würde auch da auf seine Rechnung zu kommen wissen ...
Jucunda Buchner ... das klang recht verheißungsvoll ... und Jungfrau von Orleans ... Himmel, es gibt allerhand Arten von Jungfrauen ...
Nun war man »draußen«. Mitten im tiefschattigen Buchenwald ein wuchtender Eichbaum, sonst von tiefem Dämmerfrieden umwirkt, heut umbraust von einem bunten, farbentollen Leben. Die wilden Völkerschaften, die inmitten moderner Gesittung ein mittelalterliches Reckendasein führten bei Waffenklirren, rauhem Sang und schäumenden Kannen, die Franken und die Neo-Borussen, die Westfalen und Meißner und Thüringer, hier hatten sie sich Stelldichein gegeben zur allwöchentlichen feierlichen Rauferei. Und diesmal, als am ersten Bestimmtage des Semesters, war alles in besonders gehobener Stimmung. Die alten Bekannten in den verschiedenen Korps begrüßten sich hinüber und herüber, mit besonderer Herzlichkeit jene, die bereits einmal oder gar mehrmals die Klinge gekreuzt hatten — wesentlich zeremonieller schon jene, denen heute der blutige Gang bevorstand. Alles war in Wagen gekommen, die nun als langer Park auf der Chaussee aufgefahren waren, stets bereit, mit den Paukanten in Windesschnelle davonzusausen, wenn die weithin aufgestellten Schnarrposten die Annäherung von Pickelhauben und grünen Waffenröcken melden sollten. Alles war im »Bummel« gekommen, das heißt im Hut, die Couleur in der Tasche; nun wurden schleunigst Mützen und Bänder angelegt: gar lustig flimmerten auf dem bunten Tuch, der dreifarben-gestreiften Seide, die Sonnentupfen, die durchs braune Laubdach sich niederringelten. Und bald stand das erste Paar bereit: Pilgram, Franconiae Erster, gegen den stämmigen Zweitchargierten der Meißner.
Und nun — heiho! Gellende Kommandorufe hinein in die lauschende Stille, widerhallend an den schlanken, weißleuchtenden Buchenstämmen ... und nun: klirr, klirr der helle Klang, wenn Eisen scharf auf Eisen traf, im Wechsel mit dem dumpfen Knall der flachen Hiebe, die über Stulp und Schädel krachten — heiho! uralte Reckenlust am tollen Raufen, am harten Widereinander der jugendlichen Kräfte ...
Jähes Halt der Sekundanten, Pause, Blut rinnend hüben über die schmalen, herrischen Züge des Frankenseniors, drüben über die feisten Speckbacken des Fechtchargierten der Meißner ... und wiederum Kommandos, hageldichte Hiebe, Stahl auf Stahl ...
Und dann war's plötzlich aus: der Meißner hatte seine Abfuhr weg, eine lange Quart, fast unpariert, überm linken Ohr. Und in die blutbeschmierte Bandage mußte nun Hans Thumser hinein.
Schon stand er dem verhaßten Borgmann gegenüber, schon faßten die Gegner einander fest ins Auge, schon flogen die Klingen in die Auslage, kauerten die Sekundanten wie sprungbereite Katzen zu ihrer Kämpfer Seiten — da entstand eine Bewegung unter der lauschenden Korona. Auf dem weichen Waldboden scholl ein dumpfes Klackern wie von Huftritten, und auf dem schmalen Pfade, der am Wiesensaum entlang sich zog, flitzten zwei Reiter heran — aber nicht die Grünröcke der Gendarmen — Zivilisten waren's, ein Herr und eine Dame. Hans Thumser sah, wie alle Köpfe sich wandten — doch ihm blieb nicht Zeit — nur einen grauen Schleier sah er wehen von einem hohen, schwarzglänzenden Seidenhut; sah etwas Lichtes, Klares darunter, hell abgehoben vom dämmernden Waldgrund — und dann —
»Auf die Mensur — bindet die Klingen!«
»Gebunden sind —!«
»Los!«
Und nun alles Leben in Aug und Handgelenk hinein sich krampfend — und ein Wille nur — sich wehren — und treffen! treffen —!!
»Halt!«
»Halt —!!«
Und auch hier schon nach dem ersten Gange helle rote Bäche rinnend über weiße Stirnen, zernarbte Wangen ...
Und während der Paukarzt mit dem Wattebausch in Hansens klaffende Stirnwunde tupft, vernimmt des Fechters Ohr ganz deutlich aus der Mitte der Umstehenden die Worte:
»Das ist die Buchner!«
Und eine andere Stimme fragt:
»Und der Herr — wer ist das?«
»Das ist Franz Burg — der Heldenspieler ...«
Inzwischen hat der Paukarzt seine Untersuchung beendigt; er lächelt:
»Weiter!«
»Herr Unparteiischer — von unserer Seite kann's weitergehen ...«
Aber drüben bei den Neo-Borussen scheint man noch nicht so recht im Klaren ... na, wenn Hans Thumser auch schließlich wird dran glauben müssen: auch Herr Borgmann hat sein Teil bekommen, scheint's!
Er lugt umher: dort halten sie, die Reiter, unterm Eichbaum und spähen neugierig hinüber ... Ja, das glaub' ich, ihr Komödianten — so etwas bekommt ihr nicht alle Tage zu sehen — hier schwingt man die Waffe nicht nur zum Spiel — und was hier Stirn und Wange färbt, ist wirkliches Blut, nicht Schminke ...
Und dies schmale, feine junge Gesichtchen — das ist ... Thekla — das ist Johanna von Arc?!
Nun werden auch die Neo-Borussen wieder munter:
»Herr Unparteiischer, von unserer Seite kann's weitergehen!«
»Silentium — Pause ex!«
»Auf die Mensur — bindet die Klingen!«
Jucunda! betet irgend etwas in Hans Thumsers Seele. Er fühlt, wie alle Sehnen sich straffen.
»Gebunden sind!«
»Los!«
Und zweimal, dreimal schmettert Hieb auf Hieb — und:
»Halt!«
»Halt!«
»Herr Unparteiischer, bitte drüben nachzusehen und einen Blutigen zu konstatieren!« ruft Valentin Pilgram, Hansens Sekundant, wilden Triumph in der Stimme — sich aufrichtend, zischt er seinem Paukanten ins Ohr:
»Du — das ist Rest!!«
»Rest? Bei wem? Bei mir?« fragt Hans Thumser ganz verdutzt.
»Ne — da drüben — bei Borgmann! Teufel auch, Thumser — der Durchzieher — so was darfste öfters schlagen!«
Was? Er — Hans Thumser — er hätte den S. C. Fechter — —? Donnerwetter!
An des Gegners Stirn klaffte ein breiter roter Spalt, aus dem zwei feine warme Strahlen spritzten —
»'raus!« sagt drüben der Paukarzt.
»Herr Unparteiischer, wir erklären die Abfuhr!«
Borgmann stampfte vor Wut mit dem Fuß, als der Paukarzt von hinten mit kräftigem Griff seine Stirn zusammenpreßte und ihn herumdrehte. Was half's?
»Silentium — Neo-Borussia erklärt Abfuhr nach anderthalb Minuten!«
Als Hans Thumser sich aus dem Schwall der Glückwünsche seiner Korpsbrüder losmachte und Ausschau hielt — war das Reiterpaar verschwunden.
»Gratuliere!« sagte Erbprinz Heribert. »Fabelhaft, lieber Thumser, meine vollste Bewunderung! Haben Sie übrigens die Buchner gesehen?! Vollkommen tadelloses Mädchen ...«
Wenn Hans Thumser auf ein Glück wartete, so machte die Ungeduld ihn krank, verdarb ihm jede Minute mit zehrender Sehnsucht. So war es schon immer gewesen, solange er sich seiner erinnern konnte. Die letzten Wochen vor dem Weihnachtsfest, vor dem Beginn der Sommerfrische waren ihm stets eine endlose Tortur gewesen ... Und als er später begonnen hatte zu empfinden, daß nur die Stunden wahrhaft lebenswert seien, in denen er mit einem gewissen braunbezopften Menschenkind unter einem Dache weilen durfte ... da war alles, was zwischen diesen Stunden lag, nur wie ein unermeßlich langer, böser, dumpfer Traum und Alpdruck gewesen ...
Und so bedrückend, so angstumschnürt wälzten sich auch die Tage dahin, die Hansens Mensurtriumph noch von der Eröffnungsvorstellung des Meininger Gastspiels schieden. Er saß inmitten seiner Korpsbrüder, schwatzte und trank mit ihnen wie immer, ließ ihre Lobesbezeigungen mit der gleichen Gelassenheit über sich ergehen wie den boshaften Spott der Neider, es sei nur ein »Schweinedusel« gewesen, daß er den S. C. Fechter hinabgetan habe ... Er ließ auf offizieller Kneipe seine Füchse in die Kanne steigen, daß sie quietschten, und schrieb morgens bei Windscheid und Binding im Kolleg mit einem ganz ungewohnten, krampfhaften Eifer nach, als steure er auf ein Prädikatexamen los — — und all dies Tun blieb seiner Seele so fern, so fern ...
Manchmal fragte er sich, ob er wohl bei ganz gesundem Verstande sei — ob es nicht eine fixe Idee, ein krampfhaftes Wahngebilde sei, das ihn so grenzenlos hungern ließ nach — nach einem Nichts, einem Spiel, dem flüchtigen Schattenbilde eines Dichtertraums ... Und dann wieder genoß er mit einer phantastischen Seligkeit sein Wesen, das ihn vom wachen Leben hinweg so unwiderstehlich in luftige Spukwelten drängte ...
Nur die Stunden zählten wenigstens halb, die er am Fenster seiner Bude verbrachte, hinüberstarrend zur nüchternen Front jener Gebäude an der langweiligen Sophienstraße, hinter denen der kahle Bau des Carolatheaters sich barg. Dort war um die Vormittagsstunden ein lebhaftes Kommen und Gehen. Früh um neun begannen die Proben, natürlich nur für die neuangeworbene Statisterie, denn für die Solo-Rollen »standen« selbstverständlich alle Stücke des Repertoires. Aber die stattliche Schar des »Volkes«, die in jeder Stadt aufs neue zusammengebracht und gedrillt werden mußte, die wimmelte heran, füllte die sonst stille Straße mit Lachen und Geschwätz ... braunäugige Töchter kleiner Bürgersleute, stellungslose Ladenfräulein und Kommis, Stadtreisende und Konservatoristen — vor allem aber Studenten, Studenten von jener Sorte, die der Waffenstudent eigentlich nicht mitrechnete, und die trotzdem die weitaus überwiegende Mehrzahl der akademischen Bürgerschaft bildete: die »Finken«, auch »Bummler« genannt, obwohl sie natürlich weit weniger bummelten als die jungen Herren in Mützen und Bändern ... gar zu gerne hätte Hans Thumser sich mit ins Gewühl der Statisten gemengt, um als »Volk« oder »Friedländischer Soldat« oder als römischer Quirite sich an den großen, festlichen Unternehmungen zu beteiligen, die da drüben vorbereitet wurden ... Und eines Tages hatte er sich's getraut, vor den Ersten hinzutreten mit der Bitte:
»Sag' mal, Pilgram, wie ich höre, wirken eine ganze Menge Studenten in den Vorstellungen der Meininger als Statisten mit — hättest Du was dagegen, wenn ich da ebenfalls mittäte?«
Der Erste sah den Fuchsmajor mit einem Blick an, als bäte dieser um Erlaubnis, silberne Löffel zu stehlen.
»Hör mal, Du, Dein Kopfschmiß von Sonnabend eitert wohl nach innen, he?!«
Also damit war es nichts ... und so mußte man sich denn begnügen, von weitem zuzuschauen, wie die glücklicheren Kommilitonen, frei des korpsstudentischen Zwanges, nach Schluß der Probe froh erregt, mit glühenden Köpfen, lebhaft diskutierend dem Eingangstor des Theaters entströmten, um die namenlosen Kneipen aufzusuchen, in denen sie nach eigener Wahl und entsprechend der Rücksicht auf die Dimensionen ihres Monatswechsels verkehrten. Und inmitten dieser Beneidenswerten kamen auch die Helden und Heldinnen aus der Probe — natürlich mußten ja auch sie wenigstens die Massenszenen immer wieder aufs neue mit probieren ...
Und noch ein andres heimliches Fest blühte für Hans Thumser innerhalb seiner bescheidenen vier Wände, die glücklicherweise so dünn waren, daß sie manch ein Geräusch durchließen von jener geheimnisvoll lockenden Welt, die hinter ihnen sich barg: das Klappern zierlicher Pantöffelchen, das Rascheln seidener Röcke, keckes Mädchenlachen und halblautes Geschwätz, wenn Kolleginnen drüben zum Besuch kamen ... Aber noch immer war's ihm nicht geglückt, seine Nachbarin von Angesicht zu Angesicht zu sehen.
Inzwischen baute Hans in seinem Herzen ein seltsam Kirchlein auf: droben war ein feierliches gotisches Heiligtum, in dem Jucunda Buchners weiße Gestalt auf ernstem Altare stand, von Weihrauch und Kerzengeflacker umspielt ... darunter aber, tief unter der Erde, barg sich eine dämmrige romanische Krypta, in der tolle Orgien verbotener, heidnischer Kulte nächtens gefeiert wurden vor einem üppig lächelnden Götzenbild — seine Züge waren nicht genau erkennbar — verschwammen im hüpfenden Fackellicht, das durch den Raum dunstete ...
Aber Hänschen Thumser war nicht der Mann des tatenlosen Zuwartens. Es mußte etwas geschehen, die dumpfe Qual dieser sehnsüchtigen Tage zu verkürzen. Aber was? Immer wieder mündeten seine Pläne in die Erkenntnis, daß man einem jungen verwöhnten Mädchen — und eine Schauspielerin konnte man sich ja doch nicht anders vorstellen als jung und verwöhnt, nicht wahr? — daß man solch einem Liebling der Götter und Menschen nur nahen könne mit gebenden Händen ... und seine Hände waren leer ... der Monatswechsel heidt — knapp noch das Nötigste für die letzten Tage vorhanden ...
Auf einmal — welch glorreicher Gedanke! Hänschen Thumser konnte ja etwas, das am Ende doch nur die wenigsten unter Asta Thönys Verehrern — gewiß hatte sie unzählige — reiche Bankiersöhne und Gardeleutnants und — na und solche Leute mit unerschöpflichen Portemonnaies — aber gewiß konnten solche Leute meistens eines nicht, oder wenigstens nicht so gut wie Hänschen Thumser — nämlich dichten!
Juchhe! Hänschen hat kein Geld, um kunstvolle Blumenarrangements zu kaufen — aber wunderschöne Verse kann er machen! — Also los! ein Blatt aus dem Kollegheft gerissen und gereimt auf Deuwel komm heraus!
lauter unbestreitbare Wahrheiten! aber nun kommt der Haken.
So — immer frisch heraus mit dem sauren Bekenntnis, dann weiß Asta auch gleich, wie sie mit mir dran ist — was sie von mir zu erwarten hat — und was nicht ...
(Ach du liebes, gnädiges Schicksal du!)
Alle Wetter: das wird ja ein prachtvoller Reim:
Nun ein zweites offenes Bekenntnis:
Gott, bleiben wir doch schon bei der Wahrheit:
Hans! du imponierst mir! So viel edle Dreistigkeit hätt' ich dir gar nicht zugetraut — aber freilich: auf dem Papier, und mit einer schützenden Scheidewand dazwischen — — Aug' in Auge würde das Debüt wohl etwas kümmerlicher ausfallen, wie? — Aber weiter, weiter — einen Reim auf »elegant« — pah, Spielerei!
— nein, das ist doch zu billig, zu abgeschabt:
Ja, es ist eine alte Sache: Verse werden immer am besten, wenn man ganz geradezu ausspricht, was wirklich passiert ist:
Ist das nicht ... doch ... gar zu unverschämt?! Ach was, mehr wie hauen kann sie schließlich nicht!
— ne, das ist ein falscher Ton — von der Sorte sind wir doch nicht! —
Hans überlas das Geschriebene. Himmel, ist das schnurrig, wenn's auf einmal so in einem zu dichten anfängt! Ein ganz andrer Mensch kommt da plötzlich zum Vorschein als der, den man so im Leben darstellt ...
Hatte er das wirklich geschrieben, er, der wohlerzogene Beamtensohn, der geschniegelte, korrekte Korpsstudent, der künftige Richter des Volkes?!
Ach, und es gefiel ihm so gut — daß er's ganz hastig und mit fliegenden Fingern ins Reine schrieb und kuvertierte ... dann stülpte er die grüne Mütze auf, lauschte, ob seine Nachbarin daheim sei ... und da er keinerlei Geräusch hörte, klinkte er im Vorbeigehen sachte die Tür zum Nebenstübchen auf und sah —
Sah durch den Spalt eine zierliche Mädchengestalt in weißem Unterrock und weißem Frisiermantel schlafend aufs Sofa hingestreckt ... ein schwarzes Wuschelköpfchen ... und über den Rand des Sofas guckten ein paar schwarzbestrumpfte Füße, an denen zierliche rote Halbpantöffelchen baumelten ...
Und schon hatte er mit einem Ruck den Briefumschlag mit seinen unverschämten Versen mitten in die Stube geschleudert, die Tür mit hartem Knall zugeklinkt — und flog nun die Stufen hinunter — die grüne Mütze war ihm in den Nacken gerutscht, seine Wangen brannten, und draußen zog er mit seinem spanischen Rohr einen Durchzieher durch die Luft, daß es nur so pfiff.
Wie in Hans Thumsers unoffiziellem Herzen, so war auch in Valentin Pilgrams korrekter Chargiertenseele Revolution ausgebrochen, und auch die um einer Zimmernachbarschaft willen. Aber diese Revolution war doch von einer ganz anderen Sorte und gipfelte in der Erklärung, die der Senior in energischem Tone an die Frau Kanzleirat Buchner abgab: er kündige hiermit seine Bude und werde sofort ein andres Quartier suchen, wenn man den ruhestörenden Lärm und groben Unfug da nebenan nicht abzustellen die Mittel finden würde ...
Und das war so gekommen:
Valentin Pilgram stand im sechsten Semester. Er war bereits zwei Semester in Berlin inaktiv gewesen und nur nach Leipzig zurückgekehrt, weil er als Königlich sächsischer Untertan sein Referendarexamen in Sachsen ablegen mußte. Er war auf dringendes Bitten des C. C. zu Anfang des Semesters noch einmal wieder aktiv geworden und hatte die erste Charge interimistisch übernommen, weil kein anderer geeigneter Korpsbursch für diesen Posten da war, und der Vertreter des Marburger Kartellkorps, der die erste Charge später definitiv bekommen sollte, doch erst einmal in Leipzig und im Korps warm werden mußte. Interimistisch bekleidete dieser junge Herr die zweite Charge. Und so teilte Pilgram mit seiner ganzen feierlichen Gewissenhaftigkeit seine Zeit zwischen dem Korps und der Vorbereitung fürs Examen. Und in der letzteren war er nun plötzlich und gründlich unterbrochen worden durch ein grollendes Getöse, das aus der Nachbarkammer in seinen Studienfrieden hinüberklang, aus der Nachbarkammer, in der, wie er gelegentlich mit halbem Ohr vernommen hatte, die Tochter seiner Hauswirte, die herzoglich meiningische Hofschauspielerin Jucunda Buchner, für die Dauer des Gastspiels ihres Ensemble einquartiert worden war. Mitten in die Lektüre der Windscheidschen Drogenweltweisheit war da plötzlich eine sonore Altstimme hineingeklungen, zunächst in sachtem, murmelndem Repetieren, dann aber in selbstvergessen wildem Ausbruch:
Da war der reckenhafte candidatus iuris mit einem Wutknurren aufgefahren ... aber umsonst: die sonore Stimme drinnen grollte weiter — sänftigte sich nun zu herzbeklommener Klage:
Aber bald schrillte sie wieder auf mit jähem Wehlaut, daß sich vor Wut und Entsetzen dem Rechtskandidaten die Gedärme umkehrten.
Das war zuviel! Der Student riß einen seiner Lederpantoffeln von den Füßen und pfefferte ihn krachend gegen die Nachbartür.
Einen Augenblick verblüffte Stille — doch o weh — sein Warnsignal war offenbar nicht verstanden worden — schon nach wenigen Sekunden setzte das Gegroll und Gewimmer drüben wieder ein:
»Nee!« brüllte Valentin Pilgram. »Mitleid is keene Sinde nich! Haben Sie ruhig Mitleid mit mir und halten Sie den Mund — ich muß lernen!!«
Einen Augenblick war drüben alles stumm — todesstarres Schweigen. Und plötzlich fauchte ... ja fauchte, anders war's nicht zu nennen — keifte — ja man muß schon sagen, keifte die sonore Stimme von nebenan:
»So? Lernen müssen Sie? Na — ich auch ... stopfen Sie sich Watte in die Ohren!« Und noch dreimal mächtiger und markerschütternder grollte nun der majestätische Alt:
Da sprang Valentin Pilgram wütend auf, riß den Klingelzug, daß es schrill durch den Flur gellte, und als die stattliche runde Frau Kanzleirätin ganz entsetzt ins Zimmer schoß, schnauzte er sie an:
»Was ist das für ein gottverfluchter Spektakel daneben? Wenn das nicht in fünf Sekunden aufhört, zieh' ich!«
»Erlooben Se mal, mei gutester Herr Pilgram!« entrüstete sich die behäbige Dame im geblümten Morgenrock sehr energisch. »Se wissen, scheint's, nich so recht, mit wäm Se's zu tun ha'm! Das is Se nämlich meine Tochter, die große Jucunda Buchner von die Meininger — die Jungfrau von Orleans!«
»Und wenn je die Jungfrau Maria selber wär' — hier verlang' ich meine Ruhe, versteh'n Se mich, Frau Kanzleirat?! Ich hab' diese Bude gefälligst zum Studieren gemietet — versteh'n Se? Wir sind Se hier nich im Theater!!«
»Se sollten Ihn' was schämen, Herr Pilgram, daß Se nich mal kenn'n bißchen Ricksicht nähm' auf Studium von eener gottbegnadeten Ginstlerin, wo ganz Leipz'g stolz drauf is!«
»Wenn eener ä Vierteljahr vor'm Examen steht, dann hört die Rücksichtnahme ergebenst auf!« brüllte Pilgram. »Ich muß ooch studieren, aber mei Studium is wenigstens geräuschlos! Wenn Se e gottbegnadetes Mädchen zur Tochter haben, die beim Studieren einen Schkandal macht, wo die Mauern von Jericho von könnten einstürzen, dann vermieten Se gefälligst keene Buden an Studenten nich!«
»Herr Pilgram — wenn ich gewußt hätte, was für e ungeschliffener Mensch Sie sein kenn' — nie wär'n Se mir ieber de Schwell gekomm', weeß Knebbchen!«
»Mamaa!« tönte da plötzlich der sonore Alt aus dem Nebenzimmer, »rege Dich doch bitte ja nicht auf, Mamaaa! Der Herr mag ruhig ziehen — ich komme Deiner Haushaltungskasse für den Schaden auf!«
Frau Kanzleirat musterte den Studenten von oben bis unten mit einem Blick tiefster Verachtung. »Da heer'n Se's, Herr Pilgram! So benimmt sich e wahrhaft vornähmer Mensch! — Also wenn Se zieh'n woll'n, ich hab Sie nich das mindeste dagegen — lieber heut als morgen! Adieu, Herr Pilgram — ziehen Se glicklich!«
Und die stattliche Dame rauschte hinaus mit der Würde einer Königin. Die Schleppe des geblümten, nicht mehr ganz saubern Morgenrockes waberte hinter ihr drein.
Valentin Pilgram aber blieb etwas benommen an seinem einsamen Studiertisch. Es war doch höchst fatal, nun so mitten in den Examensvorbereitungen das lieb gewordene Quartier gegen ein noch unbekanntes eintauschen zu müssen ... am Ende hätte er auch ein bißchen weniger hitzig sein können ... vielleicht mit einem guten Wort hätte sich die Sache viel besser einrenken lassen ... Aber das machte diese verfluchte Kandidatenstimmung, das Bangen vor diesem fahlen Gespenst, das am Ende der Studentenzeit hockte mit stieren Augen und sich ganz, ganz unmerklich immer näher heranschob ... da sollte der Teufel nicht nervös werden ... Was keine sausende Säbelklinge fertiggebracht hatte: das Schreckbild der drei Männer hinterm grünen Tisch hatte es erreicht: Valentin Pilgram hatte Angst ... und dieser Zustand, so ungewohnt, so unmöglich, der hatte ihn toll gemacht ... Eigentlich hatte er sich ja doch wirklich unqualifizierbar benommen ... es waren doch weibliche Wesen, beinahe Damen, mit denen er so gröblich umgesprungen ... zwar ein Kanzleirat war ein Subalternbeamter, und seine Frau gehörte nicht zur Gesellschaft ... und vollends eine Komödiantin ... aber wenn auch ... wenn auch ... Valentin Pilgram, ich glaube, dein Benehmen war durchaus nicht auf der Höhe der berühmten korpsstudentischen Direktion ... deren eifriger Hüter du selber so lange im C. C. gewesen ...
Valentin wartete mit Spannung, ob nicht alsbald da drinnen wieder der dunkeltönige Alt mit dröhnendem Jambenschwall einsetzen würde ... er wartete mit Spannung und Verlangen ... das Fortdauern der Störung wäre wie eine nachträgliche halbe Entschuldigung seiner Hitze gewesen ... aber er wartete umsonst. Alles blieb still darinnen. Er hätt' also triumphieren, den ertrotzten Arbeitsfrieden eifrig büffelnd genießen können ... aber seltsam ... die richtige Streberstimmung wollte nicht wiederkommen ...
Teufel auch, Valentin Pilgram, du hast doch nicht etwa einen »Moralischen«?
Franconias Senior stand langsam auf und räumte Drogenweltlehrbuch und Repetitorien zusammen. Er stülpte die grüne Mütze auf den strohblonden Schädel und stieg sinnend die altehrwürdigen Holzstiegen hinab auf die »Kleine Fleischergaß«. Drüben im ersten Stockwerk des »Cafébaums« winkte über dem in Sandstein gemeißelten Amor, der schon seit Jahrhunderten einem gleichfalls sandsteinernen Türken »e Schälchen Heeßen« kredenzte, winkte Franconias Wappenschild, lockte, unter den morgendlich geöffneten Fenstern des Kneipzimmers, im Morgengolde sich bauschend, das grün-gold-rote Banner ... aber der Erste stieg nicht hinauf. Er ging auch nicht auf Wohnungsuche: er tat etwas, was er im Leben noch nicht getan hatte: er ging zur Universität und kämpfte inmitten eines Massenandranges von Kommilitonen, ganz gewöhnlichen Nichtinkorporierten, um ein Studentenbillett zur morgigen Eröffnungsvorstellung der Meininger — zur »Jungfrau von Orleans« ...
Ecke Roßplatz, und Roßstraße, vor dem Hotel Hauffe, in dessen erstem Stockwerk der studiosus iuris et cameralium Heribert Hans Herwig Erbprinz von Nassau-Dillingen mit seinem militärischen Begleiter und seiner Dienerschaft die ganze Zimmerflucht an der Straßenfront inne hatte, harrten frühmorgens um sechse zwei Reitknechte in Livree mit drei prächtigen Gäulen. Sie plauderten mit dem galonierten Portier.
»Nanu?« meinte der Hotelgestrenge, »schon wieder? Ihr seid ja Frühuffsteher geworden uff eemal?«
»Was will mer mache?« meinte der ältere der herzoglich nassauischen Pferdepfleger. »Unser junger Herr hat widder mal e funkelnagelneies Veegelche g'fange ...«
»Ei herrjemerschnee!« machte der Portier. »Was das nur zu bedeiten hat? Das is doch ganz unnatierlich fier so 'n jungen Herrn — Morgen fier Morgen drei Stunden durch den Wald zu flitzen un sich den Schlaf um die Ohr'n zu schlagen ...«
»Ich glaub, ich weeß, was da derhinner steckt!« meinte der jüngere Bursche. »Ich hab' neilich so ebb's uffg'schnappt, wie se beim Reite g'sproche habe. Er und der Major!«
»Da wär' ich Ihn' aber doch wahrhaft'g neigierig!« kicherte der Portier und schob sich von seiner Treppe hinunter auf den Bürgersteig.
»Nu — e Weibsbild steckt da derhinner!« triumphierte der Reitknecht. »Ich hann's neilich ganz g'nau geheert: Lasse mer heemreite, hat der Major g'sagt — heit morge finne mer se doch nit — hat er g'sagt!«
»I nee so was!« staunte der Portier. »Un dann sind se wärklich alle zwee heemgeritten?«
»Ja — ganz wahrhaftig sinn se heemg'ridde!«
»Wer das bloß sinn mag?« meinte der Portier. »Gewiß ganz was Vornähmes — sonst tät der gnädige Herr doch gewiß nich so viel Umstände dann machen um so e Weibsbild!«
»Pscht — die Herre komme!«
Der Erbprinz federte mit dem natürlichen Schwung seiner einundzwanzig Jahre in den Sattel — der Major mit der wohlkonservierten, doch immerhin etwas gewollteren Elastizität seiner zweiundvierzig. Und im Schritt ging's die gutgepflasterten Straßen der erwachenden Großstadt hinab, am massiven Bau und klobigen Rundturm der Pleißenburg vorüber bis zu den Anlagen jenseits des Flüßchens, wo man antraben konnte.
»Wenn Sie ahnten, Durchlaucht, wie komisch Ihnen die Maske eines schmachtenden Toggenburg steht — Sie würden sich selber erheblich auslachen!« meinte Herr von Gorczynski.
»Gott, wenn mir's doch Vergnügen macht, lieber Major — lassen Sie mir schon den kindlichen Spaß!«
»Ich versteh' Sie nicht, Durchlaucht — Sie benehmen sich wie ein Sekundaner von einem Kleinstadtpennal und nicht wie ein Fürst ... So'n Theatermädel ... der schickt man doch einfach ein Rosenarrangement und seine Visitenkarte — und das Weitere findet sich!«
Ueber das blasierte Knabenantlitz des Erbprinzen flog ein flüchtiges Rot. »Wenn ich glaubte, bei der Buchner ginge das auch so, dann pfiff' ich auf das ganze Abenteuer. Die Nummer kenn' ich nun allmählich! Die Weiber, die sich kommandieren lassen, die hab' ich satt! Ich möchte einmal ein Erlebnis haben — ein richtiggehendes Erlebnis!«
»Na, auf Ihre Manier werden Sie's höchstens bis zu einem richtiggehenden Korbe bringen!« meinte der Major. »Ein Mann, der schmachtet, hat von vornherein alle Chancen verloren! Selbst wenn er der Erbprinz von Nassau-Dillingen wäre!«
»Ich will aber diesmal überhaupt nicht der Erbprinz von Nassau-Dillingen sein! Versteh'n Sie mich, Herr Major?! Es paßt mir nicht, immer nur auf das Prinzenkonto geliebt zu werden! Schließlich bin ich doch ganz simplement als junger Mann nicht zu verachten, wie? Sehen Sie — und das möcht' ich mal ausprobieren! Ich hab' mir's nun mal in den Kopf gesetzt! Und gestern hab' ich der Buchner ein Rosenarrangement geschickt mit einem Kärtchen, auf das ich nichts weiter geschrieben habe als: Herbert von Dillingen, studiosus iuris et cameralium!«
»Na, ich sag's ja, Durchlaucht! Sie sind auf dem besten Wege, einen hahnebüchenen Unsinn aufzustecken! Aber was ich Ihnen sage: Ich habe Ihnen viel durch die Finger gesehen — aus unerschütterlicher Liebe zu Ihnen —«
»Na ja, aus unerschütterlicher Liebe zu mir. Und weil Ihnen Ihr gesunder Menschenverstand sagt, daß Sie aller Voraussicht nach unter Bernhard dem Sechzehnten noch zehn Jahre, unter Heribert dem Vierzehnten aber, will's Gott, den ganzen Rest Ihrer Erdenlaufbahn abzuleisten haben werden!«
»Oh — aber Durchlaucht!« sagte der Major und legte mit pathetischer Bewegung seine Hand auf jene Stelle seines Busens, unter der man den Sitz seiner unerschütterlichen Liebe zu seinem jungen Herrn und Zögling annehmen mußte.
»Bitte, lieber Gorczynski — stürzen Sie sich nicht in Unkosten — ich denke, wir beide kennen uns!« lachte Erbprinz Heribert.
»Ernsthaft gesprochen, Durchlaucht!« sagte der Major etwas verärgert, indem er seinen Gaul in Schritt fallen ließ, »ich lasse Ihnen jede harmlose Affäre durchgehen — wenn sich aber etwas Ernsthaftes anspinnt, berichte ich a tempo nach Dillingen! Ihr erlauchter Herr Vater hat mich kategorisch dahin instruiert: keine Weibergeschichten! Und ich glaube diese Instruktion ganz im Sinne meines gnädigen Herrn aufzufassen, wenn ich —«
»Wie kann man sich nur so sinnlos aufregen, mein Teuerster! Also weil es mir Vergnügen macht, mal ein paar Vormittage im Leipziger Ratsholz spazieren zu reiten, und weil ich dabei gelegentlich die Hoffnung ausgesprochen habe, einen gewissen grauen Schleier noch einmal wehen zu sehen, wittern Sie bereits allerlei Tragödien!«
»Ich gestatte mir, Durchlaucht, mich auf meine Menschenkenntnis zu berufen. Es ist wider die Natur, wenn ein von seinem gnädigen Herrn Vater mit überaus auskömmlicher Apanage ausgestatteter und dank meiner überaus riskierten Nachsicht bereits einigermaßen erfahrener junger Prinz einer Theatermamsell wegen, die er ein einziges Mal von weitem gesehen hat, an drei nacheinanderfolgenden Tagen um fünf statt um neun Uhr aufsteht. Wenn ich das nach Dillingen berichte, gibt's eine Katastrophe! Hab' ich nicht recht?«
»Von weitem gesehen?« schmunzelte der Prinz. »Ich habe mir bereits eingehenderes Material verschafft!« Und er holte einen großen Umschlag aus seiner Rocktasche, reichte ihn von Schimmel zu Rappen zum Major hinüber. Dem fielen beim Oeffnen drei Bilder in die Hand: es waren Darstellungen eines jungen Mädchens; zunächst im Straßenkleide — Pelzjäckchen, Barett, Muff — und dann im Eisenharnisch mit bloßem Haupt, aufgelösten Haaren, ein Schwert und eine Fahne in Händen — und endlich im Samt, mit riesigen Puffenärmeln, das Gesicht von langen Ringellocken umwallt und von einem starren weißen Rundkragen eingesäumt ...
»Kreuzmillionen —!« entfuhr es dem Major. »Das ist —?!«
»Das ist — sie,« sagte der Erbprinz, und über seinem fahlen Lebemannsangesicht lag eine Sekundanerröte, die dem Major völlig fremd war an seinem Zögling. Er starrte den jungen Mann an, als sehe er ihn zum erstenmal.
Verdammt — also so stand die Sache?! Nun hieß es aber wahrhaftig aufpassen ...
Der Major reichte die Bilder zurück. »Na ja,« sagte er im Tone völliger Wurstigkeit, »die Buchner ... Gott, warum nicht? Wenn Sie sich auf die nun mal kaprizieren, Durchlaucht — von meiner Seite aus steht nichts im Wege! Nur fangen Sie's vernünftig an und halten Sie sich nicht zu lange bei der Vorrede auf! Also wir werden sie auf — na sagen wir auf morgen abend, heut nach der Premiere wird sie schwerlich abkömmlich sein — wir werden sie auf morgen abend zum Souper einladen — sie mag noch eine Kollegin mitbringen — und dann entwickelt sich alles weitere glatt und prompt historisch!«
Der Erbprinz antwortete nicht. Er gab dem Gaul die Schenkel, und zwar so heftig, daß das rassige Tier ganz erschrocken zusammenfuhr und dann in tollen Sätzen von dannen raste. Der Major flitzte hinterdrein und überlegte im Hinsausen, ob er das als eine Zustimmung zu seinem Vorschlage aufzufassen habe.
Auf jeden Fall — geschehen mußte es. Und wenn sein Schützling, ein wenig verspätet allerdings — na, wie nannte man das noch — hm, hm! sein — sagen wir also: Herz entdeckt hätte — dann möglichst schnell diese kleine Entgleisung auf den Normalweg zu dem üblichen, gefahr- und schmerzlosen Ausgang leiten ... So befahl es Pflicht und Instruktion ...
Und in Gedanken redigierte er folgendes Billett, das er heut abend bei der Premiere mit einer aufmunternd luxuriösen Blumenspende auf die Bühne lancieren wollte — heut abend? Nein — da würde die Aktion vermutlich ihren Effekt verfehlen — würde untergehen in einem Wust und Ueberschwall ... nein, morgen früh zum Frühstück — das wird das richtige sein! Also ungefähr folgendermaßen würde er schreiben:
»Mein sehr verehrtes etcaetera! Zwei aufrichtige und hingerissene (gerissen ist sehr gut!) Verehrer Ihrer Kunst würden es sich zur höchsten Ehre und Freude rechnen, Ihre nähere Bekanntschaft etcaetera etcaetera. Wir wagen deshalb die dreiste Bitte, daß es Ihnen, Verehrungswürdige, gefallen möge, morgen, Donnerstag abend, nach der ersten Wiederholung der »Jungfrau« mit uns im Hotel Hauffe zwanglos zu soupieren ... Sollten Sie unter Ihren liebenswürdigen Kolleginnen eine nähere Freundin haben, die es nicht verschmähen würde, eine Stunde in harmlos vergnügter Gesellschaft etcaetera, so würde uns das eine ganz besondere etcaetera ... In Voraussetzung Ihrer Zustimmung werden wir uns erlauben, nach Schluß der Vorstellung ein Coupé zur Verfügung der Damen am Bühneneingange etcaetera. Mit der Versicherung unserer vollkommensten Bewunderung Ihre aufrichtigen Verehrer
v. Dillingen. v. Gorczynski.«
Na ja — das übliche Schema — das nie versagende ... pöh ... eine Komödiantin ... wenn's weiter nichts ist ...
Und schließlich die Hauptsache: zwei blaue Lappen hinein — für jede einen — damit die guten Kinder auch gleich merken, daß man ernsthafte Absichten hat — nicht wahr?
Am Mittwoch nachmittag um fünf war der allwöchentliche Seniorenkonvent: die Zusammenkunft der Korpsburschen sämtlicher Leipziger Korps. Sie fand auf der Kneipe des präsidierenden Korps statt: zurzeit war's Neo-Borussia, die ihr Heim in nächster Nähe der Franken aufgeschlagen hatte, im ersten Stock eines gleich uralten, verräucherten, verwahrlosten Kneiphauses, wie der altberühmte Cafébaum eins war, in dem Franconia residierte. Es stand irgendeine der welterschütternden Fragen auf der Tagesordnung, um welche sich ein hoher S. C. an jedem Mittwoch Nachmittag die Köpfe zu zerbrechen pflegte. Diesmal lag vor — na was noch? — lag vor ein Antrag von Misnia und Thuringia, ein wohllöblicher S. C. wolle beschließen, daß die Klingen der Mensurspeere an der Spitze in Zukunft nicht mehr rechtwinklig und scharfkantig abgeschliffen würden, wie es bisher üblich war, sondern abgerundet ... Infolge des eckigen Schliffs waren nämlich an den letzten Bestimmtagen ein paar so hahnebüchene Knochensplitter herausgekommen, daß die Paukärzte kategorisch Wandel verlangten: die Klingen sollten in Zukunft an der Spitze halbkreisförmig geschliffen werden ... Das war natürlich ein Problem von fundamentaler Bedeutung, und so erhitzten sich die Gemüter immer mehr und mehr, immer stärker wurde der Bierkonsum, immer massiver der Zigarren- und Zigarettenqualm ... und immer hastiger rückte der Zeiger jener Stunde zu, da im Carolatheater das Gastspiel der Meininger beginnen sollte ... Theater — pah! Wer hat Zeit, ans Theater zu denken, wenn der bittre Ernst des Lebens einen im Bann hält?
Einer hatte Zeit: der schlanke Fuchsmajor der Franken natürlich — er saß auf Kohlen und hätte sich mit Vergnügen bereit erklärt, sich am Sonnabend auf Mensur mit einem kantig geschliffenen Speer ein halbes Dutzend Knochensplitter aus dem Schädel hauen zu lassen, wenn er dadurch diese entsetzliche Debatte hätte abkürzen und den Anschluß an den Beginn der Vorstellung hätte erreichen können ...
Endlich wagte er ein Aeußerstes. Er ging leise zum Ersten hinüber, neigte sich und flüsterte ihm — der mit aller Nervenanspannung der hitzigen Rede seines Gegenpaukanten vom vergangenen Sonnabend, des Meißner Zweiten, folgte — flüsterte ihm ins Ohr:
»Pilgram, ich darf Dich vielleicht daran erinnern, daß Durchlaucht mich auf heut abend in seine Loge eingeladen hat — da darf ich doch keinesfalls zu spät kommen ... würdest Du wohl gestatten, daß ich den S. C. verlasse?«
»Du bist verrückt!« knurrte Pilgram halblaut. »S. C. geht doch vor allem andern vor! Du siehst, ich muß ja auch aushalten!«
»Du —?! Ja, wie soll ich das verstehen, Pilgram? Gehst Du ... denn auch ... ins ...«
Der Erste errötete tief. Es war ihm herausgefahren, das Geheimnis, dessen er sich vor allen Korpsbrüdern schämte: daß der traditionelle Feind aller neun Musen sich ein Theaterbillett erstanden hatte — und noch dazu eine Studentenkarte zu einer Mark und zwanzig Pfennigen, um gänzlich unstandesgemäß — selbstverständlich im Bummel, also im tiefsten Inkognito — zwischen allerhand proletigen Kommilitonen, das Parterre, ganz hinten, zu bevölkern — sintemalen und alldieweilen es auch bei ihm am Monatsschluß nicht mehr zu dem für das Korps vorgeschriebenen Platz im ersten Rang hatte reichen wollen ...
»Allerdings — ich geh' auch!« zischte Pilgram. »Wir gehen nachher zusammen — aber im S. C. wird ausgehalten, und wenn uns die ganze Affenkomödie durch die Lappen gehen sollte!«
Vor solchem Pflichteifer verstummte Hans Thumser — völlig erschüttert ... Freilich, was galt diesem Banausen die Versäumnis eines, zweier, dreier Akte Schiller! Wie mochte der bloß auf die Idee gekommen sein, ins ... Hallo — sollte da am Ende ein ... trotz allem ... erwachtes Interesse für seine berühmte filia hospitalis?! Alle Wetter — das war am Ende doch wohl die einzige Erklärung!
Und während ein wohllöblicher S. C. sich weiterhin über krummen oder geraden Schliff der Klingenspitzen aufregte, griff Hans Thumser alle fünf Minuten heimlich nach seiner Taschenuhr ... halb sieben — — sieben Uhr jetzt — verflucht! War denn diese verdammte Zwiebel rasend geworden? Und nun — nun war es auf einmal halb acht — in diesem Augenblick hob sich da unten fern in der Südstadt, in der Sophienstraße, der Vorhang zum Prolog, und der biedere Thibaut d'Arc verlobte seine zwei ältesten Töchter ... Nun stand sie auf der Bühne — sie, die Madonna aus der oberen Kirche seines Herzens ... noch im schlichten Kleide der Bäuerin, doch schon überlagert vom tragischen Schatten ihrer göttlichen Sendung ...
»Meine Herren,« sagte der Vorsitzende, Herr Borgmann, Neo-Borussiae, die linke Stirnseite noch immer von mächtigem Wattebausch unter schwarzer Kompresse bedeckt, da, wo Hans Thumsers kecker Durchzieher ihm wider alle Vorsicht Schwarte, Knochenhaut und alle Aeste der Temporalis durchgesäbelt — »meine Herren, meiner Ueberzeugung nach würden wir uns vor sämtlichen Glocke schlagenden S. C. eines hohen Kösener unsterblich blamieren, wenn wir als einziger S. C. den allgemein üblichen scharfkantigen Schliff abschaffen wollten — und zwar aus einer Anwandlung von Humanitätsdusel heraus, der für mein Empfinden einen bedenklichen Beigeschmack von Kneiferei hat —«
»Ich bitt' ums Wort!«
»Ich auch! Ich auch!« so scholl's heftig aus der Korona.
»Silentium für Herrn von Schubart, Misniae!« sagte Borgmann gelassen.
»Ich muß mir aufs entschiedenste verbitten,« schrie Herr von Schubart, der Zweite der Meißner, in den Zigarrenbrodem hinein, »daß der Herr Erste Chargierte des präsidierenden Korps von einer Maßregel, die mein C. C. befürwortet, erklärt, sie habe einen Beigeschmack von Kneiferei! Ich verlange, daß der Herr Vorsitzende diese Aeußerung mit dem Ausdruck des Bedauerns zurücknimmt — andernfalls behält sich mein C. C. weitere Schritte vor, sowohl gegen einen wohllöblichen C. C. des präsidierenden Korps als auch gegen Herrn Borgmann persönlich!«
Dreiviertel acht —! wimmerte Hans Thumsers sehnsüchtige Seele — und in seinem Herzen klang's:
Thuringia schloß sich den Erklärungen Misnias an; Guestphalia schwankte, während Franconia und Neo-Borussia gemeinschaftlich gegen den Antrag auf Abänderung des Klingenschliffs auftraten. Unter allgemeiner Erregung schritt der Vorsitzende endlich um zehn Minuten vor acht zur Abstimmung, und nun fiel Guestphalia definitiv zur Partei des runden Schliffs. Franconia und Neo-Borussia waren überstimmt: die holde Menschlichkeit oder, wie Herr Borgmann Neo-Borussiae es nannte, der Geist der Kneiferei hatte gesiegt ... Und mit dem Zigarrenrauch hingen unzählige P. P. Suiten und Säbelforderungen in der Luft ... Morgen früh zum Frühschoppen würden sie explodieren ...
»Nu aber raus!« zischte Pilgram seinem Korpsbruder zu. »Weh Dir, wenn Du den andern was davon sagst, daß ich ins Theater geh — offiziell büffle ich heut abend!«
Drunten wartete des Ersten Chargierten der Korpsdiener mit Hut und Regenschirm. Pilgram riß ihm beides aus der Hand, zog Mütze und Band ab und übergab sie dem Getreuen. Thumser, der vornehm in der Proszeniumsloge sitzen würde mit dem Erbprinzen, blieb natürlich in Couleur. Und in rasendem Tempo hasteten nun die beiden Studenten die kleine Fischergasse hinab.
Auf dem Alten Markt standen Droschken aufgefahren. Die Wanderer warfen einen wehmütigen Blick hinüber:
»Wenn's doch schon der Erste wäre!« knirschte Hans Thumser.
»Beine in die Hand!« knurrte Pilgram.
Als Hans Thumser sich auf Zehenspitzen in die Proszeniumsloge schob, hatte der erste Akt bereits begonnen. Der Erbprinz und der Major wandten kaum zu flüchtiger Begrüßung die Köpfe — schon waren sie im Bann. Und hinter den schwarzen Silhouetten der Vordermänner sah Hans nur mit einem flüchtigen Blick die von der Bühne her matt erleuchteten vordersten Reihen des Publikums im Parkett — lauter Gesichter, im Lauschen und Schauen erstarrt. Und schon schlugen auch über ihm die Wogen zusammen.
Ein hoher gotischer Saal am Hoflager König Karls von Frankreich. Düstere pfeilergetragene Holzdecke, die Wände eichengetäfelt, darüber Gobelins mit steifen Reihen buntgewandeter Ritter und Edeldamen. Und ganz tief hinten ein buntes Fenster, durch das sich ein paar verirrte Sonnenstrahlen stehlen. Und mit zweien Getreuen der unglückliche weichherzige König, dessen Knabenhand wohl seine Agnes Sorel zu kosen vermag, nicht aber die Zeit, die aus den Fugen gegangen, wieder einzurenken ... drei Ratsherren knien vor ihm, seine vielgetreuen Bürger von Orleans, und flehen um Hilfe, um Entsatz ihrer hartbedrängten Stadt ... Verzweiflungsvoll ringt der König die kraftlosen Arme:
Doch sieh: ein Lichtstrahl zittert in das Dunkel der Szene: Die Geliebte kommt: Sie bringt opfermutig all den blinkenden kostbaren Tand, den ihr König in süßen Stunden ihr um den Nacken gewunden ... Ein schwarzlockiges, schmiegsames, kätzchenweiches Geschöpfchen ... Ihre Augen schimmern in koketten Tränen, ihre Hände, weich und rosig wie Frühlingswolken, umschmeicheln den Freund, noch in der Angst der Verzweiflung liebeheischend, sehnsuchtsweckend ...
»Agnes Sorel ... Asta Thöny«
sagt der Theaterzettel. Herrgott ... das ist sie ...
Und einen Moment ist Hans Thumser wieder Hans Thumser ... Er tastet nach seiner Brusttasche, wo ein etwas zu stark parfümiertes rosa Billetchen steckt: Die Worte, die es enthält, ach, die kann er auswendig, im Träumen, von vorn und von hinten:
Also — das ist sie ... das ... Füßchen werden nicht vorgezeigt, nur zwei zierliche Goldspitzen lugen im Schreiten ab und an für einen winzigen Moment unterm schweren Brokat des gotisch starren Gewandes vor ... dafür aber läßt dies neidische Gewand einen Hals frei ... einen Hals ... o Gott, o Gott ...
Einen Augenblick ist Hans Thumser Hans Thumser — der sehnsüchtige Knabe an der Schwelle des Lebens ... nur einen Augenblick ... und schon wieder ist er ... niemand und alles ... nur Auge, nur weitgeöffnet schauendes Gottesauge — nur Seele, alliebende, alldurchdringende Weltseele ...
Höher schwillt die Flut des Entsetzens um den verlorenen Königsknaben und sein zitterndes Lieb ... Eine Hiobspost jagt die andere, das Maß des Ertragens ist voll, sein Land und seine Ehre gibt der Schwache preis, und empört fallen die letzten seiner Getreuen von ihm ab ... Verlassen steh'n die beiden Kinder ...
Da auf einmal ... kommt einer der Entwichenen zurück ... auf seinem zuckenden Gesicht, seinen stammelnden Lippen glüht ein Wort ... ein Wort, das längst ins Fabelland entschwunden schien ... das Wort: Sieg ...
Und sieh — da führen die edlen Herren aus des Königs Gefolge einen riesigen Krieger heran: einen Ritter im zerhauenen, blutbekrusteten Harnisch: ein blutiger Fetzen windet sich um seine kampfglühende Stirn, aus seinem blutunterlaufenen Auge lodert das gleiche Zauberwort: das unfaßbare: Sieg ... Sieg ...
Und atemlos, stockend oft und nun in wahnwitzigen Jubel ausbrechend, kündet er die phantastische Mär:
Das Wunder ist herabgestiegen vom Himmel ... Ein weißes Mädchen ist in die Mitte der umzingelten Franzosen getreten — hat dem Fahnenträger das Banner entrissen und an der Reisigen Spitze sich in den Feind gestürzt!
»Ein Schlachten war's, nicht eine Schlacht zu nennen!«
Und daß fassungsloser Unglaube kniebeugender Glaube werde — — wird sie selber kommen! wird kommen — hierher, an diese Stelle, auf der wir stehen, harrend, bis ins Mark erschüttert und dennoch zweifelnd ...
Und horch! Schon kündet sich's an: Da draußen, in den fernen Gassen der Stadt, hören wir den Lärm eines jäh triumphierenden Empfangs ... Näher und näher kommt das festliche Getös ...
Und da — da fangen ja die Glocken von allen Türmen plötzlich an zu schwingen ... und heller tönt draußen das tolle Jauchzen der Begeisterung ... und nun stürzen sie alle, die in der dumpfen, ragenden Kammer weilen, in kindischer Hast ans Fenster da hinten und beugen sich hinaus, und sieh, sie sehen's schon, das Wunder, das Unmögliche — sie schreien und winken und schreien —
Und horch, nun stürmt's da draußen die Stufen hinauf, nun stürzt, nun strömt es herein. Ratsherren und Rittersleute und Bürger und Weiber und Soldknappen und Kindervolk und ... eben Menschen, schreiende, tobende, vor Erlösungstaumel sinnlose Menschen ... Vor dem König, der mit der Geliebten, zitternd, schwindelnd, da vorn geblieben, werfen sie sich auf die Knie, in den Staub, heulen und jauchzen: Sieg! Sieg! Sieg!
Und nun — nun öffnet sich auf einmal, wie die Flut des Roten Meeres vor dem Durchzug der Kinder Israel, so klaffend öffnet sich durch die Menschenflut eine Gasse ... und durch die Gasse ... schwebenden Schrittes ... kommt ... sie ...
Kommt ein weißes Mädchen, nein, kein Mädchen, kein Mensch ... ein Gedanke, ein Gottgedanke, der Gedanke der Erlösung, der Gerechtigkeit, der Freiheit, des Vaterlandes ...
Und steht so vor dem König ... das Ewige, das Heilige, das Unendliche selbst ...
Und doch ... nur ein Mädchen ... ein junges, weißes Weib ...
In der winzigen Garderobe, rechts vom Schauspieler, auf der Frauenseite, wartete Mutter Buchner ihrer berühmten Tochter. Sie hatte es sich zwar nicht versagen können, sich von einem Eckplatz des Parketts aus an Jucundas Spiel, den neidisch-ehrfurchtsvollen Blicken der Bekannten, dem Jubelsturm des Publikums zu weiden; aber am Anfang des zweiten Aktes, das wußte sie, trat Jucunda nicht auf, und da drängte es sie in die Garderobe ihres Kindes, um ihr Zofendienste zu leisten. Ach, am liebsten wäre sie ja von Ort zu Ort mitgereist ... Wenn ein Mädchen so ungeheuer viel Talent hatte ... und so gut gewachsen war — na, man wußte ja, von wem sie das hatte! — und so heißblütig — ach Himmel, man war ja selber auch mal jung gewesen! — Das war ja ganz selbstverständlich, daß die Mannsbilder hinter so einer her waren wie verrückt — da hätte man ja doch als Mutter eigentlich auf Schritt und Tritt aufpassen müssen ... Aber da war ihr Alter, der Herr Rat ... der konnte ja nicht leben ohne seine Doris ... Na, solange das Kind in Leipzig war, sollte es wenigstens fühlen, was man an einer Mutter hat ... Und kaum war der Vorhang nach dem ersten Akt gefallen, da flog — während das Publikum noch immer tobte, die Gardine auf und nieder tanzte, die Darsteller sich immer und immer wieder süß lächelnd verneigten — flog Mutter Doris aus dem Zuschauerraum zu dem bekannten Pförtchen, das nur denen vom Bau sich öffnet, hastete die steinerne Treppe hinauf in das winzige, von Schminke, Puder und Menschendunst geschwängerte Kämmerchen und wendete das gewärmte Hemd, das auf der Heizung bereit hing ... Denn wie ihre Jucunda schwitzte bei so'ner großen Szene, das war schon nicht mehr schön ... Von Kopf bis zu Füßen mußte sie die Unterwäsche wechseln jedesmal, wenn irgend Zeit blieb ... Freilich, wie das Mädchen sich auch ins Zeug legte ...
Und nun kam sie — kochend, dampfend, wie aus dem Backofen ... fiel in den Frisierstuhl und streckte alle Viere von sich ... Frau Doris umarmte sie zärtlich und drückte ihr einen begeisterten Mutterkuß auf die triefende Stirn ...
»Schinderei, verfluchte!« pustete Jucunda. »Wie aus dem Wasser gezogen ist man — und das schon nach dem ersten Akt! Schnell, Muttel, die Lappen runter und frische Wäsche! Ich komm' ja um!«
In der Tür der Garderobe drängten ein paar Kollegen nach, der Heldin des Abends die Hand zu drücken. Alle mochten sie das stramme junge Ding leiden, das mit seinen achtzehn Jahren so resolut durch diese schminkestarrende Welt stapfte, als sei sie darinnen geboren und nicht in einem engbrüstigen Leipziger Spießermilieu ...
»'raus!« befahl Mutter Doris. »Alles 'raus! Meine Tochter wünscht alleene zu sein!«
Und rasch vollzog sich die Verwandlung. In kräftiger Frische, schweißgebadet, stieg der derbe Mädchenleib aus den klatschnaß zusammensinkenden Hüllen, wurde von sorglicher Mutterhand mit lauen Güssen überspült und in die frischen gewärmten Unterkleider gesteckt. Die Garderobiere, ein verknittertes, verhutzeltes Weiblein, stand müßig daneben und träumte von der goldenen Zeit, als auch sie einmal am Stadttheater zu Stallupönen erste Naive gewesen und von den Leutnants der Garnison mit billigen Buketts und falschen Schmucksachen überschüttet worden war ... Dann aber mußte sie eingreifen, denn über das weiße Gewand des Bauernmädchens wurde nun die wuchtige Rüstung geschnallt und mit einem Dutzend Riemen und Oesen befestigt — darauf verstand Mutter Doris sich denn doch nicht. Inzwischen aber schwatzten die Frauen ohn' Unterlaß:
»Gott, war das ein Spektakel zum Aktschluß! Namentlich da hinten im Parterre!« sagte Jucunda und warf das langflutende braune Gelock über die Rüstung zurück.
»Natierlich — das gloob' ich ooch!« erwiderte die Mutter und strich mit glättendem Kamme bedächtig durch die krause Mähne der Tochter. »Da sitzen doch die Herren Studenten! Was die trampeln kenn'! Gott soll mich bewahren! 's ganze Parkett war Dir doch eene Staubwolke! Und unserer is ooch dabei — wirscht mer's glauben?«
»Wer? Der unverschämte Mensch aus dem Eckzimmer?«
»Freilich, der! Un gezogen is er noch lange nich!«
»I nee so was!« lachte Jucunda.
»Eegentlich is mer'sch ganz lieb, daß er noch nich weg is,« sagte Mutter Doris. »Immerhin er is der Erste Scharschierte vons älteste und angesehenste Korps in Leipz'g ... Un so lang als ich denken kann, hab' ich immer Korpsstudenten bei mir wohnen gehabt — 's wär doch sehr unangenehm für mich gewäsen, wenn er wär' mit'n großen Krach von mir fortgegangen — leicht hätt's kenn' passieren, daß die ganzen Korps mich hätt'n in'n Verruf getan — damit sin se immer sehr fix bei der Hand, wenn ma een' von ihn' mal schief angekuckt hat ... Unser Nachbar Wunderlich, der Mützenmacher, der kann e Wertchen davon erzählen ... Der hat mal een' von die Korpsstudenten, der absolut nich wollt' zahl'n, nu, dem hat er en groben Brief geschrieben — und iebermorgen war er schon im S. C. Verruf — das kost'n an sechshundert Mark jährlich!«
»I herrjemerschnee!« lachte Jucunda, »das hätt' ich wissen sollen, daß unser Student so ein großes Tier ist! Da hätt' ich durch meine Grobheit ja beinahe Deinen Geschäftsbetrieb ganz bösartig geschädigt! Na, hoffentlich kommst Du noch mal mit 'nem blauen Auge davon! Uebrigens, Muttel, wenn ich mich recht erinnere, so hast Du den einflußreichen Jüngling auch nicht gerade mit Glacéhandschuhen angefaßt ...«
»Nu, ich hab' mich eben lassen hinreißen,« sagte Frau Doris. »Weeßte, wenn eener mir mit mein' Goldkinde tut anbinden — hernach weeß'ch mich nich zu beherrschen — reinweg wie ene Furie werd' ich Dir dann!«
»Muttel!« sagte Jucunda zärtlich und legte einen Augenblick lang das lockenumflutete Haupt an den mächtig wallenden Mutterbusen.
In diesem Augenblick trat Franz Burg herein, der Oberregisseur, in der klirrenden Rüstung des englischen Oberfeldherrn, in einer Maske so voll schrecklichen Ingrimms, daß Jucunda hell auflachte:
»Donnerwetter, lieber Freund — mit Ihrem Konterfei kann man ja die Pferde scheu machen!«
»Himmel — für die guten Leipziger muß man eben ein bißchen dick auftragen ...«
»Schön,« sagte Jucunda, »werd' ich mir merken. Passen Sie mal auf, Meister, wie ich jetzt loslegen werde!«
»Aber gefälligst mit einem vernünftigen Stimmansatz, und nicht wieder so aufs Organ loswüsten wie im ersten Akt! Ihnen geht's zu gut, Kindchen, Sie werden mir zu üppig ... In einem Alter, wo andre Kolleginnen froh sind, wenn sie einmal ein Servierbrett mit Kaffeegeschirr hereinbringen dürfen, toben Sie schon abendfüllend durch ganz Deutschland — da muß ja so ein achtzehnjähriger Verstand aus dem Leim gehen ...«
»Ach, lassen Sie mich doch ...« Jucunda reckte den herrlichen Körper, daß alle Niete und Scharniere der Rüstung knackten ... »Lassen Sie mich doch, lieber Freund ... Es ist ja so schön ...«
Franz Burgs Augen schimmerten hinter den grimmigen, rotgrauen Brauen in einem ganz seltsam weichen Licht ... Sie glitten über die schlanke, waffenblanke Gestalt, wie ein Streicheln.
»Schön ist's, das glaube ich — Sie sind eben ein Sonnenkind, Langbeinchen!« So nannte er sie noch immer, aus jener Zeit, wo sie als blutige Novize wegen ihres knabenhaften Wuchses immer die Pagen hatte spielen müssen ... Jetzt freilich wäre das nicht mehr zu machen gewesen — sie war ein Weib geworden ...
»Na also — Sie sind fertig ... Nun halten Sie aber Ruhe, bis Sie geholt werden ... Und nicht zu toll mit dem Organ aasen, verstanden? Adieu, Langbeinchen!«
»Adieu, Sie Bester!«
Ein Blick so voll dankbarer Zärtlichkeit, daß der grimme Talbot rasch das Visier herunterklappte ... Und durch die Augenlöcher klang sein Knurren:
»Also fang'n mer an!«
Er rasselte von dannen. Jucunda warf ihm ein halbes Dutzend Kußhände nach.
»Aber Jucunda!« rief die Mutter ganz entsetzt.
»Ach laß doch, Muttel! Einmal ein Mensch beim Theater, ein einziger, der selbstlos gütig ist — einen lehrt, einem vorwärts hilft, ohne gleich — —«
Der zweite, der dritte Akt waren vorübergebraust, mit Schlachtgetöse und Siegesjubel und Sterbegrauen ... und hatten geendet mit der naiv-gewaltigen Szene, in der Johannas tragisches Geschick sich wendet: der Fluch ihrer übernatürlichen Sendung sich wider sie kehrt. Das Herz der Jungfrau hat mit Entsetzen sein Mädchentum empfunden ...
Große Pause nun — alles strömte hinaus in die schmalen, schlechtbeleuchteten Gänge, das dürftige Foyer des dumpfen winkligen Hauses ...
Und da oben fanden sich die beiden Franken, ihr fürstlicher Konkneipant und sein Erzieher. Die Herren begrüßten einander mit dem gewohnten starr offiziellen Gesicht, dem korrekten Händeschütteln der hoch gewinkelten Arme ... Keiner mochte verraten, wie sehr er gepackt war.
»Ganz nett — wie?« näselte der Erbprinz.
»Na ja ... Aber immer dies ewige eintönige Pathos, das hält kein Pferd auf die Dauer aus!« schnarrte Pilgram.
»Wie fanden Sie die Buchner?« fragte nachlässigen Tones der Prinz.
»Na — mein Himmel — spielt eben Schiller!« erwiderte der Rechtskandidat.
Hans Thumser blieb stumm. Ihm standen Erregung und Entzücken bis an den Hals — die Tränen, die er mühsam hatte unterdrücken müssen, preßten ihm die glühenden Augen. O Gott — so Erhabenes, so Ungeheures erlebt zu haben ... Und dann den gelassenen Weltmann mimen zu müssen mit zwanzig Jahren ... Was war das für eine Jugend? Sie schämte sich aller jugendlichen Empfindungen ... der Begeisterung, des Glaubens an das Große, das Weltbezwingende ...
Und schnell vollendete sich's nun. Wie ward es Valentin Pilgram zumut, als er nun im festlich geputzten Saale zu Reims die Verse erklingen hörte, die er neulich so schmählich unterbrochen?
Was war denn das, was so heiß und fremd unter der linken Westentasche zuckte und hüpfte? Was war dieser geheimnisvolle Schmerz, dieser brennende, der durch Hirn und Glieder rumorte, wenn dieses Mädchen seine stählernen blauen Augen verloren in den dunklen Raum hinausschweifen ließ, in dem er saß, inmitten der proletigen Finken ringsum, die er verachtete, wie er alles verachtete, was nicht zu den Angehörigen eines hohen Kösener S. C. Verbandes zählte?! War es die Scham, daß er dies Mädchen, diese weiße, stolze Weibesgestalt da hinten, gekränkt, gestört in ihrem Studium — sich benommen gegen sie wie ein Rauhbein, ein Knote ohne Kinderstube und Direktion!
Ja, das mußte es sein, das und nichts andres ... Er wird morgen früh seinen Bratenrock anziehen und seine beste Mütze aufsetzen — wird sich feierlich durch die Frau Kanzleirätin anmelden lassen und förmlich und devotest um Verzeihung bitten ... Es ist männlich, begangenes Unrecht einzusehen und zu sühnen, und durch Revokation und Deprekation einer Dame gegenüber vergibt auch Franconiae gewesener Erster, Erster, Erster ad interim sich nichts — nein, ganz gewiß nicht!
Also das mach' ich! Gesegnet meine wüste Laune, gesegnet meine Examensnervosität ... So hab' ich doch wenigstens einen anständigen Grund, mich ihr vorzustellen, sie zu sehen, mit ihr zu sprechen ... Und ich werde mich dermaßen kavaliermäßig benehmen ... Ich werde ... Ueberhaupt ... Ich werde — hol' mich der Teufel — Eindruck werd' ich machen, so wahr ich Valentin Pilgram bin, Franconiae gewesener Erster, Erster, Erster ad interim!
Hans Thumsers Seele war aber zwiegeteilt, wie fast immer — fast immer ... Noch einmal, in der zweiten Szene des vierten Aktes, kam die andere — nach der er ein geheimes, lästerliches und süßes Schmachten verspürt hatte, nun sie so lange verschwunden war ... kam Agnes Sorel, stand neben der herrischen Gestalt Jucundas in ihrer kätzchenhaften Holdseligkeit ... schmiegte an Jucundas gepanzerten Busen die unverhüllte, die rosige lockende Brust ... O Hans Thumser, und denken zu müssen, daß diese Himmelswonne Nacht für Nacht neben deinem Knabenstübchen schläft, nur durch eine dünne Ziegelmauer von dir getrennt, in der es gar noch eine Tür gibt, die freilich verschlossen ist und mit einem Kleiderschrank verstellt ... O Hans Thumser, wie wirst du dies Bewußtsein ertragen, nun du sie kennst, sie gesehen hast mit deinen scheuen, brennenden Augen, ihr Bild hineingesogen in deine lechzende, lebenshungrige Seele ... Wie wirst du's ertragen?
Füchschen, die Trauben sind sauer ... So hat sie geschrieben. Ach, du Schelm, du böser, neckender Traumspuk du — du warmes, weiches, nahes, fernes, weltenfernes Menschenkind — —!
Still — es erfüllt sich Johannas Geschick ... Vor dem Bannspruch des Vaters, der sie höllischer Blendekünste zeiht, verstummt sie ... verstummt vor dem Donner des Himmels ... flieht in Einsamkeit und Verzweiflung — fällt stumm und wehrlos in die Hand der Feinde ...
Doch dann, in letzter, höchster Not, kommt noch einmal über sie die alte, magische Kraft: Sie zerreißt ihre Ketten, entrafft sich den entsetzten Feinden, trägt noch einmal das Banner der Jungfrau zum Kampf ... und dann, die Todeswunde in der Brust, von Siegesbannern überbauscht, läßt sie ihre reine Seele ins All hinüberströmen ...
O Dichter! Dichter! betet Hans Thumser — großer, herrlicher mit Deiner wunderbaren Cherubseele — einen Tropfen von Deinem Geist in mein junges Herz — einen Flammenfunken von Deinem Himmelsfeuer!
Ein heftig gestammelter Dank an den Prinzen, ein feierliches Schütteln der korrekt eingewinkelten Hände mit ihm und dem Major, und dann hinaus — hinaus in die herbstliche Abendluft ... O glühende Stirn, o glühendes Herz ...
Und nun — warten — sie noch einmal sehen, sie, »die alles Herrliche vollendet« ... nicht jene andre, das Kätzchen, den Spukgeist ... Nein, die eine, die weiße, die königliche ...
Warten auf sie — sie warten ja alle ... Eine dichtgedrängte Schar, lauter blutjunges Volk. Konservatoristinnen und Ladenmamsellchen untermischt mit Primanern und Studenten ... Sie warten vor dem Portal, vor dem ein einziger Wagen noch hält, ein einziger, während all die andern mit ihrer Fracht schleierumhangener, kapuzenverhüllter Weiblichkeit von dannen donnern — ein einziger Wagen, in dem, hüstelnd und frierend, ein bebrilltes Männlein hockt mit grauem Kragenbart: der Kanzleirat Buchner ...
Es dauert lange, dies Warten ... Aber Hans Thumser wartet nicht allein: An seiner Seite, geduldig fröstelnd, harrt der gestrenge Senior, ganz gegen jede Wahrscheinlichkeit und Psychologie ...
»Ne, Pilgram, wie Du mir heute vorkommst!«
»Na, was denn? Wieso denn?« knurrt der Erste. »Denkste vielleicht, Du hast die Kunstbegeisterung alleene gepachtet?!«
Und endlich — endlich — — am Bühneneingang fliegen die Hüte, die Mützen von den Köpfen —
»Jucunda Buchner — hoch! hoch!«
Voran schiebt sich eine derbe Matrone in uraltmodischer schleifenbesetzter Kapuze — und dann kommt — sie — so mädchenhaft auf einmal, so spießbürgerlich schlicht ... Wie ein Backfisch schaut sie aus, so menschlich, so nahe ...
»Hoch! hoch!« brüllen die Studenten, juchzen die Mädels — sie huscht vorüber, kopfnickend, so lieb, so einfach, so — so fabelhaft nett — sie schlüpft in die Wagentür, nickt noch einmal vom Fensterrand — neuer Jubel —
Ach was — längst nicht genug!
Eine neue, eine würdige Huldigung dem wundervollen Menschenkind!
»Kommilitonen!« ruft Hans Thumser und schwenkt die grüne Mütze, »Kommilitonen! Wir spannen ihr die Pferde aus, wir fahren sie im Triumph nach Hause!«
Ein Beifallsgeheul ist die Antwort. Und auf die Gäule stürzt sich der Schwall — im Nu sind die Scheuenden, Schäumenden abgesträngt, der fluchende, peitschenschwingende Kutscher entwaffnet und vom Bock gezerrt ...
»Verrickt seid 'r! Alle mitenander seid 'r übergeschnappt! Der Deifel soll Euch hol'n!«
Und hundert Hände packen zu, langen nach der Deichsel, den Zugscheiten, den Strängen — hundert Hände greifen in die Speichen — hurra! Der Wagen rollt, rollt mit seiner vielgeliebten Fracht ... Und allen voran als Führer, den Hut auf dem Stock balancierend, den Stock im Takt schwingend wie ein Tambourmajor schreitet einer, der den Weg kennen muß: Franconiae gewesener Erster, Erster, Erster ad interim!
Und der Wagen rollt die Sophienstraße entlang, umdröhnt vom Jauchzen schönheitstrunkener, größeberauschter Jugend ... Rollt die Zeitzer Straße, den Peterssteinweg hinab, der Altstadt zu ... Und immer zahlreicher wird das Huldigungsgefolge hinter dem Triumphzug, den Jugend der Jugend, der Schönheit, der Kunst bereitet, immer betäubender schwillt der allgemeine Jubel:
»Jucunda Buchner — hoch — hoch Jucunda — unsre Jucunda!«
Als der Triumphwagen endlich in der Katharinenstraße hielt, zog der alte Buchner den riesigen Hausschlüssel aus der Tasche und stieg als erster aus. Ein hundertstimmiger Jubel empfing ihn ...
»Das ist der Vater — Jucundas Alter ist das — Papa Buchner hoch! hoch!«
Ein Dutzend Hände waren ihm behilflich, hoben ihn über die Bordschwelle, ganz betäubt humpelte er durch die Gasse, die sich vor seinen Schritten öffnete, fand die Tür seines Hauses zu seiner Verwunderung bereits geöffnet und schlüpfte hinein, wie erlöst, daß er dem Getös entronnen ...
Und nun schob sich Mama Buchners massives Gestell aus der Droschke.
»Achtung, jetzt kommt Mamachen!« schrien kecke Stimmen. »Platz für Mamachen!« Geblendet vom grellen Licht der Gaslaterne, dicht neben dem finstern Hauseingang, verwirrt vom Stimmengewirr, dem Glanz blitzender Augen, dem Durcheinander winkender Hände, flatternder Tücher verfehlte Mutter Doris mit unbehilflich suchendem Fuß den Wagentritt und wäre gestürzt, hätte nicht ein sehniger Arm sie gefaßt und ihre schwerfällige Gestalt mit sicherem Griff aufs Trottoir, auf die Beine gestellt. Und gleich darauf fühlte sie ihre Hand in diesen sehnigen Arm hineingezogen, fühlte sich sicher und ritterlich der Haustür zugeführt — sah dankbar zu ihrem Beschützer empor und — sah in das verlegenheitglühende Gesicht ihres Mieters ...
»Gnädige Frau —« stammelte Pilgram.
Gnädige Frau —?! Es war das erstemal, daß ihr Student diese Anrede für die Frau Kanzleirätin fand ... sie war direkt erschüttert ...
»Herr Pilgram — nee heer'n Se, das is aber hibsch von Ihn' ...«
»Darf ich Ihnen meinen aufrichtigen Glückwunsch zu dem Riesenerfolge Ihres Fräulein Tochter — gnädige Frau? und zugleich auch meine Bitte um Entschuldigung wegen meines unqualifizierbaren Benehmens von vorgestern morgen —«
»Ach sei'n Se still, Herr Pilgram — scheen war's ja grade nich ... Aber Sie haben's ja gut gemacht ... Also woll'n mer uns wieder vertragen! Aber wo bleibt denn 's Kind?«
's Kind war noch nicht abkömmlich. Sie mußte draußen die Dutzende von Händen schütteln, die sich ihr entgegenstreckten ... Und dabei liefen ihr die hellen Tränen nervöser Seligkeit über die Backen ...
»Dank ... tausend, tausend Dank!« Das war das einzige, was sie nur immer wieder stammeln konnte ...
Und endlich fiel die Pforte denn doch ins Schloß, während die begeisterte Jugend draußen weiter jubelte und tobte. Kanzleirat Buchner wollte abschließen, aber Valentin Pilgram kam ihm zuvor. Und dann entzündete er ein Wachsstreichholz und geleitete Mama Doris mit der Galanterie eines Oberhofmarschalls die knackenden Treppen des altehrwürdigen Baues hinan, der einstmals ein feierlich elegantes Patrizierhaus gewesen war ... Der Kanzleirat und die Heldin des Abends folgten.
Oben wollte sich Valentin verabschieden, um in seinem Zimmer zu verschwinden, aber Jucunda rief:
»Was? Sie wollen schon schlafen? Nee, gibt's nich! Muttel, mach' Licht in der guten Stube! Wir schwatzen noch eins! Und Du, Alter, rück' mal ein paar Pullen Gose heraus! Ich hab' einen Pferd'sdurst!«
Und sieh — nach wenigen Minuten war's hell und mollig in der behaglichen Wohnstube, und während Mutter Buchner drinnen Bemmchen schmierte und Papa Kanzleirat Zigarren und Aschenbecher bereit stellte, sorglich aus den dickbauchigen Goseflaschen das bernsteingelbe bitterliche Naß in die hohen Stangengläser plätschern ließ, stand Valentin Pilgram voll nie gefühlter Empfindungen am Fenster, hinter Jucundas hoher Gestalt, die noch immer hinaus auf die Straße winkte und Kußhände warf, während von drunten, vom Straßendamm empor ohn' Ermatten das Begeisterungsgebrüll der Burschen tönte, die Taschentücher der Mädels flatterten ...
»So, Kind,« sagte Mutter Doris endlich, »nu mache schon Schluß, daß Du was zu essen und zu trinken kriegst ... Bitte, Herr Pilgram, nehmen Sie Platz!«
Valentin und Jucunda traten vom Fenster zurück. Jetzt erst fand das Mädchen Zeit, den jungen Gesellen zu mustern.
»Sie sind wohl einen halben Kopf größer als ich,« sagte sie anerkennend.
»Aber Sie — Sie sind ... etwas ganz Besonderes ... eine ganz andre Sorte von Mensch als ... nu als wir gewöhnlichen Leute, wir simplen Rechtskandidaten ... und so was.«
»Erlauben Sie mal — Sie sind doch auch was Besonderes ... Erster Chargierter des ältesten und angesehensten Korps in Leipzig ...« Sie wies auf einen Stuhl.
»Gott — gnädiges Fräulein ... Wie können Sie so was überhaupt ... das sind doch Kindereien, wenn man's mit ... mit Ihrer Kunst vergleicht ...«
O Valentin Pilgram — wer dir das gestern prophezeit hätte ... daß du so zu einer Komödiantin sprechen würdest ... daß die Heiligtümer deiner Seele so schnell verbleichen würden ...
»Na, nu nähmt mal gefälligst ä bißchen Platz, Kinder!« rief der Kanzleirat ...
Kinder —?! Es durchfuhr die beiden jungen Menschen ... ein seltsames, ahnungsvolles Gefühl ... Mit einem Male war Jucunda Buchner nicht die glückverwöhnte, reichbegnadete Künstlerin, sondern ein Backfisch von achtzehn Jahren ... und Valentin Pilgram nicht der Sohn des Senatspräsidenten am Dresdener Oberlandesgericht, nicht der Erste Chargierte eines wohllöblichen C. C. der Franconia, sondern ein Knabe von vierundzwanzig, in all seiner senioralen Würde doch noch immer ein junger, lebensunkundiger Novize des Daseins ...
Zwei blutjunge Menschen ... zwei Kinder ... beide gewachsen wie ein paar Tannen, beide jung, stark und heiß ...
»Kinder!« hatte der alte Mann gesagt ... Wie seltsam das die Seele traf ...
Beider Augen waren gesenkt, beider Stirnen glühten, als sie sich setzten ...
Man stieß mit den langschäftigen Gosengläsern an, Jucunda tat einen tiefen, herzhaften Schluck und biß dann nicht minder herzhaft in ihre Butterbemme.
»Donnerkiel!« sagte sie, »das tut aasig gut ...«
»Nu sagen Se, Herr Pilgram, wie sind Sie denn bloß in's Theater gekommen? Ich hab' gedacht, Sie haben gar nischt iebrig für die Kunst?« erkundigte sich Mama Buchner.
»Ja ... Frau Rätin,« sagte Valentin, »wie soll ich Ihnen das erklären? Sie haben nämlich recht ... Ich hab' wirklich nicht viel Sinn für die Kunst ... Ich — nu ich war eben ... neugierig war ich — auf meine Budennachbarin ...«
»Sehr schmeichelhaft!« lachte Jucunda und zündete sich eine Zigarette an. »Na und — und was sagen Sie nu?«
»Gar nischt sag' ich —« bekannte der Student. »Wissen Sie ... zum Komplimente machen ... bin ich nicht maulgewandt genug ... ich kann nur sagen: dies war der schönste Tag meines Lebens.«
»Hehe — da siehst es, Jucunda, was fier ä Kerle Du bist!« schmunzelte der Kanzleirat.
»Ach — das geht doch nicht auf mich!« wehrte Jucunda ab. »Herr Pilgram ist eben von Schillers großer Dichtung so ergriffen gewesen ...«
»Ne, gnädiges Fräulein, das könnt' ich nu gerade nich sagen,« erklärte Valentin. »Ich bin eben doch, wie mein Korpsbruder Thumser sagt, ich bin doch ein Banause. Schiller? Ich weeß nich ... es ist mir doch zu viel Schmalz an der Brühe ... Wenn Sie nicht gewesen wären, gnädiges Fräulein, ich glaube nicht, daß ich wäre bis zum Ende dageblieben ...«
»Schämen Sie sich!« zürnte das Mädchen.
»Ja — 's tut mir selber leid, daß ich so wenig Verständnis habe für die sogenannte Kunst ... Sehen Sie ... ich stamme aus einer alten Juristen- und Beamtenfamilie ... bei uns zu Hause ist nie von was anderm die Rede gewesen wie von Dienst und Vorgesetzten und Karriere machen und Orden kriegen und Gesetzesnovellen ... und das Theaterspielen und Musikemachen und Bilderklexen und Verseschmieren — nee, davon hat man bei uns nie was wissen wollen. Aber was Arbeit und Pflicht und Gehorsam ist und Gewissenhaftigkeit und Treue ... das ist mir eingepaukt worden von Kindesbeinen an ... und nicht nur mit der Moralpredigt, sondern mit dem guten Beispiel, dem nachahmungswürdigen Vorbild ...«
»Das is sähr scheen, wenn man das von sein' Elternhause kann sagen —« meinte der Kanzleirat. »Prost, Herr Pilgram — Ihre Herren Eltern sollen leben.«
Andächtig tat Pilgram Bescheid. Aber Jucunda war des trockenen Tones satt:
»Erzählen Sie mir lieber von heut abend — erzählen Sie mir, wie ich Ihnen gefallen habe! Sie können's ruhig ein bißchen dicke machen ... Sie haben ja gar keine Ahnung, wieviel Honig und Weihrauch unsereins vertragen kann nach so einer gewonnenen Schlacht ...«
»Aber Jucunda — so schäme Dich doch! Was soll denn Herr Pilgram von Dir denken?«
»Na — nichts als was wahr ist! Daß ich eine ganz eitle, verwöhnte Komödiantin bin! Nicht wahr, Herr Pilgram, so denken Sie doch! Nur heraus damit ...«
»Gnädiges Fräulein, ich denke an nichts andres als an den Augenblick, wo Sie zuerst herauskamen ... Wir waren zu spät gekommen, aus dem S. C., wissen Sie? da muß man aushalten — und als wir kamen, hatte der erste Akt schon angefangen ... und ich langweilte mich und dachte: na ja, Schiller ... und überlegte, was für ein Aufsatzthema mein alter vermickerter Professor auf Prima in Dresden wohl aus diesem ersten Akt herausgeschlagen hätte: Würde Johanna d'Arc ihr Vaterland auch errettet haben, wenn Karl der Siebente anstatt mit den Engländern mit den Deutschen Krieg geführt hätte? oder so ähnlich ... Und da — da kamen Sie — und auf einmal wurde alles wahr und richtig und interessant und ... na ja eben schön ... mit einem Wort ...«
»Ich seh's kommen, daß se Dich noch ganz närr'sch werden machen, Jucunda —« kicherte der Kanzleirat.
»Ach ja ... macht mich nur ruhig närrisch, Kinder — es ist ja so schön, gefeiert zu werden ... und begraben zu werden unter Lorbeer und Rosen — und die Pferde ausgespannt zu kriegen ... hören Sie, Herr Pilgram — die Idee, die war wohl von Ihnen?«
»Ehrlich gestanden, nein — so leid mir's tut — aber den glorreichen Einfall, den hat mein Korpsbruder Thumser gehabt ...«
»Schade — sonst hätten Sie wahrhaft'gen Gott 'nen Kuß gekriegt dafür —«
Der Kanzleirat drohte der Tochter lächelnd mit dem Finger.
»Säh'n Se, Herr Pilgram, wie se Ihn' schon überschnappt?«
Und er ließ frische Gosefluten in die Gläser kluckern.
Aber allmählich fielen dem alten, hageren Männchen, das sein ganzes Leben in der muffigen, überhitzten Luft der Königlichen Justizbureaus zugebracht hatte, die geröteten Aeugelchen zu. Er verabschiedete sich und humpelte ins Schlafzimmer.
Auch Mutter Doris fiel allmählich ab.
»Nu, Herr Pilgram, wie denken Sie über's Schlafengehen?«
»Gibt's nich!« erklärte Jucunda. »Wenn Du müde bist, Mamachen, kriech in Gottes Namen in die Posen ... Ich bin noch nicht fällig, und Herr Pilgram wird mir Gesellschaft leisten, bis meine Nerven ausgezappelt haben ...«
Und die jungen Menschen waren allein. Es wurde still, ganz still ringsum. Von der Katharinenstraße klang ab und an noch das schläfrige Geklapper eines heimwärts trottenden Droschkengauls ... Vom nahen Rathausturme meldeten die Glocken mit hallenden Schlägen Viertelstunde um Viertelstunde ... sonst nichts mehr. Leipzig schlief.
»Erzählen Sie mir mehr von sich!« sagte Jucunda und legte sich mit behaglichem Gähnen in die gestickten Schoner des grünen Plüschsofas zurück. »Aber nicht so was Langweiliges vom Korps und von Ihren Fechtereien und vom Examen und so! Was Schönes ... was Interessantes!«
»Ach, gnädiges Fräulein — ich bin ein schrecklich uninteressanter Mensch ... ich schäme mich ordentlich, ich werde ganz klein, wenn ich mein Leben mit Ihrem vergleiche.«
»Na, aber Sie müssen doch irgend was Besonderes erlebt haben ... Waren Sie denn nie verliebt? Haben Sie nie ein Mädchen geküßt?« Sie zündete an dem Rest ihrer Zigarette eine frische an, pustete eine dicke Rauchwolke zu Valentin hinüber und schielte durch den Qualm hindurch neckisch blinzelnd zu ihm hin.
Valentin Pilgram wurde verlegen. »Hm ... ich weiß nicht recht, was ich da antworten soll ... als Künstlerin wissen Sie doch jedenfalls schon manches vom Leben ... und wissen, was wir jungen Männer, Studenten und so — wie soll ich mich nur ausdrücken?«
»Na, daß Ihr gerade keine Tugendspiegel seid ... Euch mit Kellnerinnen und ... so 'ner Sorte von Weibsbildern herumtreibt ... Herr Pilgram, ich bin ein Leipziger Kind, das alles ist mir nichts Neues. Aber — sowas zählt doch hoffentlich nicht?«
»Nein — Sie haben ganz recht ... es zählt nicht ... Sehen Sie, man betrinkt sich ja auch zuweilen mal ganz stumpfsinnig ... so ähnlich ist das ...«
»Und — sonst? Sonst haben Sie noch gar nichts ... erlebt? Niemals eine richtige ... eine Leidenschaft ... ein Gefühl, daß Sie so richtig die Zügel aus der Hand verloren haben? Daß es mit Ihnen durchgegangen ist wie ein wildes Pferd, so zuck, zuck, hoppla, hopp, über Stock und Stein, nur vorwärts, ins Weglose, ins Nichts — nur vorwärts ... komme was wolle?!«
Hingerissen hing Valentins Blick an den flackernden Augen, dem zuckenden Munde des Mädchens. »Ach nein ... gnädiges Fräulein ... so was hab' ich nie erlebt ... ich glaube auch, so was kann mir nie passieren ... dazu sind wir Pilgrams viel zu korrekt ... viel zu gewissenhaft ...«
»Schade —« sagte Jucunda. »Ich denke mir, das müßte schön sein ...«
»Das ... glaube ich auch ...« sagte Valentin langsam. »Schön ... und schrecklich ...«
»Wie wär's, wenn wir nun schlafen gingen? Ich fange doch allmählich an, abzufallen ...«
»Schade!« sagte nun der Student. Seine Augen überflogen noch einmal die weiße Gestalt, die sich in so fester, straffer Leiblichkeit abhob von dem verschlissenen Samt, auf dem sie ruhte, beide Ellbogen nach vorn emporgewinkelt, die Hände nach rücklings um die Lehne des Sofas geklammert.
»Gott, war das ein Tag!« sagte das Mädchen. »Ein Schlachten war's, nicht eine Schlacht zu nennen! Aber das Hübscheste daran war doch, daß ich Sie nun kenne, Nachbar ... daß ich Sie Grobian doch ein bißchen gebändigt habe ... nicht wahr? Und daß wir zwei nun allein noch übrig sind von all dem Trubel und Trara ... was? Ist das nicht nett? Aber Sie sagen ja gar nichts?«
»Was ... soll ich sagen?« stotterte der Student. »Ich ... sehe Sie an ... und denke, daß morgen ... morgen das alles vorbei ist ... daß Sie morgen wieder die allgefeierte Jucunda Buchner sind ... und ich ... irgendein simpler, gleichgültiger Rechtskandidat ... der Ihnen nichts sein kann ... nichts für Sie tun ... Ihnen nichts bedeutet als eben ein Stück Publikum ... einer von den Tausenden, die Ihnen allabendlich zujubeln, ohne daß Sie sie kennen, mehr für sie übrig haben als ein geschäftsmäßiges Lächeln, wenn der Vorhang sich noch einmal hebt ...«
»Wer weiß!« sagte Jucunda mit einem gnädigen Blick. »Vielleicht, daß ich doch einmal einen ... einen Ritter brauchen kann ... dann will ich mich an diese Stunde erinnern ... und Sie rufen ... Soll ich?«
»Gnädiges Fräulein ...« sprach Valentin Pilgram heiser ... »Das wäre mehr Gunst vom Schicksal, als ich Mut habe zu hoffen ...«
Sie reichte ihm die feste, warme Hand. Er küßte sie ... ehrfurchtsvoll, als sei es einer Fürstin Hand ... und ging.
Als er die Tür zu seinem Kämmerchen hinter sich geschlossen, stand er einen Augenblick im tiefen Dunkel, regungslos. Ihm war's, als drehe sich alles um ihn im Wirbel. Und der reckenhafte Gesell, der zweiundzwanzigmal dem Schläger und fünfmal dem Säbel Stirn und Brust geboten, fühlte ein rätselhaftes Grauen vor etwas Kommendem, dem er keine Deutung wußte ... das im Dunkel hockte und ihn ansah mit den blauen, hellen, befehlenden Augen, von denen er fühlte, daß er ihnen gehorsam sein müßte, was immer sie ihm gebieten würden.
Die zwölf halben Liter Tucher, die Hans Thumser nach dem Jucunda-Rummel auf der Kneipe noch in seine ausgepichte Fuchsmajorskehle gepumpt, hatten die Erregung der zappelnden Nerven untergekriegt und für die nötige Bettschwere gesorgt — zum Anfang wenigstens. Aber dennoch — als der Student plötzlich aus dumpfen, wirbelnden Träumen in die Höhe fuhr, so daß der kaum verheilte Schädel krachend gegen die Rückwand seines Bettes bumste — da war es noch stockfinster, und wie er ein Streichholz entzündete, wies die Uhr halb vier ...
Und wieder Dunkelheit und Schweigen, und im Herzen schwirrend und rumorend viel hundert Bilder, viel tausend Farben und Klänge ...
Wo soll es hin, das alles?! Was will's von dir, dies tolle, glühende Leben?!
Da horch ... ein seltsamer Laut ... ein zager, verzitternder ... von irgendwoher aus dem Dunkel ... und wieder ... und wieder ... derselbe bang verschwebende Klageton ...
Weinen ... Weinen einer Frauenstimme — ganz leise, mühsam unterdrückt ... von Tränen umschleiert ... erschütternd ...
Nun scheint's zu verstummen ... horch — kein Laut mehr ... doch nein — nur heftiger jetzt die wimmernde Klage ...
Um Gott — das ist — da nebenan — das ist ... Asta Thöny ...
Tränen ... Tränen in Frauenaugen — entsetzlicher Gedanke für einen Jüngling, einen tatensehnsüchtigen, weltgläubigen — wer konnte glücklich sein, ach nur ruhig sein, nur schlafen — wenn ein Mensch, ein Mädchen weinen mußte?!
Himmel — vielleicht ist sie krank geworden — Agnes Sorel, die kätzchenweiche, mit dem süßen, rosigen Hals, den dunklen, flirrenden Augensternen ... windet sich in Schmerzen ... und niemand hört sie, niemand steht ihr bei, denn sie ist nicht ein gehegtes, umsorgtes Haustöchterlein wie Hansens Schwestern daheim — sie ist ganz allein auf der Welt — einsam, schutzlos, hilflos ...
Gott, wenn das doch enden wollte! Das ist ja nicht zu ertragen, diese hilflose Klage ... Aber was kann man tun?
Sich melden — seinen Beistand anbieten ...
Aber — könnte das nicht — mißverstanden werden? Nachdem er nun einmal die dummen, zudringlichen Verse hinübergeschickt? Und einen so wohlverdienten, ach, eigentlich noch viel zu schmuck bebänderten Korb gekriegt?
Aber — wenn sie nun wirklich leidend wäre — Hilfe brauchte — gewiß, sie würde nicht böse werden ...
Oder — wenn man Mutter Ach weckte — und ihr mitteilte, das Fräulein scheine nicht wohl zu sein?
Aber — wenn's nun gar nichts Ernstes wäre — vielleicht nur eine Laune, eine kindische Gereiztheit — was weiß ich — dann hätte man um nichts und wieder nichts den schnarchenden Schlummer der ehrsamen Wittib gestört ... und es gäbe gar noch eine Szene, nachts um halb vier ...
Enfin — was geht's mich an? Decke über die Ohren und weiter dachsen!
Ja, wenn das so ginge! Die Phantasie hebt an zu spielen — dringt durch die Finsternis, die Tapetenwand und malt in rosigen Farben das Bild des einsam weinenden Kindes da drinnen ... und ach, das bange Schluchzen dringt auch zum verbarrikadierten Ohr ...
Mut! Es muß!
»Gnädiges Fräulein —?« ganz leise, kaum geflüstert ...
Das Weinen geht weiter, still und bitter ...
»Gnädiges Fräulein —?«
Auf einmal ist's still da drüben — Finsternis und lastende Stille ringsum ...
»Verzeihen Sie, mein gnädiges ... Fräulein ... ich ... hörte ... ich ängstige mich ... Sie möchten nicht wohl sein ... Hilfe brauchen ... darum hab' ich mir die Freiheit genommen ...«
Noch immer alles still ... offenbar ist man böse ...
»Gnädiges Fräulein ... ich ... ich will nicht weiter beschwerlich fallen ... Sie wissen nun, daß jemand zur Hand ist, wenn's not sein sollte ... Wenn Sie also nichts weiter von sich hören lassen — dann — na dann darf ich ja wohl annehmen, daß ... daß alles in Ordnung ist ... und dann werd' ich also in Gottes Namen weiterschlafen!«
Auf einmal ein Laut ... kein Weinen ... auch kein Wort ... etwas andres ... etwas Silbern-Zwitscherndes — ein ganz feines, ersticktes Kichern ...
»Ach so —!« sagte der Student völlig beruhigt. »Na, denn gut' Nacht, mein gnädiges Fräulein, und sei'n Sie nicht böse!«
Und krachend warf er sich auf die rechte Seite, fest entschlossen, nun aber auch a tempo —
Da horch! Noch einmal ein Lachen, nun aber hell, übermütig — und dann die Stimme, die girrende, die streichelnde der Agnes Sorel:
»Aber bitte ... ich muß ja doch danken für die gute Meinung! Aber sei'n Sie ganz ruhig — mir fehlt wirklich nix — ich hab' nur so ein bissel für mich geweint — das kann doch vorkommen — gelt?«
»Na — wenn's weiter nichts ist ... ich hab' ja solch einen Schrecken bekommen ...«
»O — das tut mir leid — ich hab' Sie so friedlich — na ja, so friedlich schnarchen gehört — da hab' ich gedacht: den störst du nicht ... und da hab' ich halt ein bissel geweint ... Nehmen Sie's nicht übel, es soll nicht wieder passieren ...«
»Aber bitte — von meinetwegen — ich weiß ja jetzt, daß es nichts weiter zu bedeuten hat, wenn Sie einmal nachts weinen — da werd' ich mich also künftig auch nicht mehr drum aufregen ...«
»Ach du lieber Gott — zu bedeuten hat's schon was ...«
»Hm ... also doch?! — — Können Sie mir's nicht sagen?«
»Ach ... so durch die Tür hindurch ...«
Jetzt fingen Hans Thumsers Hände denn doch ein bißchen an zu zittern. Er suchte nach einer Antwort ... fand keine ... Himmel! Meine unsterbliche Seele für einen Einfall ...
»Ja ... so durch die Tür ... das geht natürlich nicht recht ...«
Endlich ... das erlösende Wort: da ist's:
»Aber ... wenn ich Ihnen ... morgen früh ... einmal ... meine nachbarliche ... Aufwartung machen dürfte ...«
»Hm ... morgen früh?!« Es klang so gedehnt ... so ... nach einem leisen Bedauern ... ach nein ... das war ja doch ... da mußte Hans Thumser sich doch wohl ... verhört haben ...
»Morgen früh? Da hab ich ja Probe von zehn bis zwei ... Da müssen Sie schon morgen nachmittag kommen ... zum Tee um fünf, wenn Sie mögen — gelt?«
O Gott ... solch eine Einladung ... zum erstenmal in diesem jungen Leben einem so schönen ... so ... verlockenden ... Mädchen gegenüber ... mit ihr allein ... Gibt's denn so etwas?! Ist das denn möglich?!
»Nu — Sie antworten ja gar nicht?« klang's ganz leise. »Sind Sie am Ende gar — schon wieder eingeschlafen?«
»Aber mein gnädiges Fräulein — wie können Sie nur denken ...«
»Also Sie kommen? Das ist schön. — Na, nu wollen wir aber auch ... gut Nacht, Sie — Sie Füchschen Sie!«
»Bitte — Fuchsmajor!« rief Hans Thumser fast laut vor Selbstbewußtsein. »Also ... wenn's denn sein muß — gut Nacht, Agnes Sorel!
Ja! Wenn man so ein phänomenales Versgedächtnis hat! Und seinen Schiller intus!
»Donnerwetter — allerhand Achtung!« kicherte es von drinnen. »Da möchte man ja wahrhaftig — aber nein — jetzt wird geschlafen — gut Nacht, Herr Fuchsmajor!«
Tiefe Stille ... Dunkelheit ... und zitternde Sehnsucht ... zitternde Hoffnung ...
Hans Thumser fand keinen Schlaf. Zu toll rumorte die Jugendbangigkeit in seinen Gliedern ...
Er lauschte, ob er wohl noch einen Laut vernähme von da drüben ... aus der Märchenwelt der Träume ... aber alles blieb stumm ... und endlich vernahm er durch den lastenden Frieden der Nacht geruhig schwellende, leise Atemzüge ...
Sie schlief ...
Da streckte sich auch Hans Thumser mit einem langen Seufzer ... und versank.
Valentin Pilgram war erst spät aufgestanden. In wüstem Halbschlaf, von tollen Träumen gequält, hatte er die Nacht verbracht. Nun saß er über seinem Drogenwelt-Geruch und knuffte die vier Klassen der Gradualerbfolge der Novelle 118 in den schmerzenden Schädel hinein.
Da klopfte es heftig an die Tür seiner Bude, und im selben Augenblick, noch eh er: herein! hatte rufen können, schoß auch schon die Frau Kanzleirätin herein, im geblümten Morgenrock, dessen Schleppe hinter ihr drein waberte, in schleifenbesetztem Häubchen, unter dem die grauen Strähnen des ungeordneten Haares hervorlugten:
»Ach herrjeses, Herr Pilgram, Herr Pilgram, kommen Se doch nur mal schnell — 's Kind hat ja en Weinkrampf — ach es is gräßlich! Kennten Se nich gehn und en Doktor holen? Ich hab ja keen' Menschen nich im Hause ...«
Valentin schoß in die Höhe. »Einen Weinkrampf? Um Gottes willen, was ist denn passiert?«
»Ä Rosenbukett is gekommen, groß wie ä Turm ... un dabei ä Brief, ne, so was von einer Unverschämtheit is überhaupt noch gar nich dagewäsen ...«
»Ist sie denn ohnmächtig? Kann ich vielleicht helfen? Darf ich zu ihr hinein?«
»I du mein Himmel, Herr Pilgram, se is noch im Neglischee ... na aber, ä Kinstlerin — ä Kinstlerin sieht ja schließlich ooch im Neglischee ganz anständ'g aus ... kommen Se nur, Herr Pilgram, helfen Se!«
Aus der geöffneten Tür kam ein warmer Strom von Rosenduft ... und Rosen überall, ein Rosenschwall, ein Rosenwald ... betäubend duftende, schon leise welkende Rosen ... dazwischen die eigentlichen Blumen der Saison: Dahlien, Astern, Erika ... und inmitten, auf eine Chaiselongue hingeworfen, in leidenschaftlichem Schluchzen — sie ...
Ein riesiges Arrangement von Rosen und Chrysanthemen, in Manneshöhe, lag umgestürzt auf dem Boden — daneben ein aufgerissenes Kuvert mit aufgeprägtem Wappen, ein zerknitterter Bogen schweren Elfenbeinbriefpapieres, und — — zwei Hundertmarkscheine ...
Auf dem Tisch aufgereiht die Karten der Spender der übrigen Blumenherrlichkeiten — Jucunda war offenbar eben beschäftigt gewesen, den Gebern zu danken, prompt und akkurat, wie es zu den geschäftlichen Pflichten einer vielgefeierten Künstlerin gehört ... da war das da gekommen ...
Frau Buchner hob das Briefchen auf, glättete es und hielt es Pilgram hin. »Da läsen Se's — und sagen Se, ob so was meeglich is — so eene Gemeinheit —!«
Jucunda hatte sich beim Klang der Stimme ihrer Mutter aufgerichtet ... nun tupfte sie rasch mit dem nassen Tüchlein die Tränen von den glühenden Augen, ordnete das wirre Haar und verfolgte mit gierigen Blicken Valentins Gesichtsausdruck, während er das Briefchen durchflog ...
Valentin Pilgram las ... und eine dunkle Zornesflamme schlug über sein feierliches Gesicht.
»Halunken!« knurrte er.
Er las weiter — nun wendete er das Blatt und sah nach der Unterschrift ... und plötzlich wurden seine Züge ganz starr, und seine Hände ballten sich zur Faust. Dann las er zu Ende ... ließ das Blatt sinken und starrte die Schauspielerin an mit Augen, in denen Schreck, fassungs- und ratlose Bestürzung stand.
»Sie ... kennen, scheint's, die Herren —?« fragte die Kanzleirätin.
»Es scheint, fast — ja ... entsetzlich fatal ...«
»Am Ende gar — Korpsbrüder von Ihnen —?«
»Hm — wenn's richtige Korpsbrüder von mir wären — denen wollt ich die Flötentöne schon beibringen!! — aber so ...«
»Aber — Sie kennen die Absender?«
»Ich ... fürchte ... ich kenn' sie ... von Dillingen ... von Gorczynski ...« Und mit heftig stammelnden Worten erklärte er den Damen, wer es sei, den er hinter diesen Namen vermuten müsse ... und in wie naher Beziehung diese Herren zu seinem Korps, zu ihm selbst standen ...
»Da sehen Sie's!« sagte Jucunda. »Ein Erbprinz! Ein Fürst! das muß man eben einstecken ... nicht mal verklagen kann man so 'n großes Tier — sonst engagiert einen kein Hoftheater mehr ... ganz wehrlos und schutzlos ist man ...«
Und wiederum flossen die Tränen über das weiße, herrische Gesicht ... und auch die Mutter, vom herzbrechenden Weinen der Tochter angesteckt, schluchzte nun los. Um die Wette weinten die Frauen.
Es arbeitete heftig in Valentin Pilgrams festem, offenem Gesicht.
»Nein,« sagte er plötzlich hart und stand mit einem Ruck auf. »Schutzlos? Das sind Sie nicht. Guten Morgen, meine Damen.«
»Wohin, Herr Pilgram? Was haben Sie denn? Was ist Ihnen?« rief Jucunda und hielt den Studenten am Aermel seines Bratenrockes fest.
»Ich werde Ihnen Genugtuung verschaffen!«
»Sie — mir? Nein, Herr Pilgram, das ... das geht nicht ... Sie werden ja die entsetzlichsten Unannehmlichkeiten haben ... werden sich womöglich gar um meinetwillen — nein, das will ich nicht — das sollen Sie nicht, Herr Pilgram!«
»Nee, nee, Herr Pilgram!« sprudelte auch die Frau Kanzleirätin, »das dürfen Se nich machen! Das kenn' wir ja gar nich von Ihn' verlangen! Das dürfen wir ja gar nich von Ihn' annähm'!«
»Seien Sie ohne Sorge meinetwegen!« sagte Valentin und reckte sich zu seiner ganzen Länge. »Ich bin Manns genug, so eine Affäre standesgemäß zu erledigen.«
»Nein, Herr Pilgram, das dulde ich unter keinen Umständen! Wie kämen Sie denn dazu, sich für mich ... ich bitte Sie, was gehe ich Sie denn überhaupt an?«
Da sah der Student das schöne Mädchen mit einem Blick an, vor dem sie die Augen niederschlagen mußte in Schreck und stolzem Machtgefühl zugleich. Gott, war das entsetzlich ... war das berauschend schön ... was sie da so jäh, so unerwartet erlebte ...
»Erinnern sie sich noch an ... gestern abend?« sagte der Jüngling. »Was Sie mir da versprochen haben?«
»Ach ... das war so leichtsinnig daher geredet ...«
»Von mir nicht!«
Ach ... wie süß das war ... dies Bewußtsein, daß ein Starker, ein Kühner sich einsetzt für dich ...
Aber nein ... das durfte nicht sein ... mit Blitzesschnelle flogen die Bilder von hundert schrecklichen Möglichkeiten an ihrem Geiste vorbei. Er war doch wohl Jurist — seine Karriere würde er sich ruinieren — sein Examen zunächst ... und wer weiß — zwar Prinzen — die schlugen sich ja wohl nicht — aber der Major ... ein Offizier ... ein Duell ... Himmel, und der junge Mensch hatte ja doch Eltern daheim ... und schließlich — auch sie selber konnte eigentlich keinen Skandal gebrauchen ... was wohl Franz Burg dazu sagen würde ... und ihr gnädiger, gütiger Herr daheim in Meiningen ...
»Herr Pilgram — das darf nicht sein! Ich bitte Sie, wenn Sie wüßten, wie oft unsereine so etwas erleben muß — wenn man da jedesmal Krach machen wollte! Die Herren haben's ja wahrscheinlich gar nicht so schlimm gemeint — haben sich wohl gar nichts dabei gedacht —«
»Sie haben ... weinen müssen ...« sagte Valentin Pilgram durch die Zähne ... »das sollen sie mir bezahlen ... die zwei.«
Und mit sanftem Druck machte er die große, schlanke Hand los, die seinen Rockärmel noch immer gefaßt hielt, küßte sie ehrerbietig und ging zur Tür.
»Ach — die dummen Tränen —« rief Jucunda — »das macht nichts, die sitzen einem Mädchen ja so lose ... sehen Sie, ich lache ja schon wieder ... ich lache ja doch —«
Und sieh: da liefen ihr wirklich aufs neue die heißen, hellen Tropfen über die glühenden Backen ... sie schluchzte wie ein Kind:
»Ich will aber doch nicht — Sie sollen nicht, Herr Pilgram —!«
Der war schon aus der Tür, schritt in seine Bude hinüber, riß die neuste grüne Mütze vom Nagel und stülpte sie auf den Schädel. Nahm sein silberbeschlagenes spanisches Rohr und ging zum Flur ... klinkte mit hartem Ruck die Pforte auf und stieg mit hallenden Tritten die Treppen hinab. Aus der steinumschnörkelten Pforte des altersgeschwärzten Barockhauses trat er auf die belebte Katharinenstraße, ging den Markt hinunter am Ladengewimmel des Rathausparterres vorbei und stolzierte grimmigen Schrittes die Grimm'sche hinab.
Und dabei sann er, was zu tun. Also jetzt werde ich die beiden Burschen ankontrahieren müssen — nicht auf Pistolen, bah! Vor die Klinge sollen sie mir, vor die krumme! Freilich, der Prinz wird sich wohl hinter seine Hausgesetze verkriechen und mir einen Ersatzmann präsentieren ... aber der Major, dieser aalglatte Streber — der muß 'ran! Hat ja auch wohl jedenfalls den saubern Wisch verfaßt — denn des Prinzen kindliche Pfote war das nicht, die kenn' ich doch! Na, und dann wollen wir dem mal zeigen, was 'ne Prim ist!
Hm ... aber ... wie stellt sich das Korps dazu? Der Prinz ist Konkneipant unseres Bundes, trägt offiziell seine Farben ... also ... ich werde austreten müssen ... und nicht nur pro forma, denn sie können mir ... nach dem Skandal können sie mir niemals das Band zurückgeben ...
Teufel auch, da hab' ich mir ja eine schöne Suppe eingerührt ...
Aber was kann das helfen ... Ritterpflicht ist Ritterpflicht ... kein Mädchen, und wär's zehnmal eine Komödiantin — keine soll klagen, daß ihre Ehre schutzlos sei, solange Valentin Pilgram noch eine Klinge führen kann ... Hatte er sich nicht ihrem Dienste gelobt — gestern abend? Und wie rasch war das nun gekommen, daß dies Gelöbnis ihn zu Taten rief!
Geld hatte man ihr zu bieten gewagt ... ihr, die ganz Deutschland vergötterte ... ihr, die vor seinen Augen dastand in so stolzer Reinheit, wie eine Heilige ... die hatte man kaufen wollen wie eine ... wie eine aus den dunklen Gäßchen der Stadt, durch die am hellsten Tage niemand gehen mochte —?! Das forderte Blut — nur mit Blut war das zu sühnen —!
Aber ... du selber, Valentin Pilgram —?
Hm ... ist das nun nicht eigentlich doch ein Narrenstreich? Hat sie nicht doch recht gehabt, als sie sagte: was geh' ich Sie an —?!
O Valentin Pilgram, Rechtskandidat im achten Semester — greif' in deine Brust und frage dich: geht sie dich an — diese — diese da?!
Ja — wenn eine in der Welt, dann geht diese da dich an ... denn, Valentin Pilgram, so närrisch das auch klingen mag ... Du bist ... diesem Mädchen bist du verfallen seit dem Augenblick, als sie durch die Gasse des jauchzenden Volkes vor Karl den Siebenten trat ... und zugleich in dein Leben, Valentin Pilgram, schicksalsgewaltig ... für immer — für alle deine Tage —!
Nun lag vor dem Schreitenden, herbstsonnenübergoldet, der Augustusplatz: zur Rechten flimmerten die Wasser des Mendebrunnens, reckte sich die finsterblinkende Front des Museums; zur Linken stieg in heiterer Anmut der köstliche Bau des Neuen Theaters ins duftige Blau. Dorthin strebte Franconias Senior, denn er wußte zu dieser Stunde das Korps im Restaurant auf der Theaterterrasse zum Frühschoppen versammelt. Vor ihm wanderte noch eine andere grüne Mütze: Pilgram ließ den Frankenpfiff schallen: da fuhr der Kopf unter der grünen Fuchsmütze herum:
»Ah ... Pilgram —«
Ehrerbietig zog das blonde Füchschen vor dem gestrengen Ersten den Deckel und sprang heran.
»Also, Hartwig, geh' zum Frühschoppen und sage dem Fuchsmajor, er möge sofort die Korpsburschen zum außerordentlichen Korpskonvent zusammenbitten! Ich erwarte die Herren im Flügelzimmer des Restaurants — verstanden?«
»Gewiß, gewiß, Pilgram — ich laufe ...«
Und vom muntern Frühtrunk weg, von der sonnüberglühten Terrasse, wo bei rauschender Musik die Korps ihren offiziellen Frühschoppen hielten inmitten neugierig beobachtender Fremden, verschwand ein wohllöblicher C. C. der Franconia unter dem Rundbogen, der zum inneren Lokal führte, und versammelte sich in einem kühlen, abseitigen Gastzimmer zum Konvent — gespannt, was diese unerwartete Ladung zu bedeuten haben möge.
Die Franken waren's gewohnt, daß ein Ausdruck beklemmender Feierlichkeit sich über das hagere Gesicht ihres Ersten legte, wenn er den Korpskonvent eröffnete: aber so ... so unheimlich offiziell hatten sie ihn doch noch niemals gesehen.
»Ich habe dem C. C. von einer persönlichen Angelegenheit Mitteilung zu machen, die — zu meinem größten Bedauern — mich in einen Widerspruch mit den Interessen des Korps bringt. Unser Konkneipant, Seine Durchlaucht der Erbprinz, und dessen Begleiter Major v. Gorczynski haben sich einer schweren Beleidigung gegen eine Dame schuldig gemacht. Diese Dame ... diese Dame steht unter meinem Schutze ... und deshalb sehe ich mich genötigt, diesen Herren eine schwere Forderung zu übersenden. Ich kann natürlich nicht erwarten, daß das Korps den Erbprinzen zur Verantwortung zieht ... und deshalb bleibt mir nichts übrig, als den C. C. zu bitten, mir die Entlassung ohne Farben zu gewähren, damit ich den Ehrenhandel mit einem Herrn, der offiziell zu den Angehörigen des Korps zählt, zum Austrag bringen kann. Wünscht jemand zu meinem Antrage das Wort?«
In stummer Verblüffung hatten die jungen Herren den Vortrag ihres Häuptlings angehört — angesteckt von seiner Erregung, seinem fiebernden Ernst. Nun baten fast sämtliche Korpsburschen ums Wort und verlangten nähere Erklärungen. Man fragte, wie es möglich sein könne, daß der junge Prinz mit einer Dame, welche der nächsten Verwandtschaft ihres Korpsbruders angehörte — denn nur um eine solche Dame konnte es sich doch handeln — überhaupt in Berührung gekommen sein könne?
»Die Dame, für die ich einzutreten habe, ist keine Verwandte von mir ... es handelt sich um ein junges Mädchen, das außer seinem Vater, einem älteren, gebrechlichen Herrn, keinen männlichen Schutz zur Seite hat — und für das einzutreten mir deshalb als die Pflicht eines Ehrenmannes erscheint, zumal diese junge Dame zugleich eine berühmte und gefeierte Künstlerin ist ... es handelt sich um die herzoglich meiningische Hofschauspielerin Jucunda Buchner.«
Ein unwillkürlicher Laut des Staunens, der tiefsten Ueberraschung entfuhr jedem der jungen Herren. Keiner konnte sich den Zusammenhang erklären ... wußte doch außer Hans Thumser noch nicht ein einziger von ihnen, daß ihr Erster, der notorische Verächter alles dessen, was Kunst und Künstler hieß, überhaupt gestern abend bei den »Meiningern« gewesen war ...
»Ich bitt' ums Wort!« rief Ivo Volkner, der temperamentvolle Rheinländer, und als der Erste dem Konvent Silentium für Volkner anbefohlen: »Ja, lieber Pilgram — ohne uns in Deine persönlichen Angelegenheiten hineinmischen zu wollen — aber Deine Erklärungen sind doch für uns alle dermaßen — überraschend, daß wir doch wohl um etwas genauere Auskunft bitten müssen ... was ist der ... jungen Dame ... denn eigentlich passiert ... und wie kommst Du — gerade Du dazu, Dich zu ihrem Ritter aufzuwerfen?«
»Ich will ... zuerst diese letzte Frage beantworten. Oder vielmehr nicht beantworten. Liebe Korpsbrüder, Ihr kennt mich und wißt: ich weiß im allgemeinen, was ich tue ... Und wenn ich Euch sage, das, was ich zu tun vorhabe, das muß sein — na, dann darf ich vielleicht von Euch erwarten, daß Ihr mir das glaubt. Hab' ich recht?«
Allgemeines Gemurmel der Zustimmung.
»Also noch einmal: ich halte mich für verpflichtet, für die Dame einzutreten ... und bitte den C. C. ... von einer näheren Darlegung meiner Motive ... Abstand zu nehmen.«
Volkner bat ums Wort und fragte:
»Ohne weiter in Dich dringen zu wollen, Pilgram: wir hören doch alle in diesem Augenblick zum ersten Male, daß Du die Dame überhaupt kennst. Sollten wir dann nicht wenigstens erfahren, wann und ... unter welchen Umständen Du ... ihr denn eigentlich dermaßen nähergetreten bist, daß Du — hm! daß Du nun dermaßen für sie in die Verlängerung springen willst?«
»Das kann ich Euch mitteilen ... aber zur Erklärung meiner ... meines Entschlusses wird's Euch wenig nützen ... ich muß da schon an ... an Euer korpsbrüderliches Vertrauen appellieren ... ich kenne Fräulein Buchner erst seit gestern abend ... sie ist die einzige Tochter des Kanzleirats Buchner ... bei dem ich zur Miete wohne.«
»Also sozusagen — filia hospitalis!« sagte Volkner, und ein kurzes, verständnisvolles Schmunzeln ging über die erregten Gesichter der Korpsbrüder.
»Nun, ich denke, ich habe Euch zu diesem Punkte mitgeteilt, was ... was sich irgend mitteilen läßt. Und zweitens — was wolltest Du ferner noch wissen, Volkner?«
»Ja — was denn der Erbprinz eigentlich gemacht hat ...«
»Er hat sie durch seinen Begleiter zum Souper einladen lassen — na, das möchte ja allenfalls gehen ... aber er hat dieser Einladung dadurch einen nicht mißzuverstehenden Charakter gegeben — daß er ... daß er zwei Hundertmarkscheine beigefügt hat ...«
Das Lächeln, das bei Erwähnung der Soupereinladung um die Lippen der jungen Herren aufgezuckt hatte, erlosch ... Rufe wurden laut:
»Geschmacklosigkeit!«
»Donnerwetter, der geht aber aufs Ganze!«
»Na ja — ein Förscht — der denkt eben, er braucht bloß auf'n Knopp zu drücken ...«
»Ich denke, liebe Korpsbrüder, Ihr seht ein, daß eine solche infame Beleidigung — einem anständigen Mädchen gegenüber — Fräulein Buchner ist ein anständiges Mädchen, und wenn sie zehnmal eine Komödiantin ist — was sagst Du, Thumser? Du kennst sie ja auch?«
Hans Thumser hatte mit einem wahren Toben der Gefühle die Verhandlung verfolgt, ohne selbst das Wort zu nehmen. Mein Gott, wie war aus dem strahlenden Spiel von gestern so rasch ein grotesker, tragikomisch grinsender Ernst geworden! Und was war doch dieser offizielle, banausische Pilgram für ein Prachtkerl, daß er sich für ein jählings erwachtes Gefühl gleich so ganz und rückhaltlos in die Schanze warf!
Ach, und du, Hans Thumser? was soll denn heut nachmittag werden? Mit was für Träumen, was für Begehrnissen, Hans Thumser, trägst du dich?!
»Ein anständiges Mädchen?« rief er zur Antwort auf die Frage des Ersten. »Eine Königin ist sie ... eine Göttin ... Pilgram, ich beneide Dich um das Glück, für sie vom Leder ziehen zu dürfen!«
»So überschwenglich brauchen wir das gar nicht mal auszudrücken,« sagte der Erste. »Aber ein anständiges Mädchen ist sie ... und da ich nun mal zufällig das Pech oder ... das Glück habe, mit ihr unter einem Dache zu wohnen ... und der erste honorige Mensch zu sein, dem sie sich anvertraut hat ... so bleibt ja wohl nichts andres übrig, als die Konsequenzen zu ziehen ...«
Bei diesen so nüchtern klingenden Worten schwoll's in all den jungen Burschenherzen. Es war der romantische Glanz, der diese Tat ihres Korpsbruders, ihres Führers, umwob, der ihnen allen Sinne und Urteil blendete. Wenn auch der Idealismus, den das Gymnasium in ihnen erzogen, durch die Formen blasierten, kaltschnäuzigen Lebemannstums verdeckt, ja stellenweise überwuchert sein mochte — noch lebte in ihnen allen etwas von dem Adelsgeiste, unter dessen Herrschaft ihre ganze Jugend, die Formung ihrer Seelen gestanden ... Wohl stieg in manchem von ihnen das Gefühl auf, als hätte sich doch am Ende ein Kompromiß finden lassen ... noch bedächtigere Seelen bedachten gar insgeheim, daß eine solche Katastrophe, auch wenn Pilgram vorher offiziell aus dem Korps ausschiede, doch nicht ohne Folgen für die Beziehungen des Korps zu dem Erbprinzen und damit vielleicht überhaupt zu den deutschen Fürstensöhnen bleiben könne ... In weiter Ferne dämmerte gar hie und da etwas wie der Gedanke an verpfuschte Karriere, verspielte Zukunftsaussichten ... aber:
— das galt auch heute noch, das galt, das sang man nicht nur, so handelte man auch — hol's der Teufel!
Einstimmig ging Pilgrams Antrag durch, ihm die ehrenvolle Entlassung ohne Band zu erteilen ... Aber durch jedes Herz ging's wie ein schriller Riß, als nun Valentin Pilgram stumm das grün-gold-rote Band von der Brust zog, es stumm auf die Mütze legte, die auf dem Tische lag, sich mit schweigendem Händedruck von den ... ehemaligen Korpsbrüdern verabschiedete ... und, mit einem Handwink im Kreise, an ihnen vorüberschritt ...
Er ging durch den Schenkraum des Theaterrestaurants, schritt barhaupt quer über den Augustusplatz, kaufte sich in der Passage für seinen letzten Taler (Gott sei Dank, morgen ist der Erste!) einen einigermaßen schäbigen Filzhut und kehrte dann zur Theaterterrasse zurück. Grüßend schritt er am Frankentisch vorbei, wo die harrenden Füchse in stummer Verwunderung ihre Mützen zogen, lüftete flüchtig den Hut zu den Tischen der übrigen Korps und trat auf den Neo-Borussentisch zu, an dessen Spitze der Erste, Herr Borgmann, mit dem gewohnten süffisanten Lächeln präsidierte.
»Herr Borgmann — kann ich Sie einen Moment sprechen?«
»Mit dem größten Vergnügen, Herr Pilgram ...«
Die beiden jungen Herren traten abseits an den Rand der Terrasse, von der der Blick hinschweifte zum zitternden Spiegel des Schwanenteiches, auf das braune, rieselnde Laub der Anlagen auf dem alten Umwallungsgebiet.
»Zunächst gestatte ich mir, Ihnen anzuzeigen, daß ich aus dem Korps Franconia ausgeschieden bin ...«
»Herr Pilgram —!«
»Sie werden den Grund sogleich erraten: Ich bitte einen wohllöblichen C. C. der Neo-Borussia um Waffenschutz und zugleich Sie persönlich um die große Liebenswürdigkeit, Seiner Durchlaucht dem Erbprinzen von Nassau-Dillingen und Herrn Major von Gorczynski je eine Forderung auf schwere Säbel ohne Binden und Bandagen auf fünfundzwanzig Minuten bis zur Abfuhr zu überbringen.«
In ratloser Verblüffung waren Mutter und Tochter zurückgeblieben, als ihr Student sich so unerwartet und kategorisch zu Jucundas Ritter aufgeworfen. Nun sie allein waren, wich die erste Rührung und Ergriffenheit bald einem kaltblütigen Erwägen.
»Das gibt weeß Knebbchen än richt'gen Schkandal!« platzte Mutter Doris heraus. »Gucke, das hast Du nu davon, daß Du Dich so hast vergessen kenn'! Schließlich — so gefährlich war doch am Ende die ganze Geschichte nu nich! Man hätte den Herrn ihr Geld einfach sollen wiederschicken — mit Abzug von's Porto nadierlich — un den Korb zum Gärtner zurück, un all's war in Ordnung! Statt dem wird der nun hingehn und wird'n fordern, den Erbprinz, un der Krach is fertig! Un schließlich, was wer'n die Leite sagen? Die Buchner hat's mit ä Studenten, wer'n se sagen!«
Eine Flut von wirren Gedanken wirbelte durch Jucundas Hirn. Da war so unendlich Vieles, was beglückte, erregte, schmeichelte, stachelte, berauschte! Welch eine Macht ging von ihr aus — trieb den langen Jungen, einen Sohn aus gutem Hause, den Ersten Chargierten des ältesten und angesehensten Korps in Leipzig — sie war ihren Kindheitserinnerungen noch nahe genug, fühlte sich noch immer als Tochter eines Hauses, das jahraus, jahrein nur Korpsstudenten beherbergte — wußte das als eine Ehre zu schätzen ... ihn trieb sie in tolle, aberwitzige Abenteuer, diese unheimliche Macht, die von ihr ausging ... Achtzehn Jahre, und schon der Mittelpunkt von Tragödien und Katastrophen ...
Aber da war noch eine andere Stimme: die Stimme der kalt rechnenden Vernunft, die Stimme der kleinbürgerlichen Gerissenheit, die das früh gewitzigte Töchterchen einer engbegrenzten Spießerwelt auf ihrem Anstieg in lichte Höhen des Daseins bisher so sicher geleitet hatte: die warnte vor dem Skandal ... mahnte zur Ruhe, zur Vorsicht ...
»Wenn ich nur wüßte, was Hoheit in Meiningen zu so einer Geschichte sagen würde ...«
»Nu, ich glaub' nich, daß der gnädigste Herr sähre entzickt mechte sinn, wenn's Geschichten gibt wegen en Prinzen aus fürstlichem Hause ...« meinte die Mutter.
Jucunda sann, an wen sie sich wohl um Rat wenden könnte. Franz Burg! schoß es ihr durch den Sinn. Der wackere, selbstlose Freund und Förderer hätte es wohl verdient, daß sie sich überhaupt zuerst an ihn gewandt hätte ... Und das hätte sie ja auch sicherlich getan, wenn nicht ihre Nerven, noch nachzitternd von den gestrigen Fiebern, ihr den Streich mit dem Weinkrampf gespielt hätten ... ja, und da war's eben alles so von selbst gekommen, das Andre, das Unwahrscheinliche, das süß Berauschende und Erschreckende ...
Mutter Doris war natürlich sehr einverstanden ... Und alsbald war Jucunda auf dem Wege zu Franz Burg ... wie sie immer zu Franz Burg gegangen war, wenn sie nicht mehr aus noch ein wußte ... es gingen sehr viele Menschen zu Franz Burg, wenn sie nicht mehr aus noch ein wußten ...
Ach, wie ging sie gern zu Franz Burg! Erstens war es ein behagliches Bewußtsein, daß er verheiratet war — sehr glücklich verheiratet. Zweitens war's ein sehr behagliches Bewußtsein, daß — nun daß er trotzdem heftig für sie schwärmte — so was merkt man doch, nicht wahr? — daß sich hinter seiner trockenen, reservierten Freundschaft eine Empfindung versteckte, die gewaltsam gebändigt werden mußte ...
Gott, ist das entzückend, so zu fühlen, zu wissen, daß man wie eine allvergötterte Königin durchs Leben schreitet ... Ihr fiel ein, daß sie einmal von den Indianern gelesen hatte, sie sammelten die Skalpe ihrer erlegten Feinde ... O Jucunda — wenn du die Skalpe deiner zur Strecke gebrachten Verehrer sammeln würdest ... was für ein Museum käme da zusammen!
So sann Jucunda, während sie hastig die Petersstraße hinabschritt, den Weg, den man sie gestern im Triumphzug heimwärtsgeführt ... Unter dem Torweg kaufte sie sich die Morgenzeitungen, außer dem Tageblatt, das sie daheim zum Frühstück schon verschlungen, und las die Kritiken ... eitel Hosianna über den ganzen Abend, und sie natürlich der Mittelpunkt ... und hier ein Bericht über ihre Heimkehr, feuilletonistisch zurechtgestutzt — brav so, brav, na ja, so was macht eine bildschöne Reklame, das darf öfter passieren!
Erst während sie die Anlagen am Roßplatz kreuzte, den Königsplatz überschritt, kam ihr wieder in den Sinn, weshalb sie sich eigentlich heut morgen zum Theater aufgemacht hatte, wo sie doch auf Rechnung der gestrigen Strapaze von der Probe dispensiert war. Nein, dieser gute Pilgram — so ein Starrschädel! Eigentlich rührend ... und doch ein bißchen zum Lachen, daß er sich ihretwegen ... des lumpigen Billetts wegen, das doch wahrhaftig nicht das erste gewesen war und auch nicht das letzte sein würde ... daß er sich deswegen mit Tod und Teufel schlagen wollte — sich sein Leben verpfuschen reineweg! Also solche Männer gab es doch auch ... eigentlich eine Wohltat, wenn man so inmitten dieses marklosen, irrlichtelierenden, an großen Worten sich betrinkenden und vor jeder Tat mit eingekniffenem Schwanz abseits schleichenden Künstlervolks lebte ... Franz Burg war ja eine Ausnahme ... aber ob er sich ihretwegen auch nur einem Schnupfen ausgesetzt hätte statt einer Degenklinge — das bezweifelte Jucunda denn doch eigentlich ...
Da war das Carolatheater ... Jucunda schritt durch den Eingang, überquerte das schmale Höfchen, den Kassenflur, in dem sich bereits wieder das Publikum um die Abendplätze prügelte — Gott, wie wird Hoheit sich über die Kassenrapporte freuen! — schlüpfte durch die knarrende Eisentür in den Bühnenumgang und horchte am Pförtchen, das zur Bühne führte. Burg arrangierte eben das »Lager« ...
»Kinder,« hörte sie seine Stimme, »faßt Eure Kriegsknechte man recht feste um 'n Hals — Ihr seid jetzt keine höheren Töchter mehr, Ihr seid Lagerdirnen des Friedländers, die hatten etwas weniger etepetetige Umgangsformen als die Leipzigerinnen von 1888! Und wenn's aus Versehen mal 'nen handfesten Kuß absetzt — na, für die Kunst muß man eben Opfer bringen können!«
Ja — das konnte natürlich bis zur Erschlaffung so weitergehen ... und dabei war doch Eile not ... Es half nichts, sie mußte unterbrechen ... obschon sie wußte, daß er das auf den Tod nicht leiden konnte ... Sie trat in den halbdunklen Bühnenraum, den nur die offenen Gasflammen der Proberampe matt erhellten. Da stand Franz Burg neben dem Regietisch, umringt von der andächtig lauschenden Schar des »Volkes«.
»Suchen Sie mich, Buchner?«
»Wenn Sie einen Moment Zeit für mich hätten, Meister ... es ist dringend ...«
Jucunda störte nicht ohne Grund — dafür kannte er sie. Aber allzu gnädig klang es nicht, wie er drinnen im Konversationszimmer ein kurzes »Also los!« hervorstieß.
Und Jucunda berichtete. Ausführlich entschuldigte sie sich, daß sie sich nicht zuerst an ihn gewandt ... ließ deutlich durchblicken, daß ihr die ganze Geschichte nur so über den Kopf gekommen ...
Ein sardonisches Schmunzeln zog über's ausgearbeitete Gesicht des Oberregisseurs, in seinen dunklen, tiefliegenden Augen tanzten tausend Teufelchen.
»Un wat sall ick dorbi dauhn?«
»Helfen sollen Sie, lieber Freund! Das darf doch nicht geschehen!«
»Ganz im Gegenteil, Kindchen — einer von den dreien muß auf der Strecke bleiben — noch besser alle! Die Schädel sollen sie sich spalten — einander auffressen wie die beiden Löwen in dem berühmten Liede:
»Das — kann Ihr Ernst nicht sein!«
»Aber blutiger! Was liegt an einem Rechtskandidaten, einem Erbprinzen, einem Stabsoffizier! Hin müssen sie allesamt werden, damit Jucunda Buchner im Triumph über ihren Leichnamen zum Tempel des Ruhms emporwandelt!«
»Ach — mir ist wirklich nicht nach Späßen zumut!«
»Denken Sie, mir?! Merken Sie nicht, Kindchen: alles, was nicht zum Bau gehört, ist Publikum, das heißt, einzig und allein dazu da, uns zu bewundern, zu feiern, zu erhöhen ... Gestern abend haben sie Ihnen die Pferde ausgespannt und Sie im Wagen nach Hause gezogen: geben Sie mal acht, wenn Ihr Student und Ihr Erbprinz sich Ihretwegen gegenseitig aufgespießt haben — was die Leute dann erst mit Ihnen aufstecken! Auf Händen werden Sie dann nach Hause getragen!«
»Und ... was wird Hoheit zu der Geschichte sagen?«
»Hm ... Hoheit ...« Burg sann einen Augenblick nach. Allerdings, das war zu erwägen ... An Hoheit durfte so eine kindische Affäre natürlich nicht herankommen ...
Aber ... würde es denn überhaupt eine Affäre werden? Franz Burg kannte die Welt und wußte, daß in ihr nichts so heiß gegessen wird, wie jugendlicher Ueberschwang es kochen möchte ...
»Na ... so weit sind wir ja noch lange nicht!« lachte er. »Vorläufig wollen wir mal ruhig zusehen, wie das Rummelchen sich historisch entwickelt ... Is ja ganz nett, auch mal Zuschauer spielen zu dürfen! So, und nun muß ich wieder Affen dressieren — komm her, Langbeinchen, gib mir 'n Kuß!«
Als Jucunda auf der Straße stand, sah sie ihre Kollegin Thöny drüben in einem Fenster des ersten Stockes liegen. Sie winkte ihr zu.
»Was haben Sie denn da drinnen gemacht, Buchner? Kommen Sie 'nauf, wir schwatzen ein bissel!«
Die beiden Rivalinnen kamen rasch ins Gespräch. Plötzlich fiel's Jucunda ein, daß ihre Mutter daheim mit dem Mittagessen wartete: Na, dem ließ sich abhelfen — es war nicht alle Tage so nett — nicht alle Tage vertrug man sich so gut mit seinen Kolleginnen — das mußte man auskosten. Sie pfiff sich einen barfüßigen Jungen von der Straße herauf und schickte ihn mit einem Markstück und einem Stadttelegramm zum nächsten Postamt.
»Muß probieren, nicht zum Essen erwarten. Jucunda.«
Die Mädchen teilten das frugale Mittagsmahl, das Mutter Ach ihrer Pensionärin gekocht hatte, und schwatzten, küßten sich, schworen sich ewige Freundschaft ... und Asta Thöny hatte ganz vergessen, daß sie noch heut nacht so heiß geweint hatte, weil man Jucunda Buchner die Pferde ausgespannt hatte und ihr nicht ...
Und Jucunda Buchner dachte nicht mit einem Sterbensgedanken mehr daran, daß um ihretwillen ein junger, wackerer Gesell im Begriff war, seine Zukunft und sein Leben auf ein tolles Spiel zu setzen ...
Erbprinz Heribert und sein Mentor waren beim Dessert ... Zwei junge Leutnants vom hundertsiebenten Regiment, Söhne verarmter Nassau-Dillingenscher Adelsfamilien, deren alte Herren nur Infanteriezulage erschwingen konnten, waren zu Tische geladen. Man trank Pommery und beklatschte Hofskandäler der benachbarten Fürstenhöfe — da wurde in dringlicher, persönlicher Angelegenheit Herr Studiosus Borgmann Neo-Borussiae gemeldet.
»Hm ... dringliche, persönliche Angelegenheit? Also bitte ins Empfangszimmer ... Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, meine Herren ...«
Sporenklirrend ging der Prinz — den militärischen Gästen zu Ehren war er heut in der Uniform seiner Sophiendragoner — in den Salon hinüber, dessen konventionelle Hoteleleganz durch ein paar erlesene Stücke aus dem erbprinzlichen Schloß Beauregard eine Art persönliche Note empfangen hatte.
Herr Borgmann verneigte sich tief. Unter seiner schwarzen Kompresse waren Stirn und Nase erblaßt vor feierlicher Erregung.
»Durchlaucht ... ich bedaure unendlich ... furchtbar peinliche Mission ...«
»Darf ich bitten, Platz zu nehmen?«
Stotternd entledigte sich Herr Borgmann seines Auftrages.
»Hören Sie mal, mein Verehrtester — das ist ein Witz ... aber ein fader!« sagte der Erbprinz. »Einen Augenblick ... ich werde Herrn von Gorczynski rufen lassen, der ist ebenfalls beteiligt ...«
Er klingelte und befahl, den Major zu bitten.
»Nehmen Sie mir die Frage nicht übel, Herr Borgmann — ist bei Ihrem Herrn Auftraggeber vielleicht eine Schraube los?«
»Ich bedaure, als Kartellträger eine Kritik an dem Inhalt meines Auftrages ... weder selbst ausüben noch ... entgegennehmen zu dürfen ...«
»Sehr korrekt!« lobte der Erbprinz. »Sie haben ganz recht — verzeihen Sie. Aber ich bin einstweilen dermaßen baff ... So was hab' ich denn doch nicht für möglich gehalten.«
Und zu dem eintretenden Major mit einem boshaften Schmunzeln:
»Nun sagen Sie mal, mein Verehrtester — was haben Sie uns da denn eigentlich eingebrockt? Wir werden gefordert! Wir sollen uns prügeln — weil wir den perversen Wunsch geäußert haben, mit der Jungfrau von Orleans zu soupieren!«
Der Major begriff nicht — mußte erst völlig aufgeklärt werden — und dann platzte er hell heraus ... Der Prinz stimmte ein, auch Borgmann glaubte aus schuldiger Höflichkeit mitlachen zu müssen ...
»In der Tat, die Sache ist zum Wälzen,« sagte der Prinz — »aber Teufel auch, wie bringen wir diesen rabiaten Burschen, den guten Pilgram, zur Ruhe? Wie die ganze verfahrene Karre wieder ins Gleis? Ich danke für einen Skandal ... die Sache muß unbedingt in aller Stille arrangiert werden.«
»Durchlaucht,« sagte der Major, »ich bin natürlich schuld. Ich habe unsre ... hm, hm ... unsre vollkommen harmlose Soupereinladung scheinbar doch ein bißchen zu herausfordernd stilisiert ... ich übernehme selbstverständlich jede Verantwortung. Zunächst werde ich zu Fräulein Buchner hinfahren, mich als den Schreiber des ... verhängnisvollen Zettels bekennen ... und für mich, als den allein schuldigen Teil — die Verzeihung dieser ... nun der jungen Dame erbitten. Damit dürfte dann wohl die Angelegenheit vollkommen erledigt sein — nicht wahr, Herr Borgmann?«
»Hm ... ich will's hoffen,« meinte Herr Borgmann etwas kleinlaut. »Wenn ich den Fall richtig taxiere, ist mein Herr Auftraggeber in ... na, in gewissen ... heiligen ... Gefühlen gekränkt ... die bei etwas temperamentvollen jungen Leuten leicht eine ... etwas explosive Form annehmen ...«
»Ach so — Koller nennt man das ja wohl,« näselte der Erbprinz. »Ja ... aber wenn ein solcher — hm ... pathologischer Zustand gemeingefährlich wird, dann muß eben eine Radikalkur versucht werden. Aeh — die Sache ödet mich ... Ich wünsche, lieber Herr von Gorczynski, daß Sie die Angelegenheit völlig ins Reine bringen, verstehen Sie mich?«
»Gewiß, gewiß, Durchlaucht, ich werde es an nichts fehlen lassen ...« hastete der Major beflissen.
»Und Sie, Herr Borgmann? Ich rechne auf Ihre Mitwirkung zu einer absolut geräuschlosen Beilegung!«
»Durchlaucht wollen versichert sein, daß ich mein möglichstes tun werde!«
Mit kurzer Verneigung schritt der Prinz an den beiden Herren vorüber und überließ sie ihrer Ratlosigkeit. Auf dem Wege zum Speisesalon brach er in ein schallendes Gelächter aus.
So eine gerissene Katze — bringt's fertig, einen Prinzen, einen Prinzenbegleiter und einen langen Laban von Schlagetot vor ihren Reklamewagen zu spannen ... und sowas ist achtzehn Jahre alt und spielt weißgewaschene Tugendengel dermaßen überzeugend, daß einem ganz kniefällig dabei zumute wird ... Na, warte Du, Dich zähm' ich mir noch mal, Du süße, weiße Bestie Du — das lohnt doch noch der Mühe!
»Sie, lieber Aldringen, geben Sie mal 'n Glas Pommery — aber etwas lebhaft, bitte!«
Major von Gorczynski hatte beschlossen, den Stier bei den Hörnern zu packen. So etwas Blödsinniges war ihm in seinem ganzen Leben noch nicht passiert! Eine Soupereinladung an eine Bühnenprinzessin, die mit einer Säbelforderung seitens eines Korpsstudenten beantwortet wird! Und noch dazu eines Korpsstudenten, von dem man mit positiver Bestimmtheit weiß, daß er allem, was Theater und Theaterweiber heißt, weltenfern steht! Das war zu abgeschmackt ... Was konnte nur vorgegangen sein, das diese ausgefallene Konstellation ermöglicht hatte! Das mußte man herausbekommen ... Und das Einfachste war, man ging gleich vor die rechte Schmiede ... Mit dem Mädel war jedenfalls noch am ehesten fertig zu werden ... Absolut geräuschlose Erledigung hatten Durchlaucht verlangt? Herr von Gorczynski kannte sich jedenfalls mit Mädeln noch besser aus als mit dieser rauf- und trinkfesten Männerjugend in Band und Mütze, deren Begriffe und Sitten so was mittelalterlich Unkontrollierbares an sich hatten ... Also auf zu Jucunda!
Frau Kanzleirätin Buchner öffnete selbst die Tür und war nicht wenig entsetzt, als ein nicht mehr ganz junger, höchst eleganter und — hm! — pikfein parfümierter Herr in Gehrock, Zylinder, hechtgrauen Glacés an der Entreetür stand und Fräulein Jucunda Buchner zu sprechen wünschte ...
»Fräul'n Buchner is aus — tut m'r unendl'ch leid ... Aber wenn ich was kennte bestell'n — ich bin die Mutter.«
Herr von Gorczynski musterte die stattliche, rundliche Frau mit Kennerblick. Es war nachmittags um vier, aber die ... Dame war noch immer in Morgentoilette ... geblümter Schlafrock und Schleifenhäubchen ... Also aus so einem ... Milieu entstammte das Dämchen, für das der Sohn eines hohen sächsischen Justizbeamten Korpsband und Karriere in den Wind schlug ... Hm ... Das vereinfachte die Situation allerdings außerordentlich. Herr von Gorczynski war auf eine feingebildete Familie gefaßt gewesen ... Vielleicht Justiz, Universität, ein Predigerhaus ... Und nun ... Na, wenn man mit so etwas nicht geräuschlos fertig werden sollte ...
»So ... Sie sind die Mutter ... Na da ist es vielleicht am besten, ich unterhalte mich erst mal ein wenig mit Ihnen ... Major von Gorczynski ist mein Name.«
Frau Doris fühlte, wie ihr das Herz in die flanellenen Unterhosen rutschte. »Ja, aber ... Sie sehen, Herr Major ... Ich bin Sie ja doch gar nich angezogen ...«
»Bitte, das macht nichts ... Was ich Ihnen zu eröffnen habe, das können Sie auch unangezogen hören. Also wenn ich bitten darf — oder wünschen Sie meine Erklärungen auf dem Hausflur entgegenzunehmen?«
»Ach nee ... Aber gewiß nicht, Herr Major ... Bitte treten Sie ein ... in die gute Stube ...«
Herr von Gorczynski überflog mit demonstrativer Geringschätzung die verschlissene Herrlichkeit des Buchnerschen Salons. Dann setzte er sich mit einer gewissen Vorsicht, als fürchte er, der Samtfauteuil könne unter ihm zusammenbrechen, in den grünen Plüsch und sah die vor Erregung fiebernde Frau mit durchdringendem Blick an.
»Sie werden sich wohl ungefähr vorstellen können, weswegen ich komme, Frau — Buchner!« begann er scharf. »Nicht wahr?«
Frau Doris' Kinnbacken schlotterten. Da hatte man die Bescherung! Und ihr Rat war fern ... Und das Kind ... Und sie mußte den ersten Ansturm des Schicksals ganz allein aushalten, von Gott und aller Welt verlassen ...
»Nu ja, nu nee ... denken ... kann ich mersch am Ende ...«
»Na also: Um's kurz zu machen: Ihr Fräulein Tochter hat eine Einladung, wie sie in der ganzen Welt Abend für Abend an tausend und abertausend Kolleginnen Ihrer Tochter ergeht — die hat sie damit beantwortet, daß sie mir und ... meinem jungen Freunde, in dessen Namen ich mit unterzeichnet hatte, eine Forderung auf schwere Waffen hat überbringen lassen. Darf ich mich zunächst erkundigen, in welchen Beziehungen der ... junge Herr, der sich zum Beschützer Ihrer Familienehre aufgeworfen hat, zu Ihrer Tochter steht?«
»Aber ich bitt' Ihn', Herr Major — in gar keener Beziehung. Er wohnt hier im Haus ... zur Miete ... un da is er ... ganz zufäll'g is er dazu gekommen, wie meine Tochter een Weinkrampf hat gekriegt, als das Bukett ist angekommen ... un der Brief ... un ... un das Geld ...«
Hm ... das Geld ... und ... ein Weinkrampf ... verdammt peinliche Vorstellung ... aber was war zu machen ... man mußte oben bleiben.
»So ... also in gar keinen Beziehungen ... verehrteste Dame, Sie haben keinen dummen Jungen vor sich, dem Sie Lederstrumpfgeschichten aufbinden können. Ich will also mal annehmen, der junge Herr ist der ... Bräutigam Ihrer Tochter ...«
»Ne, ne, wahrhaft'gen Gott nich — aber gar keene Ahnung ... e junger Student, ne, ne, wie kenn' Se nur so was denken ... So was hat meine Jucunda wahrhaft'gen Gott nich neetig!«
»Hm ... also nicht ... Na dann wollen wir's dahingestellt sein lassen, welcher Art das ... Verhältnis zwischen den beiden jungen Leuten ist ...«
Jetzt hatte Frau Doris sich denn doch gefunden. Die Ehre ihres Hauses, ihres Mädchens —? Ne, ne, damit durfte man denn doch nicht spaßen ...
»Heer'n Se, Herr Major,« rief sie zitternd, doch mit Entschiedenheit, »das muß ich mir denn doch ganz ergäbenst verbitt'n! Meine Tochter hat kein ... kein Verhältnis nich!«
»In dem Sinne, in dem Sie das Wort verstanden zu haben scheinen, habe ich es durchaus nicht gebraucht ... und verbitte mir meinerseits eine derartige Auslegung meiner Worte! Nun aber zu Ihrem Fräulein Tochter! Hat sie — und haben Sie als Mutter — oder wenn Ihr Mann noch unter den Lebenden ist —«
»Allerdings — mein Mann ist der Kanzleirat Buchner — ein königlicher Beamter ...« warf Frau Doris ein, »Ritter des Albrechtkreuzes zweiter Klasse ...« Sie richtete sich ordentlich auf an all diesen ehrenvollen Tatsachen.
»Na also! Haben Sie alle zusammen sich denn eigentlich nicht klar gemacht, was ein so ... rabiates Vorgehen denn eigentlich für Ihre Tochter ... vielleicht auch für Ihren Mann ... bedeutet? Ich nehme an, daß Sie bereits in Erfahrung gebracht haben, wer wir eigentlich sind — wer sich hinter dem Namen von Dillingen versteckt — hä? Wissen Sie das, Frau Kanzleirat Buchner?«
»Ja, ja, ich weeß — ich weeß,« stammelte die geängstigte Frau und fuhr mit dem Rücken der fleischigen Hand über die feucht gewordene Stirn.
»Na also! Bilden Sie sich denn im Ernste ein, ein solcher Herr werde sich wegen ... wegen einer Lappalie von einem x-beliebigen jungen Menschen zur Rechenschaft ziehen lassen? Nee, verehrte Dame, die Sache kommt anders: Es möchte Ihrer Tochter vielleicht doch peinlich sein, wenn an ... eine gewisse Stelle ein Bericht über das ... eigentümliche Interesse erginge, dessen Ihre Tochter sich in — hm! Studentenkreisen erfreut! Und wenn Ihre Tochter sich überlegt, daß ihr Kontrakt doch am Ende noch nicht lebenslänglich und unkündbar ist, und daß es sich wenig empfiehlt, sich die Gunst eines jungen Fürsten zu verscherzen, der einmal der Brotherr eines der größeren deutschen Hoftheater sein wird ... dann wird ihr am Ende klar werden, daß es ein bißchen übereilt von ihr war, eine kleine Unbedachtsamkeit — ich gebe ja zu, daß es eine Unbedachtsamkeit war, Ihre Tochter ohne weiteres in eine Linie mit der Mehrzahl ihrer Kolleginnen zu setzen ... Aber deshalb gleich nach Blut — nach Fürstenblut zu lechzen — das scheint mir doch einigermaßen kindisch!«
Völlig zerschmettert hatte Frau Buchner die Suada ihres vornehmen Besuchers über sich ergehen lassen. Vor ihrem Auge tanzten hundert gräßliche Bilder ... Der gnädigste Herr in Meiningen hatte Jucunda seine Gunst entzogen — ihr Vertrag war gekündigt ... Vergebens klopfte sie an die Pforten aller deutschen Bühnen ... Als »schwieriges Mitglied« wurde sie überall abgelehnt ... Das Elend lauerte, der Hunger ...
»Ne ... ne ... das is ja äne schreckliche Geschichte ...« stammelte sie.
»Nun, Sie scheinen ja Vernunft annehmen zu wollen. Ich empfehle Ihnen also, unverzüglich mit Ihrer Tochter Rücksprache zu nehmen: Sie soll ihren ... ihren jugendlichen Beschützer veranlassen, seine höchst törichte und kindische Herausforderung zurückzuziehen ... Damit dürfte die Angelegenheit eine für alle Beteiligten befriedigende Erledigung finden. Sind Sie dazu bereit?«
»Aber mit dem greeßten Vergniegen — 's wird sich doch am Ende noch alles lassen ins reine bringen!« ächzte aufatmend die geängstigte Frau.
»Na also —« der Major erhob sich — »ich rechne darauf, daß Sie Ihren mütterlichen Einfluß in diesem Sinne geltend machen. Meine Empfehlung an Ihr Fräulein Tochter ... und ... böse ... braucht sie uns nicht zu sein ... Die ganze Sache war vollkommen harmlos gemeint ... also ... adieu, Frau Kanzleirätin!«
Frau Buchner knixte ein übers andre Mal, während sie den Gast zur Entreetür geleitete.
Auf der Schwelle wandte der Major sich noch einmal um.
»Apropos — soweit ich unterrichtet bin, hat man bei Ihnen besonders daran Anstoß genommen, daß meinem Briefchen ein ... ein kleines Geschenk ... in barem Gelde ... beigelegt war. Vermutlich haben Sie diese ... diese kleine Aufmerksamkeit ... in Verwahrung genommen?«
»Allerdings ... das hab' ich ... in meine Wirtschaftskasse hab' ich die Scheine eingeschlossen ... Jucunda wollte sie zur Post bringen, aber ... sie wollte sich erscht noch nach Ihrer ... genaueren ... Adresse erkundigen ... Na un von dem Wege, da is se noch nich zurück ...«
»Na, dann kann ich ihr ja den Gang ersparen ... Wenn Sie's mir gleich aushändigen wollten ... und vielleicht —« ganz harmlos, nachlässig wurde das hingelegt — »vielleicht händigen Sie mir auch gleich das Briefchen mit aus, das die Gemüter so sehr erregt hat — und damit wäre ja dann alles in schönster Ordnung ...«
»Gewiß, gewiß, Herr Major — das hab' ich ooch ... alles kenn' Se kriegen — ich bin ja froh, wenn ich's aus 'm Hause hab ...«
Teufel auch ... das war mehr, als ich gehofft habe! schmunzelte der Major, als er mit seinem Raube die halbdunkle Stiege hinunterknarrte.
Unten im Hausflur zog er den Brief hervor, entzündete ein Streichholz und ließ das corpus delicti in Flammen auflodern. Die beiden Scheine aber, die er beim Empfang nur nachlässig in die Westentasche geschoben, barg er nun sorgfältig in seinem Portefeuille. Es waren immerhin zweihundert bare Mark ...
Und dann ging er zu Aeckerlein hinüber und bestellte eine Flasche Heidsieck.
Als Hans Thumser inmitten seiner Korpsbrüder das Theaterrestaurant verließ und über den sonnenflimmernden Augustusplatz, die mittäglich durchhastete Grimmaische Straße nach dem Baarmannschen Lokal am Markt hinüberspazierte, wo das Korps speiste — da wirbelte ihm der Kopf dermaßen vom Fieber des Erlebens, daß die erregten Gespräche der Freunde nur wie aus weiter Ferne zu ihm herüberklangen. Und doch disputierte er selber eifrigst mit ... Es war ja kein Ende zu finden des Ueberlegens und Projektierens — wie alles kommen würde — ob man sich nicht übereilt, ob Pilgram, ob das Korps richtig gehandelt, ob sich nicht eine minder schroffe Lösung des Konflikts hätte finden lassen ... Wie der Erbprinz sich stellen würde ... und schließlich doch auch der Hof in Nassau-Dillingen ... was der für Weisungen erteilen würde ... und was all der welterschütternden Schicksalsfragen mehr noch waren.
Und dabei immer der heimlich bohrende, süß erregende, wonnesam beklemmende Hintergedanke an ... heut nachmittag ...
Und so in Wirrnis und Ahnung verrannen die Stunden ... Jetzt ward alles andre verdrängt durch das Mitgefühl mit Valentin Pilgrams Schicksal, des Korpsbruders, der so ganz anders geartet war, mit dessen Wesen das eigene niemals harmonisch hatte zusammenklingen wollen ... und dessen starkgemute Jungmännlichkeit dennoch die lebenshungrige Seele fest in ihren Bann geschlagen hatte — längst eh dies opferstolze Einsetzen seines ganzen Daseins für ein fremdes Mädchen, das Kind einer andern Welt ... eh' diese Tat sein Bild in eine fast heroische Sphäre emporgehoben ...
Und dann wieder schwirrten mit scheuem Flügelschlage die Gedanken um das eigene Hoffen und Bangen ...
Und seltsam: Astas und Jucundas Bilder, sie rannen zusammen in der Seele ... Wer war's eigentlich, der ihn erwartete heut um fünf? War's nicht jener Dämon, der in seines Korpsbruders Leben so verhängnismächtig hineingegriffen? Jucunda! Jucunda! Der Name klang aus allen Gesprächen, die in der Runde hin und wider flogen ... Daß es überhaupt eine Asta Thöny gab, das wußte ja nur einer von seinen Freunden, und dieser eine — der war fern ... war ausgeschieden aus dem Bunde, dem sein ganzes Herz gehörte, für dessen Farben er in siebenundzwanzig Waffengängen sein junges Herzblut vergossen ... ausgeschieden um jener andern willen ... und selbst dieser eine hatte sie doch nur auf der Bühne gesehen — ahnte nicht, daß sie mit Hans Thumser unter einem Dache wohnte ... konnte nicht ahnen, daß sie heimlich nächtens in ihre Kissen weinen und dann plötzlich lachen konnte, so girrend, so atemversetzend.
Nach dem Mittagessen blieb das Korps beim Kaffee noch lange zusammen. Die Füchse wurden fortgeschickt, und immer und immer wieder in heftigen Disputen drehten und wendeten die Korpsburschen das Ereignis des Tages. Hans aber zog von Zeit zu Zeit heimlich die Uhr und zählte, wie eine Viertelstunde um die andere verrann von jenen, die ihn noch von dem größten Erlebnis seines jungen Daseins trennten ... Und einmal zog er heimlich auch sein Portemonnaie und stellte fest, daß er heute, am einunddreißigsten Oktober, noch fünfundachtzig Pfennige sein eigen nannte ...
Teufel auch! Wenn man die Farben eines Korps trägt, kann man unmöglich ohne ein bescheidenes Blümchen in der Hand bei einer Dame zum Tee antreten ... Und Hans Thumser pumpte sich von Volkner, der immer Geld hatte, eine Mark ...
Und endlich war's dreiviertel fünf ... Und wie ein Träumender strich Hans Thumser die Petersstraße hinunter, einen Busch rosa Dahlien, in Seidenpapier gewickelt, in der Hand ... Zu wem ging's? Zu Asta? Zu Jucunda? Er wußte es nicht ... es ging ... zu ihr ...
Und so war's fast eine Selbstverständlichkeit, daß er sie nun beide fand ...
Die Stube schwamm von Zigarettenrauch ... Und auf dem Sofa, eng aneinandergelehnt, zwei Mädchen ... die, die er zu suchen kam — und die andere ...
»Ach Gott ...« lachte Asta in komischem Entsetzen auf, »Herr ... na wie heißen Sie noch? Herr ...«
»Thumser,« stotterte Hans und blieb ganz verdonnert an der Tür stehen.
»Richtig, Herr Thumser — mein Zimmernachbar — nicht wahr, Sie sind's doch? Mein Gott, Sie hatt' ich wahrhaftig total vergessen —«
»O bitte, dann will ich nicht stören,« sagte Hans und griff zur Tür.
Ein Kübel Eiswasser, einem glutgedörrten Saharawanderer jählings über den Nacken gegossen ...
»Aber nein! Stören! Weglaufen! Gibt's nicht!« Und das weiche Figürchen in der nicht ganz tadellos frischen Batist-Matinee sprang auf, stand vor dem schlanken Studenten, eine Hand, zart und warm wie ein sonnendurchglühtes Rosenblatt, legte sich auf die seine und zog ihn ins Zimmer.
»Nicht böse sein! Meine Kollegin ist mich besuchen gekommen, und da haben wir uns verschwatzt ... Ist's denn schon fünf Uhr? Himmel — und wie's hier ausschaut! Frau Wehe! Frau Wehe! Schnell kommen Sie mal her und räumen S' ab! Gestattest Du, Jucunda? Mein Zimmernachbar, Herr Studiosus Dummler —«
»Thumser,« verbesserte Hans etwas pikiert.
»Pardon — Thumser — meine Kollegin Buchner — die große Buchner, wissen S'!«
Jucunda grüßte stumm und königlich. Sie hatte die grüne Mütze, die drei Farben um die Brust des jungen Mannes wiedererkannt ...
»Ich weiß ...« sagte Hans. »Ich war gestern abend in der 'Jungfrau' ... und ich bin auch unter denen gewesen, die —«
»— ihr die Pferde ausgespannt haben — natürlich! Das nächste Mal, Sie Schlingel, spannen Sie mir die Pferde aus — verstanden? Sonst ist's aus mit der guten Nachbarschaft!«
»Wird gemacht!« sagte Hans, der sich wiederfand. »Inzwischen darf ich wohl als bescheidene Entschädigung diese Blümchen ...«
»Ach — das ist famos! Sehen Sie, Jucunderl, es wachsen heuer doch nicht alle Blumen bloß für Dich ...« Und sie drückte den Studenten in einen der verschlissenen, fettigen Damastfauteuils, welche Mutter Achs beste Bude verherrlichten.
Einen raschen Blick warf Hans Thumser in der Bude umher. Wild sah's aus ... auf dem Tisch noch die Reste des bescheidenen Mittagsmahls, Aepfelschalen und die zerknautschten Mundstücke abgerauchter Zigaretten trieben sich auf dem fleckigen Tischtuch herum ... und drüben auf dem Bette aufgestapelte Mullröcke und Spitzenhöschen, auf dem Schreibtisch ein zusammengerolltes Korsett, dazwischen unsaubere Hefte mit ausgeschriebenen Rollen und zerflederte Reclambändchen ...
Asta war diesem Blick gefolgt und sah den Ausdruck von Mißbehagen, der ununterdrückbar das schmissebedeckte tadellos rasierte Gesicht des korrekten und gepflegten Jünglings überzog.
»Bös schaut's aus da drin, gelt? Aber warten S' nur, ich schaff' schon eine Ordnung! Faß an, Jucunderl, Du bist ja schuld, daß ich so einen feschen, jungen Herrn in so einer Schlamperei muß empfangen! Und Sie, Frau Wehe« — die noch immer hübsche, kugelrunde Wittib stand mit nachmittagschlafgeröteten Augen in der Tür — »hinaus mit dem Abfall da! Und ein' Tee kochen S' uns, und Kuchen will ich seh'n und Schlagsahn' und was sich sonst gehört! Da haben S' ein Geld!« Und wie ein Irrlicht fegte das dunkellockige Mädchen in der Stube umher, hob den Bettbezug aus gewebter, leidlich defekter Spitze, das Ueberbett in die Höhe, stopfte die herumliegenden intimen Kleidungsstücke drunter und deckte mit einem Spitzbubenlächeln wieder zu, griff in die Nachttischschublade und warf ein paar Markstücke auf den Tisch, daß zwei, drei in die Stube kollerten und Hans Thumser sich bücken mußte, um sie wieder aufzulesen; griff dazwischen in die Zigarettenschachtel, schob ihren beiden Besuchern, sich selbst und schließlich auch der verlegen grinsenden Wittib eine Zigarette zwischen die Lippen:
»Da, Herr Dummser — haben S' Feuer?«
Und da flimmerten auch die feuchten Lippen, die dunklen, flackernden Augen dicht vor Hansens Gesicht, loderten ihn an, während sie mit ihm zugleich am nämlichen Zündholz ihre Zigarette anbrannte ...
Inzwischen saß Jucunda stumm und königlich auf dem Sofa, ohne eine Hand zu rühren, und ließ ihre runden blauen Augen von einem zum andern leuchten. Und auch Hans Thumsers Blicke gingen hin und her, von dem Schalk zu der jungen Königin, von der jungen Königin zu dem rastlosen Schelm ...
Und endlich gab's Ruhe und so etwas wie Ordnung, und mit einem tiefen Aufseufzen warf Asta Thöny sich in das Sofa, kuschelte sich an Jucundas kräftige Schulter ... und nun sahen zwei Augenpaare, das blaue, das schwarze, den braunäugigen Studenten an ...
»So, Herr Dummser, nu erzählen S' uns was!«
Hans Thumser war des Umgangs mit weiblichen Wesen wenig gewohnt. Seine Schwestern waren um vier und fünf Jahre jünger als er, die zählten, samt ihrer Freundinnenschar, noch nicht mit, waren Gören, oder wie man daheim sagte, Blagen ... unfähig, die erhabene Größe eines Studenten, eines Korpsstudenten, eines Fuchsmajors richtig einzuschätzen. Und das Korps? Es lebte außerhalb der Leipziger Gesellschaft, war völlig durch Mensur und Kneipe absorbiert und kam höchstens auf dunklen und verschwiegenen Pfaden einmal mit verachteten Parias der Weiblichkeit in Berührung ...
Aber ... er war ein werdender Poet ... und der Zauber der Situation löste ihm die Zunge, gab ihm Worte, wie sie gesellschaftliche Routine nicht kennt ...
»Erzählen soll ich Ihnen ... meine Damen? Ach ... ich hab' nichts erlebt, was des Erzählens wert wär' in solch einem Augenblick ... aber ... das darf ich ja wohl sagen, nicht wahr? daß ich sehr glücklich bin ... Ich denke an gestern abend ... ich habe Sie beide gesehen und bewundert und beneidet um das Glück Ihres Berufs ... den Menschen das Schöne zu offenbaren ... und nun sitz' ich hier ... Ihnen gegenüber ... seien Sie mir nicht böse, wenn das mir zu Kopf steigt und ... mich dumm und stumm macht ... Sie nennen mich noch immer Dummser, gnädiges Fräulein ... und das stimmt, ich bin auch ein dummer Bub, das fühl' ich, jetzt, wo ich mit Ihnen zusammensitzen darf ... Nein, ich kann Ihnen nichts erzählen ... ersparen Sie es mir, mich mit Konversationmachen abzuquälen ... erlauben Sie mir nur ... da zu sein ... und Sie anzuschauen ... und zu fühlen, ja bis ins Tiefste zu fühlen, wie schön das ist ... was für ein Glück das ist!«
»Aber warum machen Sie sich selber so schlecht?« sagte Jucunda und sah ihn groß an — »Sie sprechen gar nicht übel ... im Gegenteil — ich meine, ich hätte noch niemals einen Menschen so sprechen gehört ...«
»Du —?« sagte Asta, »daß Du mir dem Jungen nicht zuviel Komplimente machst! Das ist meiner, verstehst Du mich? Aber Du mußt immer alles für Dich haben ... die Blumen — die Kränze — die ausgespannten Pferde — die Verehrer, alles muß sie allein haben! Und so was redet von Freundschaft und Kollegialität! Schämen sollten S' Ihnen, mein Fräulein!«
Hans wurde glühendrot. »Ach, meine Damen, machen Sie sich nur immer über mich lustig ... ich weiß ganz genau, wie wenig ich Ihnen sein kann. Nur das eine muß ich Ihnen sagen: Sie ahnen gar nicht, was dieser Tag für mich bedeutet ... Sie können sich wohl nicht vorstellen, wie barbarisch und rauh dies Leben ist, das wir jungen Dächse so führen auf deutschen Hochschulen ... Und seit gestern ist's auf einmal bunt und licht und ... groß und ... schön um mich her ... seit ich Sie beide kenne ...«
»Gott, wie süß er ist — gelt, Jucunda?« sagte Asta und streichelte dem Studenten mit einer raschen, zärtlichen Bewegung ganz leise und flüchtig die glühende, narbenzerrissene Wange. »Nur mehr so Schönes, nur mehr! So was kann man gar nicht genug hören!«
»Ach — Sie scherzen wieder, Gnädigste —« sagte Hans. »Sie sind weit schönere Worte gewohnt ... Sie verkehren am Hof — inmitten von Geist und Grazie ... die Dichter, deren Werke Sie verkörpern, huldigen Ihnen ...«
»Der hat Ahnung, gelt?« lachte Asta halb verschmitzt halb schmerzlich zu ihrer Kollegin hinauf, in deren Arm sie sich drückte.
»Nein, Herr Thumser,« sprach Jucunda langsam, »Sie haben doch wohl eine etwas — na sagen wir mal zu ideale Vorstellung von unserm Leben ... Glauben Sie mir nur, es gibt nicht viel Männer, die so zu reden wissen, daß es einem wohltut ...«
»Gewiß, ich glaub's — so verwöhnt, so anspruchsvoll wie Sie sein müssen ... denn so jung wie Sie sind, Sie sind berühmt, alles liegt Ihnen zu Füßen, Sie kommen wie das Schicksal ... wehe dem, der Ihnen verfällt ...«
Ein Schatten war bei diesen Worten über die enthusiastischen Züge geflogen, die flammenden Augen hatten sich verdunkelt.
Jucundas Stirn hatte sich langsam zusammengezogen.
»Wie das Schicksal?« fragte sie, »wie meinen Sie das?«
»O ... ich dachte an ... eine gewisse Geschichte ... eine sonderbare, aufregende Geschichte ... von der Sie doch wohl auch wissen müssen ...«
»Sie ... meinen ... die Sache ... mit Herrn Pilgram? Von der wissen Sie also auch schon?«
»Ich weiß ... selbstverständlich weiß ich ... wir sind ja doch Korpsbrüder ...«
»Eine ... Sache?« fragte Asta ganz erstaunt. »Was hat's gegeben? Hast mir ja doch gar nichts davon erzählt, daß es was gegeben hat? Heraus mit der Geschichte!«
»Ich möchte ... eigentlich überhaupt nicht davon sprechen ...« meinte Jucunda.
»Und ich ... ich halte mich ebenfalls nicht für berechtigt ...« setzte Hans befangen hinzu.
»Schöne Sachen sind mir das!« zürnte Asta. »Ich bring' Euch zwei zusammen, und schon habt Ihr Geheimnisse miteinander, und ich werd' ausgesperrt und hab 's Zuschau'n! Na wartet — jetzt kommt der Tee mit dem Kuchen, hernach setz' ich Euch vor die Tür und ess' alles alleinig!«
Jucunda hatte einen Moment sinnend den Rauchwölkchen ihrer Zigarette nachgestarrt. Es war dämmrig im Zimmer geworden. Frau Wehe kam mit dem Tee, dem Gebäck, zündete die Petroleum-Hängelampe über dem Tische an, und hell gleißten nun die drei jungen Gesichter auf dem Hintergrunde der abgenutzten Stube, die rasch in völliges Dunkel versank.
Als die Wirtin gegangen, sagte Jucunda langsam: »Ich verstehe, daß Sie sich über die ... Angelegenheit ... die bewußte ... nicht gern aussprechen. Aber Sie werden begreifen: ich bin ziemlich gespannt. Sie wissen schon drum ... also die Sache kommt doch, scheint's, wirklich an die große Glocke. Ich bin ja schließlich doch ein bißchen beteiligt ... Wollen Sie mir nicht sagen, was inzwischen eigentlich passiert ist?«
»Hm ... wenn unsre ... gütige Gastgeberin gestattet, daß wir uns in ihrer Gegenwart über ... eine Sache unterhalten, die sie nicht ... in die wir sie nicht einweihen dürfen?« »Na macht schon, macht schon ...« maulte Asta, »Ihr brennt ja darauf, Eure Geheimnisse auszutauschen ... ich ess' Kuchen.« Und wütend bissen ihre blinkenden Zähne in einen braunlächelnden Mohrenkopf.
»Also kurz ... Er ... ist aus dem Korps ausgetreten ... und hat die ... die bewußten beiden Herren auf Säbel ohne ohne gefordert ... Genügt Ihnen diese Andeutung?« fragte Hans.
»Hm ... und mehr ... wissen Sie also noch nicht?«
»Noch nicht.«
»Immerhin ... also der Skandal ist fertig. Schöne Bescherung ...«
»Hol Euch der Satan, Kinder, Ihr macht eins aber wirklich neugierig wie eine Ziege!« sagte Asta und ließ die kuchenstopfenden Finger sinken. »Säbelforderung — Skandal ... und dabei habt Ihr Euch vor einer halben Stunde erst kennen gelernt vor meinen sehenden Augen ...«
»Gott, warum soll man's ihr schließlich nicht erzählen?« meinte Jucunda. »Morgen weiß es ganz Leipzig ...«
»Hast einmal wieder was, womit Du Dich kannst int'ressant machen, Jucunderl? Gott, das Mädel hat einen Dusel! Daß es um Dich geht, soviel hab' ich schon heraus ... Also es werden zwei sich die Köpf' entzweischlagen Deinetwegen ... hernach schauen die Leut' unsereins überhaupt nicht mehr an ... und so ist's in allem! Schon wie's heißt — Jucunda! Wie kommt bloß ein Vater auf die Idee, so ein Wurm 'Jucunda' zu taufen? Als ob er damals schon geahnt hätt', daß das Kind einmal wird unters Theater gehen! Sag' doch, Mädel — wo kommst an so einen Namen, so ein' ausgefall'nen?«
»Ach — das ist einfach genug ... da war eine alte Tante, die eine Beamtenpension zu verzehren hatte und so schöne uralte Möbel und Bilder gehabt hat aus der Goethezeit ... um die sind alle Verwandte herum gewesen erbschleichen ... aber meine Eltern haben den Vogel abgeschossen und mich nach ihr getauft ... das hat sie so erschüttert, daß sie mir den ganzen Krempel vermacht hat ...«
»Ach — und nun hast Du das ganze schöne Zeugs?«
»I Gott bewahre — verkauft hat's mein Vater und für mich in einem Sparkassenbuch angelegt ... und davon sind mein Studium und meine modernen Kostüme bezahlt worden — paar Groschen werden wohl auch noch da sein, denk' ich ...«
»Ja schaust, was Du für ein Glückskind gewesen bist ...« Astas Augen irrten in die Ferne, ein ganz fremder Ausdruck von Bitterkeit und Ekel umschattete das pfirsichweiche Oval. — »So eine Tante wenn ich gehabt hätt', meinetwegen hätten s' mich Eulalia mögen taufen! Ich hab' das alles allein müssen schaffen, so gut oder — so hundsfött'sch wie's hat gehen mögen ... Dabei wird man ein armes, gerissenes, mit allen Hunden gehetztes Wildkatzerl allenfalls ... und wenn man ein bisserl Talent hat, hernach wurschtelt sich eins am End' auch noch rechtzeitig in die Höh' ... aber eine Priesterin, vor der die Menschen sich platt auf den Bauch schmeißen, eine Jungfrau von Orleans wird man nicht auf die Art!«
Mit herablassender Zärtlichkeit streichelte Jucunda die zierliche Kollegin. »Ich sollte meinen, Asta, Du könntest noch ganz zufrieden sein mit Dir — nicht wahr, Herr ... Gott, dieser lächerliche Name — schon wieder hab' ich ihn verschwitzt —«
»Herr Dummerle!« half Asta ein, und um die schmerzlich verzogenen Lippen huschte schon wieder der Schalk.
Hans Thumsers Blicke wanderten rastlos von einer zur andern. Welches Glück, daß er den goldenen Apfel des Paris nicht zu vergeben hatte!
Und Valentin Pilgram? Und die Affäre? Schon längst wieder versunken ... kaum die Oberfläche des Gesprächs hatte sie gekräuselt, die Geschichte von dem wackren Gesellen, der um dieses achtzehnjährigen Weibes willen sein Blut, sein Schicksal aufs Spiel gesetzt hatte — als Dank für ein paar freundliche Worte, die sie ihm geschenkt ...
Dieser Gedanke tauchte dann und wann flüchtig auf in Hans Thumsers Denken — aber die Gegenwart, die nie erlebte, der beiden jungen, blutjungen und doch schon aller Machtmittel ihres Geschlechtes kundigen Geschöpfe verdrängte das Bild des Korpsbruders, das heut morgen in so lichtem Heroenglanze gestrahlt hatte.
»Sagen Sie, Herr Thumser, was studieren Sie eigentlich?« fragte Jucunda.
»Gott, was studier' ich? Die Geheimnisse des S. C. Paukkomments — die Kunst, eine Tiefquart unter der steilsten Auslage hindurch in die Nasenspitze des Gegners zu dirigieren ...«
»Das glaub' ich nicht ... so sehen Sie nicht aus, als ob das alles wäre, was Sie treiben ...«
»Na ... meine kümmerlichen Versuche, mich mit der Juristerei anzufreunden, werden Sie mir doch wohl kaum am Gesicht ansehen können?«
»Das nun schon gar nicht! Nein, es steckt noch etwas andres hinter Ihnen —«
»Soll ich's verraten?« fiel Asta ein — »ich weiß es nämlich ...«
Und mit ihrem Spitzbubenlächeln, das Köpfchen tief auf die weiche Schulterlinie geneigt, fing sie an zu rezitieren:
»Halt! Gnade!« rief Hans und legte seine Hand beschwörend auf Astas runden Unterarm — von dessen Wärme süße Schauer in seine Fingerspitzen, seine Arme, sein Blut hinüberströmten.
»Ach — sieh da — Verse — und von Ihnen?« fragte Jucunda. »Also ein junger Schiller — oder Goethe? Sieh da!«
»Ach Gott — diese elenden Knittelreime — wenn man nichts Besseres könnte ...«
»Oh — das ist aber nicht hübsch von Ihnen, daß Sie sich meinetwegen so wenig angestrengt haben —« sagte Asta. »Na, was können Sie denn Besseres? Heraus damit!«
»Jawohl, Herr Poet, eine Probe Ihrer Kunst!«
Hans Thumser ließ sich nicht lange bitten. Er sann einen Augenblick nach. Dann richtete er sich unwillkürlich etwas auf, ein feierlicher, strahlender Ausdruck kam in seine Züge; und in tiefinnerer Bewegung sprach er:
»Ah ... bravo ... das ist wirklich ein Gedicht ...« sagte Jucunda. »Sieh da — wer hätte das hinter diesem wandelnden Modejournal gesucht ...«
»Oh ... seh' ich aus wie ein wandelndes Modejournal?«
»Na, so seht Ihr Korpsstudenten doch alle aus ...«
»Gott ja — es braucht ja nicht jeder Poet auszusehen wie die Jünglinge aus dem Café Größenwahn — von denen mir ein Berliner Korpsbruder neulich erzählt hat.«
»Nein, da haben Sie recht,« sagte Jucunda. »Die Sorte kenn' ich auch — aus der Zeit unseres Gastspiels am Viktoriatheater ... ich denke mir, der junge Goethe ist hier in Leipzig auch so etwa wie ein wandelndes Modejournal herumgelaufen, während seine Kollegen lange fettige Haare und schmutzige Hemdkragen trugen ... Sieh da — also so schaut ein junger Dichter aus ... alte kenn' ich ja schon diesen oder jenen, aber das waren alles sehr verschlissene, sehr diplomatische, sehr nüchterne und ... ernüchternde Herren ... Sie sind nicht nüchtern, Herr Thumser, Sie laufen wie in einem ewigen Rausch herum — wenn Sie auch noch so schneiderelegant aufgemacht sind ...«
»Ja, das ist wahr!« sagte Hans lebhaft. »Ewiger Rausch! Sie haben recht! Ich bin immer wie betrunken von ... von all dem Herrlichen um mich her — von all dem Neuen und Gewaltigen, das jede Stunde bringt! Ist nicht die Welt ein einziges, ungeheures Wunder? Und so ein armes Menschenherz viel zu klein und eng, um das alles zu fassen? Und wenn man's nun so erleben darf, die Schönheit, die Kunst, die Poesie leibhaftig vor sich zu sehen ... wie in Ihnen, Jucunda Buchner ...«
Die braunen Augen hingen an den blauen, die blauen an den braunen — mit hochaufgerichteten Leibern saßen die jungen Menschen einander gegenüber, und Ströme des Lebens rauschten von einem zum andern.
Jucunda fühlte sich wachsen in dieser naiven Bewunderung eines Menschen, in dem ihr weiblicher Instinkt die gärenden, schäumenden Kräfte witterte ... und Hans Thumsers gläubiges Märchenherz erblickte in dem weißen, vom Schöpfer in einer Künstlerlaune so edel ausgeformten Gesicht die fleischgewordene Schönheit, herabgestiegen vom Himmel, um ihm, dem Werdenden, die Fülle zu offenbaren ...
Auf einmal fuhren beide herum: ein Ton, ein erstickter, war in ihre Versunkenheit gedrungen — ein Ton, den Hans schon einmal vernommen zu haben meinte: der Ton eines bittren, unbezwinglichen Weinens ...
Asta Thöny hatte den Kopf in die Finger gedrückt, die Hände auf die Knie gepreßt ... ganz in sich zusammengekauert saß sie da, die zierlichen Schultern zuckten, aus dem Nest der schwarzen Flechten hatten sich ein paar glänzende Locken gelöst und rollten über den weißen Nacken ...
»Aber Kind — was ist Dir nur?« fragte Jucunda und legte den Arm um die Hüften der Kollegin.
Aber die schüttelte die Umschlingung ab, sprang auf, eilte zum Fenster hinüber und lehnte den hochgehobenen Arm, die tiefgesenkte Stirn an die Scheiben ...
»Aber ... was ist Ihnen denn nur, gnädiges Fräulein?« stammelte Hans Thumser.
»Ach, geht mir doch — laßt mich doch in Ruh, Ihr zwei! Poussiert doch miteinander, so viel Ihr Lust habt — aber nicht in meiner Gegenwart!«
»Aber Kind!« sagte Jucunda, stand auf, sah Hans an mit einem Blick, der für die Kollegin um wohlwollende Nachsicht zu bitten schien, wie für ein törichtes, verzogenes Kind, und trat zu ihr ans Fenster.
»Ach, gehen Sie doch, Buchner — lassen Sie mich! Es ist ja immer dieselbe Geschichte! Alles müssen Sie für sich haben, alles belegen Sie mit Beschlag — alles muß zu Ihren Füßen liegen, keiner andern gönnen Sie was! Den Jungen da, den hab' ich nun entdeckt — und kaum hab' ich ihn eingeladen, schon sind Sie da, als wenn Sie's gewittert hätten — und gleich geht's los, das alte Spiel — nur Jucunda Buchner redet, man sieht nur sie, man hört nur sie, man vergafft sich nur in sie, nichts existiert auf Gottes weiter Welt, nichts und gar nichts, als einzig und immer wieder Jucunda Buchner!«
»Herr Thumser, ich bitte Sie um Ihr unparteiisches Zeugnis!« sagte Jucunda ruhig, ganz beherrschte Weltdame — »ist das nun gerecht, wie diese Dame mich behandelt? Habe ich auch nur den geringsten Versuch gemacht, Sie — wie hat sie gesagt? — mit Beschlag zu belegen? Haben wir nicht vollkommen harmlos geplaudert alle drei? Und auf einmal aus heitrem Himmel diese Explosion? Habe ich das verdient, Herr Thumser? Bitte, sprechen Sie.«
In tödlichster Verlegenheit hatte Hans Thumser diesen Ausbruch, dieses Zwiegespräch der Kolleginnen über sich ergehen lassen. Er suchte vergebens nach der rechten Antwort auf Jucundas Frage.
»Gnädiges Fräulein ...« stammelte er zuletzt, »verzeihen Sie, wenn ich auf Ihre Frage nicht antworte. Wir sind beide Fräulein Thönys Gäste ... Ich bin untröstlich, daß ich Ihr Mißfallen erregt habe, Fräulein Thöny ... ich darf Ihnen zwar versichern, daß es keineswegs meine Absicht war, Sie irgendwie zu ... wie soll ich sagen? ... zu vernachlässigen ... Wenn ich dennoch ... es an der schuldigen Rücksicht habe fehlen lassen — so bitte ich tausendmal um Entschuldigung ...«
Asta Thöny antwortete nicht. Sie stand noch immer am Fenster ... der Schein der Straßenlaternen von drunten umrandete ihre dunkle Silhouette mit einem silbernen Streif — den weißen Batist, den zarten Flaum des Armes, die Flimmerlöckchen des schwarzen Haars. Wie das Kabinettstück eines der holländischen Kleinmeister sah das aus.
Jucunda und Hans blickten einander an — der Jüngling in ratloser Befangenheit, das Mädchen gelangweilt, mit verdrossenem Achselzucken ...
In diesem Augenblick erklang draußen eine heftige, erregte Stimme, die Jucunda auffahren machte:
»Na, Gott sei Dank und Lob — endlich also! G'sucht hab' ich das Mädchen durch die halbe Stadt ... nee so was, nee so was!«
Die Tür sprang auf, und eine massive Frauengestalt füllte den Rahmen — Frau Wehe verschwand fast ganz hinter dem roten, schwitzenden Gesicht, das von den Samtschleifen, den Seidenbändern eines schwarzen Kapothutes eingesäumt war — hinter den mächtigen Schultern unterm perlbesetzten Samtcape ...
»Jucunda — endlich ... Wenn Du wüßtest, was ich hab' müssen aussteh'n diesen Nachmittag Dir zuliebe ... Daß mich der Schlag nicht hat gerührt, das is mir ä blaues Wunder ...«
»Mutter — Du?« sagte Jucunda langsam und ungnädig. Sie empfand dunkel, daß diese Erscheinung in schroffem Widerspruch stand zu dem mystischen Glanz, der, sie wußte es, von ihr ausging, wenn sie wollte, und wenn der Glückliche, der in diesem Glanze stand, die nötige Naivität besaß.
»Was ist denn passiert? Darf ich zunächst bekannt machen? Meine Kollegin Fräulein Asta Thöny — Herr Studiosus — na wie war's doch noch? Dummser, nicht wahr?«
»Thumser,« sagte Hans.
»— meine Mutter, Frau Rat Buchner. Also was steht Dir zu Diensten, Mama?«
»Nu nee — ich weeß nich recht, ich mecht wohl mal e Wertchen mir Dir alleene sprech'n, Jucunda ... Entschuldigen Se nur, meine Herrschaft'n — aber kannste nich e bißchen mit mir uff de Straße 'nunter kommen, Kind?«
»O bitte, gnädige Frau, wenn Sie mit Ihrem Fräulein Tochter etwas unter vier Augen zu besprechen haben« — fiel Hans Thumser ein — »meine Stube ist nebenan, die steht Ihnen mit Vergnügen zur Verfügung — darf ich Mutter Ach — Frau Wehe, wollt' ich sagen, darf ich ihr Auftrag geben, daß sie Licht macht?«
Jucunda dankte mit einem Lächeln, kühl und hoheitsvoll, wie nie zuvor, als gälte es, den etwas befremdlichen Eindruck, den das Erscheinen ihrer Mutter gemacht, durch doppelt königliches Wesen wettzumachen. Und Hans und Asta blieben allein zurück.
Stumm war's im Zimmer, während jenseits der Tür, jenseits der beiden Kleiderschränke, die sie hüben und drüben verbarrikadierten, ein erregtes Flüstern anhob. In weißen Schwaden lag der Zigarettenqualm über dem Tisch, wob um die Hängelampe, ward von Wärmestrudeln in ihren Schirm hineingesogen und stieg um ihren Zylinder steil wie aus einem Schlot empor.
Ein weiches, brüderliches Gefühl zog Hans zu dem Mädchen hin, das noch immer schweigend am Fenster stand, vom Laternenlicht umsilbert, von stoßweis zuckendem Schluchzen den schlanken Leib geschüttelt.
»Fräulein Asta!« sagte er und trat ein paar Schritte auf sie zu; das Herz schlug ihm bis in den Hals. Nun war es da: er war zum erstenmal in seinem Leben mit einem Mädchen allein.
Sie antwortete nicht, nur heftiger flossen ihre Tränen beim Klang der gedämpften Stimme, die so erregt, so gütig ihren Namen sprach.
»Fräulein Asta,« sagte Hans noch einmal, »so wahr ich lebe, ich habe nicht daran gedacht, daß mein Benehmen Sie kränken könnte. Und Sie müssen mir's glauben, wenn ich Ihnen sage: es war reiner Zufall, daß ich ... daß ich mich mehrmals hintereinander mit meinem Gespräch nur an Fräulein Buchner gewendet habe — ich weiß wohl, daß ich gesellschaftlich noch nicht sehr gewandt bin ... aber ... Fräulein Buchner ... Ihnen ... vorziehen ... daran hab' ich ja mit keinem Sterbensgedanken gedacht ... ich wäre doch auch ein Narr ... Sie ... Sie sind ja so ein ... so ein wundervolles Geschöpf ... Sie ahnen ja gar nicht, wie ich ... hingerissen gewesen bin ... gestern, wie ich Sie auf der Bühne sah ...«
Er lauschte, ob eine Antwort käme ... aber regungslos stand das Mädchen, Arm und Stirn an die Scheiben gepreßt, die von der Wärme ihrer Glieder mit einem feinen Nebel beschlugen. Und wie Hans sich zage, Schritt um Schritt, der Fensternische näher schob, fiel sein Blick auf die Sophienstraße: drüben, vorm Eingang des Carolatheaters, drängte sich schon wieder, noch weit über eine Stunde vor Beginn der Vorstellung, ein dichter Menschenhauf, des Augenblicks wartend, da die Kasse sich zur ersten Wiederholung der »Jungfrau« öffnen würde. Noch nicht vierundzwanzig Stunden waren vergangen, seit er Asta Thöny zum ersten Male gesehen ...
Aber ihre Tränen waren versiegt: sie harrte, ohne sich zu rühren ... es war, als lausche sie ... als lechze sie, mehr zu hören ... mehr ...
Hans Thumser fühlte, wie alle seine Glieder nur ein einziges banges, verlangendes Beben wurden ... auch seine Stimme bebte heftig, als er weitersprach, ohne zu wissen, was er sagte ...
»Asta ... ich habe noch nie ... noch nie ein Mädchen berührt ... ich bin ein ganz dummer, dummer Bub ... Sie ... Sie müssen Geduld mit mir haben ... Wenn Sie ahnen könnten, wie mir zumut ist ... wie ich mich sehne ... ach, wie namenlos ich mich sehne ... ach, und ich hab' mich ja schon so gesehnt ... seit ich Sie gesehen hab' da drüben ... in Ihrer Schönheit ... und heut nacht, o Mädchen, wie haben meine Gedanken, meine Träume sich an Dich gedrängt ... hast Du das denn nicht gefühlt? nicht geahnt? Seien Sie doch nicht so stumm, sagen Sie mir doch, daß Sie mir verziehen haben ... mir ist ja so bang, so namenlos bang ist mir nach Dir ...«
Da wandte das junge Weib sich um ... Ihre duftenden Arme warf sie dem Knaben um den Nacken und überflutete ihm die Lippen, die Augen, den Hals mit dem schäumenden Strom ihrer Küsse.
Also, Jucunda, Du weeßt nu, was die Glocke geschlagen hat ...« beendete drüben in Hans Thumsers Studentenbudchen Mutter Doris ihren Bericht über die schwerste Stunde ihres Lebens — wie sie den Nachmittagsbesuch des Herrn vom Nassau-Dillingenschen Hofe genannt hatte. Sie thronte auf dem Kanapee unter den gekreuzten durchbohrten Mützen, den staubigen, verblichenen Bändern in ihrer ganzen schnaubenden, dampfenden Leiblichkeit ... Die Korsettstangen knackten unter den keuchenden Atemstößen der eingepreßten Lungen, die fleischige Hand wedelte ohn' Unterlaß mit dem feuchten Taschentuch den beperlten Hängebacken Erfrischung zu. Jucunda saß stumm in einem der geblümten Fauteuils, mit zusammengepreßten Lippen, das stolze Haupt ein wenig zurückgeneigt, die blauen Augen starr zur Decke gerichtet. Sie schwieg auch, als die Mutter ihren Bericht geendet und erwartungsvoll an den Zügen der Tochter hing.
»Nu rede Du aber gefälligst ooch en Ton!« polterte Mutter Doris schließlich heraus. »Ich mein', ich hätte mich nu genügend abgerackert für Dich!«
»Na, wenn Du meine Meinung denn wirklich hören willst, Mutter: Du scheinst mir eine märchenhafte Dummheit begangen zu haben.«
»I herrjemersch nee ... nu wird mer'sch aber doch zu tolle! Und was wär' das fier ä Dummheit, wenn's gefällig wär?«
»Wie Du den Brief hast herausgeben können, Mutter, das versteh ich einfach nicht ... das Geld, mag sein, obgleich mir's schon lieber wäre, ich hätte einen Postquittungsschein in Händen ... aber den Brief — unglaublich einfach!«
Sie sprang heftig auf, stieß den Fauteuil mit einem Ruck zur Seite, daß er in seinen Grundfesten krachte, und rannte zum Fenster — starrte hinaus, wie drüben vorher die zierliche Kollegin ...
Ach ... da drunten drängten sich die Massen — eben war der Kassenflur geöffnet worden — stießen sich, balgten, prügelten sich um den Vorrang ... wem galt das alles als ihr? Die alle da unten, hatten die einen anderen Gedanken als — Jucunda Buchner?
Und nach der Tortur dieser letzten Viertelstunde, nach all dem Ekel, der Zukunftsbangigkeit, die in ihr aufgequollen war beim Bericht der Mutter — kam da auf einmal eine wunderbare Gelassenheit über das Mädchen. Pah — was konnte ihr geschehen?!
Inzwischen hatte Mutter Doris sich von ihrem ersten Schreck erholt.
»Nee, weeßte, Jucunda, ich versteh Dich nich, wahrhaft'gen Gott, ich versteh Dich nich. Erscht stellst Du Dich an wer weeß wie sähre, daß De so än Brief kriegst, un ... un das andre ... un nu kommt der, der Dir's geschickt hat, und holt sich's wieder ab — un nu is ooch wieder nicht recht — — un ich hab' Dir doch bloß die scheißliche Geschichte woll'n vom Halse halten ... nee, nee, so was! Das hätt' ich wissen sollen, dann hätt' ich dem dicknäsigen Herrn ganz einfach gesagt: kommen Se gefälligst wieder, wenn Fräulein Jucunda Buchner derheeme is — mich geht's nischt an!«
»Hättest Du das man getan, Mutter ... Ich hätte dem Herrn schon beigebracht, wie man mit Jucunda Buchner spricht — das kannst mir glauben! Ach — aber es ist ja alles egal ...«
Sie reckte sich ... ein harter Glanz kam in ihre Augen ... Noch eine knappe Stunde, und die Rampenlichter flammten auf, und sie tauchte hinein in ihren blendenden Schimmer — und von jenseits, aus dem dunkel gähnenden Zuschauerraum, dampfte die Vergötterung der anderthalb Tausend ihr entgegen ...
»Was wirscht De denn nu anfangen?« fragte Mutter Doris ganz halblaut. »Wo der Herr Major doch verlangt hat, Du sollst machen, daß der ... der Herr Korpsstudent seine ... seine Aufforderung zum Duell ... daß er die zurück tut nähm'!«
Jucunda versank in einen Wirbel der Gedanken. Das Bild des jungen Gesellen stieg in ihr auf, der so viel für sie getan ... aus einem ritterlichen Empfinden heraus, das so einfach, so natürlich war, daß Jucunda es wohl verstehen mußte, würdigen konnte in seiner schlichten, starken Mannhaftigkeit ... Und nun sollte sie selber von ihm verlangen, daß er den kühnen, verhängnisvollen Schritt, den er zu ihrem Schutze getan — rückwärts tun sollte ... Sie war in einer Luft groß geworden, in die immerfort, aus den Stübchen der Mieter ihrer Eltern in die gute Stube da hinten mit den grünen Plüschmöbeln, in die Träume ihres eigenen Mädchenkämmerleins hinein — die romantischen Vorstellungen und Begriffe von korpsstudentischem Schneid, von Burschenehre hineingeweht waren ...
O sie wußte ganz genau, was es für den weiland Ersten Chargierten der Franconia bedeutete, aus dem Korps auszutreten, um einen Prinzen, der an offiziellen Kneipabenden die grüne Mütze anlegte, zum Säbelduell fordern zu können ... und was es nun erst bedeuten mußte, wenn sie ihm zumutete, seine Forderung zurückzunehmen, ohne daß eine Sühne erfolgt war ... ohne selbst eine formelle Bitte um Entschuldigung ... denn als eine solche konnte doch der Besuch des Majors, seine unverblümten Drohungen, die Erlistung des Briefes und des Geldes aus der Hand der hilf- und ahnungslosen Mutter unmöglich aufgefaßt werden ...
Immerhin — hier war der Ansatzpunkt. Die Sache mußte dem Studenten so dargestellt werden, als habe der Major den Auftrag gehabt, eine Bitte um Verzeihung im eigenen Namen und im Namen seines prinzlichen Zöglings zu überbringen ... als ob er diese Bitte auch tatsächlich überbracht habe ... und wenn sie, die Beleidigte, sich mit dieser Genugtuung einverstanden erklärte, dann war ja doch wohl für ihren Beschützer kein vernünftiger Grund mehr, seine Forderung aufrecht zu erhalten ... und alles in schönster Ordnung ...
Alles in Ordnung? Nein ... Jucunda war ein viel zu klarer Kopf, als daß sie die Folgen des Geschehenen nicht zu Ende gedacht hätte ...
Also er zieht seine Forderung zurück, und dann? Nun dann ist er, auf gut deutsch gesagt, der unrettbar Blamierte ... Er ist aus dem Korps ausgetreten und hat ein Mitglied des Korps gefordert — die Forderung ist zwar nicht zum Austrag gekommen, aber die unsühnbare Feindschaft zwischen den beiden jungen Männern besteht — sie können nicht mehr auf der Kneipe zusammensitzen, nicht mehr die gleichen Farben tragen ... Und da das Korps seiner ganzen Tradition nach, um seiner Beziehungen zu Hof, Behörden, Gesellschaft willen den Prinzen nicht fallen lassen kann, so wird eben Pilgram dran glauben müssen ... Er hat sein Band verloren, ist ausgeschieden aus dem Kreise der Freunde seiner Jugend ... All das tapfere Ringen, Mensuren, Chargen, verbummelte Semester umsonst ...
Das alles wußte Jucunda und wurde sich im angestrengten Nachsinnen weniger Minuten über all diese Folgen klar, mitleidslos gegen sich und ihn ...
Und wieder meinte sie sein hartes, herrisches Gesicht zu sehen, wie es weich, selbstlos, opferfreudig aufglühte um ihrer Ehre willen ...
»Sie haben weinen müssen — — — das sollen sie mir bezahlen, die zwei ...«
Wie gut, wie tapfer, wie ... heldenhaft seine Worte, seine Tat ... und nun?!
Hieß das nicht ... ihn schmählich verleugnen ... wenn sie nun zurückwich, sie ... und dadurch seiner Tat den ritterlichen Glanz raubte ... sie zu einer Narrensposse, zu einem Dummenjungenstreich erniedrigte?
Aber ... ihre eigene Zukunft? Ihre Karriere? War das nicht alles, alles das, was der Major ihrer Mutter angedeutet hatte ... waren das nicht alles Wahrheiten?!
Einen Augenblick lang war sie geneigt, das alles in den Wind zu schlagen ... Pah ... Engagement in Frage gestellt ... Bericht gegen sie beim Hof in Meiningen ... War sie nicht Jucunda Buchner? Brauchte sie die Hoftheater? Oder brauchten die Hoftheater — sie?!
Ach nein ... So stand es doch nicht ... Man war nicht immer achtzehn Jahre, nicht immer eine neue Entdeckung, eine Sensation, eine Mode ... Jucunda wußte schon viel, viel zu viel von den brutalen Gesetzen der Macht, der Laune, des Glücks, des Wechsels, welche die schillernde Welt regierten, in der es ihr bislang so herrlich, so unverdient und unfaßbar glänzend gegangen ... sie dachte an ihre alte, verknitterte Garderobiere, die auch einmal eine vergötterte junge Liebhaberin gewesen war — freilich nur am Stadttheater in Stallupönen, aber je höher der Anstieg, um so grimmiger die Gefahr, um so steiler und zerschmetternder der Sturz ... Nein, beim Theater konnte sich niemand erlauben, nur auf sein Talent, seine eigene Kraft und Persönlichkeit zu bauen und die Gunst der Mächtigen, der Brotgeber leichtsinnig zu verscherzen ... Niemand konnte sich das erlauben, auch Jucunda Buchner nicht ...
Er ... oder ich — — so stellte sich schließlich die Frage ... und waren da die Chancen nicht doch zu ungleich? Schließlich ... ersparte sie nicht auch ihm durch ihren Entschluß, ihn fallen zu lassen, das größere Opfer, das noch ausstand? Das Risiko eines, nein zweier Zweikämpfe mit schweren Waffen, unter den schärfsten Bedingungen? Ersparte sie ihm nicht den definitiven, den viel größeren, gar nicht wieder gut zu machenden Skandal?!
Eine ... Enttäuschung ... eine schmerzliche Wunde für sein jugendlich enthusiastisches Empfinden bedeutete es ihm, wenn sie sich zurückzog ... mehr doch nicht ... Für sie aber stand ihre ganze Zukunft, ihre Zukunft als Künstlerin wie ihre materielle Existenz auf dem Spiele ...
Gab es da eine Wahl?
Und letzten, allerletzten Endes: Hatte er das alles nicht sich selber zuzuschreiben? Hatte sie ihn um seinen Schutz — gebeten?! Nein, das hatte sie nicht getan, mit keinem Wort, keinem Blick ... Er hatte sich zum Verteidiger ihrer Ehre aufgeworfen ... Hatte sich eigentlich, wenn man es einmal mit einem etwas scharfen Ausdruck bezeichnen wollte, aufgedrängt ... Und hatte sie nicht alles Mögliche versucht, ihn von diesem unerbetenen Opfer abzuhalten?! Aber er war ja fortgestürmt, als ging's um seine eigene Ehre, um sein Leben ...
Jucunda stand am Fenster, noch immer regungslos. Und hinüber, herüber schossen die Gedanken, anklagend und entschuldigend ...
Mutter Doris saß ganz still und gedrückt in ihrem Kanapee ... Daß sie eine furchtbare Dummheit gemacht, als sie das verhängnisvolle Briefchen aus der Hand gegeben ... das war ihr nun völlig klar ... Ihre spießbürgerliche Verschlagenheit sagte ihr ja nun selber, daß man aus solchen Beweisstücken Kapital hätte schlagen müssen ... Selbstverständlich nicht im materiellen Sinne — o nein, so etwas hatte man ja gottlob nicht nötig ... Aber man kann doch nie wissen, wozu man ein solches Zettelchen einmal gebrauchen kann ... So etwas läßt man sich doch nicht ganz umsonst aus den Fingern drehen ...
Und dies Bewußtsein: die einzige Waffe, die ihre Tochter besaß, blöde, gedankenlos aus der Hand gegeben zu haben — das machte sie klein und stumm ...
Jucunda schloß unterdessen ab. Ganz kühl, ganz klar hatte sie alles abgewogen. Nein, es ging nicht ... Sie konnte sich nicht, wider ihre innersten Lebensinteressen, von dem Don-Quichotte-Streich des jungen Burschen durch dick und dünn fortschleppen lassen ... Losketten mußte sie das Schiff ihres Glücks von der toll und steuerlos dahinrasenden Fahrt des überheizten Dampfers, der sie so mir nichts dir nichts ins Schlepptau genommen ...
Und doch ... und doch ...
'Sie haben weinen müssen ... Das sollen sie mir bezahlen ... die zwei ...'
Wenn man — diesen Ton, diesen Blick nur los werden könnte ...
Pah ... Es mußte sein ...
Und schließlich und endlich — wer war Herr Pilgram?! Ein gleichgültiger junger Mensch, von dem sie nichts wußte, als daß er sie einmal sehr grob in ihrer Arbeit gestört ... sich für diese Grobheit dann freilich sehr manierlich entschuldigt ... und eine Abendstunde mit ihr geplaudert hatte ... in der sie, das wußte sie ganz genau, ihm nicht die leiseste Andeutung einer Sympathie gemacht hatte, die sie ja auch nie empfunden hatte ... Denn schließlich, sie machte sich ja doch nicht das mindeste aus ihm ... Er war ein kreuzbraver, aber doch durchaus alltäglicher Geselle ... Ja, wenn noch etwas in ihrem Herzen sich geregt hätte bei dem Gedanken an ihn ... die Ahnung von etwas Besonderem ... wie sie es eben, vor einer halben Stunde, so deutlich gefühlt hatte im Gespräch mit ... jenem andern grünbemützten Studenten, in dessen Zimmer sie jetzt stand ... der so schöne Verse machen konnte und so seltsam verhaltene Worte reden... in dem irgend etwas gärte und brodelte, das ihrem eigenen Wesen und Wollen auf eine geheimnisvolle Weise verwandt war ...
Nein ... Herr Pilgram war ... irgendein Herr Pilgram ... war nichts und niemand ... Herr Pilgram hatte sich in ihr Leben eingedrängt ... man würde ihn mit möglichster Schonung, doch unmißverständlich wieder hinauskomplimentieren müssen ...
»Es ist gut, Mutter ...« sagte Jucunda und wandte sich ruhig um. »Ich will Herrn Pilgram schreiben ... jetzt gleich ... er soll seine Forderung zurückziehen ... Den Brief kannst Du ihm hernach — wenn wir aus dem Theater nach Hause kommen — dann kannst Du ihm den Brief auf die Stube legen ... Hoffentlich ist er nicht zu Hause, wenn wir kommen — sonst — na sonst mußt Du ihm den Brief eben geben.«
»Na, das is verninft'g von Dir, Mädchen!« seufzte die stattliche Frau und atmete tief auf, daß die Korsettstangen knackten. »Hier, mache nur schnell ... Da is ja der Schreibtisch, und Briefpapier liegt ooch genug herum — gleich setz' Dich und schreib'! Kannst Dich ja hernach bei dem Herrn entschuld'gen ...«
Jucunda ging zum Schreibtisch des Studenten hinüber, fand Briefbogen, entdeckte aber, daß sie sämtlich oben in der linken Ecke den Zirkel des Korps Franconia und darunter das Monogramm des Eigentümers trugen. Da drehte sie kurz entschlossen einen Bogen herum und schrieb auf die Rückseite:
»Leipzig, den 31. Oktober 1888.
Sehr geehrter Herr!
Ihr ritterliches Eintreten für mich hat den gewünschten Erfolg gehabt: die beiden Herren, die mir diesen abscheulichen Brief geschickt haben, haben mündlich bei mir um Entschuldigung gebeten. Ich bin über diese Lösung hocherfreut und danke Ihnen innigst für Ihren gütigen Beistand, ich weiß wohl, daß Sie mir ein großes Opfer gebracht haben. Nun ist der Zweck Ihres Handelns erreicht. Bitte tun Sie mir nun auch den Gefallen und nehmen Sie so bald als möglich Ihre Herausforderung zum Duell zurück, damit nicht noch weitere Unannehmlichkeiten entstehen.
Ich bin mit der nochmaligen Versicherung meines aufrichtigen Dankes
Ihre ganz ergebene
J. B.«
In einem Zuge, ohne Besinnen, hatte Jucunda geschrieben: Nun überlas sie die Zeilen und wunderte sich, wie klar und einfach und selbstverständlich das alles klang. Und darum wunderte sie sich noch viel mehr, weshalb ihr nur so übel dabei zumute war. Sie hatte ja doch recht, tausendmal recht ... Es war eine so klare vernünftige Lösung — es konnte ja doch schlechterdings nicht anders gemacht werden ...
'Sie haben weinen müssen ... Das sollen sie mir bezahlen, die zwei ...'
Das war ja doch eigentlich ein Unsinn ... Was gingen ihn, den fremden jungen Mann, ihre Tränen an? Was berechtigte ihn, für diese Tränen Sühne zu fordern? Da war irgend etwas, das stimmte nicht ... ein Fehler, ein Gedankenfehler ... Und aus diesem Fehler war alles entstanden ...
Dennoch ... Sie fühlte es ganz deutlich: Um das törichte, unbesonnene Handeln des Jünglings war etwas Leuchtendes, etwas, das den Taten des Mädchens von Orleans verwandt war ... Und es war wie in Talbots Worten, des eisigen Vernünftlers, dessen hundeschnäuzige Kriegsmathematik vor dem frommen Wahn der Jungfrau zusammenbrach:
»Unsinn, du siegst ... und ich muß untergehn ...«
Und während Jucunda Buchner den Brief kuvertierte und die Adresse darauf schrieb:
»Herrn Stud. Pilgram«
— seinen Vornamen entsann sie sich auf der Visitenkarte gelesen zu haben, die er an seine Tür genagelt hatte, aber er wollte ihr nicht einfallen — als sie so schrieb, da empfand sie es ganz deutlich, ganz unabweisbar, daß sein Tun gut und groß gewesen war ... und ihres frostig und häßlich und gemein ...
»Da, Mutter, steck den Brief in Deinen Pompadour ... und jetzt« — sie zog die Uhr — »sieben bereits!« Donnerwetter! Jetzt revidierte der Inspizient drüben schon die Garderoben! Teufel auch — höchste Zeit ins Theater — »Vorwärts, Mutter!«
»Willste nich Deine Kollegin daneben abholen?«
»Na — die wird wohl schon hinüber sein — aber ich kann ja mal nachsehen ...«
Sie klopfte an die Tür des Nachbarstübchens, und da keine Antwort kam, klinkte sie auf. Die kleine Kammer lag dunkel und still. Nur durch die Fenster fiel der Schein der Gaslaternen von der Straße durch die Gardinen, malte ein paar große Rechtecke an die weißgetünchte Decke. Also Asta Thöny warf sich drüben bereits wieder in den steiflinigen Brokat der Agnes Sorel ...
»Sie ist schon hinüber — und kommt doch erst im ersten Akt — und ich muß schon zum Prolog 'raus ... Glücklicherweise nur das Bauernkleid ... Vorwärts, Mutter ...«
Das hatte sie freilich nicht sehen können oder wenigstens nicht gesehen in der Finsternis, daß auf dem Sofa noch einsam und regungslos der junge Student gesessen hatte, das Poetlein, um dessen »schwindelschmalen Pfad Abgründe klafften rechts und links ...«
Daß er noch immer da saß, seitdem das Mädchen sich aus seinen Armen gerissen ... Alle Glieder und das Herz wie mit Blei beschwert vor trunkener Zärtlichkeit, sein ganzes Wesen durchschauert von Erfüllungsglück ...
Jucunda schritt über den Hof, der mit Dekorationsstücken vollgepfropft war, die zum Schutze gegen den Regen mit Wachsleinwand verhangen waren — stolperte über die Beine des ausgestopften schwarzen Pferdes, dessen Leichnam im dritten Akt so überzeugend die Stimmung des blutgedüngten Schlachtfeldes heraufbeschwor — nahm dies Stolpern für ein gutes Omen, hastete weiter, so schnell, daß Mutter Doris in weitem Abstande hinter ihr drein schnaufte ... Und als sie nun das schmale Pförtchen aus Eisenblech öffnete, das zum Bühnenraum führte, als ihr der vertraute Dunst von Schminke, wirbelndem Staub und Menschenbrodem entgegenschlug, als sie den schlechterleuchteten Korridor, den halbdunklen Bühnenraum kreuzte, auf dem die Arbeiter eben den Prospekt zum Prolog anbohrten ... als sie dann die hallende Steintreppe hinanflog, in ihr Kämmerchen schoß, wo die zerknitterte Krausen herzklopfend ihrer harrte — (»Ach Gottchen nee, gnäd'ges Fräulein, daß Se nu endlich kommen! Der Inspizient und der Herr Oberregisseur sind schon sechsmal mind'stens dagewäsen nach Ihn' fragen!«) als ihr weißes Gewand, als das blanke Eisen ihrer Rüstung, ihres Helmes aufgleißten im hellen Licht der Spiegellampen —
— da fühlte sie, wie alles, alles abfiel, was dieser Tag ihr Fremdes, Verworrenes, unheimlich Störendes gebracht. Fühlte, daß sie noch dieselbe war wie gestern abend um diese Stunde — dieselbe, die sie immer sein würde, so oft der Rausch des Komödienspiels, des Im-Spiele-Gestaltens über sie kam.
Sie riß die Taille ihres Straßenkleides ab, reckte die herrlichen Arme, schmetterte durch den Raum, daß die Wände wankten:
Ja, es parierte, das erzene Organ ... vor dem sogleich die anderthalb Tausend da drunten erzittern würden ... Ja, sie war es noch, um derentwillen die alle da draußen vor allem doch gekommen waren — die Heldin des Stückes, die Heldin dieses Abends ...
Kaum stand sie im Bäuerinnengewand, die braunen Haare zu schlichtem Flechtenbau um das runde Haupt gelegt, da trat Franz Burg ein, im ledernen Koller bereits, doch noch ohne das rasselnde Blech drüber, noch ohne Maske:
»Nun, Langbeinchen? Das kennt man ja gar nicht von Ihnen, daß Sie mal zu spät kommen! Wie ist die Stimmung?«
»Prima prima!« lachte sie und leuchtete den Freund an.
»Nichts Neues in der Affäre?« fragte er leise.
»Nichts von Belang ... Ich denke, es renkt sich ein.«
»Oh!« Franz Burg zog die tiefschattenden Augenbrauen hoch — »das wäre aber jammerschade ... Können Sie denn nichts dazu tun, daß die Geschichte mit dem nötigen Theaterdonner zum Klappen kommt?«
»Ach ... Ich bin froh, wenn sie aus der Welt ist ... Ich muß freien Kopf haben, freie Arme zum Arbeiten, zum Schaffen ...«
»Soll ich Ihnen mal was verraten? — Ihr Erbprinz ist im Theater — hat noch vor einer halben Stunde einen Levkoyen geschickt und eine Loge bestellen lassen ... Da alles futsch war, hat der Intendant die Direktionsloge zur Verfügung gestellt ...«
»Hm ... Das ist ja interessant ... Werde mir den jungen Herrn doch mal anschaun ...«
»Sie kennen ihn noch gar nicht?«
»Keine Ahnung ...«
»Na — die Hauptsache ist: Er ist da — jedenfalls ein Beweis, daß man nicht ungnädig ist ... Na, die Reklame haben Sie verscherzt, nun halten Sie sich wenigstens den hochgeborenen Verehrer warm ...«
Der Inspizient steckte den Kopf zur Tür herein:
»Fräulein Buchner — bitte auf die Szene!«
»Also, Langbeinchen, wieder mal: Hals- und Beinbruch!«
»Danke, Meister!«
Mit Wohlgefallen sah Franz Burg der weißen, stolzen Gestalt nach. Künstlerblut! dachte er, kennt nichts als sich und ihre Arbeit ... Alles andre ist Dreck ...
Und Jucunda schritt die Treppe hinunter. Alles grüßte mit vertraulicher Höflichkeit, wenn sie vorüberging: die Friseure, die Bühnenarbeiter, die Statisten, die Volontäre ...
Und in ihrer Seele schwoll die unbändige Lust des Schaffens. Es schwang und klang in ihr von dröhnendem Jambenstrom und schmelzender Trochäenklage ... »Frommer Stab, o hätt' ich nimmer mit dem Schwerte dich vertauscht« ... Kaum konnte sie das Maß, die scheue, entrückte Gebärde für die Stimmung des Anfangs finden, da sie noch ein schlichtes Hirtenmädchen ist, von geheimen Stimmen, phantastischen Visionen geängstigt, doch ihrer Sendung noch ahnungsvoll unbewußt ...
Und endlich rauschte die Gardine empor, wogte drunten das Gebraus, das wohlbekannte, von Zettelknistern und Räuspern und Zurechtrücken, klappten die Sitze der Zuspätkommenden, tönte das leise Zischen der Gestörten ... Und all dies wirre Durcheinander verebbte nach und nach, und die große schaurige Stille ward, in die ihrer Partner Verse hineinklapperten, wie eine belanglose Ouvertüre, ein gleichgültiger Auftakt des Augenblicks, da sie die ersten Worte zu sprechen haben würde ... Ach, aber wie endlos lang dieser Auftakt! Die kamen ja heut wohl gar nicht vom Fleck, der alte Thibaut, ihre Schwestern, die Bräutigame — biedre Chormitglieder, die heute ein paar Verse zu lallen hatten ...
Gesenkten Hauptes, stumm stand das Hirtenmädchen im Hintergrund ... Nur zuweilen hob sie zaghaft und scheu die großen Augen, ließ sie von einem zum andern flattern, als verstände sie die Sprache ihrer nächsten Menschen nicht mehr ... Und aus den verträumten Augen Johannas d'Arc spähte Jucunda Buchners ganz wacher, lauernder Sinn in den Zuschauerraum, dorthin, wo dicht an der Rampe links die Direktionsloge lag ... Die Lichter blendeten abscheulich — dennoch konnte sie allmählich ganz vorn, matt angestrahlt vom Widerschein des hellen Bühnentages, zwei Gesichter erkennen: ein fahles, junges mit der blinkenden Scherbe im Auge — und daneben ein verwettertes, tiefgebräuntes mit flatterndem Schnurrbart ... Also das waren die zwei — »von Dillingen — von Gorczynski« — das waren die Schreiber des verhängnisvollen Briefchens — die Spender des Rosenturms und der ... beiden ... blauen ... Lappen ...
Achtung jetzt! Bertrand kommt, den blinkenden Helm in der Hand, den »ein Bohemerweib« ihm aufgedrungen im Gewühl ... Gleich wird das Stichwort kommen ... Horch ... Die letzten Verse rannen hin:
In diesem Augenblick versank alles, alles ... Jucunda Buchner versank, und nichts mehr war als Johanna von Orleans ... Die schoß nun wie ein Meteor aus der scheuen Zurückgezogenheit vor, riß dem alten Bauern den Helm aus der Hand:
Erschrocken fragt der Alte:
Und wie eine Fanfare jauchzt es aus der endlich entfesselten Brust der jungen Heldin:
Alles — alles ist versunken — nur eines wirkt und wogt: der große Rausch des Schaffens ...
Und Johanna wurde erst wieder Jucunda, als nach dem ersten großen Monolog die Gardine sank und gleich darauf, wie hinweggerissen vom Orkan des Beifalls, wieder emporrauschte ... als tausendstimmiger Jubelruf sie umbrandete ...
Da war Jucunda wieder da — ganz wach, ganz klar ... Und sie neigte sich ... neigte sich zuerst mit tiefem Hofknix nach der Direktionsloge.
Als Herr Borgmann Neo-Borussiae das Hotel Hauffe verließ und verloren, ziellos nach dem Augustusplatz hinüberschlenderte, kam er sich entsetzlich dumm vor. Was sollte er nun seinem Auftraggeber und Doppelgegenpaukanten ausrichten? Man hatte seine Forderung nicht angenommen, aber auch nicht abgelehnt ... Ein Witz ... aber ein fader ... Ist bei Ihrem Auftraggeber eine Schraube los? Rabiater Bursche — ich danke für einen Skandal ... Koller ... Pathologischer Zustand ... Verlange absolut geräuschlose Erledigung ... Rechne dabei auf Ihre Mitwirkung ... Das waren so ungefähr die Schlagworte, die Herrn Borgmann noch im Gedächtnis hängen geblieben waren und nun in der korrekten Chargiertenseele einen tollen Tanz vollführten ... Ja, was sollte man auch einem Prinzen antworten, der von korpsstudentischer Direktion und Haltung keinen Schimmer hatte? Der eine so blutig ernste Sache wie eine Säbelforderung einfach behandelte ... wie ... na wie einen Hanswurststreich ... wie einen faulen Kalauer?!
Und das hatte man sich gefallen lassen? Man hatte Ja und Amen gesagt zu der ungeheuerlichen Zumutung, nach solch einem Affront auch noch an einer ... hm, hm! geräuschlosen Beilegung mitzuwirken?!
Herr Borgmann nahm die weiße Mütze mit dem weiß-schwarz-weißen Randstreifen ab und tupfte die von weißblonden, seltsamerweise schon etwas gelichteten Haaren umsäumte Stirn. Was konnte man seinem Auftraggeber nun eigentlich berichten? Hatte der Prinz irgend eine Erklärung zur Sache selbst abgegeben? Eine Entschuldigung bei der beleidigten jungen Dame in Aussicht gestellt? Nicht das mindeste ... Er hatte nichts weiter geäußert als Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Mandanten — und das kategorische Verlangen, die Sache müsse aus der Welt geschafft werden!
Na, und du, Wilhelm Borgmann, Neo-Borussiae gewesener Zweiter, Erster?! Was für eine Antwort hast du gefunden?
Gar keine! Völlig aus dem Konzept hat man dich gebracht, verblüfft, verhohnepiepelt ... Schindluder hat man mit dir getrieben, ganz einfach!
Und warum? Warum hast du nicht aufgemuckt? Warum hat deine ganze mühevoll erworbene korpsstudentische Direktion, deine Haltung, dein Schimmer dich verlassen? Weil dies junge hagere Herrchen im hellblauen Dragonerüberrock mit den silberblinkenden Knöpfen ein ... Prinz von Geblüt war ... Da war von deiner Spießbürgerseele der dünne Firnis des Kavaliers abgefallen, den man dir in einer Dressur von fünf Semestern aufgepinselt — und du warst in Lakaiendevotion submissest zusammengeknickt!
Und drüben im Theaterrestaurant sitzt der unglückselige Pilgram, weiland Franconiae, und wartet auf Antwort ... Wartet auf das Schicksal ...
Ja, was sagt man ihm nur? So wie die Geschichte in Wirklichkeit abgelaufen ist, so kann man sie ja gar nicht erzählen — der rabiate Bursche schlägt sonst Krach! Das muß man sich erst ein bißchen zurechtlegen ...
Herr Borgmann suchte einen Zufluchtsort. Café Felsche? Viel zu viel Betrieb jetzt da, wahrscheinlich auch ein Tisch voll Neo-Borussen — —
Ein Einfall! Das Museum! Das war zu dieser Stunde vielleicht noch geöffnet ...
Und Studiosus Borgmann tat etwas, was ihm in seinen fünf Semestern, die er in Leipzig zugebracht, noch niemals passiert war: Er ging ins Museum hinein, stieg die prächtige Marmortreppe hinan, schritt gleichgültig durch die Säle voll bemalter Lappen in goldenen Rahmen und versank in einem Plüschsofa des großen Oberlichtsaales ... Und sann, wie er die Sache deichseln könne, ohne seine Blamage eingestehen zu müssen.
Inzwischen saß Valentin Pilgram in regungslosem Warten in einer dunklen Ecke des Theaterrestaurants. Was werden würde? Nun das war ja ganz klar: Sowohl der Major als auch der Erbprinz, der die Charge eines Rittmeisters bekleidete, würden die militärisch korrekte Erklärung abgeben, daß sie die Tatsache der erfolgten Forderung ihrem zuständigen Ehrenrat unterbreiten würden ... Der würde dann einen formellen Ausgleichsversuch machen — wenn dieser, wie selbstverständlich, gescheitert wäre, würde der Erbprinz einen Ersatzmann stellen, einen möglichst fechtgewandten Offizier eines Gardekavallerieregiments ... Und dann stiegen eben die beiden Partien ... Na Himmel, das hatte man ja doch schon fünfmal durchgemacht — zwar nicht unter ganz gleich schweren Bedingungen ... Aber — na ja, Eisen ist Eisen, und fechten haben wir ja gottlob gelernt ...
Und dann ...
Valentin Pilgram versank in Träume ... Dann mußte irgend etwas kommen, etwas Schönes, von dem man sich keine rechte Vorstellung machen konnte. So ganz ohne Dank und Lohn würde man ihn doch nicht laufen lassen ...
Dank und Lohn? Aber wie?
Valentin Pilgram hatte bewiesen, daß er bereit war, sich jeden vors krumme Messer zu langen, der an dies Mädchen anders dachte denn an eine Heilige ... Und Heilige ... Wie belohnen sie denn?
Mit ihrer Gnade ... Mit Fürsprache im Himmel ...
Sie belohnen von ferne ... Mit Gaben, für die man sich auf Erden verdammt wenig kaufen kann ...
Na, und das wird ja auch wohl dein Fall sein, mein guter Valentin — nicht wahr?!
Na — und wenn auch! Wir haben eben getan, was wir mußten ...
Ein alter Reckenspruch aus den goldenen Tagen des Rittertums klang ihm durch den Sinn:
Pour moi ... Na eben, das war's: das Bewußtsein: So gehört sich's — und so hab' ich's gemacht ...
Endlich! Da kam sein Kartellträger ...
»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Borgmann ...«
»Gewiß, gern ... Herr Ober, eine Schale Schwarz ...«
»Also ... Angenommen?«
»Hm ... Die Herren haben Erklärungen abgegeben, die vielleicht ... als befriedigend gelten könnten ...«
»Was! sie kneifen?!«
»Hm ... Doch wohl etwas zu schroffer Ausdruck ... Der Prinz hat den Major beauftragt, die Angelegenheit in Güte zu arrangieren ... Ich nehme also an, daß er Familie Buchner im beiderseitigen Namen um Verzeihung bitten wird ... Was macht's, Ober? Fünfundzwanzig? Schön — ziehen Sie fünfunddreißig ab ...«
Valentin Pilgram war wie vor den Kopf gestoßen.
In Güte arrangieren ... Fräulein Buchner um Verzeihung bitten ... Hm ... Verteufelt einfache Lösung ... Und das hatte man sich nicht mal im Traume vorgestellt, daß es so kommen würde ... kommen ... müßte ...
Himmel ja — man war eben Korpsstudent — trat für alles, was man gesagt und getan — selbst in der Hitze gesagt und getan — für das trat man eben stramm und rücksichtslos ein mit Waffe und Blut, mit Schädeldach und Nase, mit Brustbein und Armknochen — konnte sich gar nicht vorstellen, daß jemand auswich — revozierte und deprezierte — den Schwanz einzog und ... na eben kniff.
Und ... jeden andern Kneifer durfte man einen Kneifer schimpfen ... Dieser aber stand außerhalb der Lebensgesetze der akademischen Welt — der er pro forma doch angehörte ... Der konnte sich eine Kneiferei leisten, obwohl er doch auch Student, offiziell sogar Korpsstudent war ...
Was für ein Hohn ... Was für eine blöde Farce!
»Hm ... Und Sie meinen, Herr Borgmann — mit diesen Erklärungen müsse ich mich begnügen?«
»Ich ... glaube wenigstens nicht, daß ... nach diesen Erklärungen ... das Ehrengericht Ihre Forderung noch genehmigen würde, wenn Sie darauf bestehen wollten ... Selbst ein S. C. Ehrengericht nicht ... Aber vor das kommt die Sache ja überhaupt nicht ... Die kommt vor den Offiziersehrenrat ... Na und der wird eben selbstverständlich die Sache für erledigt erklären unter diesen Umständen ...«
Ach so ... Also alles in schönster Ordnung ... Die Ehre der angegriffenen jungen Dame in integrum restituiert durch die Deprekation ... und nur er selber ... er selber um sein Korpsband gekommen ... und eigentlich ... der ... Blamierte ...
Hm ... es stimmte ... Da war nichts zu machen ... Aber auch gar nichts ...
Ja ... Wie war denn das aber möglich? Hatte er denn irgend einen ... Fehler gemacht?
Nein ... Er hatte den Geboten der Ehre, der Ritterlichkeit gefolgt ... Und was sich da wider ihn aufreckte ... das war etwas, was er bis dahin noch nicht geahnt hatte — der Unsinn des Daseins ... die Tragikomödie des Idealismus ... dieses phantastischen romantischen Idealismus, der den eigenen Adel, die eigene heroisch-naive Auffassung von Pflicht und Ehre noch für das Gesetz des Weltganges hält ...
Valentin Pilgram stand auf ... stumm ... stieren, korrekten Antlitzes.
»Ich danke Ihnen verbindlichst für Ihren gütigen Beistand, Herr Borgmann ... Nun, dann wird sich die Sache ja wohl in aller Güte und Freundschaft erledigen ... zwischen den ... Nächstbeteiligten ... Adieu, Herr Borgmann ...«
Donnerwetter — dachte Wilhelm Borgmann — das hat besser gegangen, als ich mir's träumen ließ ...
Valentin Pilgram irrte durch die Straßen ... Dies Menschengewoge, der Spätherbstglanz über der Welt, die Wagen, die klingelnde Pferdebahn, das alles machte ihn rasend. Er floh ins Rosental, strich ziellos durch die Laubgänge ...
Jucunda! Das war sein einziger Trostgedanke ... Jucunda würde zu ihm stehen ... ihm danken, ihn belohnen ... irgendwie ... für alles, was er ihr geopfert ...
Er rannte immer weiter, immer tiefer ins Holz hinein — über die Elster hinüber, kreuzte die sumpfigen Wiesen jenseits der Marienbrücke, verlor sich in den braunen Forsten des Leutzscher Holzes. Es kam die frühe Dämmerung, es wurde feucht und frostig unter dem Laubdach, von dem langsam Blatt um Blatt niederrieselte im melancholischen Schweigen des windstillen Herbstabends — Valentin Pilgram bemerkte es nicht. Und wie die Fledermäuse, die lautlos um die schattenhaften Säume der Gebüsche schwirrten, über den perlmuttfarbenen Spiegeln der Sumpfteiche huschten, so flatterten durch des wackern Gesellen Hirn die aberwitzigen Gedanken.
Er hatte doch recht getan — gehandelt wie ein Mann und Kavalier ... Und eine lächerliche Blamage war die Folge ... Das Korpsband, das geliebte, war von seiner Brust hinweggeweht, wie ein klagender Abendhauch die ziehenden Nebelstreifen dort auf den Wiesen hinwegstreifte ...
Das konnte doch das Ende nicht sein — so dummejungenmäßig beiseite geschoben werden, das war doch kein Abschluß für Valentin Pilgrams stolze, prangende Burschenherrlichkeit ...
Nein ... Es mußte noch irgend etwas kommen — die Ahnung irgend eines süßen oder schrecklichen Ereignisses düsterte durch die Seele des einsamen Wanderers.
Es war schon Nacht, sternüberflimmerte Spätherbstnacht, als er vor sich die dunklen Umrisse des Leutzscher Bahnhofes auftauchen, die grellfarbigen Lichter des Bahnkörpers flimmern sah. Eine dumpfe Sehnsucht nach der Stadt zurück überkam ihn plötzlich, nach wogenden Menschenmassen, nach Wagenlärm und glitzernden Schaufenstern. Er erkundigte sich: der nächste Zug fuhr erst in einer halben Stunde. In dem schmutzigen Bahnhofsrestaurant schüttete er hastig, gedankenlos ein paar Glas Bier in die brennende Gurgel. Als der Zug herannahte und er die Börse zog, bemerkte er, daß er an seiner Uhrkette noch den Bierzipfel trug, ein Stück des grün-gold-roten Korpsbandes mit goldenen Beschlägen ... Da hakte er mit einem bitteren Zucken der Mundwinkel den blanken Zierat ab und barg ihn in seiner Brieftasche.
Als er auf dem Thüringer Bahnhof ankam, war es gegen neun Uhr. Er hastete heimwärts. Jetzt war Jucunda im Theater — spielte abermals die Jungfrau ... An allen Anschlagsäulen hing der Theaterzettel, der ihren Namen trug ... Es trieb ihn nach Hause, dahin, wo sie geboren und groß geworden war, eine seltene, phantastische Wunderblume, in einem abgezirkelten, banalen Spießergärtchen erblüht ...
Alles war still und finster in dem engen, muffigen Korridor, als er die Entreetür öffnete. Natürlich, die Eltern waren ja mit im Theater, ihr Goldkind zu bewundern ...
Er suchte seine Zündholzschachtel, fand sie, aber sie war leer. Vergebens tappte er nach Licht. Die Tür zur Wohnstube war angelehnt, ein matter Lichtreflex von der Straßenbeleuchtung fiel heraus. Valentin konnte der Versuchung nicht widerstehen und trat ein. Stumm und dunkel und dumpfig lag das Zimmer. Dort am Fenster hatte er mit ihr gestanden — wann doch nur? Vor einer Ewigkeit?! Pah — es war noch nicht vierundzwanzig Stunden her ... Und hier auf dem verschlissenen Plüsch hatte sie gesessen, das weiße Königinnenhaupt zurückgelehnt ... und — wie hatte sie nur gesagt? 'Vielleicht kann ich doch einmal einen Ritter gebrauchen — dann will ich an diese Stunde denken und Sie rufen ...' Und jetzt? Hatte sie ihn nicht gerufen? — Nein — das eigentlich wohl nicht ... Aber hatte sie nicht geweint?! Sie ... sie ... und hatte geweint um einer bübischen Kränkung willen ...
Und da hatte er getan, was er genau so rasch, so selbstverständlich und geradezu getan hätte für seine Schwesterchen daheim in Dresden ... Und morgen würde ganz Leipzig über ihn lachen ...
Hastig trat er auf den stockfinstern Korridor zurück und tappte nach seiner Stube hinüber. Zufällig bekam er die Klinke zu Jucundas Kammertür in die Hand ... Er drückte sie nieder, und ein Duft wehte ihm entgegen, der ihn mit einem Schwall stummer, wirrer Sehnsuchtswünsche bedrängte. Das Zimmer lag nach einem Seitengäßchen hinaus und war fast völlig finster. Nur aus einem gegenüberliegenden Fenster fiel ein ganz matter Lichtschein hinein. In diesem Schein leuchtete das weiße Bett, schon aufgeschlagen, für die Nachtruhe der Künstlerin ...
Ein Grausen des Verlangens schnürte dem reckenhaften Burschen die Kehle zusammen. Er schloß hastig die Tür und stand einen Augenblick lang in der Dunkelheit. Alle Glieder bebten, seine Kinnbacken schlugen im Frost zusammen. Dann übergoß ihn glühende Scham. Er war der Mann nicht, sich an dem Dunste der Geliebten verstohlen schnüffelnd zu erletzen. Er rannte hinaus, fand endlich die Tür seiner Bude und saß lange mit fiebernden Gliedern in der Finsternis, auf seinem Sofa. Endlich fuhr er auf, schwankte zu seinem Nachttischchen hinüber, machte Licht, zündete die Petroleumlampe an und sah die aufgeschlagenen Repetitorien liegen, wie er sie morgens verlassen hatte, als die Kanzleirätin in sein Zimmer gestürzt war ...
Und eine stumpfe Ruhe kam über ihn. Arbeiten! Arbeiten! Er wühlte sich in die schematisch öde Zusammenstellung der elementaren Grundbegriffe seiner Wissenschaft hinein. Seiner Wissenschaft — ah bah! Die Quelle des Wissens, die hell in seiner Nähe sprudelte, hatte er ängstlich gemieden sieben Semester lang und nur dem Korps gedient ... Nun galt es hastig und mechanisch einen Haufen seelenloser Notizen in sich hineinzustopfen, um den toten Popanz, die pappdeckelne Attrappe einer fadenscheinigen Examensweisheit aufzurichten ...
Immerhin ... wenigstens Vergessen wirkte dies stumpfsinnige Büffeln ...
Und eine Stunde verrann — zwei Stunden ... Plötzlich draußen auf dem Flur die Stimmen der heimkehrenden Familie Buchner. Valentin lauschte angestrengt ... Ob sie ihn denn nicht noch zu sprechen wünschte? Ihm zu danken für die ... glückliche Lösung, die sein Eingreifen doch herbeigeführt?
Und wirklich — es pochte an seine Tür ...
»Herein!«
Mutter Kanzleirätin stand auf der Schwelle. Ein wenig rot und verlegen ... In der schleifenbesetzten Kapuze, dem altmodischen Abendmantel, genau wie gestern, als er sie aus dem Wagen gehoben ...
»Sie wär'n entschuld'gen, Herr Pilgram — hier is Sie nämlich ä Briefchen von meiner Tochter ...«
Ein — Brief? Und warum konnte sie denn nicht selber —?!
So deutlich stand diese Frage in des jungen Mannes starr aufgerissenen Augen, daß Frau Buchner die unausgesprochene beantwortete:
»Nämlich, Se dürfen's ihr nich iebel nähm', selber kann se's Ihn' nich sagen, sie is Ihn' nämlich gar zu sähre angegriff'n von der Vorstellung ... Gut Nacht, Herr Pilgram, wünsch' gute Ruh ...«
Und hastig war die massive Gestalt aus der Tür ... Nur der Brief blieb zurück, lag weiß und fremd auf dem fleckigen, grellgemusterten Tischtuch.
Mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge nahm Valentin das Kuvert und studierte die großen, fahrigen Züge der Aufschrift:
»Herrn Stud. Pilgram ...«
Weder Fakultät noch Vorname ...
Was steht darin? Nun, es kann doch nur eins sein: Dank und abermals Dank, feuriger, inniger Dank ...
Er riß den Umschlag auf und las:
»Sehr geehrter Herr ...«
Er las und las ... »erwünschte Erfolg« — »Herren haben mündlich bei mir um Entschuldigung gebeten« — »danke Ihnen innigst« — »großes Opfer« — »Zweck erreicht« — »nehmen Sie Ihre Herausforderung zurück, damit nicht noch ... weitere ... Unannehmlichkeiten entstehn ...« — »mit der nochmaligen Versicherung meines aufrichtigsten Dankes Ihre ganz ergebene ...«
Na ja ... na also ...
Völlig korrekt das alles ... Nichts fehlte, was man so erwarten und verlangen konnte ...
Nichts fehlte ... gar nichts ...
Valentin Pilgram sah lange und regungslos in den hellen Lichtkegel der Petroleumlampe, bis die Augen ihn zu schmerzen anfingen.
Na ja ... na also ...
Und endlich klappte er den Brief zusammen. Wollte ihn in den Umschlag schieben ... Da auf einmal blieben seine Augen an etwas hängen, das er nicht begriff. Auf der letzten Seite des Bogens, am unteren Rande und mit dem Kopfe nach unten, fand sich ein Monogramm aus den Buchstaben T und H und darüber der Zirkel eines wohllöblichen C. C. der Franconia zu Leipzig.
Was war das?!
T. H.? Oder ... H. T.? Und darüber der Frankenzirkel?
Kein Name der verflossenen Korpsbrüder fing mit einem H an, aber mit einem T? Thumser? Hans ... Thumser ... Das ... stimmte ...
Was war das? Wie kam Jucunda Buchner zu einem Briefbogen von Hans Thumser?! Teufel —
Hatte der am Ende den Makler gespielt? Und geholfen, ihm diese ungeheure Blamage einzubrocken?!
Valentin Pilgram dachte nach. Nun, der kleine Thumser war ein Faselhans, hatte den Kopf voll konfuser Ideen, voll unvorschriftsmäßiger, inkorrekter, umstürzlerischer Gedanken über allerhand heilige, unantastbare Dinge, Dinge, die immer so gewesen waren und immer so bleiben sollten ... Sah ein bißchen von oben herab auf alle Menschen und Zustände — aber eine Gemeinheit, eine heimtückische Verräterei und Niedertracht — die war ihm denn doch nicht zuzutrauen ...
Aber — wie war dies — Unfaßbare da — zu erklären?!
War denn irgendeine Möglichkeit, daß Jucunda und der versedrechselnde, kunstsimpelnde Korpsbruder in Berührung hätten kommen können?
Gestern abend — so viel stand fest — kannte Thumser die Künstlerin noch nicht persönlich — hatte zwar die Idee gehabt mit dem Pferdeausspannen, aber nicht ein Wort mit dem Mädchen gewechselt ...
Aber — hatte nicht er selber, Valentin, gestern abend im Gespräch mit der Familie Buchner den Namen Thumsers genannt als desjenigen, der den glorreichen Einfall mit der Pferdeausspannerei ausgeheckt ...
'Dafür hätten Sie 'nen Kuß gekriegt,' hatte Jucunda gesagt ... Noch ganz deutlich entsann sich Valentin einer dunklen Regung von Eifersucht ...
Wär's möglich — sie hätte sich vielleicht an den gewandt um ... um einen Ausweg aus der Verlegenheit, in die Valentin Pilgrams rasche Ritterschaft sie hineingestürzt?!
Oder?! Hatte er — Hans Thumser — die Bekanntschaft eingeleitet? Er wußte aus dem C. C., was vorgefallen war ... Er war sehr schweigsam gewesen im C. C. ... Sollte er diese ... Gelegenheit ... seine Wissenschaft um die Situation — sollte er die benutzt haben, um sich bei Jucunda lieb Kind zu machen?!
Wie es auch sein mochte — es war etwas geschehen zwischen den beiden ... Hans Thumser hatte seine Hand im Spiel — in dem falschen, ränkevollen Spiel, an dessen Ende seine, Valentins, hilflose Blamage stand ...
Himmel und Hölle! Da stand ja auf einmal ein neuer Feind auf — ein Feind, der eine harmlos grinsende Freundesmaske trug ... und einer, der nicht unangreifbar war, wie die andern — nicht geschützt wie diese Jucunda durch ihr Geschlecht — nicht durch Rang, durch Pflichten der Rücksichtnahme, durch die Ausnahmegesetze der militärischen Standesordnung — wie das fürstliche Käsegesicht mit der Scherbe im Auge oder sein schnurrbärtiger Begleiter ...
Einer, den man sich langen konnte!
Ein Korpsbruder?! Pah ... er selber war ja nicht mehr Korpsstudent ... Konnte ramschen, mit wem es ihm beliebte ... Seine Rache kühlen an dem ersten besten, der seinem Grimm in den Weg lief ...
Ja, seinem Grimm — der besinnungslosen Wut, die ihm nun auf einmal in die Augen stieg mit blutrotem Schimmer, ihm Blick und Fassung trübte — daß er aufsprang, die Halsbinde, den Kragen aufriß, um nicht zu ersticken ...
Nebenan raschelten Kleider, klapperten die leisen Tritte müder Mädchenfüße ...
Sie — und nur eine dünne Wand zwischen ihm und seinem Schicksal ...
Er lauschte ... flüsternde Frauenstimmen klangen: Mutter Kanzleirätin brachte wohl das Goldkind schlafen ... Nun knarrte die Tür, nun schlürften die Pantoffeln der Alten über den Korridor, zum ehelichen Schlafgemach hinüber ... Und ein herzhaftes, langgezogenes Gähnen ... Und nun krachte das Bett, rauschten die Kissen ...
Valentin Pilgram saß noch immer steif und regungslos an seinem Schreibtisch und starrte in den Lichtkegel der Petroleumlampe ... Und in der Faust hielt er den halbzerknüllten Briefbogen, der vorne Jucunda Buchners Brief und hinten Hans Thumsers Monogramm und den Frankenzirkel trug ...
Na ja ... Na also — — —!!
Die Franken hatten C. C. gehabt und Chargenwahl vollzogen. Ivo Volkner aus Düsseldorf war Erster geworden an Pilgrams Statt. Hartwig, der Vertreter des Marburger Kartellkorps, hatte die zweite Charge bekommen, und der eben erst rezipierte Jungbursch Feldmann die dritte. Volkner Senior — das bedeutete einen Wechsel des Regimes. Statt des zähen, wortkargen, sparsamen und fechtgewaltigen Sachsen der leichtsinnige, wohlhabende, lebenslustige Rheinländer — das war ein wahrer Umschwung für den Geist des Frankenbundes ...
Hans Thumser säumte nicht, von diesem Umschwung zu profitieren. Alle paar Tage bat er um Dispens zum Besuch der Konzerte, des Theaters, schwänzte regelmäßig Sonnabends das gemeinsame Mittagessen, um der Motette des Knabenchors in der Thomaskirche zu lauschen ...
Und eines Morgens erlangte er gar die Erlaubnis, bei den Meiningern zu statieren ...
Die Meininger ... sie hielten ihn völlig im Bann. Er versäumte keine Premiere. Drama auf Drama reckten sich die genialen Machtschöpfungen der erhabensten Meisterwerke des germanischen Theaters vor dem schönheitshungrigen Auge des jungen Studenten auf ...
Und all die heiße Inbrunst, die solch aufrüttelnde, seelenentzückende Schau in ihm entflammt hatte, die küßte er der zierlichen Asta Thöny auf den feuchten, bebenden Mund ... Es war ein toller Märchenrausch von Begeisterung und Liebe, in dem die Tage, die Nächte dahinrasten. Und so ganz versunken war alles, was sich nicht der Erinnerung aufdrängte, daß er nicht ein einziges Mal auf den Einfall gekommen war, sich nach dem armen Valentin Pilgram umzusehen, mit dem er doch drei Semester lang die gleichen Farben getragen — der aus dem Korps geschieden war um eines Entschlusses willen, den er heiß bewunderte wie alle Korpsbrüder ... Er wußte, die andern pflegten eifrig den Verkehr mit dem ausgeschiedenen Freunde — er nahm sich täglich vor, ihn aufzusuchen, und täglich vergaß er's in seinem Taumel von Sehnsucht und Erfüllung, Erfüllung und Sehnsucht ...
Ja, Erfüllung ... und Sehnsucht ... Denn wenn Hans Thumsers flaumige Jugend in Asta Thönys schimmernden Armen lag, dann am heißesten verlangte seine Seele nach der andern, die Abend für Abend die ganz großen, ganz lichten Visionen der Dichter verkörperte, statt jener kleinen, sündigen, irdischen Geschöpfe, die Asta Thönys Kunst umspannte ...
Aber außerhalb der Bühne hatte er sie niemals wieder zu sehen bekommen — Jucunda, die allvergötterte. Es war ein förmliches Jucundafieber ausgebrochen unter der Leipziger Jugend, der männlichen wie der weiblichen, der akademischen wie der Philisterwelt ... Allabendlich schritt die Künstlerin durch ein jubeltrunkenes Spalier ihrer Verehrer zu ihrem Wagen — nach jeder Premiere wiederholte sich die gleiche Komödie. — Der Kutscher strängte die Gäule schon vorher ab und stellte sie auf Seite und sich daneben, damit ihm die Tiere nicht ganz verrückt wurden und er selber ohne blaue Flecke vom Bock herunterkäme ...
Und Liebesbriefe ohne Zahl, voll ungelenker Gedichte, stammelnder Mädchenverzückung und kecker Jungmännerwerbung flatterten in das bescheidene Kämmerchen an der Katharinenstraße ...
Selbst die Waffenstudenten, deren Gesichtskreis doch sonst mit ihren Couleurangelegenheiten völlig ausgefüllt war, wurden in den allgemeinen Theatertaumel mit hineingezogen. Wenn Jucundas Triumphwagen mit seiner keuchenden, brüllenden Bespannung durch die Straßen südlich des Königsplatzes der Altstadt zurollte, dann blinkten in der Schar der Ziehenden und der Geleitenden die Mützen der Korps neben denen der Burschenschaften, der Turner neben denen der Landsmannschaften — Arion und Paulus wetteiferten mit dem heiligen Wingolf im Dienste der Jucundabegeisterung ... Es war wie im Paradiese, da das Lämmlein bei dem Tiger weidete ...
Und der regelmäßigste Besucher war der Gast der fest abonnierten Proszeniumsloge vorn links vom Schauspieler, neben der Direktionsloge ... war der Erbprinz von Nassau-Dillingen. Zu jeder Premiere schleppten die herzoglichen Leibdiener ein kostbares Blumenarrangement von schier unermeßlichen Dimensionen auf die Bühne, daran ein Kuvert mit geprägtem Wappen hing ... Es enthielt des Erbprinzen Visitenkarte, darauf immer nur die Worte: »In Verehrung« ... geschrieben in einer unausgeschriebenen Knabenschrift. Niemals aber hatte sich Jucunda künftighin über den leisesten Versuch einer Annäherung zu beklagen gehabt.
Und Jucundas Dank beschränkte sich stets auf den Hofknix vor der ersten Parkettloge links ...
»So ist's recht, Langbeinchen,« sagte Franz Burg mehr als einmal zu der jungen Freundin — »so muß man's machen: hübsch in Distanz halten die hochgeborenen Verehrer — aber keinesfalls wegöden ... das hat keinen Sinn — immer warm halten — man kann nie wissen, wozu man so etwas einmal brauchen kann ...«
Und Jucunda begriff. Es blieb doch nicht nur bei dem Hofknix. Wie jeder andre Spender einer Blumengabe bekam auch Erbprinz Heribert ein paar Dankesworte auf goldgerändertem Kärtchen ... Anfangs waren's nur drei konventionelle, schematische Zeilen ... Bei der dritten Spende aber stellte sich ein Zusatz ein:
»Sie beschämen mich, Durchlaucht, — ich weiß nicht, wodurch ich soviel gnädige Anteilnahme verdient habe.«
Das nächste Mal enthielt das wappengeprägte Kuvert an der riesigen Seidenschleife, die in den Nassau-Dillingenschen Landesfarben von einem riesigen Lorbeerrade niederrauschte — enthielt das Kuvert ein Briefchen von zwanzig Zeilen:
»... Sie sind mir böse gewesen, und ich muß leider zugeben, nicht ganz ohne Grund, obwohl ich für die geschmacklose Form der Huldigung, die Ihnen in meinem Namen überreicht wurde, nichts kann. Sind Sie wieder gut? Ich bitte Sie um ein Zeichen ...«
In der Premiere des »Wintermärchens«, die kurz auf dies Briefchen folgte, lockte der tumultuarische Applaus nach der Gerichtsszene die eben hinter den Kulissen gestorbene Hermione-Jucunda auf die Bühne ... Und wieder schleppten livrierte Diener eine weißleuchtende Kaskade von rieselnden Chrysanthemen heran ... Da zog Hermione aus dem Blütenschwall eine ganze Handvoll der märchenhaften, hundertstrahligen Blumensterne und steckte sie an ihre Brust, um sich dann erst mit feierlichem Lächeln im tiefen Hofknix zu neigen gegen die Proszeniumsloge vorn links vom Schauspieler ...
Also Hans Thumser durfte statieren — mit hoher Genehmigung des Herrn Ersten Chargierten. Er ging sonach eines Morgens um zehn nach dem Fechtboden zum Bureau des Carolatheaters und meldete sich als Statist für »Wallensteins Tod«. Er wurde sofort und freundlich angenommen. Denn es war hier wie immer und überall: Nach den ersten Tagen der Begeisterung waren von den angeworbenen und mühsam eingedrillten Komparsen viele Dutzende abgefallen, hatten sich schriftlich entschuldigt oder waren einfach weggeblieben. Er mußte gleich in die Probe. Es handelte sich nur um zwei Szenen: die große Kürassierszene am Schluß des dritten Aktes und die Mordszene am Ende des fünften.
Vom Bureau aus schickte man Hans Thumser auf die Bühne. Aber den Weg mußte er sich selber suchen und erfragen. Er wurde durch sechs bis acht verschiedene Türen gewiesen, kam sechs- bis achtmal an das weglose Ende dunkler, verschlossener Korridore, stieß sich die Schienbeine wund an allerhand unbeschreiblichen, geheimnisvollen Gegenständen, welche in der Finsternis herumstanden ... Endlich fand er ein eisernes Pförtchen, an dem in Weiß die Aufschrift stand: Zur Bühne ... und voll Ehrfurcht trat er in einen hohen, frostigen Raum, in dem im halben Tageslicht ein Gewirr von hölzernen Lattenrahmen, mit grauer Leinwand überspannt, erkennbar war. An diesen Wänden war vielfach die aufgepinselte Inschrift zu erkennen: »W. T. III. Saal.«
Man wies ihn an, eine hohe bretterne Treppe hinanzuklimmen, auf deren oberem Podest er plötzlich ein seltsames Schauspiel sah: eine Wand wie ein riesiges, aus zahllosen kleinen Scheiben bestehendes Fenster, hinter dem der Treppenpodest wie eine lange Galerie sich hinzog. Das Glasfenster lief jenseits der Treppe in eine eichene Tür aus, von der aus dann eine andere Treppe zum Bühnenpodium hinunterführte ... Diese Treppe aber war im Bogen geschweift und aus massivem, dunkelgebeiztem Eichenholz mit schwerem Renaissancegeländer — wenigstens sah sie so aus. Unten ein dunkler, wuchtiger Saal mit Kamin, Gobelins, gepolsterten Bänken an den Wänden, und da standen an siebenzig jüngere Männer und lauschten andächtig der Instruktion des Oberregisseurs Burg.
»Aha — noch 'n Kürassier?« unterbrach dieser seinen Vortrag. »Kennen Sie 'n Wallenstein?«
»Auswendig ...«
»Um so besser ...
Also bitte weiter zu hören, meine Herren. Ihr wollt Euren geliebten Oberst Max — hier steht er, Barthel ist sein Name, Alexander Barthel, na, Ihr werdet doch unsern großen, schönen Alexander kennen?«
»Ja! ja!« murmelten die Kürassiere mit Begeisterung.
»Also den wollt Ihr dem Friedländer — das heißt mir! — entreißen ... Ihr bildet Euch nämlich ein, ich hielte ihn in Gefangenschaft. Einzeln, truppweise strömt Ihr herein, und wie Ihr in den Saal kommt, seht Ihr etwas ganz Unerwartetes: Euer Kommandeur ist nicht gefesselt, sondern frei: nicht ich halte ihn, sondern etwas anderes, der stärkste Magnet, den es gibt, natürlich ein Frauenzimmer: die da, meine Tochter Jucunda, ich wollte sagen Thekla ...«
Ein weißer Schatten im halbdunklen Raum: sie, die Erträumte, von tausend Sehnsuchtsgedanken Umschwärmte, die Verkörperung des Mädchenideals deutscher Jugend im neunten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts ... da stand sie im fußfreien grauen Rock, eine schlichte graue Bluse um den festen Oberkörper ...
»Nun stutzt natürlich jede Gruppe,« fuhr der Oberregisseur in seiner Instruktion fort, »und es verstummen die Rufe, mit denen Ihr einander angefeuert ... Die erstaunten Blicke gehen von ihm zu mir, von mir zu ihr — befangen flüstert einer dem andern zu, was er sich bei der Sache denken mag ... und so steht Ihr schweigend, mit gesenkten Schwertern ... nichts ist vernehmbar, als das leise Rascheln der eisernen Rüstungen — bis Euer Führer sich an Euch wendet und Euch warnt, ihm zu folgen. — Schlagen Sie an, Barthel!«
Und der schöne Alexander trat einen halben Schritt vor, sprach lächelnd, mit halber Stimme:
»Bitte halt!« unterbrach Burg. »In diesem Augenblick richtet sich jeder auf, die Augen blitzen mutig den Führer an: Herr befiehl! Wir sind Dein — führ' uns in die Schlacht, führ' uns in den Tod, wir folgen Dir ... Das geht wie ein Ruck durch die ganze eisenstarrende Gesellschaft durch, versteht Ihr? Und nun weiter, Barthel!«
so schmetterte der schöne Barthel heraus, berauscht von der klingenden Herrlichkeit seines erzenen Organs.
»So — und auf dies Wort wirft er sich herum und stürzt sich in Eure Mitte — mit einem einzigen Aufschrei des Jubels, des wilden, todbereiten Jubels umringt Ihr ihn, so daß die Eisenmasse ihn gewissermaßen einschluckt, die Schwerter schießen in die Höhe wie eine schäumende Flut, die über seinem Helmbusch zusammenschlägt ... Noch einmal taucht er auf, als er in Eurer Schar die Treppe hinaufstürzt, Ihr hinter ihm drein; der Schwall wälzt sich durch die Galerie, im Gedränge werden ein paar Glasscheiben eingestoßen und klirren schneidend in das Getös des Sterbejauchzens, der Hörner hinein, die von drunten zum letzten Kampfe werben — und denn Vorhang und aus!«
Mit sprühenden Augen, mit langhin malenden Gesten seiner hageren Arme hatte der Oberregisseur die ganze ungeheure Szene aufgebaut vor den Augen der lauschenden Statistenlehrlinge ... die brachen nun in lauten Beifall aus, als ihr Meister aus der hinreißenden Beredsamkeit in einen trockenen Ulkton am Schluß fiel ...
»So, Herrschaften, nun zählt mal von vorne nach hinten ab, und jeder merke sich genau seine Zahl!«
Dann wurden die zweiundsiebenzig in sieben Gruppen eingeteilt nach der Nummer, und jede bekam ihr Stichwort zugeteilt ... »Scheidet — Gott!« hieß dasjenige für die erste Gruppe — »Dein ewig teures und verehrtes Antlitz« das für die zweite — und so fort. Und dann mußten sie alle über die breite Renaissancetreppe zurück — »damit Ihr Euch an die Stufen gewöhnt,« — und draußen in der Dunkelheit wurden sie vom Inspizienten zu einzelnen Klumpen zusammengeballt und aufgestellt ...
»Sind Sie fertig, Ruperti?« klang dann Burgs Stimme von drinnen. »Ja? Na dann bitte — ich fange an: Dreiundzwanzigster Auftritt, ich komme mit Illo und Buttler die Treppe hinunter —«
Und nun herrenhaft, mit grollendem Erzklang in der Stimme. »Terzky!«
»Mein Fürst!« antwortete drinnen eine andere Stimme, erregt, geschmeidig —
Und auf einmal war alles im Fluß. Der Zauber wirkte, der ungeheure, dem einst der zitternde Knabe erlegen war, im Barmer Stadttheater, auf dem Eckplatz des zweiten Ranges ... nur daß der Jüngling nun hineinschaute in das Innere des komplizierten Mechanismus, der das Wunder wirkte ... und eine dumpfe Sehnsucht sprang auf — diesen geheimnisvollen Apparat einmal aus eigener Machtvollkommenheit heraus zum Funktionieren zu bringen ...
Gott ... welch ein Gedanke ... selbst einmal etwas zu schaffen aus der Magie des eigenen Innern heraus ... etwas, das die hundert Geister dieses dunklen Heerbannes zur Tat, zur Heeresfolge zwingen könnte ...
Scheuer Knabentraum, bist du mehr als nur ein Traum — bist du die mystische Vorahnung kommender Kraft, der Vorklang künftigen Schicksals?!
Und Gruppe auf Gruppe der jungen Männer wurde vom Inspizienten losgelassen, tobte die Treppe hinauf, erstarrte droben in staunender Verständnislosigkeit, schob sich dann scheu und verhalten drüben die breite Treppe hinunter in den Saal, wo Max Piccolominis todgeweihte Liebe ihren letzten Verzweiflungskampf mit dem Dämon der Eidespflicht ausfocht ...
Freilich, manchesmal empfing sie drunten ein Hohngelächter des Spielleiters.
»Ne, Kinder, so geht das nicht — Ihr seid ja keine Verbrecherbande ... Ihr macht ja auf einmal Gesichter, als hättet Ihr alle einen Sack silberne Löffel gestohlen! Ihr seid Soldaten, wüste Kerle, schlichte Burschen, die nicht recht verstehen, weshalb man eines Mädels wegen soviel Umstände macht ... dazu ein Rest von Scheu vor dem geliebten, gefürchteten Auge Eures Feldherrn, 'das Eure Sonne war in heißer Schlacht' — aber vor allem doch Trotz, Empörertrotz, verhalten, verbissen, gedämpft, aber Entsetzen einflößend, Schauer aushauchend, kalt wie das blanke Eisen in Eurer Faust — so will ich's haben, so hat der Schiller sich's gedacht!«
Das alles klang nur durch die bemalten Lappen hindurch an Hans Thumsers Ohr. Denn er gehörte ja zur allerletzten Gruppe ... er würde nicht viel mehr zu sehen bekommen ... und er ahnte nur die Gegenwart des Mädchens, um dessen Bild all seine Gedanken kreisten, ihr Bild, das ihm die Seele dieser wundersamen Kunst erschien, die aus Schein und Flitter das ungeheure Widerspiel des Lebens webt, wahrer als alle Wirklichkeit, tiefer als alles reale Erdengeschehen ...
Als er so in stummem Lauschen den Gang der gigantischen Maschine verfolgte, die das werdende Werk schuf — da sah er plötzlich aus der Gruppe sechs ein Augenpaar mit hartem, feindlichem Ausdruck zu sich herüberblitzen. Es waren Valentin Pilgrams Augen ...
Im Nu war er an der Seite des einstigen Korpsbruders.
»Pilgram, Du? Also endlich ... endlich seh' ich Dich mal wieder ...«
»Hm ... hat Dir wohl wenig dran gelegen — sonst hättest Du das Vergnügen früher haben können ...«
»Hast ganz recht, es ist meine Schuld ... es ist ein Skandal, daß ich mich so gar nicht um Dich gekümmert habe ... Aber wenn Du wüßtest ... ich will mich auch bessern, sei mir nicht bös ... Und nun sag' nur, wie kommst Du hierher?«
»Das könnte ich Dich fragen,« sagte Pilgram hart.
»Nu — ich ... Du weißt doch, daß ich Dich selber seinerzeit schon um Erlaubnis gebeten hatte — Du wolltest nicht ... Na, nun haben wir den Volkner, der ... denkt ein bißchen anders über solche Sachen ...«
»Jawohl ... und seid mich glücklich los ... gratuliere.«
»Aber Pilgram! Du weißt doch, wie furchtbar leid es uns allen getan hat ...«
»Dir auch?!« fragte Pilgram finster.
»Ich versteh Dich nicht, Pilgram ... so wie Du und ich doch immer miteinander gestanden haben ...«
»Hm ... wenn Deine korpsbrüderlichen Gefühle für mich ... echt gewesen wären ... dann hätten sie sich wohl ein bißchen besser gehalten ...«
»Aber Pilgram —!«
»Ruhe, meine Herren!« fuhr der Inspizient dazwischen. »Sie da, Sie gehören doch überhaupt zur Gruppe sieben — nu bleiben Sie gefälligst aber auch bei Ihrem Haufen! Ausquatschen können Sie sich ja genügend, wenn's hier aus geworden ist!«
»Wir sprechen uns noch!« sagte Thumser und trat zu seiner Gruppe zurück.
Himmel — was hatte der Pilgram nur? Und wie schrecklich er sich verändert hatte in den wenigen Tagen seit seinem Austritt aus dem Korps ... Die Augen, tiefumrändert, waren in ihre Höhlen gesunken ... der sonst so peinlich korrekte Anzug vernachlässigt ... die früher straffen und sicheren Bewegungen unruhig und zerfahren ...
Und Valentin Pilgram fragte sich: Wie ist es möglich, daß ich es bis heute ausgehalten habe, diesen falschen Hund nicht zu stellen? — Es kann ja nur sein böses Gewissen sein, das ihn von mir ferngehalten hat ... alle die Tage, die zwei Wochen seit ... damals ...
Ha, warum hatte er's nicht getan? Aus Furcht vor ... einer neuen Uebereilung ... einer neuen Blamage ...
Daß Thumser seine Hand in dem schändlichen Spiele gehabt haben müsse, das man ihm gespielt, das war ja klar. Der Briefbogen mit dem Frankenzirkel und dem H. T. auf der Rückseite und mit Jucundas Absagebrief auf der Vorderseite — das war ja doch ein untrüglicher Beweis. Mit Jucundas Absagebrief! Ja, ein Absagebrief, das war's, und nichts andres! Die glatten, gleißnerischen Dankesworte, ihn, den Desillusionierten, blendeten sie nicht mehr. Er verstand, sie hatte ihn verleugnet, er hatte sie verloren. Aber wie kam der andere dazu? Welche Rolle hatte er gespielt in dem Gewirr von Ränken und Tücken, von denen Valentin Pilgram sich umstrickt sah? Das war nicht zu erraten und nicht zu erfahren ... Und aufs Geratewohl abermals unbedacht zufahren mit einem züchtigenden Wort, einem rächenden Schlag — Valentin Pilgram besaß nicht mehr die frühere Sicherheit des Handelns, seit sein Instinkt ihn so schmählich in die Irre, in die Wirrnis, in die lächerliche Don-Quichottiade hineingestoßen hatte. So hatte er von einem zum andern Tage gewartet und gewartet in der dumpfen Hoffnung, daß irgend etwas sich ereignen würde, das ihm Klarheit gäbe ... Er hatte auf ein Wiedersehen mit Jucunda, auf einen Besuch Thumsers gehofft, auf eine Aussprache mit ihr und mit ihm, in deren Verlauf er brüsk und kategorisch die Frage hätte stellen können: Wie war das möglich? Wie ist dieser Brief auf dieses Blatt geraten? Erklärt mir den Zusammenhang, zerstreut meinen grausamen Verdacht und bekennt, bekennt und empfangt den Lohn, den Euer Verrat verdient!
Aber nichts von alledem war geschehen. So häufig er den teilnahmsvollen Besuch seiner ehemaligen Korpsbrüder erhielt, so oft er mit ihnen am dritten Orte zusammentraf — der schlanke Fuchsmajor blieb aus. Und Jucunda? Sie war wie aus der Welt verschwunden. Wohl hörte er abends ihr Heimkommen aus dem Theater, ihr herzhaftes Gähnen, den energischen Plumps, mit dem sie sich arbeitsmüde auf ihr krachendes Bettchen warf, und nachts, wenn er sich schlaflos auf seinem Lager wälzte, ihr geruhsames, selbstzufriedenes Schnarchen ... denn bei Gott, sie schnarchte wie ein Mann ... Und morgens vernahm er wohl, wie sie leise ihre Rollen repetierte. Ach, wie gern hätte er noch einmal den sonoren Alt in seinem vollen Glanze von da drüben schmettern gehört! Aber sie hatte einen Flor über ihr Organ gebreitet, und er fühlte, das war die Scheu vor ihm. Und die gleiche Scheu mußte es sein, unter deren Druck sie es darauf anlegte, ihm um jeden Preis aus dem Wege zu gehen. Es war, als überwache sie sein Gehen und Kommen und richte ihre eigenen Ausgänge, ihre Rückkunft danach ein. Oft legte er es geradezu darauf an, mit ihr im Korridor, auf der Treppe zusammenzutreffen, aber wie ein Geist war sie dann von hinnen gehuscht, hinter irgend einer Tür verschwunden, die Treppe hinuntergeschnurrt ...
Der tolle Wirrwarr von Wut und Sehnsucht, von Ekel und Hingebung, in dem seine Tage, seine Nächte dahinrannen, trieb ihn immer und immer wieder ins Theater. Und dann sah und hörte er nichts von dem Stück — er sah, er fühlte, er träumte nur Jucunda. In welcher Gestalt, welcher Maske, welchem Gewande sie auf der Bühne stand, ihm galt es gleich. Er sah nicht die Künstlerin, er sah nur das Mädchen, dem seine Seele wie sein Leben verfallen war. Fiebernd, stumpfsinnig harrend ließ er die Auftritte an sich vorübergehen, bis sie erschien. Von folternden Schmerzen zermartert und doch an ihr Bild gebannt, weit vorgebeugten Oberkörpers, verfolgte er jeden Schritt, jede Bewegung, bis sie wieder die Bühne verließ oder der Vorhang fiel — er hätte seinen Nachbarn an die Kehle fahren können, wenn sie fanatisch Beifall trampelten, wenn sie wie toll ihr »Buchner! Buchner!« riefen ... Und wenn's zu Ende war, dann stand er draußen unter der harrenden Rotte der Verehrer, den Kragen seines Paletots hoch aufgeklappt, den Hut tief in die Stirn geschoben, sah sie vorüberschweben und mit königlicher Gnade ein Lächeln rechts, ein Lächeln links verteilen, atmete tief und stöhnend auf, wenn der Wagenschlag klappte, die Pferde anzogen ... Wenn aber nach der Premiere die schäumende Begeisterung der Jugend abermals den gewohnten Triumphzug entfesselte, dann stellte sich Valentin Pilgram inmitten derer auf, die von hinten Jucundas Wagen schoben, und arbeitete im Schweiße seines Angesichts. Dann war ihm am wohlsten, dann fühlte er sich ihr am nächsten ...
Und als er eines Tages auf den Anschlagsäulen ersah, daß der »Wallenstein« in Vorbereitung sei, da fiel ihm Thumsers Bitte ein, in diesem Stücke mit statieren zu dürfen. Damals hatte er als Senior diese Bitte abgeschlagen, nun nickte er sich selbst ein bitter lächelndes Ja, als eine Stimme in ihm befahl, er solle sich in die Schar der Pappenheimer Kürassiere mischen, um den Geliebten aus Theklas Armen und in den Schwertertod hineinzureißen ... Und so war er nun hier, in dieser pappdeckelnen, bretternen Trödelwand. Nie hätte er sich's träumen lassen ... Nun war er, der weiland Erste Franconias, ein Statist in Gruppe sechs ...
Die Probe ging ihren Gang.
Wie eines Meisters Hände den bildsamen Ton, so knetete Franz Burgs zielsichere Regie die Schar der zweiundsiebenzig jungen und älteren Männer in eine Horde entfesselter Pappenheimscher Soldateska um. Immer und immer wieder wurde eine Gruppe nach der andern die Treppe hinauf- und hinuntergejagt, jedes Knurren der Wut, jedes Aufheulen der Begeisterung wurde einstudiert, jede Bewegung, jeder Blick festgelegt und in das tausendmaschige Gewebe des farbenleuchtenden Teppichs eingefügt, den der Szenenmeister vor dem lauschenden Publikum zu entrollen gedachte. Und immer klarer, immer überzeugender modellierte sich das Bild des kurzen, erschütternden Vorganges heraus, wie die todestrunkene Schar der Kürassiere sich ihren Führer aus den Verstrickungen der Liebespflicht herausholt und ihn auf schäumender Woge hinwegreißt in Tod und Vernichtung. Keiner spürte Ermüdung, keiner nahm Anstoß am derbsten Poltern, am spitzigsten Spotte des eisernen Mannes, der diese Zweiundsiebzig am Drahte seines Willens zappeln ließ wie ebensoviel Marionetten.
Und endlich schien's getan: tief aufatmend lachte Franz Burg: »So, Herrschaften, ich denk', nun könnt Ihr's, jetzt kommt der Tragödie zweiter Teil: Rüstungen verpassen! Also Pause zum Verschnaufen und dann gefälligst gruppenweise hinauf zur Rüstkammer, dort laßt Ihr Euch die klapprigen Konservenbüchsen um den Leib hängen, holt Euch Euren Eisentopf und Eure Bratspieße — und denn geht's wieder von vorne los!«
Da leuchteten die ermüdeten Augen der abgejagten Schar wieder hell auf. Das hatte ja nur noch gefehlt, das Kostüm, das vollendete die Verwandlung, das brachte das Letzte an Stimmung, was noch fehlte ... Und während die Gruppen zwei bis sieben sich plaudernd und lärmend in dem dunklen Hintergrunde des schwarzgähnenden Bühnenraumes verloren, kletterte Gruppe eins unter Führung des Inspizienten lachend und prustend die hallenden Steintreppen hinauf, um droben das Eisengewand der Pappenheimer anzulegen.
Hans Thumser hatte sich vergebens den Kopf zerbrochen, weshalb wohl der Korpsbruder so maßlos gereizt auf ihn sein könne. Himmel ja, er hatte ihn ja unverantwortlich vernachlässigt in der letzten Zeit — aber schließlich war das doch kein Grund, ihn dermaßen hundemiserabel zu behandeln. Na, man würde nochmals um Entschuldigung bitten, und dann müßte der arme Kerl doch schließlich Vernunft annehmen. Also, wo steckt er denn bloß?
Gruppe sechs — wo ist Gruppe sechs? jawohl — alles durcheinander gewürfelt, alles wie verschluckt von der schwarzen Finsternis dahinten jenseits des Prospekts.
Hans Thumser drängte sich durch die Gruppen der »Kürassiere«, rief hin und wieder halblaut Pilgrams Namen, aber umsonst, der Freund ließ sich nicht sehen — schließlich postierte er sich unten an der Treppe, die zur Rüstkammer hinaufführte. Aber selbst als Gruppe sechs, der er angehörte, vom Inspizienten zum Empfang der Rüstungen geführt wurde, war Valentin Pilgram nicht darunter. Es schien, er wolle sich nicht sehen lassen ... und schließlich konnte Hans das am Ende begreifen: er war eben böse, weil Hans ihn so schnöde vernachlässigt hatte. Nun, das ließ sich am Ende nachholen ...
Und mit ganz wunderlichen Empfindungen ließ sich auch Hans Thumser den rasselnden Eisenharnisch der Pappenheimer Kürassiere um die geschmeidigen Glieder schnallen. Es war ja nur Spiel, nur Mummenschanz — und doch, welch sonderbare Macht lag in diesem starren Eisengewand, lag überhaupt im Kostüm! Hans meinte ordentlich zu fühlen, wie er ein anderer wurde, wie schlichte, rohe und starke Gefühle aus jahrhundertfernen Tiefen sich an die Oberfläche seiner Seele drängten, wie er verschmolz mit der gepanzerten Schar seiner Gefährten ...
Und nun hinunter! Die matt erhellten Korridore, der stockfinstere Raum hinter dem Prospekt war nun von geheimnisvollem Rascheln und Klirren erfüllt. Es war, als sei der Geist der Wallensteinschen Soldateska über die
ganze junge Schar gekommen: rauher und härter klangen die Stimmen, derber und knapper die Scherze, das Gelächter.
Und von neuem begann die Probe. Teufel! war das schwer, sich in diesem niederwuchtenden Gewand, in den kolossal steifen Stulpenstiefeln zu bewegen, den mächtigen Pallasch mit dem breit ausladenden Stahlkorb nicht zwischen die Beine zu bekommen! Und nun gar die Treppen hinauf, hinunter! Da verhedderte sich mancher in den handlangen stählernen Sporen, stolperte, krachte zu Boden und mußte schwerfällig, wie eine Schildkröte, von den Kameraden aufgerichtet werden.
Und unten auf dem Podium inmitten des Schloßsaales stand Franz Burg und hielt sich beide Seiten vor Lachen ... und neben ihm im Halbkreis gruppiert: Thekla, Terzky, Illo, Buttler, Max Piccolomini — und alle lachten sie sich schier zu Tode über die stolpernde, prustende, schwitzende Kürassiergarde.
Und doch, allmählich klärte sich auch dies neue Chaos. Und endlich sagte Franz Burg:
»So, meine Herrschaften, nun fangen wir richtig zu probieren an! Also bitte, Kürassiere von der Bühne, die Soloherrschaften an ihre Plätze!«
Und abermals stand die harrende Schar der Eisenreiter im Hintergrunde zu Füßen der schmalen Holztreppe versammelt — und abermals klang's von drinnen herrenhaft in grollendem Erzklang:
»Terzky!«
»Mein Fürst!«
»Laß unsre Regimenter
Sich fertig halten, heut noch aufzubrechen,
Denn wir verlassen Pilsen noch vor Abend.«
Und Gruppe auf Gruppe erhielt ihr Stichwort, Gruppe auf Gruppe klirrte die Treppe hinauf, strudelte die Galerie entlang, ergoß sich in den Saal hinab ...
Als aber Gruppe sechs aus dem Finster der Bühnentiefe die Treppe hinanstieg, sah Hans Thumser, daß Pilgram doch noch vorhanden war. Seine riesige Gestalt, sein hartes Herrengesicht standen vortrefflich zu der blanken Wehr — aber kein Blick für den einstigen Korpsbruder ...
Was er nur haben mochte? — Das war doch Kinderei, so offiziell zu tun.
»Also Gruppe sieben!« zischte der Inspizient. »Los! Los!«
Und Hans Thumser keucht die schmalen Stufen empor, stößt wie die Kameraden rauhe gurgelnde Töne aus, stutzt droben am Treppenrande, stutzt und verstummt ...
Aber nicht nur, weil es so probiert ist ... Im gelben Lichte der Proberampe sieht er drunten Jucunda Buchners schmales Prinzessinnengesicht ... aber jetzt nicht mehr wie vorhin, von Lachen und Schelmerei gerötet — nein, nun ist sie plötzlich Thekla, das verzweifelnde Kind, das Liebe, Glück, Leben versinken sieht in den eisenschäumenden Wogen des Schicksals. So abgrundtief, so herzdurchbohrend der Ausdruck des Schmerzes auf ihren tränengefurchten Wangen — Hans Thumser kann den Blick nicht lassen von diesem Bild adligen Grams ...
Aber die Masse der Kameraden schiebt ihn vorwärts — und plötzlich fühlt er keinen Boden mehr unter seinen Füßen, er strauchelt, schlägt krachend nach vorn, alle Glieder knacken — tausend Feuerräder kreiseln in seinem Hirn — ein lauter Aufschrei übertönt das Knacken und Klirren der hundert Eisenringel, die seine Glieder umschlossen halten und im Sturz in Schulter und Schienbein sich hineinzwängen — und dann nichts mehr.
Eine hilflose Masse, so war des Studenten Körper die fünfundzwanzig Stufen der Freitreppe hinuntergekollert, anfangs noch ein wenig aufgehalten durch die Schienbeine seiner Vordermänner, dann aber, als alles instinktiv zur Seite sprang, ganz hemmungslos. Nun lag er bleich, mit geschlossenen Augen am Fuß der Treppe. Die Sturmhaube war ihm vom Kopf gefallen und in weiten Sprüngen ihm voran in den Saal hineingehüpft. Einen Augenblick hatte alles vor Schrecken erstarrt gestanden, nun sprangen fünf, sechs der nächststehenden Kürassiere zu und richteten den schwerfälligen Körper auf.
Durch den Wall der Geharnischten aber drängte sich Jucunda Buchner hindurch. Sie hatte den Jüngling straucheln und vornüber stürzen gesehen und in dem Augenblick sein Gesicht erkannt, ohne daß sie gleich wußte, woher. Nun kniete sie neben dem aufgerichteten Oberkörper des Studenten nieder, umfaßte seine Schultern und legte seinen zerschundenen Kopf behutsam auf ihr Knie. Und da schlug Hans Thumser die Augen auf — und in diesem Augenblick wußte Jucunda, wo sie diesen leuchtenden Blick schon einmal gesehen hatte — der junge Poet ... er, neben dessen »schwindelschmalem Pfade Abgründe klafften rechts und links« — nun, in einen dieser Abgründe war er nun glücklich hineingeplumpst ... freilich, es schien ihm ganz gut bekommen zu sein, denn mit einem zufriedenen Lächeln schloß er die erstaunten Augen, reckte sich ganz behaglich und machte sich's ordentlich bequem auf dem weichen Kissen, auf das er sich gebettet fühlte.
Und nun löste sich der allgemeine Schreck in ein befreites Aufatmen. Da schlug der Student die Augen abermals auf, und nun schien ihm das Komische seiner Situation bewußt geworden zu sein: mit einem Ruck richtete er den Oberkörper auf, sprang auch sofort auf die Beine und reckte die Knochen.
»Na? Kein edlerer Teil entzwei?« fragte der dröhnende Baß des Szenenleiters. Hans Thumser versuchte sich diejenige Stelle seines Körpers zu reiben, welche bei dem Fall am meisten in Mitleidenschaft gezogen war, aber das gelang ihm nicht — sie war zu gut gepanzert ...
Nun brach ein endlos dröhnendes Gelächter aus, dazu rasselten die Rüstungen der Pappenheimer, die sich die eisenbewehrten Bäuche hielten. Am hellsten aber lachte Jucunda. In einer raschen Wallung trat sie auf den jungen Burschen zu und klopfte ihm mit beiden Händen die glühenden Backen.
»Dunnerwetter!« tönte da aus den Reihen der Kürassiere eine neiderfüllte Stimme. »Ich wär' nächstens ooch mal de Treppe 'nunner purzeln!«
»Na, ich dächte, nach diesem kleinen Zwischenfall probieren wir weiter!« rief Burg, »also alles zurück, meine Herrschaften, und noch einmal von vorne!«
Hans Thumser war's nun aber doch zumut, als klapperten alle seine Knochen einzeln und lose in dem großen Blechtopfe durcheinander, der sie einschloß — und er bat um die Erlaubnis, sie wieder zusammenzusuchen.
Als dies gewährt worden war, trat er vorn an die Proberampe und kam neben Jucunda zu stehen. Die lachte ihn an und flüsterte ihm zu:
»Ich habe ja so lange nichts mehr von Ihnen gehört — warten Sie nach der Probe auf mich — ich möchte wissen, wie es Ihnen inzwischen ergangen ist!«
Da wurde es Hans Thumser klar, daß er wieder mal mehr Glück als Verstand gehabt hatte ...
Noch eine weitere halbe Stunde voll schwitzenden Bemühens — dann war's geschafft. Und nun harrte der Student am Bühnenpförtchen seiner Göttin. Er drückte sich in den dunklen Schatten der Donnermaschine und ließ den Schwall der Geharnischten an sich vorüber strudeln. Und endlich kam sie — kam nicht allein, sondern am Arm der majestätischen Kollegin Frau Anna Cederlund, welche die Gräfin Terzky spielte. Im ersten Augenblick verließ den Studenten der Mut ... Als aber die beiden ragenden Frauengestalten an ihm vorüberschritten, ohne ihn zu bemerken, da sprach's in ihm: Sei kein Narr! Und er schoß aus seiner Finsternis hervor, daß die Frauen ordentlich zusammenschraken.
»Gnädigste haben mich zu sprechen befohlen!«
»Ah, sieh da, Herr Dummerle! Nun? Was macht die Poesie? Gestatten Sie, Annerl — Herr Studiosus Dummerle, dichtet — hat immer die Nase in der Luft und purzelt deswegen mit Vorliebe die Treppen hinunter — meine Kollegin, Frau Cederlund. Ja, also was fang' ich nun mit Ihnen an? Wissen Sie was? Sie könnten ja auch mal zu mir zum Tee kommen — wollen Sie?«
»Darf es heute sein?« antwortete Hans Thumser.
»Aber warum denn nicht? Also um fünf — soll's gelten?«
Hans Thumser konnte sich nur stumm verneigen — tief, tief auf die schlanke Hand, die sich ihm entgegenstreckte — und dann war's vorbei ...
Und wie ein Begnadeter stolperte Hans Thumser die hallenden Steintreppen zur Rüstkammer hinauf, um sich aus einem Pappenheimer wieder in einen Fuchsmajor zu verwandeln. Zwei Minuten aber, nachdem das Eisenpförtchen, das vom Bühnenraum zum Garderobenumgang führte, hinter ihm zugeklappt war, löste sich aus dem Dunkel der Kulissen noch eine zweite Kürassiergestalt los. Die einsame Glühbirne, die am Inspizientenpulte brannte, beleuchtete ein finstres, verzerrtes Jungmännergesicht unter dem tiefschattenden Doppelschirm der Sturmhaube: es war das Gesicht des weiland Ersten der Franconia.
Asta Thöny war ein wenig eingenickt nach dem bescheidenen Mittagsmahl, das Frau Wehe ihr aufgetischt. Nun fuhr sie empor, flog ans Fenster, steckte den glühenden Kopf hinaus und klatschte jubelnd in die Hände, als sie die ersten Schneeflocken durch das mürrische Grau der Sophienstraße wirbeln sah ...
Köstlich! köstlich! Würde das ein fröhliches Streifen werden mit dem geliebten Jungen durch dies wattige Weiß hindurch an der graulich gurgelnden Pleiße entlang! Sie wußte, wie gut ihr die prachtvolle Sealskingarnitur stand, das splendide Andenken ihres Rittmeisters in Gera ... Und nun schmückte sie sich nach Herzenslust für den Leipziger Freund. Ob er wohl schon daheim war? Sie klopfte an die Wand — keine Antwort. Na, er würde schon nicht auf sich warten lassen, um vier Uhr hatte er ja versprochen sie zum Spaziergang abzuholen. — Aber es wurde vier — und kein Hans Thumser! Na, vielleicht war er schon längst zu Hause und lag drüben auf seinem Kanapee in den geliebten Nachmittagsschlaf versunken. Sie hatte eine Tüte Pralinees für ihn gekauft, sie kannte seine schwache Stelle. Die steckte sie in die Jackettasche, hüpfte zur Tür hinaus und pochte an die seine; da keine Antwort kam, klinkte sie auf — und richtig — da lag er auf dem Sofa, lang hingestreckt, in Hemdsärmeln, das blinkende Korpsband über der Weste. Auf Zehen schlich sie heran und hielt ihm die duftende Tüte unter die Nase. Da schlug er blinzelnd die Augen auf, lachte sie fröhlich an und breitete die Arme aus — mit einem leisen Jauchzen warf sie sich hinein.
Nachdem sie sich satt geküßt, richtete sie sich stramm auf und befahl:
»So, nun antreten zum Spaziergang!« (Die militärischen Allüren ihrer jüngsten Vergangenheit saßen ihr noch in den Gliedern.)
Aber statt des erwarteten Entzückens trat in Hans Thumsers Züge plötzlich eine peinliche Befangenheit, und ein Erröten stieg ihm langsam in die Augen.
»Nun, was ist Dir?«
»Liebes Kind, ich bin trostlos ... Spaziergang ist nicht.«
»Was ist das? Was fällt Dir ein!«
»Ja ... ich ... ja ... ich ... es tut mir entsetzlich leid ... aber ... wir haben heute nachmittag C. C. ...«
»Das ist abscheulich, Hans! Wie kommt denn das, was ist denn los?! Und ich hatte mich doch so gefreut, habe mich so hübsch für Dich gemacht, das hast Du Ungeheuer überhaupt noch gar nicht bemerkt!«
»Ob ich das bemerkt habe! ... aber — es tut mir riesig leid, Du weißt, das Korps spaßt nicht.«
Asta sah, daß er ihren Blick vermied — lügen hatte er noch nicht gelernt.
»Du, das mit dem C. C. das ist geschwindelt, da steckt was andres dahinter! Beichte!«
»Aber nein ... ganz wahrhaftig, Kind, wir haben C. C., Du kannst Dich drauf verlassen.«
»Sieh mich an, Hans —! Siehst Du, Du kannst es nicht —«
»Aber ja ... ich kann's.«
Nein wahrhaftig, er konnte es nicht.
»Also heraus damit! Was ist los?«
Sie stampfte mit den zierlichen Füßen auf, die in mächtigen pelzbesetzten Boots steckten.
Hans kämpfte einen Augenblick, dann sah er ihr gerade ins Gesicht mit dem Ausdruck eines trotzigen Buben, der sich auf einer Schandtat ertappt sieht:
»Die Buchner hat mich zum Tee geladen.«
»Das ist nicht wahr! Das darf nicht wahr sein!«
»Aber warum soll ich denn nicht auch mal zur Buchner zum Tee gehen?«
»Weil Du mir gehörst. Das gibt's nicht. Da wird nichts draus.«
»Ich hab's versprochen.«
»Dann bleibst Du eben einfach weg. Die Buchner weiß ganz genau, daß Du mein bist. Es ist eine Niedertracht von ihr — ich laß mir's nicht von Dir gefallen!«
»Und ich laß mir's nicht von Dir gefallen, daß Du über mich verfügst, wie über ein Spielzeug.«
»Hans, so darfst Du nicht zu mir sprechen, das weißt Du auch, daß Du das nicht darfst! Du hast auch ein böses Gewissen dabei!«
Hans Thumser ging mit drei raschen Schritten ans Fenster und trommelte an die Scheiben. Wahrhaftig, sie hatte recht — es war ihm hundeelend zumute — nichts als Liebes hatte sie ihm getan, weit über Hoffen und Träumen hinaus hatte sie ihn glücklich gemacht ... und er — er hatte immer über sie hinweg geträumt von der andern.
»Nun, hast Du Dich besonnen — kommst Du mit mir?«
»Ich kann's nicht ... ich hab's versprochen.«
»Und mir? — Wem hast Du's zuerst versprochen, mir oder ihr?«
»Aber Kindchen, das mußt Du doch einsehen ... daß das für mich — wie soll ich sagen — daß das für mich eine große Sache ist ... schließlich ist sie doch ... die Buchner.«
»Ach so — und ich, ich bin nur die Thöny, die kleine Thöny, und sie die große Jucunda! Hansel, das wird Dir noch mal leid tun!«
Laut aufweinend stürzte sie hinaus ... die Schleppe ihres Pelzjacketts fegte die Pralineetüte vom Tisch, und alles kollerte in die Stube. Hans Thumser mußte aufsammeln. Dabei glühten seine Backen vor Scham. Es war wirklich hundsgemein von ihm, das herzliebe Mädel so ruppig zu versetzen — er fühlte, er hatte sie bis ins Tiefste gekränkt. Mit hundert Gewalten zog's ihn hinüber, die Tränen von den schönen Augen wegzuküssen, die ihm so manche Stunde durchsonnt hatten ... und dann fiel sein Blick auf Jucundas Bild, auf das bronzene Heroinenprofil, das unterm Helm der Jungfrau so sieghaft leuchtete. — Und er wußte, daß zehn Astas diese Stunde nicht aufwiegen würden, die ihm bevorstand.
Er lauschte — wieder wie in jener ersten Nacht klang da drüben jenseits der Doppeltür und der beiden Kleiderschränke, die sie verbarrikadierten, das herzerschütternde Weinen ... aber diesmal nicht verhalten wie damals — nein — in wilder leidenschaftlicher Empörung. — Und diese, diese Tränen hatte er auf dem Gewissen ...
Und das war so niederträchtig, so infam: daß man im tiefsten Grunde seiner Seele sogar noch etwas wie eine Genugtuung empfand über diese Tränen, die man selbst verschuldet hatte. War es nicht eigentlich ein verdammt stolzes Gefühl, daß man ein Kerl war, um den so heiße Mädchentränen fließen konnten?
Hans Thumser warf einen Blick in den Spiegel: also so sieht so ein verfluchter Gesell aus, um den ein Mädchen wie Asta Thöny — Tausende würden ihn beneiden um so einen süßen Kameraden! — um den so ein himmelsüßes Geschöpf sich quält?
Und mit einem verwegenen Ruck stülpte er die grüne Franken-Mütze auf den braunen Schädel und ging zu Jucunda Buchner.
War's nicht eigentlich toll? Hans Thumser war in einer ganz niederträchtig vergnügten Stimmung, als er durch das wirbelnde Flockengestiebe den Peterssteinweg, die Petersstraße hinanschlenderte. Jedem Mädel guckte er verwegen, wie er's nie getan, unters Pelzbarett: Ja, wenn ihr wüßtet, ihr Leipziger Gänschen —! Eben hab' ich die Asta Thöny geküßt ... die von den Meiningern, ihr wißt doch! Und nun — nun gehe ich zur Buchner ... und wer weiß — wer weiß! So ein Kerl bin ich, verflucht nich noch mal!
Als er den schneebepuderten Marktplatz überquerte und in die Katharinenstraße einbog, fiel ihm plötzlich ein, daß er ja nun endlich den Weg zu Valentin Pilgrams Wohnung gefunden habe. Der arme Junge! Ob der wohl auch schon mal von Jucunda Buchner zum Tee geladen worden war? Wohl schwerlich — und doch, was alles hatte der an dies Mädchen gesetzt ... und er —? Er hatte nichts getan, und alles fiel ihm in den Schoß. Teufel auch — man war eben ein Poet, ein Götterliebling —! nischt wie verdammte Pflicht und Schuldigkeit vom Schicksal!
Ob er den armen Burschen wohl mal aufsuchte? Eigentlich hätte sich's gehört ... daß er gekränkt war, lag ja auf der Hand nach seinem Benehmen von heut morgen ... aber freilich ... erst zu Pilgram gehen und dann sich von ihm verabschieden mit der Erklärung, man sei zu Jucunda Buchner zum Tee geladen — das war doch wahrhaftig mehr eine Kränkung, wie die Dinge nun einmal lagen, als die Erfüllung der längst geschuldeten Freundschaftspflicht. Also lassen wir's doch lieber ...
Glücklicherweise, im letzten Augenblick, fiel's ihm ein, daß er ja noch ohne Blumen war. Er fand eine Gärtnerei, wählte die herrlichsten Rosen, die es gab, und erschrak nicht im mindesten, als die Verkäuferin ihm fünf Mark abverlangte. Denn diesmal war's ja in der ersten Hälfte des Monats und nicht Ultimo, wie damals, als er mit dem gepumpten Markstück ein Dahliensträußchen für Asta erstand ... Und so bewaffnet bis an die Zähne kletterte er die wohlbekannten Stufen im dunklen Treppenhause empor und zog die gellende Klingel an der Korridortür des Kanzleirats Buchner.
Eine stattliche Frau öffnete ihm. Er erkannte in ihr sofort Jucundas Begleiterin von jenem ersten Triumphzuge wieder. Alle Wetter ja, seine Idee von damals hatte Schule gemacht ... das blitzte ihm so durch den Kopf, als er seiner Führerin durch den dunklen Korridor folgte, bis sie haltmachte und anklopfte.
»Bist Du es, Mutter?« tönte von drinnen die wohlbekannte Stimme ... die Stimme, die durch sein Wachen und seine Träume klang. So hatte sein junges Herz noch niemals an die Rippen gehämmert ... auch nicht bei Beginn des Abiturienten-Examens ... auch nicht vor der ersten Mensur.
»Hier ist der Herr, wo Du zum Tee hast eingeladen!«
»Herein — nur herein!«
Die Tür sprang auf, und als dunkle Silhouette gegen die schimmernd weißen Vorhänge abgehoben, stand Jucunda. Mit ausgestreckten Händen kam sie ihm entgegen:
»Wie freue ich mich! — Die Poesie bei mir zu Gast ... das ist das erstemal. Laß uns allein, Mutter.«
Hans warf einen Blick in der Stube umher. Tausend ja, hier sah's anders aus als damals bei Asta. Jucunda, das sah er sofort, hatte nicht vergessen, daß sie sein Kommen gewünscht — alles war sorgfältig für seinen Empfang vorbereitet, der Tisch zierlich gedeckt und mit Rosen bestreut, die Teemaschine dampfte, Zigaretten, Zigarren standen bereit, eine gehäufte Schüssel Gebäcks. Und ringsum herrschte Ordnung, Sauberkeit, noch mehr: Schönheit ... oder doch wenigstens die deutliche Absicht sie hervorzuzaubern ... überall Blumenarrangements und Körbe lebender Pflanzen, an den Wänden die welkenden Lorbeerkränze mit riesigen langflutenden goldbedruckten, goldbefransten Atlasschleifen. Uebers Bett aber war ein hermelinbesetzter Mantel von Purpursamt königlich hingebreitet, und ein frischer Strauß tiefdunkelroter Rosen lag oben drauf. Alles war abgetönt mit einem naiven Sinn für Eleganz und Repräsentation.
Hans Thumser sah nicht, daß die Möbel abgeschabt, die Bezüge verschlissen waren, fühlte nicht, daß der Stuhl wackelte, auf den er sich setzte, der Tisch, auf dem das Teegeschirr brannte ... auch nicht, daß die Tassen gesprungen waren, und hier und da gar ein Henkel fehlte ... ihm war zumut, als sei er in einem Königsschloß, in einem Märchenpalast. Und wie eine Königin erschien ihm auch Jucunda. Sie trug ein lang hinschleppendes Spitzenkleid, das ihm vorkam wie eine märchenhafte Kostbarkeit — er konnte ja nicht beurteilen, daß es maschinengewebte Spitzen waren, nur bestimmt auf die Entfernung zu wirken — er war im Bann, im Traum. Und nur die eine Empfindung durchdrang ihn mit wohligen Schauern: hier war er erwartet, hier hatte man Staat für ihn gemacht, hier wollte man ihn ehren, ihn entzücken.
Er saß ganz still, als Jucundas große, schlanke Hände den Tee bereiteten, und sah nichts als das anmutige Spiel der elfenbeinfarbenen Arme, die aus den Spitzenärmeln hervorlugten:
»Erinnern Sie sich noch, daß wir schon einmal beim Tee zusammengesessen haben?«
»Wie können Sie fragen, gnädigstes Fräulein! Ich habe seitdem von nichts geträumt, als daß dies einmal kommen könnte ... dies, was jetzt ist.«
Jucunda stellte den dampfenden Tee vor ihn hin, sah ihn von oben her mit ironischem Lächeln an und fragte:
»Und Asta?! Haben Sie die Courage gehabt, ihr zu verraten, daß Sie heute bei mir sind?«
»Warum sollte ich nicht? Das ist doch nicht verboten!«
»Nun, und was sagte sie?«
Hans wurde rot. Ob Asta geschwatzt hatte? Ob Jucunda wußte, wie er mit ihr stand?
»Sehen Sie wohl,« lachte das Mädchen, »Sie können nicht antworten — Sie haben Schelte bekommen —! Dacht' ich mir's doch.«
»Ich wüßte nicht, daß irgend jemand das Recht hätte mich zu schelten,« sagte der Student etwas kleinlaut und trotzig.
»Sagen Sie das nicht!« sagte Jucunda. »Wohltun verpflichtet — oder ist die ... Episode schon zu Ende?«
»Welche Episode?«
»Fragen Sie nicht so dumm!«
Hans Thumser sah sich durchschaut. Aber wenn Jucunda doch wußte, daß Asta immerhin doch gewisse ... Ansprüche geltend machen konnte ... warum hatte sie ihn geladen, was wollte sie von ihm? Er richtete sich auf:
»Gnädiges Fräulein, ich glaube nicht, daß Sie mich zu sich gebeten haben, um mir klar zu machen, daß ich eigentlich wo anders hingehörte.«
»Da haben Sie recht,« lachte die Schauspielerin, »Sie sind nun einmal hier, nun seien Sie's auch ganz. Asta ist tot, es lebe Jucunda, nicht wahr?«
Sie streckte ihm die Fingerspitzen hin, er neigte sich darüber.
»Nun, blaue Flecke von heute morgen?«
»An allen Gliedern!« gestand Hans. »Na, irgend etwas muß der Mensch doch schließlich tun, um eine solche Stunde zu verdienen.«
»O, seien Sie nur ruhig, man wird von Ihnen vielleicht noch mehr verlangen!«
»Verlangen Sie.«
»Was macht Ihr Korpsbruder Pilgram?«
»Mein ... früherer Korpsbruder, wollten Sie sagen.«
»Hm ... er tut mir so leid, aber ich habe ihm nicht helfen können, er hatte es gar zu eilig, sich in die Bredouille zu stürzen — also, was treibt er? Erzählen Sie!«
»Ja, haben Sie ihn denn heute morgen nicht bemerkt?«
»Wo? doch nicht etwa auch unter den Kürassieren?«
»Gewiß! der Längste und Schönste unter den Pappenheimern.«
»Nein wahrhaftig — er ist mir nicht aufgefallen! Er hat sich ja auch nicht so bemerkbar gemacht wie Sie!«
»Ja, es hat eben nicht jeder den Dusel, über fünfundzwanzig Treppenstufen Ihnen geradewegs vor die Füße zu kollern.«
»Wie denkt er denn über mich und — über die ganze Affäre?«
»Das weiß ich nicht. Ich schäme mich es zu gestehen, aber ich sah ihn seitdem nicht mehr — meine Schuld — doch was will ich machen? Wenn ich nicht Franke bin, so bin ich Meininger, in jeder Stunde, Tag und Nacht. Ach, gnädigstes Fräulein, ich habe nie gedacht, daß es so etwas gäbe, daß man sich so ganz verlieren, so ganz vergessen kann! Ich lebe wie im Fieber — mir ist, als hätte ich Flügel — ich möchte tausend Augen, tausendfache Sinne haben, um all das festzuhalten, was in mir strudelt und braust. Was für Hexenmeister seid Ihr: alles, was ich ahnte, wenn ich in meinem Knabenstübchen die großen Dichter las, ist Leben geworden, Wirklichkeit, Erfüllung ... Und damit nicht genug, ich selber, ich schaue nicht nur, ich selber stehe mitten drin, in all dem Schwall — ein Strom von Glück und Sehnsucht braust unter mir und wirbelt mich auf und nieder. Wo soll ich hin mit all dem Drang — wo soll ich hin?!«
Lächelnd hob Jucunda die Hand und streichelte die glühenden Wangen des Jünglings, wie sie es heut morgen im Theater getan.
»Sie Dichter!« sagte sie, »Sie Dichter —! Lassen Sie es doch brodeln und gären, lassen Sie's doch! Machen Sie Gedichte daraus, schön wie das, welches Sie mir damals sprachen ... so schön und schöner noch!«
»Ja,« sagte er, »das will ich tun ... später einmal, später, wenn alles das vorüber ist ... denn ich weiß ja, es währt nicht ewig ... acht Tage noch, dann zieht Ihr fort ... und ich bin wieder, was ich war — ein armes Studentlein, Franconiae Fuchsmajor, einer von Tausenden — und um mich ist wieder nichts als Bier und klirrende Speere und Drogenwelt und die Dutzendgesichter meiner Kommilitonen — o Gott! wie soll ich das ertragen! Ich weiß, ich werde irgendeine Dummheit machen — ich laufe fort, in die weite Welt, dahin, wo Ihr seid — wo Sie sind, Sie wunderbarer Mensch — Sie Zauberin!«
»Das werden Sie nicht tun!« sagte Jucunda. »Ich weiß, daß Sie das nicht tun werden — ich weiß, Sie werden dann stille Stunden der Besinnung haben ... es wird Ihnen werden, wie es denen gewesen ist, deren Verse, deren Szenen wir abends sagen und gestalten. Sie werden dichten — glauben Sie's mir.«
»Ach, wenn das wahr wäre — wenn das möglich sein könnte!«
»Es wird so sein,« sagte Jucunda. Ihre Stimme war weich, ihre blauen Augen hingen an den braunen des Knaben. Soviel lebendige Dichter hatte sie nun schon gesehen in ihrem Leben: was waren das alles für reservierte, verbrauchte, zermürbte, grauköpfige Herren gewesen — wie hatten sie gezittert hinter den Kulissen, wenn ihre Stücke vom Stapel gingen, da draußen — wie hatten sie ängstlich auf den Applaus gelauert, wenn der Vorhang sank, wie hilflos sich hinausziehen lassen ins blendende Rampenlicht, um sich linkisch und schweratmend nach dem schwarz gähnenden Zuschauerraum hin zu verneigen, wo das Publikum über das Schicksal ihrer Schöpfungen entschied! — Dieser hier war noch ganz Poet, er wußte noch nichts von all dem Gräßlichen, das auf ihn wartete hinter den grauen Schleiern, die seine Zukunft verhüllten, ihn trennten von diesem schauderhaften Leben des angstvollen Ringens um Erfolg, um Gold und Lorbeer, in das sie selbst, die Achtzehnjährige, schon so tiefe Blicke hineingetan. In ihm sprudelten noch ganz ungetrübt die heiligen Quellen der Phantasie, darinnen Sonn' und alle Sterne sich spiegelten ...
Einen Augenblick war's ganz still im Zimmer — der Tee wurde kalt in den Tassen, und sein Duft mengte sich mit dem Rosenhauch, mit den blauen Wölkchen der Zigaretten, die durch die Stube kräuselten. Von der Straße her fiel der erste Laternenschein in die umdunkelte Stube und ließ die goldigen Schriften der Kranzschleifen matt aufglimmern. — Mit langsamen Bewegungen stand Jucunda auf, um Licht zu machen.
»Nicht doch,« wehrte Hans — »nicht Licht machen ... es ist so schön so.«
»Aber anders ist es besser!« sagte Jucunda mit leisem Lächeln und entzündete die Lampe. Und wieder ließ sie sich in das Sofa fallen und neigte den flechtenbeschwerten Kopf auf die Lehne zurück.
Wie seltsam das doch war —! Sie kannte so viel Männer von Geist und Rang ... wie kam's, daß ihr heut zumut war wie nie zuvor —? War's die Kraft, die ungebrochene, die ihrer selbst noch unbewußte, die sie ahnte in den Tiefen dieser empor sich ringenden Seele? War's die edlere Rasse, die sie witterte, sie, das Kind einer enggebundenen Welt, einer Welt ohne Schwung und Größe? Sie war Künstlerin genug, dies alles zu ahnen, was in dem jungen Menschen da vor ihr wirkte und wallte ...
Und Hans fragte sich immer wieder im stillen, ob das denn wahr, ob das denn möglich sei ... ob das Leben wirklich so schön sein könne, so maßlos reiche Gaben spende ...
Still war's. Von der Katharinenstraße heraus klapperten behäbig trottende Pferdehufe, der Schritt der Fußgänger, die von ihrer Arbeit heimwärts steuerten.
»Wie gut,« sagte Jucunda, »daß ich heut abend mal ausnahmsweise nicht spiele, so gehört uns diese Stunde wenigstens ganz!«
»Und wehe dem, der kommen wollte sie uns zu stören — Sie wissen das alles ja gar nicht — Sie wissen nicht, was das alles mir bedeutet, was Sie mir bedeuten — ich weiß es selber erst seit wenig Augenblicken. Ich denke zurück an zwei Abende meiner Jugend, die der Wendepunkt waren, ich fühle es nun. Ihr spieltet daheim, in dem alten engen Stadttheater an der Rathausbrücke — Sie waren eben entdeckt worden, ein märchenhaft aufleuchtender Stern — und ich, ein sehnsüchtiger Primaner droben auf dem zweiten Rang im »Wallenstein« — Sie drunten als Thekla mit der Laute in den rotsamtnen Vorhang geschmiegt, weißleuchtend abgehoben von dem riesigen Glasfenster, durch das die sternlose Nacht hineingähnte. Sie sangen Ihr Lied, Sie wissen's ja — Sie singen's übermorgen wieder — Und wissen Sie, wie ich Sie empfand? Sie waren die leuchtende Seele des gigantischen Gedichts, Sie waren die Schönheit, die versinken muß unterm erbarmungslosen Schritte des Schicksals — Sie waren die Tugend, die zermalmt wird von den geifernden Kinnbacken des Verbrechens, Sie waren ... das Ideal, das waren Sie ... ach! und Sie sind's mir geblieben. Jetzt fühl' ich's, daß Sie immer mit mir gegangen sind in den zwei Jahren — und nun, ist's möglich! Nun sitze ich Ihnen gegenüber, könnte Ihre Hand erreichen, wenn ich's wagte, darf in Ihre Augen sehen und fühlen: das Geschick meines Lebens ist über meinem Haupt.«
Seine Stimme zitterte — die braunen Augen leuchteten, der Atem flog.
»Und dennoch —« sagte Jucunda langsam, großäugig — »und dennoch haben Sie Asta Thöny geküßt.«
»Ja, Jucunda, ich habe Asta Thöny geküßt. — — Wie soll ich Ihnen das erklären — sie war die erste, die kam, damit ist alles gesagt. Sie hat mich genommen, weil alles in mir nach der Erfüllung lechzte, die nur Jucunda heißen durfte. Ach! so ist's wohl stets im Leben, daß man sich bescheiden muß und dankbar sein, wenn man Kupfer bekommt für Gold. Das andere, das ganz große Glück, das gibt's ja nicht, das darf's ja gar nicht geben — denn gäb' es das, wir wären Götter und nicht Menschen ... und Götterschicksal erträgt sie ja wohl nicht, diese arme, irdische Seele, dieser schwache, tönerne Leib. — Und doch, ich fühl's: daß ich das habe tun können, daß ich, Ihr Bild im Herzen, die andere umarmt habe, das hat mich Ihrer unwert gemacht und unwert auch all dessen, was ich mir an eigenem Wert und Werden erträumt habe. Ja, Jucunda, ich habe Asta Thöny geküßt — und nun muß ich ja wohl auch gehen, nicht wahr?«
Er war aufgestanden, gesenkten Auges stand er neben ihr. Da griff sie nach seiner Hand:
»Du lieber, süßer, dummer Junge, Du ... Hans Thumser, kleiner dummer Bub, komm, sei vernünftig, setz' Dich mal her zu mir aufs Sofa. Ja, es ist schade, lieber Freund, daß Sie so zu mir kommen — aus den Armen der andern. Aber vielleicht bin ich selber dran schuld ... warum habe ich Sie nicht erkannt beim erstenmal, da wir uns sahen? Ich, ich bin in Ihrer Schuld, ich war in Wirklichkeit die Dumme ... die Blinde ... Doch was tut's, das alles? Ich will, daß es nicht gewesen sein soll — und es ist fort — ich wisch' es aus, ich streiche den Namen Asta Thöny von der Tafel Deines Lebens ... Und nun ist nichts mehr da als ich, nicht, mein Hans?!«
»O nichts, nichts als Du —!« stammelte er und sank neben dem Sofa in die Knie. Seine glühende Stirn sank in ihren Schoß, ihre weißen Hände glitten über seine braunen Locken. — Da richtete er sich auf, irren Auges, die Wangen feucht, und sah sie an, so ganz Inbrunst, Ergebung und Verlangen, daß es sie niederzog zu ihm. Sie umschlang seinen Nacken, ihre Lippen hingen über den seinen.
In diesem Augenblick wurde heftig an die Tür geklopft. Die beiden jungen Menschen fuhren empor — das war nicht wahr, das durfte nicht sein ... aus solchem Traume gibt's kein Erwachen, eh er zu Ende geträumt ist. Und doch — es klopfte abermals.
»Jucunda, darf' ich 'rein kommen?« klang Frau Buchners fette Stimme.
Die beiden Kinder richteten sich auf. Die mühevoll eindressierte Haltung, sie versagte nicht in diesem trauervollsten Augenblick. Im Nu saß Hans Thumser auf seinem Stuhl, ganz Korpsstudent, ganz korrekter junger Gentleman — und sie, ihm gegenüber, auf dem Sofa, ganz Dame, ganz Komödiantin:
»Bitte, Mama ...«
Frau Buchner trat ein, mit einem Lächeln des Triumphs auf den Lippen. Ein wenig stutzig sah sie von einem zum andern, doch ihr prüfender Mutterblick fand keine Spur, die Besorgnis erregt hätte.
»Nu, Jucunda, was sagste nu?« Mit spitzen Fingern hielt sie eine Visitenkarte in den Bereich der Lampe, eine vielzackige Krone darauf und darunter die Worte:
Heribert Hans Herwig, Erbprinz von Nassau-Dillingen
»Was?« rief Jucunda, »er ist draußen?«
»Ei, herrjemerschnee! Ne so was — ne so was ... Natierlich ist er draußen — in höchsteigener Person! Soll ich 'n 'rinlassen?«
Mit einem Blick hatte auch Hans Thumser die Schrift auf der Karte entziffert, der zweite flog mit schreckhafter Spannung zu Jucunda hinüber.
Und — sie? Das Gesicht, das ihm eben geleuchtet hatte wie der Genius seines Lebens selbst, es hatte den Ausdruck völlig gewandelt: ein dünnes Lächeln befriedigter Eitelkeit spielte um die schmalen, herrischen Lippen, die Augen flackerten einen Augenblick in unstetem Sinnen, die Stirn hatte sich gekraust. Aber schon war der kurze Kampf zu Ende:
»Selbstverständlich, Mama. Sie haben ja wohl nichts dagegen, Herr Thumser, wie? Der Herr ist ja doch ein Korpsbruder von Ihnen.«
Mit einem Ruck war Hans Thumser emporgeschnellt:
»Dann verzeihen Sie wohl, wenn ich mich empfehle, mein gnädigstes Fräulein — ich wünsche nicht zu stören.«
»Aber ich bitte Sie, was heißt stören? Wir könnten ja so nett zu dreien ...«
Starr und förmlich verneigte sich der Student:
»Adieu, meine Damen.«
Er griff nach seiner grünen Mütze, die auf einem Stuhl an der Tür lag, dem spanischen Rohr mit Silberbeschlag, das daneben lehnte, und schritt hinaus.
Im engen Korridor stand der Erbprinz, in Ueberrock und spiegelnden Lackschuhen, den Zylinder in der Hand, die Scherbe im Auge. Sein Gesicht wies den Ausdruck blöder Verblüffung. Mit einer kurzen Verneigung stürmte Hans Thumser an ihm vorüber und ließ die Korridortür ins Schloß fallen.
Vor ihrem Bett war Asta Thöny in die Knie gesunken und hatte geweint, wie nie zuvor in ihrem Leben — und doch, wieviel Tränen waren schon über ihre vergangenen Tage geflossen ... Wie teuer hatte sie die flüchtigen Augenblicke des Glücks erkaufen müssen, zwischen denen nichts gewesen war als Kampf — Kampf mit zusammengebissenen Zähnen — Hunger und Verzicht — Abschied und Sehnsucht ... Und nun war's wieder einmal tief, tief dunkel geworden um sie her ...
Sie sprang in die Höhe. Die eingeschlossene Luft in dem engen Stübchen preßte ihr die Brust zusammen — sie riß das Fenster auf: da draußen auf der Sophienstraße noch immer das Flockentreiben und all die Fenstersimse der schwarzen Häuserzeilen schon weiß überlagert, die Straßen drunten wie versunken unter der weißen Last — die aufgespannten Regenschirme bestäubt, die Hutkrempen, die Mäntel schneebepudert. Da hinein, in dies wehmütig tolle Treiben hatte sie mit dem Liebsten schwärmen wollen — da hinein zog's sie nun, die glühenden Augen zu kühlen, die schneidende Luft in tiefen Atemzügen in die schmerzende Brust zu saugen.
Einen kurzen Blick warf sie in den Spiegel und sah ihre Lider, ihr ganzes Gesicht fieberisch gerötet. Sie suchte den dichtesten Schleier, den sie hatte, und knüpfte ihn fest ums Gesicht. Dabei fiel ihr Auge auf die schönen neuen pelzgefütterten Glacéhandschuhe. Sie waren ganz verdorben vom Strom ihrer Tränen ... ach, wie gleichgültig das war.
Nun war sie drunten auf der Straße — wie dunkel es schon war um diese frühe Nachmittagsstunde — wie sie emporblickte, lag's über den Dächern wie eine graue Decke, aus der es unablässig niederrieselte. Im Nu trug auch sie die Livree des Winters.
Den wirbelnden Flockenschauern entgegen stapfte sie gen Westen, kreuzte die Zeitzer Straße und überschritt auf schmalem Brückchen den Mühlgraben ... In den Wald hinaus, nur fort von den Menschen, fort aus der Stadt — in die Einsamkeit, dahin, wo sie hatte einsam sein wollen mit ihm. Nun dehnte sich zur Rechten die endlose Schneefläche der Rennbahn, und vor ihr stand der Wald, ein schwarzer Saum, weiß überzackt. Unter der Schleußiger Brücke gurgelten gelb und angeschwollen die trägen Pleißefluten — ohn' Unterlaß sanken die leuchtenden Flocken in die schmutzigen Gewässer und wurden eingeschluckt — wie der Schwall des Lebens Wesen um Wesen verschluckt. Den schmalen Pfad schlug sie ein, der hart am Ufer drüben aufwärts führte zu den graulich aufragenden Eichenschäften, dem Gewirr des Ufergestrüpps, dran jedes Zweiglein schon seine feuchte weiße Last trug ... Und wirr durcheinander, wie die stäubenden Flocken, jagten ihre Gedanken. Gott, wie grenzenlos allein sie doch war auf der Welt: Tochter eines kleinen Gerichtsbeamten in München, war sie von der strengen katholischen Rechtgläubigkeit und engen Spießbürgersittsamkeit ihrer Eltern um jener ersten Liebschaft willen, die sie einem schmucken Leutnant von den Chevauxlegers in die Arme geweht hatte, aus Haus und Heimat verstoßen worden. Das Gräflein hatte brav an ihr gehandelt. Ihre berufliche Ausbildung, ihren ersten Schatz an Kostümen verdankte sie seiner Freigebigkeit. Und dennoch hatten am Ende der Abschied, die Tränen, die Verlassenheit gestanden ...
Und nun: die kleinen Engagements in Nürnberg, in Regensburg, in Augsburg. Immer umringt von einer Verehrerrotte, die nichts von ihr wollte als immer das gleiche — das eine — für die sie niemals eine Seele, ein Mensch, eine Künstlerin gewesen war, sondern immer nur eine hübsche Schale, ein Spielzeug, ein Zeitvertreib, eine Sklavin ... Und endlich das große Glück: ein einziges Mal ein Mensch, der sie ernsthaft nahm, Franz Burg, der Meininger Oberregisseur, der sie entdeckte ganz hinten im Ensemble eines Mittelstadtbühnchens. Und nun: Engagement, kleine Rollen, mittlere Rollen, Erfolg — Karriere. Karriere? Ach, du lieber Gott! Bis zu den Sternen war man nicht gekommen — immerhin, man war geborgen, man konnte sich ausruhen, konnte arbeiten — stand inmitten eines großen, künstlerischen Treibens, brauchte sich nicht mehr wegzuwerfen, zu verkaufen.
Aber ach, verdorben war man nun doch einmal, konnte nicht mehr leben ohne Küsse, ohne Rosen, ohne Liebesbriefe, ohne Zärtlichkeiten ... Und so flog man doch auch jetzt immer noch aus einem Arm in den andern, blieb ein Spielzeug — blieb der rasch vergessene Kamerad flüchtiger Taumelstunden ...
Da war der eine gekommen, dies grasgrüne Studentlein, das so ganz, ganz anders war als alle die frühern ... Was war's eigentlich gewesen, was ihn von ihnen unterschied? Er hatte sie genommen, sie hatte sich ihm gegeben, genau wie's immer gewesen war — nur eines war anders gewesen — ach, sie wußte es wohl, der Klang seiner Rede war's, die schäumende Flut von klingenden, schwingenden Worten, in denen seine Zärtlichkeit, sein Rausch sich ausströmte über sie hin — ach nein — auch noch ein andres. All die andern, die sie gekannt hatte, waren erfahrene, abgebrühte, blasierte Burschen gewesen — diesem einen, sie wußte es, hatte sie das erste Glück des Lebens gebracht. Sie hatte träumen dürfen, ihm etwas zu sein, etwas, das nicht verfliegen könnte mit dem Rausch der flüchtigen Erfüllungsstunden ... Und nun, nun war auch das ein Trug, ein Wahn gewesen ...
Tief gesenkten Hauptes schritt das einsame Mädchen fürbaß. Und wie ein fernes Brausen klang weit, weit hinten das Treiben der großen Stadt, gedämpft durch die rastlos niedersinkenden Flockenmassen. Und in der Nähe schien jeder Schall des Lebens erstorben — nur der eigne Schritt knirschte leise im lockren Teppich, der die Welt überzog. Und zur Linken glucksten die gelben Wasser. Unter der nassen Last lösten sich die letzten gelben Blätter von den Wipfeln und sanken schwer und matt wie dunkle Schattengebilde inmitten des weißen Geriesels nieder, lagen ein paar Sekunden als schwarze Flecken auf dem leuchtenden Grund und wurden dann schnell verschüttet und begraben ... Und Asta sann in die Zukunft — was hatte sie noch zu hoffen? Zu den höchsten Höhen der Kunst, dorthin, wo die strahlende Rivalin stand, ach, dorthin würde sie sich niemals emporschwingen. Nur die Niederungen waren ihr bestimmt, die wenigen Jahre, bis Jugend und Anmut verweht sein würden — und was dann? — Und was inzwischen? — Immer nur Neid und Enttäuschungen ... Ab und an, wenn einmal eine neue Rolle neue Hoffnung brachte, ein verzweifeltes Emporraffen, ein neues zähneknirschendes Einsetzen der ganzen Kraft — dem, ach, doch immer wieder das Versagen, das Ermatten, die Erkenntnis der Begrenztheit des eigenen Wesens und Könnens folgen müßten, wie noch stets bisher.
Und wo war dann Trost als in neuen Umarmungen, in neuen Tändeleien, ohne Glauben, ohne Hoffnung, ohne Sinn?
Nein, wenn sie nicht einmal diesen einen dauernd hatte fesseln können, wenn selbst dieser eine, in dessen Leben sie am Anfang der Liebe gestanden, wenn sie nicht einmal ihn länger hatte binden können denn auf ein paar Wochen, dann war sie doch wohl gar nichts wert. Nicht einmal als Liebchen, nicht einmal als Weibchen! Und das nun immer und immer wieder erleben müssen, hatte das einen Zweck? — Ließ sich das ertragen?
Und doch, etwas in ihr bäumte sich auf gegen diese Verneinung ihres ganzen Daseins. War sie denn wirklich so ein Nichts, so ein Püppchen ohne Existenzberechtigung, ohne Lebenswert? Ach nein ... nur den falschen Weg war sie gegangen — nein — nicht gegangen: gestoßen war sie worden von dem aberwitzigen Schicksal. Damals, als sie sich von dem blinkenden Rock, der gleißenden Grafenkrone ihres ersten Galans hatte blenden lassen, als sie ihren einzigen Besitz, ihr Mädchentum, einem eitlen, egoistischen Jungen hingeworfen hatte, ohne zu denken, ohne zu fragen wohin, wozu — damals war sie aus dem Gleise geworfen worden ... Irgendwo in der Welt lebte doch gewiß ein braver, schlichter Mensch ihres eigenen Standes, des Standes, in dem alle ihre Instinkte wurzelten, dem hätte sie in Bescheidenheit und Treue Gesellin und Helferin werden müssen. Das wäre dann ein Leben gewesen, für das ihre Kräfte gereicht hätten, in das sie Sonne, Glücksgenügen hätte zaubern können für ein ganzes Erdendasein. — Nun hieß sie eine Künstlerin, ohne ein Künstlermensch zu sein ... Nun sollte sie gestalten, ohne in sich die Fülle der Gesichte zu tragen ... Sollte die Schöpfungen von Dichtern verkörpern, ohne selbst ein Stück Dichterin zu sein ...
Die Dämmerung kam. Immer schauriger ängstete die Stille um sie her, und lichtlos wie die nebelverhangene Waldeinsamkeit ringsum lagen Zukunft und Leben. Eine grenzenlose Müdigkeit kam über das verlassene Kind — eine Sehnsucht nach Schlaf ohn' Erwachen. Und in der lastenden Stille, in die sie sich hineingesogen fühlte, war nun ein Laut nur noch: das einlullende Rieseln und Rauschen der gelben Gewässer neben ihrem Pfad, die so erbarmungslos die weißen Flocken einschluckten in ihren gurgelnden Schwall. Ach! wer auch so eine weiße Flocke wäre, so rasch und völlig versinken, zergehen könnte ...
Aber schreckhafte Gesichte drängen sich vor — wie schauervoll müßte das Ende sein, wären diese Flocken nicht fühllos, wären sie nicht der Flut wesensgleich, die sie verschlang? Du aber, Asta, du bist ein junges, heißes Menschenkind, du wirst nicht leicht und sanft dich auflösen und verschmelzen mit den Gewässern, die meerwärts rollen da unten. Du wirst dich quälen müssen, alles in dir wird im letzten verzweifelten Ansturm noch einmal nach dem Leben in Glanz und Licht verlangen, dem du verwandt bist, in dem du dich umgetrieben, zwar oft in Tränen und Verzweiflung, doch bisweilen auch in Schauern von Seligkeit ...
Und dennoch, eine Stille wird kommen nach der kurzen Qual — eine lange, tiefe, wunschlose Stille.
Und noch ein Gedanke kam, der Furcht und Grauen schuf: Asta war in römischer Frömmigkeit erzogen, der Kinderglaube war nie ganz versiegt in ihrer unbewehrten Seele. Wenn's nun wahr wäre, was man sie gelehrt hatte von ewiger Verdammnis, von einem Wiedererwachen zu unnennbarer, unendlicher Qual? Ach nein, das war doch wohl nur Märchen und Kinderschreck — ach nein — wenn erst die Glut hier drinnen verloschen war, wenn die Glieder, die so heiß gefiebert hatten im Ueberschwang der Daseinswonne — wenn sie erst so kalt und leblos geworden waren wie drunten die strömende Flut, dann war's aus und vorbei, dann kam nichts mehr — kein Glück mehr und kein Schrecknis.
Da stieg aus den falben Nebeln, die mählich den Fluß überlagerten, ein niedres Gebäude empor, eine hölzerne Wirtschaftsbaracke, grau gestrichen, hart bis an die Strömung des Flüßchens herangeschoben, mit einer Galerie, die über das Ufer vorsprang. »Zum Wassergott« lautete die Inschrift auf dem getünchten Wirtshausschild. Im Sommer mochte hier zur Abendstunde muntres Treiben herrschen, friedliche Philisterbehaglichkeit — nun lag das kleine Anwesen kläglich verödet, ganz versunken in trostloses Schweigen.
Asta trat ans Geländer und sah, wie die gelbe Flut in quirlenden Strudeln um die schneeverwehte Treppe rauschte, an der sonst das Fährboot anlegen mochte. Und nun zu denken, daß man morgen so gefunden würde, weit, weit unten irgendwo, entstellt, zerzaust, aufgedunsen — — Aber ... das ging einen ja dann nichts mehr an, das fühlte man ja doch nimmer. Dann mochte die Welt laufen, wie sie wollte. Dann mochte der kleine Hans Thumser vor Jucunda Buchner auf den Knien rutschen und um die Gunst betteln, die Asta ihm, ach, allzu wohlfeil, allzu willfährig gewährt. Dann mochten sie Komödie spielen, solange es ihnen noch Spaß machte, sich abzuquälen für die undankbare Bande im dunkeln Parkett — ach! und wie dankbar war man doch gewesen, wenn die mal ein bißchen mitgegangen waren, wenn man ab und an sich hatte vorlügen dürfen, man sei auch wer, man habe auch die Kraft in sich, die da hinten zu packen und durch und durch zu rütteln, wie die paar es konnten, die paar Echten, die paar Großen ... Ja, spielt nur, spielt nur Komödie — auf den Brettern und im Leben. Lügt Euch Gefühle vor und laßt Euch welche vorlügen, glaubt daran oder tut doch wenigstens so, als glaubtet Ihr. Denn auch Du hast ja gelogen, kleiner Hans Thumser, als Du unter Küssen und Tränen mir schwurst, ich habe Dir das Glück geschenkt. Ich weiß es ja nun, Du hast in meinen Armen immer nur an die andre gedacht. Ob Du's bei ihr finden wirst, das Glück, das sogenannte Glück? Ob Du es überhaupt jemals finden wirst im Leben? Ich will Dir's gönnen, kleiner Hans, denn ich habe Dich sehr lieb gehabt — ich will Dir's gönnen, kleiner Hans — ich aber — ich tu nicht mehr mit, ich habe genug ...
Einen spähenden Blick noch warf Asta in die Runde. Es war nun fast ganz dunkel geworden und nichts ringsum, als das sachte Sinken der weißen Kristalle, hinter denen die schwarzen Stämme ragten, finster und stumm. — Ob es wohl lange dauern würde? Ob es sie noch einmal emportragen würde an die Oberfläche? Hoffentlich würden die nassen Kleider sie rasch in die Tiefe ziehen. Es war nicht schade drum, sie hatte sich für einen Fußmarsch im Schnee zurecht gemacht. Das bissel Flitter, was daheim herumlag, dafür würde sich schon irgendeine Verwendung finden: nur das schöne Sealskinjackett und das Barett und der Muff dazu, das war doch zu schade für die Pleiße! Irgendein Armes mochte das hier finden und es verkaufen und sich einen guten Tag dafür machen ... Sie zog die kostbaren Hüllen ab und legte sie sorgfältig zusammengefaltet unter das weitvorspringende Holzdach der Wirtschaftsveranda, wo sie einigermaßen vor dem Schnee geschützt waren. Nun schauerte sie fröstelnd zusammen im Nebelhauch der Waldtiefe. Gott — und daß nun niemand, niemand morgen weinen wird, wenn sie's hören, wenn's in der Zeitung steht, wenn zum letzten Mal von Asta Thöny was in der Zeitung steht — ach, allzu viel Schönes hat nie dringestanden über Asta Thöny — und keiner wird weinen, nicht ein einziger von all den vielen, vielen, die mich geküßt und mir von Liebe geschwatzt haben, nicht einer. Auch Du nicht, Hans Thumser, ach, auch Du nicht ...
Und sachte wie die weißen Flocken in die träge ziehenden Fluten niederglitten, so sachte ließ Asta Thöny sich niedergleiten von der schneeverwehten Treppe an der Holzveranda des Restaurants »Zum Wassergott« ...
Valentin Pilgram war nachmittags gegen halb vier von dem Repetitor nach Hause gekommen, um sich in das gewohnte, besinnungslose Arbeiten hineinzustürzen, mit dem er nun schon seit Wochen sich zu betäuben gewohnt war.
Als er durch den dunklen Korridor schritt, kam die Frau Kanzleirätin aus der Küche mit einem Brett voll Teegeschirr und ging zu Jucundas Stube hinüber. Verlegen erwiderte sie seinen Gruß; wie die Tochter, so wich auch die Mutter dem Zimmerherrn aus, wo irgend möglich, seit jenem verhängnisvollen Morgen ...
Als sich die Tür zu der Stube der Schauspielerin öffnete, sah Valentin Pilgram mit einem Blick, daß dort Vorbereitungen für den Empfang eines Besuches getroffen wurden: festlich gedeckt glänzte der Tisch, sorgfältig waren die Blumenspenden der letzten Abende arrangiert, kurz, alles verriet ein nahes Fest.
Wer mochte erwartet werden? Ein paar Kolleginnen oder Kollegen ... oder? — Valentin wußte, daß der Erbprinz keine Vorstellung versäumte, in der Jucunda auftrat, er hatte bei jeder Premiere unter den Riesenschleifen der Lorbeerkränze die Farben von Nassau-Dillingen erkannt. Also zum mindesten war Seine Durchlaucht nicht mehr in der Ungnade ...
Merkwürdig: der gewohnte Arbeitsfriede wollte heute nicht kommen. Immer lauschte der Kandidat auf Stimmen da drüben, in der ingrimmigen, quälenden Hoffnung, sie möchten recht behalten, jene ekelhaften Vermutungen, die sich immer deutlicher in ihm emporreckten: der Erwartete möchte der Erbprinz sein ...
Und endlich schlug die Glocke im Hausflur an. Valentin Pilgram fuhr in die Höhe, schlich zur Tür und lauschte. Dabei überkam ihn brennende Scham: was war aus ihm geworden, daß er das Tun und Treiben anderer Menschen zu beschnüffeln und zu bespitzeln gelernt hatte? Das war doch früher nie gewesen ...
Und horch — die Stimme eines jungen Mannes ... aber das näselnde, gequetschte Organ des Prinzen war's nicht, es war eine frische, klangvolle Stimme ... es war ... Hans Thumsers Stimme ... Ach — also der!
Er hörte ganz genau, wie Mutter Kanzleirätin den Besuch zur Stube der Tochter führte, wie sie anklopfte, wie des Mädchens volltöniger Alt das Herein ertönen ließ, wie sie lebhaft und freudig den Besucher begrüßte, wie jener verbindlich und bewegt erwiderte.
Das Blut stieg dem Lauscher ins Hirn, in die Augen — die Gedanken quirlten einander überstürzend empor und machten ihn schwindeln. Also er —! Wundervoll! wundervoll! Wie das alles sich zusammenfand, wie die vagen Vermutungen, die greulichen Phantasien der letzten Wochen sich nun zu festen, zweifelsbaren Schlüssen zusammenfügten! Nun freilich — nun war's ja klar, wie der Frankenzirkel und Hans Thumsers Initialen auf jenen Bogen geraten waren, der Jucundas Absagebrief trug! Man hatte es verstanden, ihn beiseite zu schieben — hatte seine schnelle Ritterschaft lächerlich zu machen gewußt, um seine eigenen Chancen zu verbessern! Freilich, daß man mit einer solchen Gemeinheit auf dem Gewissen den Mut nicht gefunden hatte, den Hintergangenen, den an die Wand Gedrückten in seiner Einsamkeit zu besuchen — kein Wunder schließlich! Und auch heute hatte man den Weg zur Tür des einstigen Korpsbruders nicht gefunden, obwohl man unter einem Dache mit ihm war! Also so etwas gab's — so viel Infamie barg sich hinter der zur Schau getragenen Besonderheit, der phantastischen Eigenart des Reimedrechslers! — — Na warte, Bursche!
Valentin Pilgram hatte kein Talent zum Lauscher an der Wand. Er schlich an seinen Schreibtisch zurück, vergrub den Kopf in den Händen und wühlte sich in das krause System des römischen Erbrechts hinein. Aber die Buchstaben hüpften vor seinen Augen, die Sätze verwirrten sich, führten sinnlose Tänze auf, und etwas Unwiderstehliches zog ihm immer wieder die geballten Fäuste von den Ohren ... Da drüben klapperten die Tassen, plätscherte munteres Gespräch ... kein Satz zu verstehen, höchstens einmal ein einzelnes Wort. Nun ein erregtes Lachen, nun Schritte durchs Zimmer, nun in raschem Wechsel Geplauder, ein Hinüber und Herüber von Scherz und Neckerei jetzt und nun von Rede, deren Sinn man nicht verstand, deren Klang aber deutlich genug von wachsender Vertraulichkeit, von innigem Austausch redete ... Ja freilich, der wußte besser, wie man mit Frauen, mit Künstlerinnen reden muß, um Eindruck zu machen!
Valentins Gedanken verwirrten sich. Es war ihm nun, als müsse Hans Thumser das alles mit diabolischem Raffinement ausgeheckt haben, was sich vollzogen hatte. Gewiß war er schon längst hinter Jucunda her — war er's nicht gewesen, der die Idee mit dem Pferdeausspannen ausgeheckt — und war er nicht an jenem Abend als des Erbprinzen Gast an seiner Seite im Theater gewesen? Gewiß hatte er auch in Erfahrung gebracht, mit welch geschmackloser Zudringlichkeit der Erbprinz und der Major sich bei Jucunda einführen wollten, und hatte schon damals sein Plänchen geschmiedet ... Alle Wut und Qual der letzten Wochen knäuelte sich zusammen zu einem einzigen, alles verdrängenden Gefühle der Empörung, des Ingrimms, der Rachelust ... ihn, diesen glatten Lächler, diesen geschmeidigen Buben, stellen ... züchtigen!
Aber nein — das war nicht länger zu ertragen, dieser Zusammenklang der zwei Stimmen da drüben, der gehaßten und der ach ... in tausend Schmerzen geliebten! War er denn verdammt, all jenes Glückes Ohrenzeuge zu sein, das er für sich selbst nur in fernen Träumen zu ersehnen gewagt hatte? Und das dem Buben da drüben in den Schoß fiel. Nein, das nicht, das doch nicht! Fort, hinaus, in das Schneegetriebe da draußen, weg aus diesem dumpfen Zimmer, dessen Luft bis zum Ersticken angefüllt war mit vergangener und gegenwärtiger Gedankenqual!
Valentin Pilgram stand auf. Er warf seinen Winterpaletot um, stülpte den weichen, zerknüllten Filzhut auf den unfrisierten Kopf, nicht achtend, daß beide Kleidungsstücke seit Tagen nicht gebürstet, von dickem Staub umlagert waren. Er, der sonst so peinlich gestriegelte Korpsstudent, hatte seit Wochen sein Aeußeres schlimmer vernachlässigt als der armseligste Prolet unter den Kommilitonen ... Er griff nach dem wüsten Knotenstock, den er sich für fünfzig Pfennig in irgend einem Kram gekauft, seit er das silberbeschlagene spanische Rohr mit der Dedikation seines Leibburschen nicht mehr führen durfte ... und nun hinaus — nur hinaus!
In der kurzen Stunde, seit der Jungschnee sich eingestellt, waren Bürgersteig und Straße mit fußhohen Schneemassen überschüttet. Mühsam bahnten sich die Fußgänger ihren Weg, trübselig stapften die Droschkengäule daher, wie schwarze Silhouetten schoben Menschen, Tiere, Gefährte einander vorüber, die ersten Laternen äugelten mit trübem Blinzeln durch den Flockennebel, der ohn' Unterlaß herniederwogte. Von weißen Kanten eingesäumt, reckten sich die finstern Fronten der alten Barockpaläste zu beiden Seiten der engen Straße. Jedes Geräusch war eingesogen von den weichen Polstern des Grundes, den stiebenden Flockenmassen, welche die Luft verhängten.
Der junge Gesell, der mit aufgeschlagenem Rockkragen, die Hände in den Manteltaschen vergraben, verloren und ziellos durch die Straßen pendelte, hielt es nicht aus inmitten des lautlosen Lebens, das sich schattenhaft an ihm vorbeidrängte. An der Thomaskirche vorüber, deren schwarzer Giebel sich droben in dem weißen Dunst verlor, pendelte er auf den Ring hinaus, wo die Zweige der Baumreihen, des Gebüschs unter der Wucht ihrer weißen Last sich bogen und knackten. Zur Linken stieg das finster dräuende Massiv der Pleißenburg in die silbernen Schwaden, das Rund des Turmes hob sich als riesiger Schattenriß von den Lichtfluten um den Roßplatz und Königsplatz ab. Und nun der winterstille, menschenleere Johannispark! Hier ließ sich aufatmen, hier wurde die Brust freier. Hier klärte sich das Gedankenchaos ...
Ja, es mußte gehandelt werden. Die ganze Fülle der verhängnisvollen Ereignisse, die Valentin Pilgram aus seines Lebens sicher vorgezeichneter Bahn so jählings hinausgeschleudert in ein uferloses Nichts, das alles drängte zu einer entladenden, entlastenden Tat. Und diesmal würde seinem Vorsatz Erfüllung werden — diesmal würde er nicht wie Don Quichotte gegen die Windmühlenflügel anrennen, um alsbald entsattelt an der Erde zu zappeln, ein Spott der Welt ... Diesmal würde er den waffengeübten Arm zum sicher treffenden Schlag zu brauchen wissen, mitten in des Feindes Fratze!
Des Feindes! — es gab ja nur den einen! In ihm schien dies aberwitzige Schicksal der letzten Wochen Gestalt angenommen zu haben — in jenem jungen Burschen, der sich jetzt gewiß von Jucundas Lippen den Dank holte für eine ganze Kette von Niederträchtigkeiten und Bübereien. Ihn züchtigen — ja das war's! Das forderte die Stunde!
Und dann? Was kam dann?! Dann würde man sich gegenüberstehen, Aug' in Auge, den Lauf der Waffe auf des Feindes Herz gerichtet ... das war dann das Gottesgericht ... Dann würde sich's zeigen, wer von ihnen beiden weichen müsse von dieser Welt, die nicht Raum mehr hatte für sie beide ...
Und ... dann?!
Hans Thumser sollte fallen. Er wollte es. All die eiserne Willenskraft, die bis zu dieser Stunde sein junges Leben vorwärts getrieben, er würde sie in das kleine Stückchen Blei hineinlegen, das des Feindes Herz finden sollte. Das war dann die Sühne, das war die Wiederherstellung der heiligen Weltordnung, welche von den Gesetzen der Ehre regiert wird, der Ehre, deren Ritter er gewesen war, und die jener andere mit Füßen getreten hatte ... jener andere, der heut noch das dreifarbene Band um die Brust trug, das er, der Getreue, eingebüßt hatte dank jenem sinnlosen Schicksal, dem er unterlegen war bis heut. Aber dies stumpfsinnige, brutale Schicksal, es sollte nicht Meister bleiben in der Welt, solange er noch Kraft hatte, den Hahn einer Pistole abzudrücken ...
Und dann?! Er wußte den Gesetzesparagraphen zu nennen, dem er dann verfallen war; die Höhe der Strafe, welche seiner wartete. Das war ja wiederum der groteske Unsinn dieser Zeit, daß die Gesetze des Staates das Recht der Selbsthilfe dem Manne versagten, der am Heiligsten seines Lebens gekränkt war: an seiner Ehre ... Dieselben Gesetze, die den Beleidiger der Ehre mit Strafen von kindischer Winzigkeit bedrohten ...
Immerhin — lieber zwei Jahre lang als Gefangener auf dem Königstein, lieber das, was liberale Zeitungsschmierer einen Duellmord nannten, lieber das alles, als dieses zermürbende Gefühl der Ohnmacht, der Wehrlosigkeit gegen menschliche Infamie und den Aberwitz des Fatums!
Schon war des einsamen Wanderers Hutkrempe von einem dichten Schneekranz umlagert. Nasse Schauer sprühten ihm um die glühenden Wangen, eisige Tropfen rieselten ihm über Hals und Nacken. Er achtete es nicht. Den Kopf tief in den Schultern vergraben, stolperte er fürbaß. Schon lag der Park hinter ihm, mechanisch verfolgte er den nächsten Pfad, der hart am Saume des rechten Pleißeufers zwischen den reckenhaften Schäften der hochstämmigen Eichen und dem dürren Gestrüpp der Erlen entlang führte. Als sein Blick zufällig die gelben Fluten der gurgelnden Pleiße streifte, stieg mitten in sein finsteres Brüten hinein ein lachendes Bild heiterer Jugendlust:
Die S. C.-Kahnfahrt nach Connewitz, welche die Leipziger Korps in jedem Sommersemester gemeinsam unternommen hatten ...
Wann war doch das gewesen? Vor einer Ewigkeit ... in einem andern, versunkenen Leben ... Damals hatte die Welt in tausend Farben geleuchtet, hatten bunte Mützen und grellfarbige Bänder geblinkt, heiter abgehoben vom dunklen Grün der Ufersäume, vom Blau des klaren Himmels, das sich in den freundlichen Wellen des Flusses spiegelte ... Flüchtig, wie es herangeweht, zerstob das Bild, und wieder war nichts als der schneestarrende Wald und drunten die blaugraue Flut und ringsum Dämmerung und lastende Einsamkeit. Nur drüben, am jenseitigen Ufer, wohl zwanzig Schritte vor Pilgram, ging noch ein anderer einsamer Mensch, ein schwarzer, formloser Schatten, vorüberhuschend vor dem silbernen Reif, der den ganzen Wald, der alle Welt überflitterte.
Und wieder tauchte Valentin Pilgram tief in den schaurigen Abgrund seiner Grübeleien.
Wie, wenn es nun anders kam? Wenn das Gottesgericht gegen ihn entschied? Nun dann war eben alles aus — und er brauchte doch wenigstens nicht mehr zu leben auf einer Welt ohne Sinn ...
Aber — die daheim —?! Die Eltern, deren Stolz er war, er wußte das ... Der eifrige Vater, der in rastloser Arbeit zu einer der obersten Stellungen in der Königlich sächsischen Rechtspflege emporgestiegen war und in den zwanzig Jahren rüstiger Arbeit, die noch vor ihm liegen sollten, noch höher zu steigen hoffte? Er, in seiner starren Rechtlichkeit, seiner tadellosen Korrektheit der Art des Sohnes so innig verwandt? Nie hatten Vater und Sohn voreinander Worte zu machen gebraucht von dem, was sie beide längst wußten: daß sie Menschen einer Rasse, eines Wesens waren, würdige Glieder einer uralten Familie hochangesehener Gelehrten, Geistlichen, Beamten, die stets eine Zierde der Stadt, des Staates gewesen waren ... und die gute Mutter, ein Mensch, so recht zur Ergänzung dieses Schlages geschaffen, ohne starke Persönlichkeit, voll tiefsten Respekts gegenüber dem Gatten und dem Sohne, denen sie sich allzeit als freudige und nützliche Dienerin untergeordnet hatte, entsprechend den Traditionen der ehrbaren Geschlechter, aus denen auch sie entsprossen war, und die allzeit aufrechte Säulen der Ordnung und Tüchtigkeit gewesen waren. Die Schwestern, von der Mutter nach ihrem Vorbilde erzogen zu braven Gattinnen für diese ehrenfeste Art Männer, wie das Vaterland sie immer gebraucht hatte und, will's Gott, immer brauchen würde ... und nun — ein Sohn im Duell gefallen ... in einem Duell, in dem eine Rolle, eine wenn auch noch so entfernte Rolle immerhin ... eine Schauspielerin ... gespielt hatte? War das nicht wider den Stil der Familie? wider alle Gewohnheit ihrer Daseinsführung?
Nein, das war es nicht. Untadelig war, was immer er getan, seit Jucunda Buchners Bild emporgetaucht war in seinem jungen Leben, das nichts als Ehre gewesen war. Untadelig ... Und so würde er's vor jenem ernsten Gange für die Lieben daheim aufzeichnen, würde für jeden seiner Schritte die Motive, die Handlungen angeben, die Zeugen benennen. Und so würden die Seinen des Gefallenen mit tiefer und reiner Trauer ohne Groll und ohne Scham gedenken können, ja mit Stolz als eines Menschen, der auch diesem absurden Spiel dämonischer Mächte gegenüber geblieben, was er stets gewesen: ein Mensch ihrer Art ...
In diesem Augenblick trieb ein Windstoß dem einsamen Wanderer einen heftigeren Guß prickelnden Schnees ins Gesicht und scheuchte ihn aus seiner Versunkenheit auf. Es war fast völlig finster geworden, und Valentin Pilgram entschloß sich zur Stadt zurückzukehren. Seine Entschlüsse waren gefaßt, klar vor ihm lag der Weg, den seine Pflicht ihn gehen hieß. Zu was noch länger ziellos durch die Einsamkeit streifen? Daheim waren die Bücher ... und in wenig Tagen würde das Examen beginnen ... und Ruhe würde ja nun auch geworden sein daheim. Heut abend waren wieder die »Piccolomini« — Jucunda würde schon im Theater sein ...
Schon war Valentin Pilgram im Begriff kehrtzumachen, da fiel sein Blick zum jenseitigen Ufer, und er sah im letzten Dämmerschein etwas Unbegreifliches:
Kaum noch in matten Umrissen erkennbar, lag drüben die Sommerwirtschaft »Zum Wassergott«. Dort hatte er nach manchem Spaziergange mit Korpsbrüdern die Hitze des Marsches an einer Gose gekühlt und dem munteren Treiben der sonntäglichen Kähne auf dem Flusse zugeschaut. Und seitlich, an der Treppe, wo die Fähre anzulegen pflegte, stand ein Mensch, eine Frau. Auch sie nur ein grauer Schatten vor dem Dunkel, das unter der Galerie lastete. Und dieser Mensch tat nun etwas ganz Sonderbares: dieses Weib legte seine Kopfbedeckung ab — es schien eine Pelzmütze zu sein — und zog das Jackett aus, schob beides zusammengefaltet nach hinten in das Dunkel und stieg nun die Treppe hinunter bis dicht ans Wasser. Und nun — — in jähem Schrei entlud sich Valentins Entsetzen!
Schon in der nächsten Sekunde aber reagierte ganz automatisch sein Instinkt auf das grauenhafte Schauspiel, das sich bot. Mit einem Ruck riß er die Knöpfe seines Paletots und seines Rockes auf, schleuderte beide Kleidungsstücke mit einer jähen Bewegung in den Schnee und war mit einem Satz am Ufersaum, mit einem zweiten schoß er in die gelbe Flut hinaus. — Die markerschütternde Kälte des Wassers lähmte eine Sekunde lang seine Glieder wie sein Hirn, im nächsten Augenblick aber durchschoß ihn ein siedender Feuerstrom. Jeder Nerv, jeder Muskel spannte sich an wider das eisige Grauen — Arme und Beine strafften sich, mit heftigen, ruckartigen Stößen setzte er sich zur Wehr gegen die zähe Umklammerung des kalten Elements, in dem er trieb. Er schwamm, er wußte sein Ziel. Ueber der fernen Stadt lag ein roter Schwaden, dessen Widerschein sich in den träge hingleitenden Fluten spiegelte. In diesem matten Perlmutterglast glitt eine dunkle Masse, auf die schwamm er zu. Wenig Stöße, dann war's getan. Er griff in ein nasses Bündel Kleider hinein, fühlte warme Menschenglieder, umspannte eine schlanke Gestalt. Kaum spürte der wehrlose Körper die fremde Berührung, da zuckte er in aufbäumendem Entsetzen zusammen, krümmte sich, warf sich hin und her in den Eisstrudeln, welche die hintreibenden Leiber umquirlten. Doch nicht umsonst hatte der Student seine Muskeln in der harten Zucht des Fechtbodens gestählt und ihre Kraft in mehr denn zwanzig Waffengängen erprobt. Mit eisernem Griff umschlang er das zarte Figürchen, rang die strampelnden Arme nieder und lenkte mit heftigen Beinstößen dem nahen Ufer zu. Die nassen Kleider legten sich wie stählerne Klammern um seine Beine, der Druck der Schuhe machte die Füße schwer und hilflos, doch mit wildem Ungestüm zwang der Wille jedes Hemmnis nieder, den Frost, den Verzweiflungskampf der zuckenden Glieder, die er mit seinen Armen umschloß. Nach wenigen Sekunden fühlten die Füße Grund, Schlammgrund, doch er hielt. Nun packten beide Arme mit unwiderstehlichem Griff das leichte Körperchen um Hüften und Knie — noch ein kurzes, heftiges Ringen, dann griff die Linke einen tiefniederhängenden Weidenast, die Rechte schleifte die zappelnde Last durch die gurgelnden Wellen. Nun spannten beide Arme noch einmal sich an und hoben mit hartem Ruck den gefangenen Leib in die knackenden Büsche der Uferböschung hinein. Nun klang ein wimmerndes Stöhnen, nun keuchten klagende Laute wie eines kranken Kindes Stimme:
»Lassen Sie mich doch ... o bitte ... bitte, lassen Sie mich doch los!«
»Ne — gibt's nich!« keuchte der Student. Mit letzter versagender Kraft würgte er sich selber durch die schneeüberstäubten Zweige des Ufergestrüpps hindurch, zog den Körper der Geretteten vollends hinauf und ließ ihn in den lockeren Schnee gleiten, weil die ausgepumpten Muskeln nichts mehr hergaben. Schwarze Finsternis ringsum — nichts hörte Valentin, als das raschelnde Keuchen der eigenen Lungen, das ratternde Hämmern des eigenen Herzschlages und dazu aus der geheimnisvollen Dunkelheit zu seinen Füßen das wimmernde Schluchzen einer Mädchenstimme — immer nur dies wimmernde Schluchzen, dies hilflose Greinen.
»Lassen Sie mich doch los ... o bitte, bitte ... lassen Sie mich doch!«
»Ne,« keuchte Valentin Pilgram, »das können Sie nun wirklich nich ... von mir ... verlangen, Verehrteste ... ich hab' mich dermaßen für Sie ... abgeschunden ... jetzt lass' ich Sie nich wieder ... in die nasse Sauce da!«
Mit der Ueberwindung der Gefahr war ein grimmiger Humor über ihn gekommen. Er richtete sich auf, reckte die stählernen Glieder, schlug ein paar mal die Arme über der Brust mit kräftigem Ruck zusammen, um sich gegen die Frostschauer zu wehren, die sich in seine Haut einfraßen. Dann bückte er sich zu der Geretteten, bekam das schlanke Figürchen um die Taille zu fassen und setzte es mit einem energischen Hub auf die Beine.
»So, nun bleiben Sie gefälligst stehen ... aber nein, kommen Sie mit mir, wir rennen zum »Wassergott« zurück ... das macht warm ... Sie haben ja da meines Wissens Ihre Oberkleider gelassen, die holen wir ...«
Dabei versuchte er die Dunkelheit zu durchdringen, um etwas von den Zügen der Gesellin dieser seltsamen Begebenheit zu erkennen. Umsonst — nur etwas Nasses, Zitterndes hielt er in seinen Armen, dessen Wärme langsam die eisige Nässe der Hüllen durchdrang, die um ihre Glieder schlotterten. Die zarte Gestalt wollte wieder in die Knie sinken, aber er raffte sie empor, zog sie herzhaft an seine Seite und zwang sie, in raschem Schritt durch den lockeren Schnee mit ihm den Fußpfad pleißeaufwärts zu verfolgen.
Dabei redete er ohn' Unterlaß auf das junge Menschenkind ein, das wankend und noch immer leise wimmernd an seiner Seite schritt.
»Nun sagen Sie bloß, meine Gnädigste, wie sind Sie auf die verrückte Idee gekommen, bei so schauderhaftem Wetter Schwimmversuche in der Pleiße zu machen? — Dabei können Sie sich ja einen Schnupfen holen, den Sie in diesem Leben nicht mehr los werden. Denken Sie bloß, wenn ich nicht zufällig des Weges gekommen wäre ... Und noch dazu in Kleidern, das bringt ja nicht einmal ein Mann fertig, geschweige denn so ein kleines zartes Mädel wie Sie. — Oder sind Sie gar eine junge Frau? Dann sagen Sie's mir, damit ich Sie richtig anrede ... kommen Sie, wir müssen schneller laufen ... damit wir warm werden, Sie zittern ja gottserbärmlich. Schade, daß der »Wassergott« zugemacht hat, ich wäre kolossal für einen Grog oder auch deren mehrere, Sie nicht auch?«
So schwatzte er drauf los, allerhand banales Zeug, was ihm gerade in den Kopf kam, und nahm mit Befriedigung wahr, daß das Wimmern schwächer und schwächer ward und schließlich ganz verstummte.
Und dann kam eine wilde Lust an dem unerwarteten Abenteuer über ihn, das in seine verzweifelte Stimmung hineingeplatzt war wie ein Weckruf zu neuem Leben ... Und immer brennender wurde in ihm die Neugierde, die Züge der Unbekannten zu sehen, in deren Schicksal er hatte eingreifen dürfen wie vom Himmel gefallen.
Als die beiden einen Augenblick verpusteten, griff er in seine Hosentasche und zog die Zündholzschachtel hervor, sie war ganz trocken. Die wenigen Sekunden, die er in dem nassen Element zugebracht, hatten nicht genügt, um seine Kleidung gänzlich zu durchfeuchten. Da ließ er ein Hölzchen aufflammen und sah mit jähem Entzücken, welchen holdseligen Fang er gemacht. Dabei weckte ihm das triefende, glühende Gesicht, von langen dunklen Haarsträhnen überhangen, unbestimmte Erinnerungen ...
Aber eine Scheu verbot ihm zu fragen ...
Und das Flämmchen verlosch, das angstvolle Gesicht, die hilflos blickenden Augen versanken wieder in der Finsternis. Nein, jetzt nicht fragen — wie wund mußte diese arme flüchtige Seele sein ...
Da war der »Wassergott«. Valentin stapfte in die schneeverwehte Galerie hinein, aber die Gerettete ließ er dabei nicht los.
»Ne, ne, kommen Sie ruhig mit, Gnädigste, ich habe Angst, Sie möchten zu viel Geschmack an Ihren Schwimmkünsten gefunden haben ... und ob ich Sie zum zweiten Male da herausbrächte? Ich weiß wirklich nicht.«
In der Finsternis fand er die weichen, duftigen Pelzhüllen, ahnte voll Respekt, daß es sich um Kostbarkeiten handeln müsse, und hüllte seine Gefangene sorglich hinein. Sie wehrte sich nicht ...
Und nun der Heimweg. Durch das schneebepuderte Gitterwerk des dürren Waldes am jenseitigen Ufer leuchtete der Widerschein der fernen Stadt, der einen gelblichen Lichtbogen wie eine matte Aureole in die niederwallenden Schneenebel hineinzeichnete. Perlmutterfarben widerleuchtete sein Schein auf den friedlich meerwärts gleitenden Pleißefluten.
Das junge Blut, vom raschen Gang, von der fiebernden Erregung der Herzen aufgepeitscht, besiegte mählich die Frostschauer, die von den nassen Kleidern her die Glieder überrieselten. Und mit einem geheimnisvollen Gefühl brüderlichen Stolzes hielt der Student das zarte Figürchen umschlungen, preßte es an sich, wie um ihm abzugeben von der Siedeglut, die ihn durchpulste.
Noch immer schwieg sie, und wie ein Wasserfall redete Valentin auf sie ein:
»Das hätt' ich mir weiß Gott auch nicht träumen lassen, daß ich meinen Spaziergang in so angenehmer Gesellschaft beenden würde. — Und Sie? Finden Sie es nicht doch viel netter, zu zweit hier im Schnee zu waten, als einsam da unten in der dreckigen Pleiße zu paddeln? — Sehen Sie mal, wie hübsch sich drüben das Gezweige von dem roten Himmel abhebt! Da kann man's wahrhaftig sehen, wie helle die Leipziger sind — sogar der ganze Himmel ist hell über dem guten alten Biernest ... Aber nu sagen Sie doch auch mal was, Fräulein! oder haben Sie Ihre Stimme da unten im Wasser gelassen? Das wäre doch schade. Ich denke mir, Sie müssen sehr niedlich plaudern können ... Soll ich Sie vielleicht noch einmal erleuchten und mich auch, damit Sie sehen, daß Sie es mit einem ganz ordentlichen Kerl zu tun haben? Sie haben doch am Ende nicht gar Angst vor mir?«
Und horch!
Da klang's auf einmal aus der Dunkelheit neben seiner Schulter, leise wie ein Taubengirren:
»Angst ... ach nein — wie könnte ich Angst vor Ihnen haben, Sie sind ja so gut zu mir —«
»Hurra! sie kann wieder reden!« jauchzte der Bursch. »Herrlich! herrlich! Und nun — nun sagen Sie mir's mal gleich, wohin ich Sie bringen darf? Denn nach so einer Strapaze gehören kleine Mädchen ins Bett ... Auch ein Glühwein könnte nicht schaden. Also — wohin soll's gehen? Heraus damit!«
Leise nannte das Mädchen seine Adresse. Unwillkürlich schmiegte sie sich fester in den führenden, schützenden Arm. Ihr war, als sei ihr noch nie so wohl gewesen, so geborgen wie in diesem Augenblick. Das Dasein, das ihr vor einer Viertelstunde noch schal und wertlos erschienen war, nun glomm es wieder auf in ihr voll Sehnsucht nach neuem Erleben, voll Dankbarkeit, noch da zu sein, die eigene Wärme siegen zu fühlen über die eisige Nässe, der sie sich anvertraut — das ferne Leuchten zu sehen über der Stadt, wo die Menschen hausten, wo das Leben brandete, wo man Komödie spielte — aß und trank, lachte und küßte ... Gott, welch ein Wahn, welch eine Raserei war doch nur über sie gekommen und hatte sie da hinuntergetrieben —?
Ach leben — nur leben. Besser, sich prügeln lassen vom Schicksal, besser, sich auf und ab wirbeln lassen zwischen Glückseligkeit und Tränen, Tränen und Glückseligkeit, als dies kalte Nichts da unten.
»Ich danke Ihnen,« stammelte sie. »Ich danke Ihnen!«
Und lustig schwatzend von den gleichgültigsten, törichtsten Dingen, als seien sie zwei alte Bekannte, die sich beim Spaziergang begegnet, stapften die zwei Menschen fürbaß durch den knietiefen Schnee.
»Haben Sie warme Backen?« fragte der Student. »Au! Teufel ja, die brennen ja wie ein Oefchen — und die Hände? Ziehen Sie doch die nassen Handschuhe aus, das gibt ja Rheumatismus — richtig, die sind wie zwei Eiszapfen. Da weiß ich Rat, wir werden uns schneeballen. Los! Greifen Sie zu, ich laufe voraus. Daß Sie mir aber nicht wieder auskneifen und in die Pleiße spazieren!«
Nein — Asta hatte keine Sehnsucht mehr nach der Pleiße. Sie bückte sich, griff mit den erstarrten Händen in die lockere Masse, die alles überlagerte — und klatsch, da flog ein raschgeformter Ball dem riesigen Begleiter vor die Brust, daß es nur so knallte ... Und lachend, rennend, prustend, wie zwei Kinder, tollten die zwei den Weg entlang.
Schon schatteten die dunklen Fronten der Vorstadthäuser in das silberne Flockengeflitter hinein. Nun galt's sittsam und verständig nebeneinander durch die Straßen zu schreiten, in denen nur wenige schneebepuderte Gestalten unter weißbezuckerten Regenschirmen hastig und lautlos ihren Behausungen zustrebten.
Als aber der erste Laternenschein dem wandelnden Paar die Gestalt des Partners zeigte, schrie das Mädchen plötzlich auf:
»Um Gottes willen, Sie sind ja in Hemdärmeln! Sie werden sich den Tod holen!«
»Ach! keine Spur!« lachte der Student. »Ich glühe nur so! vorwärts, nur vorwärts!«
Jeder Vorüberwandelnde stutzte, als er das seltsame Schauspiel sah, daß ein junger Mann barhäuptig und hemdärmelig neben einer elegant bepelzten Dame herschritt.
Rasch war Valentin des Anstarrens, des Stehenbleibens satt. Auf der Zeitzer Straße rief er eine Droschke an, deren schneebepackter Gaul mühselig und dampfend dahin keuchte. Und nun war nach wenigen Minuten die Sophienstraße erreicht, die Hausnummer, die das Mädchen angegeben.
Es kostete Mühe, in den nassen Kleidern die Treppe hinan zu kommen, den Korridorschlüssel zu finden.
Mit Ueberraschung bemerkte der Student, daß es die wohlbekannte Wohnung war, in der Mutter Ach schaltete, sie, die ganze Generationen von Franken beherbergt hatte. Sie, bei der jetzt jener andere wohnte, dem Valentin Pilgram in ingrimmiger Einsamkeit eine fürchterliche Vergeltung geschworen ...
Starr vor Entsetzen stand die behäbige Witwe, als im matten Schein des Flurlämpchens ihre Mieterin vor ihr stand:
»Ei, herrjemerschnee! ne so was — ne so was ... Was hab'ns denn nur gemacht, Freilein? ... Und wer is denn das? — Weeß Knebbchen, das is Sie ja der Herr Pilgram! Herr Pilgram, is es meeglich?! Nu komm' Se doch bloß mal in die Stube 'nein — ich wer' gleich Feier machen — und Tee wer' ich 'n kochen, i nee so was, nee so was.«
Bei dem Namen Pilgram hatte das Mädchen gestutzt. Höher noch flammte ihr glühendes Gesicht. Stumm klinkte sie ihre Stubentür auf und huschte hinein. Die Tür ließ sie offen in dem dunklen Gefühl, daß ihr Retter einen Anspruch auf die behagliche Wärme habe, die ihr von drinnen entgegenschlug.
Doch der folgte ihr nicht — starr hingen seine Augen an dem weißen Kärtchen, das an der Stubentür befestigt war.
»Das — sind Sie?« fragte er mit zusammengebissenen Zähnen.
»Ja, das bin ich — kommen Sie doch herein — wärmen Sie sich.«
Zögernden Schrittes trat der Student näher. In scheuem Staunen musterten sich die beiden jungen Menschen, das Hirn von wirren Gedanken durchkreuzt ...
Frau Wehe hastete herein, rannte geschäftig zum Feuer, um frische Kohlen aufzuschütten.
»Nu sagen Se bloß, Herr Pilgram, was haben Se denn angefangen alle zwei? Wer looft denn bloß in so en' Wetter hemdärmlig 'rum und mit bloßem Koppe?! Und naß wie de Katzen seid 'r alle zwee! Da soll wer anders draus klug wer'n!«
»Das Fräulein ist spazierengegangen an der Pleiße, hat im Dunkeln den Weg verfehlt, ist ins Wasser gefallen, ich habe sie herausgezogen,« erklärte Pilgram hastig.
»Gott soll mich bewahr'n!« schrie Frau Wehe. »Nu aber mal schnell ins Bett mit dem Kind! — Und Sie, Herr Pilgram, Sie gehen nebenan zum Herrn Thumser und nehm' sich Wäsche und Kleider, versteh'n Se mich?! Am besten wär's schon, Sie legten sich einfach da nebenan ins Bette! Herr Thumser wird schon nich beese sinn! Und dann koch' ich Euch Tee oder Grog, 'ne paar Wärmepullen unter de Decke, ich wer' schon machen!«
»Nein!« schrie da Asta Thöny. »Herr Thumser, nein — das geht nicht — der darf nichts davon wissen ... der auf keinen Fall!«
»Ach Quatsch!« rief die stämmige Wirtin. »Ihr holt Euch ja den Tod alle zwee, da gibt's nischt zu reden — machen Se fort, Herr Pilgram, in's Bette mit Ihn' —!«
Mit angstvollen, flehenden Blicken hingen des Mädchens Augen an den erstarrten Zügen ihres Retters, seiner finster zusammengekrausten Stirn. — Sie schwieg, sie wußte, daß sie nicht länger bitten durfte, wo es um seine Gesundheit ging, vielleicht um sein Leben ...
Heiser fragte da Valentin Pilgram:
»Thumser? Warum darf der nicht wissen —? Kennen Sie Thumser?«
Tief senkte das Mädchen den Kopf, stand regungslos, schauerte plötzlich in Frösten zusammen. Auch der Student schwieg. In wirrem Grübeln, in finstrem Forschen gingen seine dunklen Blicke zwischen dem zitternden Mädchen, der hilflos, verständnislos dreinglotzenden Frau hin und wider.
»Kennen Sie Hans Thumser, gnädiges Fräulein?« fragte er noch einmal, hart und befehlend. Ein Verdacht reckte sich dräuend in ihm auf. So phantastisch, so aberwitzig, daß der Verstand sich sträubte, ihn zu formulieren ...
Asta antwortete nicht. Sie sank immer tiefer in sich zusammen. Und plötzlich knickte sie in die Knie, ihre Arme fielen auf einen Stuhlsitz, das Köpfchen mit den triefenden, zerzausten Flechten glitt in die silbernen Falten des Pelzwerks, das sich um ihre Glieder schmiegte, und ein jähes Schluchzen durchrüttelte die hingeworfene Gestalt.
Valentin Pilgram begriff ... Das fehlte noch, das war das letzte ... Und die ganze, kochende sinnverwirrende Wut, die den Nachmittag über sein Inneres verwüstet, schlug in roter Lohe aus den Tiefen seines Wesens empor, stieg ihm in die Augen, in die Stirn, in die Fäuste. —
»Der Hund —! Ah, der Hund!« knirschte er. »Sorgen Sie mir gut für das Fräulein, Frau Wehe! Adieu!«
Er stürzte hinaus. Die Stubentür, die Korridortür krachten hinter ihm ins Schloß.
Asta Thöny war emporgefahren. Blitzschnell schloß sich die Gedankenkette: Also der da, ihr Retter, das war Valentin Pilgram — er, den sie kannte aus Hansens Erzählungen, von dem sie wußte, wie er in jähem Zorn sich zur Sühne für eine Schmach gedrängt, die ihrer großen Kollegin widerfahren ... Und nun, nun stürmte er von hinnen, unvollkommen bekleidet wie er war, schäumend vor Wut, wie sie ihn mit einem letzten Blick gesehen. Und sein letztes Wort war eine gräßliche Drohung für Hans Thumser gewesen. Für ihn, von dem er nicht einmal in dieser Not trockene Kleider hatte annehmen wollen.
Das bedeutete Gefahr — Todesgefahr für den geliebten, den treulosen Jungen —!
Todesgefahr —! Noch meinte sie den stählernen Druck des Armes zu fühlen, der sie aus dem kalten Flutengraus gerissen, der sie so sicher und brüderlich heimgeleitet.
Wehe dem, der diesem Arm verfiel.
Nein, nein ... das nicht, das nicht! Um diesen Preis gerettet zu sein, nein, das nicht ... o Gott, das nicht —!
»I herrjemerschnee, Fräulein Thöny, was hat er denn nur, der Herr Pilgram, was hat er nur?« stammelte Frau Wehe.
»Still, still!« winkte Asta ab. »Lassen Sie mich einen Augenblick.« Und hastig sann sie, wo Hans Thumser nur stecken könne in diesem Augenblick ...
Ach so — Mittwoch — offizielle Kneipe ... Ach, sie kannte den Wochenkalender des Korps in- und auswendig. Also im Cafébaum, auf der Frankenkneipe ... Und da ... da würde ja auch der Rächer ihn suchen ... nein — das nicht ... o Gott, das nicht —
Und mit einem Ruck stülpte sie das Barett wieder auf, klappte den Kragen des Pelzjacketts in die Höhe, und triefend und schlotternd, wie sie war, rannte sie an der verblüfften Wirtin vorüber, flog die halbdunkle Stiege hinunter, stand auf der Sophienstraße ...
Drüben fluteten dichte Menschenströme, vom Glast der Laternen des Carolatheaters überstrahlt, vom Flockengestiebe silbern umflittert, in die dunkel gähnenden Pforten des Kassenflurs hinein.
Gott sei Dank, »Piccolomini« —! Asta war dienstfrei. In die erste Droschke, die drinnen ihre Fracht abgeladen hatte und aus der dunklen Ausfahrt herausrumpelte, sprang Asta hinein, rief im Einsteigen dem Kutscher zu:
»Kleine Fleischergasse, Cafébaum, so schnell das Pferd laufen kann — einen Taler Trinkgeld sollen Sie haben, wenn's rasch geht!«
Der Wagenschlag klappte, der Kutscher schlug die Peitsche dem Gaul um die dampfenden Flanken, und durch die dunklen, schneeverwehten Straßen schwerfällig von dannen rollte das Gefährt.
Auf der Sophienstraße geriet Valentin Pilgram in den Schwall der Theaterbesucher hinein, der zum Carolatheater drängte.
Ach so — ha, ha! natürlich, da spielte man ja Komödie, heut' wie alle Abende!
Und Jucunda Buchner natürlich wieder der Stern des Abends, der Zielpunkt aller Blicke, die Sehnsucht aller Herzen! Ja gewiß: wie er sich durch die Menge schob, auf allen Lippen das leise, andächtig hingesprochene: Die Buchner ... die Buchner ...
Der lange Gesell, der im tollen Schneetreiben hemdärmelig und barhaupt sich durch die Menge zwängte, machte alles stutzen, alle Hälse sich wenden.
»Nanu, was hat denn der? Das is wohl ä Verrickter am Ende! Schutzmann! he, Schutzmann! Nähmen Se'n doch feste, den Langen da!«
Nein — so ging's nicht weiter. Er erwischte eine Droschke, warf sich hinein, befahl Katharinenstraße zweiundzwanzig. Er konnte ja auch unmöglich so auf Korpskneipe erscheinen, sie hätten ihn da wohl auch für wahnsinnig gehalten — hätten sein Rächeramt, seine heilige Mission, die beleidigte Ehre des grün-gold-roten Bandes wiederherzustellen, für einen Ausfluß des Aberwitzes genommen. Und dann: es schüttelte ihn. Fieberglut und Frostschauer tobten abwechselnd durch seine Reckenglieder.
Herrgott! Dieser alte Klepper wollte gar nicht vom Fleck.
Und doch — es wurde geschafft. Er flog die Treppe hinauf, langte keuchend oben an. Als er den Schlüssel suchte, taumelte er — das Fieber verwirrte sein Hirn. Kaum gelang es ihm, den Schlüssel einzustecken — so leise er konnte, drehte er um, schlich sich auf Zehenspitzen durch den dunklen Flur, machte drinnen Licht — erschrak, als er sein fahles Gesicht im Spiegel sah mit den stieren Augen, den rotfleckigen Wangen.
Einerlei — nur fort, nur es zu Ende bringen!
Er riß die triefenden, dunstigen Kleider vom Leibe, die schweißnasse Wäsche, zog sich vom Kopf bis zu Füßen frisch an, schauerte zusammen in der Siedeglut, die ihn durchrann. Er fühlte sich plötzlich müde zum Sterben — das aufgeschlagene Bett zog ihn magnetisch an. War's nicht das beste, da hineinzukriechen, die Decke über die Ohren zu ziehen und unterzusinken in bleiernes Vergessen ...?
Aber nein — das ging ja nicht. Die Mission! die Mission ... Abrechnung mußte gehalten werden. — Sauber mußte die Welt wieder werden ... Der Schandfleck mußte weg ... Und mit fliegenden Händen kleidete er sich an. Taumelte abermals, als er die Stiefel anziehen wollte, biß die Zähne zusammen, bezwang die todgleiche Erschlaffung.
Als er vor dem Spiegel die Halsbinde zu schlingen versuchte, versagten die Hände. Da knüpfte er nur die Enden in einen wüsten Knoten, stülpte statt des Hutes, der draußen an der Pleiße geblieben, eine schwarzseidene Mensurmütze auf, hing statt des Winterpaletots, den er ebenfalls im Schnee gelassen, einen dünnen Sommerhavelock um ... und nun fort — fort ...
Er warf einen Blick auf die Uhr — dreiviertel neun, gerade recht. Die offizielle Kneipe mußte eben begonnen haben, und bis zur Kleinen Fleischergasse waren's ja nur zwei Minuten.
Halt! Einen Stock brauchte man noch, man konnte nicht wissen ...
Nun, so mochte es schon das silbern beschlagene spanische Rohr sein, die Dedikation seines Leibburschen. Daß er kein Recht mehr hatte, dieses Stück zu führen, das mit dem Zirkel Franconias geschmückt war, was verschlug's in dieser Stunde —?! Es war eben doch ... ein Stock ...
Noch einer war an diesem Nachmittage bis tief in den endlosen Novemberabend hinein draußen im Schnee umhergeirrt: Hans Thumser.
Als er aus Jucundas Zimmer gestürzt, an dem verblüfften Erbprinzen vorüber, da war es auch ihm unmöglich gewesen, es auszuhalten zwischen den hastenden Menschen, den keuchenden, dampfenden Droschkengäulen, in den engen, finstern Straßen, unter den blinzelnden Laternen.
Er war ins Rosental geraten und stundenlang durch die schweigende Einsamkeit des schneeverwehten Parks geirrt.
Ha! ha! Also so lief die Karre! Freilich, freilich! Wenn Fürstengnade winkte, was galten da ein paar armselige Studentlein ...? Denen spielte man eine nette kleine Komödie vor: Hilflose, beleidigte, schutzbedürftige Unschuld dem einen, glühendes Verständnis, tiefinnige Seelenharmonie dem andern ... Und dann — dann ließ man einfach im rechten Augenblick den Vorhang fallen, und ein neues Stück fing an.
Komödie — Komödie — jedes Wort, jeder Blick, nichts als Reminiszenzen aus abgespielten Stücken, nichts als der Nachhall erlogenen, erheuchelten Gefühls ... Komödie ... Komödie ... Komödie —!
War das nicht Strafe? War dieser Abfall, diese Blamage, die fressende Scham — da drinnen — war das alles nicht verdient?! Hatte nicht auch er selber leichtherzig den Vorhang fallen lassen über einem lieblichen Spiel voll erster Seligkeit, voll flammender Glut und reizender Tändelei, das die vergangenen Wochen seinem jungen Leben beschert hatten?
War er besser als jene Jucunda? Er, der danklos und roh die Gesellin so köstlicher Entzückungen beiseite geschoben, um diesem gleißenden Phantom nachzujagen, das heute vor seinen entsetzen Augen die Larve hatte fallen lassen?
Asta! Asta! Dich hatte ich. Du hast dich mir geschenkt ... und ich ließ dich los und rannte einem Irrwisch nach ...
Ja, Hans Thumser ging streng mit sich ins Gericht. Er kam sich so klein vor, so dummejungenhaft, so unwert alles dessen, was die vergangenen Wochen ihm in den Schoß geworfen. Eine jähe Sehnsucht kam über ihn, sich in Astas Arme zu flüchten, die Stirn an ihre Knie zu drücken und um Verzeihung zu betteln.
Und doch — Knabentrotz und Knabenscham jagten ihn immer tiefer in die Schneewildnis hinein. Jetzt vor Asta hintreten und bitten: vergiß —?!
Sie würde sogleich begreifen, daß er — nun, daß er eben ... abgefallen war bei Jucunda. Und würde sie dann nicht triumphieren, sich bedanken für das Vergnügen, ihn über seinen Abfall trösten zu sollen?
Nein — das ging nicht. Das mußte man allein hinunterwürgen. Ha ha! Gab's nicht ein Mittel, die Qual dieser Beschämung, dieser fürchterlichen Blamage abzukürzen? Wozu war man denn Student — Korpsstudent — Fuchsmajor?! Und wozu heut abend offizielle Kneipe?
Ganz recht: besaufen werden wir uns! einen Eimer Bier in uns hineinpumpen, bis wir mitsamt der ganzen Corona der Füchse unterm Tisch liegen und den Himmel für 'nen Dudelsack ansehen. Hol' der Teufel die Weiber —!
Und morgen früh auf dem Fechtboden — Filzmaske aufgesetzt, drauflos gedroschen, solange Arm und Schädel halten wollen —!
Kaum konnte Hans die Stunde der offiziellen Kneipe erwarten. Als er zum Cafébaum schlenderte, grinsten ihm von allen Anschlagsäulen die riesigen Lettern entgegen:
»Wallensteins Lager«
»Die Piccolomini«
Pah! was für Hieroglyphen waren das eigentlich?! Was ging das alles ihn an? Pah, die Meininger! Pah! Schiller —!
Komödie ... Komödie!
Damit war man fertig, das mußte versunken sein und vergessen. — Und was stand ganz unten am Rande des Zettels?
»Freitag: Wallensteins Tod« —?!
Ja, hatte man gestern nicht selbst probiert, sollte morgen früh wiederum probieren für die Komödie von übermorgen? Hatte man nicht im Eisenwams der Pappenheimer Kürassiere gesteckt und sich als Friedländischer Reitersknecht gefühlt, eine Stunde lang?
Lüge, alles Lüge ... äffisches Spiel mit längst verpulster Glut, längst verschütteter Leidenschaft — Komödie das alles! Unwürdig des jungen sehnenden Menschentums, das man in allen Knochen fühlte, das leidend sich aufkrampfte gegen die Not der Stunde — das nach wildem Rausch, nach taumelnder Betäubung sich sehnte, das sich selbst vergessen wollte und vergessen alles um sich her —!
Nein — Hans Thumser wird niemals wieder Komödie spielen ...
Hans Thumser wird mehr nicht sein wollen, als er ist: ein ungarer, unfertiger Mensch, dessen verdammte Pflicht und Schuldigkeit das eine nur ist: zu lernen, zu arbeiten, sich zu stählen für die kommenden Kämpfe des wahren, des wachen Lebens. Morgen, morgen soll's beginnen — heut aber: Bier her! Saufen bis zum Umsinken! Vergessen ... vergessen ... vergessen ...
Da war der »Cafébaum«. Da winkte vom Sims des ersten Stockwerks das dreifarbene Schild, schneeüberlagert. Und der steingemeißelte riesige Türke, der sich von dem feisten kleinen Putten die Mokkaschale kredenzen läßt, trug über seinem steinernen Turban einen doppelt so hohen aus Schnee ...
Nun die enge, muffige Stiege hinauf, nun die Klingel gezogen. Drinnen lärmten schon die Korpsbrüder, die sich zum gewohnten Zechgelage versammelten. Als der Korpsdiener öffnete, empfing den Ankömmling schon auf dem Korridor, wo rings die grünen Kneipjacken mit den rot und goldenen Schnüren an den Wänden hingen, lautes Hallo.
Volkner, der Senior, hatte geschwatzt: er war Hans Thumser begegnet, als dieser mit einem mächtigen, seidenpapierumhüllten Rosenstrauß in das Haus Katharinenstraße zweiundzwanzig hineingegangen war. Daß dieser Besuch nicht etwa dem früheren Korpsbruder Pilgram gegolten habe, das hatte der Blumenstrauß verraten. Wo also konnte Thumser gewesen sein als bei Jucunda Buchner? Halb mit Ulk und halb mit Neid empfing man den Glücklichen. Der Name Jucundas war ein bißchen verdächtig von dem Fall Pilgram her. Obwohl der weiland Senior sich bei den Besuchen der früheren Korpsbrüder hartnäckig über seine Beziehungen zu der Diva ausschwieg, hatten die Korpsbrüder doch allmählich herausbekommen, daß jenem sein ritterliches Eintreten für das gekränkte Mädchen wenig Dank eingetragen hatte ...
Sich mit Jucunda Buchner einzulassen, das hatte also beinahe schon einen Beigeschmack von Komik und drohendem Hereinfall ...
Und dennoch ... der Duft des Lorbeers, der eine ganze Stadt berauschte, zog wie lichter Weihrauchdunst auch durch die Hirne, welche die grünen Mützen bedeckten ...
Der Schwall der Neckereien, die sich über Hans Thumser ergossen, ging ihm heiß in das siedende Blut — immer wilder schwoll die sinnlose Saufstimmung in ihm empor.
»Füchse, ad loca!« brüllte er und nahm am unteren Ende der Kneiptafel Platz, auf dem hochlehnigen Stuhl, der in Eichenschnitzerei die Märchengestalt eines aufrechtstehenden Fuchses zeigte, in Cerevis, Couleurband und Kanonenstiefeln, den Vorderlauf mit einem Schläger bewehrt. Und um ihren jungen Herrn und Meister zur Rechten und zur Linken scharte sich die Fuchscorona, sieben junge Bürschlein, darunter vier Krasse, die erst seit ein paar Wochen der Zucht ihres Schulmeisters entronnen waren, um der noch viel gestrengeren des Fuchsmajors zu verfallen — und drei Brander, Wangen und Nasen schon mit den ersten Dokumenten bewährten Mensurschneids verziert.
»Füchse, ich komm Euch den ersten und den zweiten Halben!« rief Hans Thumser und schüttete das volle Glas hinunter, das der Korpsdiener vor ihn hingesetzt.
Gleichzeitig beschied auch der Senior Volkner alles, was der Fuchtel des Fuchsmajors bereits entwachsen war, an das obere Ende der Kneiptafel: die Korpsburschen, die Inaktiven der Kartell- und befreundeten Korps, die sich in Leipzig studienhalber aufhielten und beim Korps verkehrten, und einzelne Alte Herren aus der Stadt, die sich dann und wann zu den Zusammenkünften des Korps einfanden.
Und nun entwickelte sich das altvertraute Bild: von allen Wänden schauten die Wappenschilder, die gekreuzten Fahnen und Schläger, die Ehrenhumpen und silberbeschlagenen Trinkhörner, die zahllosen jahrzehntealten Gruppenbilder, Silhouetten, Porträte der einstigen Mitglieder des Bundes auf die zechende und lärmende Schar herunter.
Mit zeremoniellem Anstand erhob sich der Erste:
»Silentium! Wir trinken zur Eröffnung einer fidelen, offiziellen Kneipe unser Glas in Gestalt eines Schoppens Salamander! Ad exercitium salamandri — eins, zwei, drei!«
In langen Güssen kollerte der erste Ganze in die zechbereiten Mägen, rasselnd wirbelte der Salamander und endete mit einem krachenden Aufklappen aller Gläser auf die massive Eichenplatte der Kneiptische.
»Silentium!« klang da wieder die Stimme des Präsidenten: »Wir singen als erstes offizielles Lied auf Seite 159: Brüder, zu den festlichen Gelagen ...«
In rauhem, taktfestem Unisono schwoll das Lied durch den niedern Raum, in dem das Brandopfer der Pfeifen und Zigarren sich mystisch über der Sängerschar emporkreiselte:
Und Hans Thumser fühlte beglückt, wie die dumpflastende Beklemmung der einsamen Spätnachmittagstunden von ihm abfiel, und in grimmigem Behagen stürzte er sich hinein in den schäumenden Strudel des Gelages, spürte, wie alles, was ihn so im Tiefsten erschüttert, verschwamm, versank, verflog — und nichts mehr war, als der tolle Rausch der Stunde.
»Füchse! Ich komme Euch den elften und zwölften Halben!«
— so verscholl das hellaufrauschende Lied ...
»Silentium — schönes Lied ex! Ein Schmollis den Sängern!«
Da trat der Korpsdiener ein. Das glänzende Bemmchengesicht verstört, fassungslos. Er schlich sich zu dem ragenden Stuhl des Ersten heran, flüsterte mit vorgehaltener Flosse seinem jungen Herrn etwas ins Ohr, das diesen stutzen und auffahren machte. Einen Augenblick sann Volkner nach — dann flüsterte er dem Korpsdiener zu:
»Es ist gut — sagen Sie's Herrn Thumser — er mag hinausgehen.«
Mit scharfen Blicken verfolgte Volkner den Gang des Korpsdieners, der sich nun mit so lächerlicher Behutsamkeit, als tripple er auf Eiern, hinter den Stühlen seiner Herren entlang zum Fuchsmajor schob und auch diesem seine Botschaft zuraunte:
»Entschuld'gen Se, Herr Thumser — da draußen is Sie nämlich der Herr Pilgram — der läßt Ihn' bitten, ob Se nich mächten so freindlich sinn und gomm'n een Augenblickchen auf'n Flur — er hat 'n ä wicht'ge Mitteilung zu machen!«
Ganz deutlich sah Volkner, wie Thumser zusammenschrak, hastig aufsprang, einen Augenblick nachsann, dann mit einem fragenden Blick die Erlaubnis erbat, die Kneiptafel zu verlassen. Nachdem Volkner Gewährung genickt, bat Thumser den ihm zunächst sitzenden Korpsburschen, ihn in seinem Amt als Vorsitzender der Fuchsentafel eine Weile zu vertreten. Dann raffte er sich zusammen und schritt aufrecht, doch blaß, mit zusammengezogenen Brauen zur Tür hinaus.
Als er mit dem Korpsdiener durch das anstoßende Konventszimmer schritt, flüsterte der Alte ihm zu:
»Se missen nämlich wissen, Herr Thumser, es is Sie schon vor eener Viertelstunde eene sähre hiebsche, junge Dame dagewesen und hat mich gefragt, ob der Herr Pilgram mächte uff der Kneipe sinn. Nu, da hab'ch ihr natierlich nur kennen sagen, daß der Herr Pilgram ieberhaupt nich mehr wirde uff Kneipe komm' — und da is se denn wieder abgemacht. Ich kann Ihn' nur sagen, Herr Thumser, sähr ä hiebsche Dame is es gewesen! Nobel, püh, ich kann Ihn' sagen, Herr Thumser —!«
Hans Thumser war einen Augenblick stehengeblieben. Wirre Vermutungen schossen hin und wider. Pilgram —? Und eine Dame, die nach Pilgram fragte? Was für unwahrscheinliche Begebenheiten — auch nicht den Schimmer eines Verständnisses fand Hans.
Wer konnte die Dame sein, die Pilgram auf der Frankenkneipe vermutete —? Was wollte Pilgram von ihm selber —?!
Nun — man würde ja hören ... Und abermals straffte Hans den Nacken und öffnete die Tür zum Korridor.
Herzklopfend, von Glut und Frost hin und wider geschüttelt, war Asta Thöny vor dem Cafébaum aus der Droschke in den weichen Schnee gesprungen, der nun schon fußtief Bürgersteig und Fahrdamm der schmalen Gasse überzog. Ob ihr Retter wohl schon drüben sein mochte?
Hell erleuchtet glänzten die Fenster des ersten Stocks in das schummerige Dunkel der Straße hinaus, während die ragenden Fronten der geschwärzten Gebäude ringsum nur noch wenige matte Lichtspuren zeigten. Auf der Kleinen Fleischergasse wohnte nur bescheidenes Bürgertum, da ging man früh zur Rast.
Asta trat auf das jenseitige Trottoir und spähte hinauf. Ab und an huschte droben schattenhaft der Umriß einer jungen bemützten Männergestalt vorüber. Durch die verschlossenen Doppelfenster drang Lachen, vielstimmiges Gespräch, Tabakwolken kräuselten zur Decke, Wappenschilder, Schläger blinkten an den Wänden — sonst war nichts zu erkennen.
Es blieb nichts übrig: Asta mußte sich in das dunkle jahrhundertalte Gebäude hineinwagen, mußte fragen, ob droben Herr Pilgram schon eingetroffen. Mit versagendem Herzschlag kletterte sie die winklige, dunstige Stiege hinan, hielt einen Augenblick vor der Tür still, an der ein grün-gold-rotes Farbenschild angebracht war und ein längliches Porzellanschildchen mit der Aufschrift:
»Corps Franconia.«
Drinnen klang lauter nun Lärm und Gelächter. Was half's — sie mußte es wagen ...
Eine schrille Klingel schlug an, Schritte tappten heran, ein ältliches, gerötetes, glattrasiertes Männergesicht lugte durch den Spalt und blinzelte befremdet, als es des ungewohnten Besuches ansichtig ward.
Mit stammelnden Lippen fragte Asta, ob Herr Pilgram schon angekommen. Verblüfft grinste der Türhüter und erklärte: Herr Pilgram gehöre nicht mehr zum Korps, er komme überhaupt nicht mehr.
Gottlob — also jedenfalls noch nicht zu spät gekommen ...
Und Asta huschte wieder die Treppe hinunter, stapfte in den Schnee hinaus und patrouillierte auf dem jenseitigen Bürgersteig, frostgeschüttelt, erwartungfiebernd.
Ab und zu kam noch eine grünbemützte Jünglingsgestalt und bog in den schlechterleuchteten Flur des Cafébaums ein. Von Pilgram keine Spur! — Ob er seinen Vorsatz aufgegeben hatte? Sie wußte ja nicht, was er eigentlich geplant hatte, aber etwas Grausames, etwas Wildes, etwas Schauerliches mußte es gewesen sein! Davon hatten seine Züge deutlich genug gesprochen. Und geduldig trippelte das Mädchen auf und ab, ohne einen Blick von dem schmalen Lichtspalt zu wenden, der durch die angelehnte Tür des Restaurants auf die Straße lugte.
Der Schneefall hatte aufgehört. In winterlicher Schwermut gähnte die menschenleere Straße. Und in die lautlose Stille, welche die abendliche Stadt überlagerte, klang nun von drüben ein munterer Burschensang, gedämpft durch die Doppelfenster, doch deutlich vernehmbar. Die Weise meinte Asta zu kennen, aber Worte dazu wußte sie nicht. Ach, da oben war er, der liebe, böse Junge ...
Schau! zur Rechten, vom Marktplatz her glitt lautlos ein riesiger Schatten heran, scharf abgezeichnet von dem weißen Grunde der Straße, vom gelben Lichthof, den die Laternen in die Nebel der Nacht zeichneten.
Er war's! Mit raschen Schritten steuerte er dem »Cafébaum« zu. Da schoß Asta über den schmalen Straßendamm, traf hart an der Tür auf Pilgram:
»Herr Pilgram — ach, Herr Pilgram!«
Gesenkten Blickes war jener geschritten, nun schrak er zusammen bei der unerwarteten Begegnung.
»Ah — Sie, mein gnädiges Fräulein? — Ja, um Gottes willen, sind Sie denn toll? Warum nicht im Bett — warum hier — was soll das heißen?!«
»Ich hatte solch entsetzliche Angst, Herr Pilgram!«
»Angst? Was fällt Ihnen ein! Angst? Um wen?«
»Um Sie, Herr Pilgram, um Sie und ... ach! Sie wissen's ja ... um wen — um wen noch. Herr Pilgram, ich bitte Sie — ich flehe Sie an, was haben Sie vor gegen Herrn Thumser?«
Flehend hatte sie mit beiden Händen den linken Arm des Studenten umklammert.
»Aber Verehrteste ... ich begreife faktisch nicht ... wie kommen Sie auf derartige Vermutungen?«
»Ach, ich weiß ... ich weiß ... Sie wollen sich rächen an Herrn Thumser! Ich weiß alles — alles weiß ich ... Fräulein Buchner, meine Kollegin — Sie sind für sie eingetreten damals ... und dann ... dann hat sie sich schlecht gegen Sie benommen ... und Sie, Sie hatten doch so viel für sie dahingegeben, nicht wahr, so war's doch? Und heut — heut ist Herr Thumser bei Fräulein Buchner zum Tee gewesen, nicht wahr? ... Und Sie, Sie haben das gehört und sind wütend auf ihn — weil Sie denken, er hat mehr Glück bei Fräulein Buchner als Sie nicht wahr? O, gestehen Sie's nur, es ist ja keine Schande — und dann, dann haben Sie mich gefunden da draußen und denken, er hat mich auf dem Gewissen ... Sie sehen, ich weiß, ich weiß alles. Und nun, nun wollen Sie ihn — ich weiß nicht, was Sie mit ihm machen wollen, aber etwas Schreckliches ist's gewiß. Sehen Sie — Sie schweigen — sehen Sie, ich habe alles begriffen, alles! Ist's nicht so?«
Mit zusammengekniffenen Lippen, die Augen fast geschlossen, regungslos hatte Valentin Pilgram den Schwall dieser bebenden Fragen über sich dahinschauern lassen. Mit grimmiger Scham fühlte er sich durchschaut, fühlte den geheimsten Trieb seines Wollens bloßgelegt, den er vergeblich mit dem lügnerischen Pomp eines Rächers verratener Ehre verhüllt hatte, und der doch nichts anderes war im letzten Grunde als der Neid des Verschmähten gegen den Glücklichen, als Eifersucht — ganz ordinäre, banale Eifersucht ...
Doch nein, das war ja nicht wahr — das durfte ja nicht wahr sein! Da oben klang der muntere Burschensang — da oben tafelte die Runde derer, die sich Mitglieder des ältesten Korps der Hochschule nennen durften, die das grün-gold-rote Band tragen durften, das nur den Makellosen schmücken soll. Und in ihrer Mitte saß einer, der doppelten Verrats schuldig war: an dem Gefährten dreier Semester und an der Gesellin glückseliger Liebesstunden.
Und er —? Er hatte auf all das verzichtet, verzichten müssen um der Ehre willen. Hatte das einen Sinn? Durfte das so bleiben? Nein, beim Himmel, das sollte es nicht, solange es einen Valentin Pilgram gab. Wenn er denn schon selber die geliebten Farben nicht mehr tragen durfte, deren er doch wahrhaft würdig war wie einer, sollte dann der andere sich mit ihnen brüsten dürfen, der das Recht auf sie schmählich verscherzt hatte ...?!
»Herr Pilgram,« klang's da in schmelzendem Flehen neben ihm, »so sprechen Sie doch! Bitte, bitte, so sprechen Sie doch, habe ich nicht recht?«
»Mein verehrtes Fräulein,« sagte der Student, indem er seinen linken Arm der flehenden Umschlingung entzog, »ich bedaure, Ihnen über mein Tun und Lassen keine Rechenschaft ablegen zu können. Es mag sein, daß ich etwas Aehnliches, wie Sie denken — nun, daß ich ... das gewollt habe ... und noch will. Wenn es so ist, so dürfen Sie überzeugt sein: ich weiß genau, was meine Pflicht ist ... Und darum muß ich Sie schon bitten, mich gewähren zu lassen.«
Da trat ihm das Mädchen in den Weg, legte beide Hände auf seine Schultern, brennende Augen starrten zu ihm empor, aus denen Tränen rannen, hell aufblitzend im matten Lichtstreifen, der aus der Flurtür in den Schnee der Gasse fiel:
»Nein — nein, das dürfen Sie nicht! Mir zuliebe dürfen Sie's nicht ... Ja, es ist wahr, wegen dem da oben hab' ich heute das Leben wegwerfen wollen — nun haben Sie mich gerettet — aber wenn Sie ihm etwas zuleide tun, dann ist alles aus, dann hätten Sie mich nur lieber gleich da unten in der Pleiße lassen sollen ... Ich will nicht, daß ihm ein Leids geschieht um meinetwillen — ich will's nicht — und Sie, Sie dürfen's nicht — Sie dürfen mich nicht wieder dahin zurückstoßen, woher Sie mich heut abend geholt haben — nein! Herr Pilgram, das dürfen Sie nun und nimmermehr.«
»Gnädiges Fräulein,« sagte Valentin, »wenn es Sie beruhigen kann, so will ich Ihnen versichern: das, was jetzt gleich geschehen wird, war beschlossene Sache schon ehe ich Sie ... da draußen ... fand. Ich kann mich nicht darauf einlassen, Ihnen das alles so auseinanderzusetzen. Was Sie von mir denken mögen oder nicht denken mögen — ich kann's bedauern, aber ich kann's nicht ändern. Das alles muß nun seinen Lauf gehen. Versuchen Sie nicht mich aufzuhalten, es hat keinen Zweck.«
Es sollte wohl nur ein sanfter Druck sein, mit dem die hageren Hände des weiland Frankenseniors die runden Gelenke der Schauspielerin von seinen Schultern lösten, doch er war unwiderstehlich, wie das Zupacken stählerner Zangen. Mit der gleichen unerbittlichen Gewalt, mit der er vor wenig Stunden des Mädchens Glieder der Flutenumschlingung entrissen, schob er sie nun zur Seite, wie ein willenloses Püppchen, und war mit zwei raschen Schritten im gähnenden Toreingang verschwunden.
Asta taumelte, als der Druck der gewaltigen Hände plötzlich nachließ. Dabei trat sie unversehens einen halben Schritt rückwärts, geriet mit dem Fuß in den lockeren Schneeaufwurf über dem Rinnstein, sank tief ein, strauchelte, fiel in die Knie, stieß einen Schmerzenslaut aus: sie mußte sich den Fuß verstaucht haben. Aber die heiße Angst um das, was werden mochte, jagte sie wieder empor. Sie humpelte mit schmerzverzogenem Gesicht zur Tür, stieß sie auf, lauschte hinein. Droben auf der Treppe waren Pilgrams Schritte schon verhallt. Nur das Burschenlied brauste noch immer weiter, klang und schwang durch das ganze altersmüde Gebäude. In dem kleinen Restaurant des Erdgeschosses zur Linken das schläfrige Stammtischgeschwätz, das Auftrumpfen der Karten, das Klappern der Biergläser. Asta schlich durch den Hausflur, hinkte mühsam die Treppe hinauf, stand wieder an der Tür mit dem Porzellanschildchen: Corps Franconia, legte das Ohr an die dünne Holzwand und lauschte.
Ganz deutlich dröhnte nun ein neuer Vers des feierlichen Liedes da drinnen, dazwischen halblaute Stimmen, es schien Pilgram zu sein, welcher im Flur mit dem alten Mann verhandelte, der sie vorhin an der Pforte beschieden. Aber dies leise Gespräch blieb unverständlich, dagegen war der Text des Liedes Wort für Wort zu verstehen. In frohem Trotz scholl die alte Jugendweise daher:
Und nun plötzlich war das Lied zu Ende, ein paar unverständliche, kommandoartige Worte klangen von drinnen, ein lustiger Aufschrei von vielen Stimmen, dann munter durcheinander schwirrendes Stimmengewirr. Einige Sekunden verflossen so: dann hörte Asta ganz deutlich, wie drinnen eine Tür heftig aufgerissen wurde und jemand in den Flur trat — und jetzt klang drinnen gedämpft, doch klaren, festen Klanges des geliebten Jungen Stimme:
»Guten Abend, Pilgram — Du hast mich zu sprechen gewünscht? Bitte, was steht zu Deinen Diensten?«
Da fühlte Asta, wie der Puls ihres Herzens aussetzte. Ganz fest preßte sie ihr Ohr an das glatte, ölgestrichene Holz, ihre froststarren Hände umklammerten krampfhaft den messingenen Türgriff, und in schlotterndem Lauschen vernahm sie jedes Wort, das drinnen gesprochen wurde, vernahm sie alles, was drinnen geschah ...
Hochaufgerichtet standen die zwei schlanken Jünglingsgestalten einander drinnen gegenüber in dem schmalen Flur, den nur eine schwelende Petroleumlampe erleuchtete. Rechts und links hingen Kneipjacken und Garderobenstücke an den Regalen, welche die Wände umzogen — ein fader Dunst von altem Tabak und Bierneigen füllte den dumpfen Raum. Hinter der mittleren Tür, die zum Kneipzimmer führte, klang heftiges Stimmengewirr, das stiller und stiller ward. Offenbar war man drinnen aufmerksam geworden, daß hier draußen sich Ungewöhnliches vollziehe, wartete man gespannt, wie das wohl werden möchte.
Hans Thumser hatte Pilgram die Hand hingestreckt. Der übersah sie, griff stumm in die Brusttasche seines Rockes und reichte Hans Thumser einen Brief hin.
»Lies!« sagte er.
Hans ließ die erstaunten Blicke hin und wider gleiten zwischen dem Schreiben und dem, der es ihm gereicht, dann trat er in den Lichtbereich des mattglänzenden Flurlämpchens und erkannte, daß der Brief mit fahrigen, steilen Schriftzügen einer Frauenhand bedeckt war:
»Sehr geehrter Herr! Ihr dankenswertes Eintreten für meine Ehre hat schnell den gewünschten Erfolg gehabt. Die beiden Herren, welche mir zu nahe getreten waren, haben mündlich bei mir um Entschuldigung gebeten. Ich danke Ihnen innigst für das große Opfer, das Sie mir gebracht haben ...«
Verblüfft ließ Hans den Brief sinken:
»Was soll ich damit?« fragte er, »was geht das mich an?!«
»Dreh doch gefälligst einmal den Bogen um!« befahl Pilgram in ingrimmiger Ruhe.
Hans wandte den Bogen um und entdeckte mit grenzenlosem Staunen rechts an der unteren Ecke der vierten Seite, auf dem Kopfe stehend, seine Initialen und darüber den Frankenzirkel. Er drehte den Bogen um, und richtig: es war kein Zweifel, das war einer von seinen eigenen Briefbogen. Völlig verdutzt sah er den einstigen Korpsbruder an, um dessen festgeschlossene Lippen ein mattes Lächeln des Triumphes irrte.
»Von wem ist der Brief?« fragte Hans Thumser mit unsicherer Stimme.
»Spiel' mir gefälligst keine Komödie vor!« brauste Pilgram auf.
»Aber ich versichere Dir, ich habe nicht den leisesten Schimmer.«
»Pfui Deubel — nicht mal den Mut hast Du ... Gib her den Brief! Und nun weiter! Warst Du heut' nachmittag bei Fräulein Buchner?«
»Aber ich verstehe faktisch nicht,« stammelte Hans. »Wenn ich Dir sage, daß ich auch nicht die entfernteste Ahnung habe —!«
»Ich frage Dich, ob Du heut nachmittag bei Fräulein Buchner warst? Gib Antwort — oder ich mache kurzen Prozeß mit Dir!«
Nun richtete sich Hans denn doch aus der unsicheren Haltung verlegenen Staunens zu seiner ganzen Größe auf. Zwar reichte er nicht an die riesige Länge des einstigen Freundes, aber gleich straff emporgereckt stand er ihm gegenüber, sah ihm von unten frei und trotzig ins Gesicht, und funkelnd, wie zwei Säbelklingen in der Auslage, so blitzten das braune, das blaue Augenpaar einander an.
»Ich frage Dich,« sprach er kalt gemessen, »was Dich berechtigt, mich in einem derartigen Ton zur Rede zu stellen?«
»Das weißt Du.«
»Nein, ich weiß es nicht. Ich wünsche es von Dir zu hören.«
»Ich verzichte darauf, Dir Aufklärung zu geben. Ich wiederhole Dir meine Frage — willst Du antworten?!«
»Wer mich in diesem Tone fragt, bekommt keine Antwort!«
»Schön! Was wirst Du nun aber sagen, wenn ich Dir mitteile, daß in derselben Stunde, in der Du bei Jucunda Buchner warst, Fräulein Asta Thöny am 'Wassergott' in die Pleiße gesprungen ist —?!«
Da wurde Hans Thumsers fester Blick plötzlich stier und starr. Die Kinnbacken klappten herunter, langsam schob sich seine Rechte an der Brust empor, glitt tastend nach dem Achtzentimeterkragen.
»Das ist ... das ist nicht wahr!«
»Mein Ehrenwort, daß es wahr ist ... und Du weißt, scheint's, auch, wer sie hineingetrieben hat?!«
Da umklammerte Hans Thumser plötzlich mit beiden Händen des ehemaligen Korpsbruders Arm und stammelte, schlotternd vor Entsetzen:
»Sie ist tot?!«
Valentin Pilgram machte sich frei, trat einen halben Schritt zurück.
»Ich hatte das Glück sie zu retten ... bedank' Dich also bei mir, daß Du nicht als Mörder vor mir stehst.«
Ein stöhnender Laut, ein Jauchzen halb und halb ein Schluchzen brach aus Hans Thumsers Brust zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor:
»Erzähl' doch — so erzähl' mir doch.«
»Nein,« sagte Valentin Pilgram hart, »Du hast Fräulein Thöny von Dir gestoßen — es mag Dir genügen, daß sie lebt — alles weitere geht Dich nichts mehr an.«
»Also was willst Du von mir?« schrie Hans Thumser, »sag' mir endlich, was Du von mir willst?!«
»Du sollst bekennen, daß Du ein elender, wortbrüchiger Bube bist ... Du sollst das Korpsband da abziehen ... Du verdienst nicht mehr, es zu tragen. Willst Du? Oder soll ich Dich dazu zwingen?«
Da straffte sich Hansens Gestalt aufs neue. Seine Fäuste ballten sich, als erwarteten sie den Angriff des Feindes — ja, des Feindes, denn was in den blauen Augen drüben düster flammte, war Feindschaft — Todfeindschaft ...
»Versuch's!« sagte er nur.
In diesem Augenblick ward die Tür zum Kneipzimmer hastig von drinnen aufgerissen, blendender Lichtglanz quoll hervor, und hinter der Tür, Kopf an Kopf, drängte sich das Korps: ein zu Tode erschrockenes Jungmännergesicht hinter dem andern, ganz hinten stand man auf Stühlen und Tischen, um das entsetzenerregende Schauspiel zu erreichen, wie da zwei Jünglinge, die einst die gleichen Farben getragen, auf Leben und Tod einander gegenüberstanden.
»Pilgram! Thumser!« schrie alles durcheinander, »um Gottes willen, was habt Ihr nur?!«
Gleichzeitig schlug mit gellendem Schrillen die Etagenklingel an, und gegen das Holz der Flurtür hämmerten matte Schläge, wie von einem zarten Kinderhändchen. Und wie ein Schrei klang draußen das wimmernde Flehen einer Frauenstimme:
»Herr Pilgram — tun Sie's nicht, Herr Pilgram!«
Mit halbem Blick nur überflog Valentin Pilgram die hervordrängende Schar der einstigen Korpsbrüder ... dann, als sei er noch allein mit dem Gegner Aug' in Auge, wandte er sich wieder zu ihm und wiederholte:
»Also noch einmal: Gibst Du es zu, daß Du ein elender Schelm bist? unwürdig des Bandes, das Du trägst?«
Mit eisiger Festigkeit hielt Hans Thumser des Feindes haßsprühenden Blick aus.
»Geh!« sagte er, »das weitere findet sich morgen.«
In derselben Sekunde hatte Valentin Pilgram dem Gegner das Korpsband von der Brust gerissen und es zu Boden geschleudert. Nun holte seine Rechte weit aus, um ihm die Mütze vom Kopf zu schlagen. Im selben Augenblick aber warfen sich die Korpsburschen mit lauten Entsetzensschreien auf beide Gegner von hüben und drüben, trennten sie, alles schrie wie toll durcheinander:
»Pilgram, Du bist wohl wahnsinnig!«
»Zurück, haltet Ruhe, zum Teufel!«
»Was fällt Euch ein?!«
»Wir sind auf Korpskneipe!«
»Schmeißt ihn hinaus, er hat hier nichts mehr zu suchen!«
»Laß gut sein, Thumser, er wird Dir Satisfaktion geben, morgen findet sich alles — morgen!«
Volkner, der Senior, brach sich Bahn durch die dicht zusammengekeilte Schar der jungen Männer.
»Silentium!« schrie er. »Ich bin hier der Herr im Haus. Tritt vor, Pilgram, was soll das, was fällt Dir ein? Dich hier einzudrängen und Dich an einem von uns zu vergreifen? Du weißt, Du hast kein Recht mehr, hier zu sein!«
Die Zucht vieler Semester, die eiserne Disziplin des Korps rief Pilgram zur Besinnung zurück.
»Du hast recht, Volkner,« sagte er. »Habt die Freundlichkeit mich loszulassen ... es wird nichts weiter passieren, verlaßt Euch drauf.«
Und ruhig und gemessen trat er vor den Senior:
»Verzeih mir — ich hatte mich vergessen. Ich denke, Ihr verzichtet wohl alle auf eine weitere Aufklärung ... dafür ist ja das Ehrengericht da.«
»Allerdings,« sagte Volkner, »dafür ist ja wohl das Ehrengericht da.«
»Gut,« sagte Pilgram. »Ich bitte das Korps also nochmals feierlichst um Entschuldigung — ich bin morgen vormittag bis ein Uhr in meiner Wohnung. Guten Abend.«
Alles wich zur Seite. Noch einmal maß Valentin Pilgram mit kurzem Blick der Todfeindschaft seinen Gegner, der schwer atmend, mit rotunterlaufenen Augen, doch völlig gefaßt inmitten seiner Korpsbrüder stand ... schritt zur Tür, riß sie auf.
Da bot sich ein unerwartetes Schauspiel: Auf der Schwelle kniete, tränenüberströmt, zusammengekauert, ein Mädchen im grauen Pelzjackett. Nun sprang sie auf die Füße, starrte mit angstverzerrten Zügen, blöden Blicks in den Korridor hinein, in dem Kopf an Kopf Grünbemützte sich drängten, warf sich dann jählings herum und floh wie gejagt die Treppe hinunter.
Und langsam, schwerfälligen Schritts ging Valentin Pilgram von dannen und ließ die Tür ins Schloß fallen.
Asta hatte nicht schlafen können. Das Fieber hatte in dem zierlichen, doch kerngesunden Körperchen rumort — doch der Gedankensturm, der ihr Hirn durchbrauste, der Drang zu leben, zu helfen, ihr armes bißchen Sein dafür einzusetzen, daß nicht unsagbar Entsetzliches geschähe — dies inbrünstige Wollen hatte die heraufbrauende Krankheit niedergeworfen. Und früh um neun schon klopfte sie an Jucunda Buchners Tür.
Frau Kanzleirätin, noch in Nachtjacke und Unterrock, hatte hoch und teuer geschworen, Jucunda sei noch nicht zu sprechen. Asta Thöny hatte sich nicht abweisen lassen.
»Sie wird mir's danken, gnädige Frau!«
Aber Jucunda Buchner dankte nicht.
Aus unruhigen Morgenträumen voll ehrgeiziger Hoffnungen und ahnungsvoller Beklemmungen hatte das Pochen der Kollegin sie aufgeschreckt. Nun saß sie aufrecht im Bett, sehr ungnädiger Laune, kaum, daß sie der Besucherin einen Stuhl anbot. Sie liebte es nicht, sich unvorbereitet überraschen zu lassen.
Mit fliegenden Worten berichtete Asta: ihren Spaziergang an der Pleiße verschwieg sie allerdings, um so genauer aber erzählte sie von dem Renkontre zwischen Pilgram und Thumser auf der Frankenkneipe und sparte nicht an grellen Farben. Sie war überzeugt gewesen, Jucunda würde alsbald um Hans Thumsers willen mit allen Anzeichen des Entsetzens aus dem Bette springen und Hals über Kopf zu dem Geliebten wollen, um ihm nicht von seiner Seite zu weichen, bis die Gefahr an ihm vorübergegangen war ...
Statt dessen sah Jucunda sie stillschweigend mit spöttisch zusammengebissenen Lippen an, als sie hocherglühend ihren Bericht geendet.
»Nun?« fragte Asta ganz erstaunt.
»Mir fällt etwas auf an Deiner Erzählung, liebes Kind,« sagte Jucunda. »Du erzählst mir da von einem Auftritt, der sich auf der Frankenkneipe zugetragen hat ... und zwar wenn ich recht verstanden habe, hast Du nicht nur vom Hörensagen berichtet, sondern Du warst selber dabei gewesen — stimmt's oder stimmt's nicht?!«
Astas Wangen, vom heftigen Gang durch den Schnee gerötet, glühten noch höher auf.
»Ja ... ich habe alles ... selbst mit angehört ...« gestand sie.
»Hm — dann darf ich mir wohl die Frage gestatten: wie kommst denn Du auf die Frankenkneipe?«
Astas Hände zupften unstet an den Falten ihres Rockes.
»Ja, wie soll ich Dir das ... erklären? Es ist ja auch ... eigentlich gleichgültig ... wie ich hingekommen bin — ich war eben ... da.«
»Nun, so gleichgültig kann ich das eigentlich nicht finden,« meinte Jucunda. Sie lehnte sich zurück in die Kissen, stützte sich auf die Ellbogen und fixierte die niedliche Kollegin mit überlegen spöttischem Blick. »Na, also lassen wir das einstweilen mal dahingestellt. Aber: zu welchem Zweck teilst Du mir denn das alles mit?«
»Ja, aber um Gottes willen, Jucunda, das geht doch nicht, das darf doch nicht sein, daß die zwei guten Jungens sich totschießen Deinethalb!«
»Meinethalb?« Jucunda hatte sich hochaufgerichtet. »Wieso meinethalb? Erkläre mir das!«
»Ja, aber Jucunda — das ist doch ganz klar! Uebrigens, um Gottes willen, der eine, der Pilgram, der wohnt doch hier nebenan, gelt, kann der uns auch nicht etwa hören?«
»Beruhige Dich, liebes Kind, meine Mutter hat mir schon mitgeteilt, daß er heut nacht nicht nach Hause gekommen ist. Also bitte, wie kommst Du auf diesen Einfall?«
»Aber begreifst Du denn das noch immer nicht?! Der Pilgram ist doch nur eifersüchtig auf den Thumser, weil Du ihn hast abfallen lassen und den andern — —«
»Und den andern?!« fragte Jucunda scharf. »Na, was denn! Bitte, was denn?!«
»Nun, der andere ... ist denn der andere nicht gestern nachmittag bei Dir ... bei Dir gewesen —?«
»Er war gestern nachmittag zum Tee bei mir, nu! Und was weiter?«
»Zum — Tee —?!« fragte Asta mit einem halb wehmütigen, halb verschmitzten Lächeln. »Nur zum Tee —?«
»Na! zu was denn sonst, bitte?!« fragte Jucunda heftig.
»Na, wir wollen nicht streiten,« meinte Asta. »Also: ob die zwei braven Kerle sich Löcher in den Leib schießen Deinethalb, Dir ist's rund herum egal, scheint's?!«
»Meinethalb? Ich weiß nicht, ob sie's meinethalb tun, mir haben sie's nicht gesagt. Und übrigens — ich möchte wissen, was ich daran ändern kann, wenn die zwei sich's in den Kopf gesetzt haben, aufeinander loszuknallen. Ich habe sie nicht geheißen, ich kann sie nicht hindern!«
Asta Thöny spielte mit den Zipfeln ihres Pelzjacketts und sann angestrengt nach mit zusammengekniffenen Brauen. Dabei stieg eine helle Freude, ja ein lustiger Uebermut langsam, aber immer mächtiger in ihr empor. Das war ja eigentlich wunderschön, was sie da erfuhr. Sieh da, Hanschen! Viel Glück scheinst du mit deinem Teebesuch bei der großen Jucunda ja nicht gehabt zu haben! Und für das bißchen Ehre auch noch totgeschossen zu werden — nein, das wollen wir doch mal sehen, ob wir das nicht hintertreiben können. Aber dazu brauchen wir ja wohl nicht die große Jucunda — das können wir uns schließlich auch allein verdienen ...
»Verzeih, liebe Jucunda,« sagte sie. »Ich habe mir eingebildet, Du hättest was übrig für Hans Thumser, da habe ich mich also anscheinend geirrt. Nun dann freilich —«
»Allerdings, mein Kind, da hast Du Dich geirrt. Vielleicht erinnerst Du Dich daran, daß Herr Thumser zwanzig Jahr und ein Student ist. Es mag ja Kolleginnen geben, die sich aus derartig — ungaren jungen Herren was machen. Ich für meine Person — ich lege auf derartige Bekanntschaften keinen Wert.«
Ach so, die Großartige willst du spielen! Na warte —!
»Wenigstens nicht, wenn's ein x-beliebiger Bürgerlicher ist, willst Du sagen, nicht wahr? Wenn's freilich ein Prinz wäre — das ist was andres, gelt, Jucunderl, denn kann er so ungar sein wie er will, hab' ich recht?«
Da fuhr Jucunda Buchner so heftig in die Höhe, daß Asta Thöny unwillkürlich aufstand und einen halben Schritt zurückwich. Die schönen Hände krallten sich, das majestätische Gesicht verzerrte sich zum Ausdruck einer Medusa, die stahlblauen Augen funkelten Wut gleich den Lichtern einer gereizten Katze:
»Was fällt Dir ein, was erlaubst Du Dir?!« Doch rasch glätteten sich ihre Züge zum Ausdruck eiskalter Verachtung, sanken die schönen Schultern nachlässig in die Kissen zurück, und mit einer Handbewegung, gleich jener, mit der eine Königin eine unbotmäßige Kammerfrau entläßt, befahl sie:
»Verlassen Sie mein Zimmer, mein Fräulein!«
Asta Thöny lächelte ihr boshaftes Spitzbubenlächeln. Sie sank in einem tiefen Hofknix zusammen:
»Zu Befehl, Frau Marquise, wünsche gute Karriere.« Und schon war sie hinaus.
Während sie die Katharinenstraße hinunterschritt und den Marktplatz überquerte, dessen Schneedecke grell im duftumschleierten Lichte des frühen Wintermorgens gleißte, fühlte sie sich fast erstickt von der Seligkeit, die verhaßte Rivalin einmal bis aufs Blut geärgert zu haben.
So eine Hundeschnauze! so eine eiskalte! Tut, als hätte sie keine Ahnung, daß sie es doch allein ist, die all den Unfug angestiftet hat in den Brauseköpfen hüben und drüben — Gott! und wer weiß, was für Dummheiten sie sonst noch alles auf dem Gewissen hat! Ist nicht dies ganze Nest wie verrückt nach ihr? Aber das ist das Blödsinnige an dem Ruhm: hat unsereins sich erst mal durchgesetzt, dann liegt die Welt vor ihr auf dem Bauch, und das verrückte Mannsvolk bringt sich um für das Glück, von ihr mit Füßen getreten zu werden ...
Aber jetzt — jetzt ist sie wild. Jetzt faucht sie zu Hause, jetzt hat sie einmal gespürt, daß auch noch andere Katzen Krallen haben —!
Aber schau — wer war denn das? Da kamen aus der Kleinen Fleischergasse zwei grüne Mützen heraus, zwei Franken-Korpsburschen, sehr feierlich. Der eine, der ältere, trug den Paletot nachlässig geöffnet, und man sah darunter den bis hoch hinauf zugeknöpften Bratenrock ... Handschuhe trugen sie, gestreifte Hosen und Gummigaloschen. Der ältere, den kannte sie, den hatte ihr Hans einmal von ihrem Fenster aus gezeigt, es war Volkner, der jetzige Häuptling des Frankenbundes. Ingrimmigen Ernst auf den jungen Gesichtern, steuerten die zwei über den Marktplatz, bogen in die Katharinenstraße und verschwanden in der Tür, die sie selber soeben verlassen.
O Gott — sie wußte, was die zwei zu suchen hatten bei Valentin Pilgram da droben ... sie wußte: die sollten ihm Hans Thumsers Forderung überbringen ... das waren die Kartellträger ...
Daß Hans Thumser kein Glück gehabt bei Jucunda ... und daß sie selber es der verhaßten Rivalin einmal gründlich gegeben — über dieses doppelte Glück hatte Asta völlig den blutigen Ernst der Situation vergessen ... Sie wußte: Kavaliere — und waren sie auch erst seit ein paar Semestern flügge geworden, wie die Herren Korpsstudenten — die fackeln nicht lange mit dem Austrag solcher Händel. Und wenn erst die Pistolen geladen sind, dann kommt guter Rat zu spät ... und dabei mußte sie ja doch in die Probe. Morgen abend war ja Abschiedsvorstellung — »Wallensteins Tod« — und wenn sie auch nur ein winziges Röllchen hatte, das Fräulein von Neubrunn, Theklas Gesellschafterin und Vertraute — die Probe versäumen, das hätte sie sich doch nicht getraut. Der stramme Pflichtgeist, der das Meininger Ensemble beseelte, ließ einen solchen Gedanken selbst in höchster Not niemals aufkommen. Schon dreiviertel zehn, also höchste Zeit! Asta sprang in eine Droschke, befahl »Zum Carolatheater!« und drückte sich fröstelnd in den verschlissenen Plüsch. All ihr Uebermut war verweht. Was auf den starren, korrekten Amtsgesichtern der zwei jungen Gesellen da gestanden hatte, das legte sich wie eisig umklammernde Knochenfinger um ihr Herz.
Die zwei suchten Pilgram ... und wenn er jetzt noch nicht daheim war, er würde kommen, sie würden ihn finden, würden ihre Botschaft ausrichten ... Und dahinter lauerte ein Schreckensbild: das Bild einer tiefverschneiten Waldblöße, die in unberührter, weiter Fläche daliegt im ersten Morgenschein ... Nun rollen von hüben und drüben zwei Wagen heran, lautlos ... ein paar junge Männer entsteigen ihnen, rüsten sich zu geheimnisvoll grausigem Tun — nun treten sie alle rechts und links zur Seite, und zweie nur bleiben inmitten stehen, wenige Schritte nur voneinander, sie heben blitzende Läufe — einer zielt nach des andern Herzen ... und der eine von ihnen heißt Hans Thumser ...
Was tun? o Gott, was tun?!
Da, ein rettender Gedanke: Franz Burg ... der war doch einmal akademischer Bürger ... Wenn einer der Meininger nicht mehr ein noch aus wußte, ging er ja immer zu Franz Burg ...
Ja, das war's! Franz Burg mußte Rat schaffen. Aber wie den Gestrengen erreichen? Wenn sie auf die Bühne kam, würde die Generalprobe bereits begonnen haben — und bis die beendigt war, durfte man dem Szenenleiter mit nichts anderm kommen, aber auch mit gar nichts. Solange gehörte er nur seinem Werk. Und jeder Versuch, ihn mit andern Dingen zu befassen, würde höchstens eine erstaunliche Grobheit eingetragen haben.
Und darüber würde es drei Uhr werden ... Gott, was konnte inzwischen alles geschehen! So lange war man machtlos, war man im Dienst ... war man »Fräulein von Neubrunn, Hofdame der Prinzessin«.
Und die Prinzessin? — Selbstverständlich Jucunda Buchner ... die große Jucunda ...
Drei Uhr nachmittags.
Auf der Kneipe des Korps Misnia tagte das S. C.
Ehrengericht zur Entscheidung über die hängende Pistolenforderung
des Korpsburschen eines wohllöblichen C. C.
der Franconia Thumser wider den früheren C. B.
Pilgram.
Der Kneipsaal, sonst nur »zu den festlichen Gelagen« bestimmt, war nun zu verhängnisschwerer Tagung eingerichtet. An den hufeisenförmigen Tischen saßen die Ehrenrichter, je zwei von jedem der fünf Leipziger Korps, und von dem präsidierenden Korps Misnia noch ein dritter Korpsbursch als Protokollführer.
Wie um das feierlich Eindrucksvolle des Femgerichts zu unterstreichen, waren die Schlagläden heruntergelassen, und die gelben Flammen der Gaslichtkrone warfen zuckende Reflexe auf die bunten Mützen, die dreifarbenen Bänder, die blinkenden Scheiben der Klemmer und Monokels, die schmißdurchsetzten Jugendwangen, die in feierlich offizielle Falten gelegt waren.
Hans Thumser, als der Beleidigte, wurde zuerst gehört.
Mit knappen Worten berichtete er den Vorfall, der sich am gestrigen Abend auf der Kneipe seines Korps zugetragen. Als er geendet, fragte der Vorsitzende, Graf Schmettow, der Erste der Meißner, ein über die Maßen patenter, hagerer Gesell, dessen linke Wange eine furchtbare Säbelnarbe von der Schläfe über den Mundwinkel bis ins Kinn hinein durchzog:
»Danke, Herr Thumser. Ihre Erzählung ist natürlich so, wie sie da vorgetragen worden ist ... äh ... nicht so recht verständlich ... offenbar ist doch zwischen Ihnen beiden ... äh ... noch irgend etwas andres vorgekommen ...? Wollen Sie uns auch darüber Auskunft geben, oder wünschen Sie, daß zunächst sich Ihr Herr Gegner ... äh ... über den von Ihnen vorgetragenen Tatbestand erklärt?«
Hans Thumser sann einen Augenblick nach. Astas Bild, Jucundas tauchte einen Augenblick vor seinem Geiste auf. Hatte es einen Zweck, diese Erlebnisse in die Verhandlung mit hineinzuziehen? — Es war ja schließlich ganz gleichgültig, wie das alles geworden war ... wie es hatte kommen können, daß der einstige Korpsbruder ihm das Band von der Brust gerissen ... das war nun einmal geschehen. Die Tat lag vor, nackt und unerbittlich ... Für sie hatte er Sühne zu fordern — sie zu erklären war allenfalls des andern Sache, nicht die seine ...
»Ich habe vorläufig nichts weiter mitzuteilen, Herr Vorsitzender.«
Damit war er entlassen.
Und mit angespannter Neugier hingen nun die Blicke der jugendlichen Ehrenrichter an der Reckengestalt des Jünglings, der so lange als der Besten einer in ihrer Mitte gestanden hatte, dessen scharfe Klinge nicht nur, dessen scharfes Wort, dessen ganzes vorbildliches Wesen einem jeden stets den vollkommensten Respekt abgezwungen. Da war keiner im Leipziger S. C., der nicht den Fall Pilgram mit brennendem Interesse, mit aufrichtiger Sympathie verfolgt hätte. Und jeder hatte Gelegenheit gehabt zu beobachten, wie Franconias einstiger Senior schon gar bald nach seinem Ausscheiden aus dem Korps wie unter der Last eines grundstürzenden Erlebnisses förmlich in sich zusammengesunken war, verändert, verwildert, tiefster Verbitterung anheimgefallen.
Nun schien er wieder der Alte, zum mindesten in seiner äußeren Erscheinung. Korrekt gescheitelt und gekleidet, in tadellosem Gehrock und Lackschuhen stand er vor dem Ehrengericht, nur um seine Brust fehlte das Band und auf seinem Gesicht das alte trotzig-heitere Selbstbewußtsein ...
»Herr Pilgram,« begann der Vorsitzende, »ich brauche Ihnen nicht zu sagen, worum es sich handelt. Herr Thumser Franconiae hat Ihnen eine Pistolenforderung auf fünfzehn Schritt Barriere und Kugelwechsel bis zur Kampfunfähigkeit übersandt wegen eines Renkontres, das Sie mit ihm gestern abend gegen neun Uhr auf der Frankenkneipe gehabt haben. Entsinnen Sie sich der Ausdrücke, die Sie gebraucht haben, und ist es Ihnen auch bewußt, daß Sie ihm das Korpsband von der Brust gerissen, dann zum Schlage ausgeholt haben, und nur durch das Dazwischentreten der Herren Korpsbrüder des Herrn Thumser verhindert worden sind, Herrn Thumser noch weiter tätlich anzugreifen?«
»Allerdings,« erklärte Pilgram ruhig. »Ich entsinne mich des Vorfalls genau. Ich war vollständig Herr meiner Sinne und übernehme für meine Handlungsweise die volle Verantwortung.«
»Sie sind also bereit, Herrn Thumser die standesübliche Genugtuung mit der Waffe zu geben? Und haben andrerseits nicht die Absicht, irgendwelche andere Formen der Sühne in Vorschlag zu bringen?«
»Nein!« sagte Valentin Pilgram.
Einer der Ehrenrichter bat ums Wort. Herr ten Brink, der Erste Chargierte der Guestphalia, ein langer, semmelblonder, sommersprossiger Sohn der roten Erde.
»Es ist mir was aufgefallen in der Erzählung des Herrn Thumser,« sagte er. »Herr Thumser hat erzählt, Sie hätten ihm einen Brief zu lesen gegeben, dessen Inhalt ihm vollständig unbekannt gewesen sei. Wollen Sie sich über diesen Punkt vielleicht auslassen?«
»Darf ich mir die Frage gestatten, Herr Vorsitzender,« erwiderte Pilgram, »ob Herr Thumser über diesen Punkt bereits nähere Erklärungen gegeben hat?«
»Nein!« sagte Graf Schmettow. »Wir haben vorläufig darauf verzichtet, uns überhaupt mit der Frage zu beschäftigen, was für ... äh ... Motive hinter dem ... Renkontre vorhanden gewesen sein mögen.«
»Dann —« sagte Valentin Pilgram, »dann würde ich für meine Person vorziehen, diese Seite der Sache ebenfalls unerörtert zu lassen, vorausgesetzt, daß ein hohes Ehrengericht nicht seinerseits darauf besteht.«
»Ich verstehe,« sagte der Vorsitzende. »Die Herren scheinen also einig darüber zu sein, daß der Tatbestand der Beleidigungen lediglich an und für sich hier zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden soll, ohne daß auf ihre Veranlassung weiter einzugehen sein würde — aus Gründen der Diskretion vermutlich, nicht wahr?«
Pilgram nickte stumm.
»Wenn ich recht verstehe,« fuhr der Vorsitzende fort, »so stellen die beiden Herren Gegner sonach den Sachverhalt übereinstimmend dar. Danach würde wohl eine Vernehmung von Zeugen und jede weitere Aufklärung des Sachverhalts erübrigen, nicht wahr, meine Herren?!«
Zustimmend nickten die Ehrenrichter, und der Vorsitzende entließ den Beleidiger.
Die Beratung war nur kurz. Der Fall lag ganz klar: es handelte sich um eine tätliche Beleidigung, die zur Ausführung gekommen war, und um eine solche, deren Ausführung nur durch das Eingreifen Dritter verhindert worden war. Die erstere, das Abreißen des Korpsbandes, kam an Schwere der zweiten, vereitelten mindestens gleich. Neben diesen Realinjurien spielen die vorgefallenen wörtlichen Beleidigungen nur eine nebensächliche Rolle. Der Beleidiger hatte zugegeben, bei klarem Verstande und wohlüberlegt vorgegangen zu sein. Unter diesen Umständen war es vollkommen klar, daß die Forderung genehmigt werden mußte, und zwar ohne daß ein Anlaß vorlag, die sehr scharfen Bedingungen zu ermäßigen.
Schon neigte sich die Verhandlung ihrem Ende, da erbat Herr ten Brink Guestphaliae Erster noch einmal das Wort:
»Ich weiß nicht, meine Herren, die Sache kommt mir eigentlich ein bißchen merkwürdig vor. Die Geschichte mit dem Brief will mir nicht aus dem Kopf, ich habe das Gefühl, da steckt ein Mißverständnis hinter. Ich meine, das Ehrengericht ist doch schließlich nicht bloß dazu da, über eine Forderung zu entscheiden — ich meine, unter Umständen wäre es doch unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, Mißverständnisse aufzuklären ... kurz, zwischen den Parteien zu vermitteln. Ich meine, wir sollten in diesem Fall doch ein wenig genauer auf die Vorgeschichte des Renkontres eingehen. Um so mehr, als meines Erinnerns Herr Thumser geäußert hat, der fragliche Brief sei von einer Dame geschrieben gewesen. Na, meine Herren, wir wissen doch alle, wenn die Weiber in so 'ne Affäre hineinspielen, dann ist es meistens halb so schlimm.«
Ein kurzes, verständnisinniges Schmunzeln auf allen Gesichtern, das aber schnell der gewohnten, feierlichen Korrektheit wich. Der Vorsitzende meinte:
»Ich halte uns nicht für befugt, in die persönlichen Angelegenheiten der Kontrahenten einzudringen, wenn diese nicht selbst Wert darauf legen. Ich glaube — der Versuch einer Vermittlung zwischen den Herren würde ... äh ... eine Ueberschreitung unserer Kompetenz sein ... und zugleich ein Eingriff in die Verfügungsfreiheit der Herren, den sie sich nicht gefallen zu lassen brauchten. Aber ich weiß nicht, wie die anderen Herren darüber denken? Bitte sich zu äußern!«
Es stellte sich heraus, daß ten Brink mit seiner Auffassung ganz allein stand. So wurde denn die Forderung mit den Stimmen aller Ehrenrichter gegen die seinige genehmigt und dies den beiden Parteien mitgeteilt.
Das Schicksal war gefallen.
Gleich nach dem Ehrengericht traten die Sekundanten der beiden Parteien zusammen. Volkner für Thumser und Herr Borgmann Neo-Borussiae Erster für Pilgram. Sie verabredeten als Platz für das Duell die Heiderwiese, eine Waldlichtung im Ratsholz, südwestlich von Connewitz, unfern des linken Pleißeufers, am Reitwege nach Gautzsch, und als Zeit für die Austragung punkt sechs Uhr am folgenden Morgen.
Hiervon benachrichtigten sie ausschließlich den Grafen Schmettow und ersuchten ihn, als Senior des derzeit präsidierenden Korps das Amt eines Unparteiischen zu übernehmen.
Dann wurden die Korpsdiener unter Hinweis auf ihre Pflicht zu absoluter Verschwiegenheit ins Vertrauen gezogen und angewiesen, den Pistolenkasten instandzusetzen, Wagen zu bestellen. Den Vertrauensarzt des S. C. in derartigen Fällen, den Sanitätsrat Dr. Collwitz, einen Alten Herrn der Neo-Borussia, übernahm Herr Borgmann zu bestellen.
Diese Vereinbarungen hatten im Konventszimmer der Misnia stattgefunden, welches den Herren für diesen Zweck zur Verfügung gestellt war. Nun verabschiedete man sich voneinander mit dem üblichen Händedruck bei hochgehobenen, eingewinkelten Ellenbogen und zeremonieller Verbeugung.
Volkner begab sich in eine gegenüberliegende Konditorei, in der Hans Thumser seine Mitteilungen abwartete, und benachrichtigte ihn vom Geschehenen.
Das alles geschah in kurzen, formelhaften Wendungen. Kein Wort wurde gesprochen zwischen den beiden jungen Leuten, das über das sachlich absolut Notwendige hinausging. Jeder mußte die letzte Kraft aufwenden, Haltung zu bewahren angesichts des Grauens, das von diesem Unabwendbaren ausging, von diesem Unabwendbaren, das nun herankroch mit dem schleichenden Schritt der Sekunden und Minuten; das sich vollenden mußte, bevor es abermals Tag geworden.
Nach Schluß der Probe mußte Asta lange warten, bevor sie den Oberregisseur für sich allein bekam. Tausend Geschäfte, tausend Bitten drängten sich noch an ihn heran. Schließlich wurde es ihm zu toll:
»Kinder, ich bin auch nur ein Mensch und muß heut abend den Wallenstein spielen. Jetzt schert Euch gefälligst alle zum Teufel! Ich will schlafen.«
Asta schoß hinter ihm drein.
»Meister, eine Bitte, Sie müssen mich anhören, es geht um Tod und Leben!«
»Und wenn's um sechsundzwanzig Paar Regensburger Würschte geht, ich kann nicht mehr.«
»Helfen Sie mir, Meister, oder soll ich hier auf dem Korridor einen Kniefall tun?«
»Nützt Ihnen auch nichts, kommt alle Tage vor. Lassen Sie mich in Frieden!«
Asta brach in Tränen aus und hängte sich an des Davonhastenden Arm.
»Pah!« brummte der, »auch noch flennen! nützt Dir auch nichts, kommt auch alle Tage vor!«
Aber er schüttelte sie doch nicht ab, als sie sich an seinen Arm hing und das feuchte Gesichtchen an seiner Schulter barg — als sie sich hinter ihm in seine Garderobe drängte.
»Also in drei Teufels Namen, was gibt's? Aber kurz, bitte!«
Er ließ seine lange Gestalt mit einem Grunzen halb des Grimms, halb des Behagens auf das schminkfleckige Sofa fallen. Wies der Besucherin mit Handwink den Frisierstuhl als Sitzgelegenheit. Asta drehte den Stuhl herum, hockte auf seiner vordersten Kante, erzählte stockend, befangen, verwirrt ...
Als sie schwieg, tippte Franz Burg mit dem Mittelfinger der Rechten auf seine Brust und zuckte ein paarmal langsam die Schultern. Seine Brauen waren hochgezogen, um die schmalen Lippen spielte in tausend Fältchen ein Mephistoschmunzeln.
»Sie sollen mir raten, was ich tun soll, Meister!«
»Ja, Kindchen, soweit ich aus der Geschichte klug geworden bin, handelt es sich also um zwei Studenten, und einer von ihnen ist momentan Quartiergast in dem Kämmerchen da drüben unter Ihrem Pelzjackett, das freilich, soviel mir bekannt ist, häufig seinen Mieter wechselt. Aber, wat sall ick dorbi dauhn?«
»Einen Rat — einen Rat will ich, lieber Herr Burg. Sie sind doch Student gewesen — was fängt man nur an, um die zwei wieder auseinanderzukriegen? Was soll ich tun, sagen Sie mir, was soll ich tun?!«
»Die Karre laufen lassen, wie sie laufen will! Ich bitt' Sie — die jungen Leute müssen doch was erleben ... Sehen Sie sich doch um in der Welt! da geht ja heute alles so verflucht ehrbar, korrekt und vorschriftsmäßig zu, es passiert nichts — und passieren muß doch was in der Welt ... wovon sollen wir denn sonst leben, wir armen Komödianten, und die Poeten, die für uns Komödie schreiben! Ist ja 'n wahrer Segen, daß wenigstens auf deutschen Hochschulen noch manchmal 'n bißchen gerauft und geknallt wird. Ich freue mich immer, wenn ich sehe, daß noch Leidenschaft in der Jugend drin steckt ... daß noch Tragödien passieren. Das wäre ja doch ein wahrer Jammer, wenn man so was hintertreiben wollte.«
»Aber wenn nun ein Menschenleben dabei zugrunde ginge, bedenken Sie doch, Meister! So ein blühendes, herziges, junges Studentenleben!«
»Na — wenn schon!« knurrte Burg, »Studenten gibt's doch weiß Gott genug auf der Welt. Eine große Sensation ... eine — na, einen Stoff — das ist wahrhaftig so'n Allerweltsstudentenleben wert!«
»Herr Burg, Sie sagen Allerweltsstudentenleben ... das stimmt hier aber nicht; der eine, das ist kein Allerweltsstudent, das ist was ganz Besonderes —«
»Der eine? Also Ihrer selbstverständlich, nicht wahr?«
»Gott ja, meiner, wenn Sie wollen.«
»Nun, was ist denn so Besonderes an ihm?!«
»Er ist ein Dichter! Ach, so wundervolle Gedichte macht er. Wenn ich doch nur eins bei mir hätt'!«
»Sieh, sieh!« schmunzelte der Oberregisseur. »Also ein zukünftiger Bühnenlieferant. Na, dann soll er sich erst recht schießen!«
»Aber Herr Burg ... um Gottes willen!«
»Ja gewiß soll er. Entweder er geht drauf — na, in Gottes Namen: er ist der erste nicht. Wie mancher Homer ist blind geworden, ehe er Zeit gehabt hat, die Welt, das Leben so tief in sich hineinzusaugen wie der alte Griechenbarde ... Wie mancher Aeschylos mag in der Seeschlacht gefallen sein, wie mancher Schiller auf der Karlsschule in Verzweiflung und Verblödung hineingeknutet ... Das ist Kismet ... Wenn er aber übrig bleibt, glauben Sie nicht, daß er dann ein ganz andrer Kerl ist wie vorher, wenn er mal dem Tode ganz nahe ins Gesicht gesehen hat? Glauben Sie nicht, daß er Ihnen nachher noch viel schönere Verse machen wird; daß er noch 'ne ganz andere Nummer von Tragödie zustandebringt, wenn er erst mal erlebt hat, wie einem zumute ist, der die Nase hinhalten muß, wenn's drüben blitzt und knallt?«
Asta sprang auf, rannte schluchzend zum Fenster.
»Das ist entsetzlich, Herr Burg, das ist grausam!«
»Ne, das ist klug, das ist weise, Kindchen!«
»Also gut!« schrie die Kleine, warf sich herum, stand mit geballten Fäusten vor dem Oberregisseur, das reizende Gesicht von Grimm und Haß verzehrt. »Also gut! Sie sollen sich schießen ... einer soll auf dem Platze bleiben, alle beide — was kommt dabei heraus?! Nur eine neue Reklame für sie, für die große Jucunda! Was wird's heißen? Zwei Studenten haben sich geschossen ... wegen ihr, wegen Jucunda Buchner! Das ist's ja auch, was sie will, darauf hat sie's ja auch angelegt mit allem Raffinement, die Katze, die verdammte! Der ist's recht, wenn ein paar so fesche junge Kerle zum Teufel gehen ihretwegen — das paßt ihr grad in ihren Kram, dem hundeschnauzenkalten Weibsbild, das an nichts denkt — nur an sich, nur an sich!«
»Ach so!« lächelte Franz Burg. »Da zielt's hinaus! Mag sein, Sie haben recht, Kindchen ... Vielleicht ist unsere große Jucunda wirklich eine ganz haarsträubende Egoistin — aber ich wollte zu Ihrem Besten, Kleine, Sie selber wären's auch. Wenn Sie das erfreuliche Temperament, das Sie anscheinend im Leben besitzen, ein bißchen mehr zusammenhielten und auf Ihre Kunst losließen, statt auf Ihre ... auf die Mieter Ihres Herzenskämmerleins — glauben Sie mir, Sie wären eine größere Künstlerin, als Sie's leider sind. Sagen Sie mir nichts gegen die Jucunda, die ist ganz gut so wie sie ist. Die ist, was Sie nicht sind: eine Komödiantin. Die fühlt und weiß, wozu sie auf der Welt ist: nämlich zum Komödienspielen! Lieben und sich lieben lassen — schöne Sache, o ja, für die andern, für die Alltagsweiber — aber nicht für Euch. Zusammenhalten sollt Ihr Eure Glut, kalt wie Hundeschnauzen sollt Ihr meinetwegen sein im Leben, wenn Ihr nur abends, sobald der Lappen in die Höhe fliegt, Vulkane seid, wie die Jucunda einer ist! — Na, haben Sie noch weiter Schmerzen, Kleine?«
Gesenkten Blickes, mit zuckendem Kinn hatte Asta die Standrede des Meisters über sich ergehen lassen. Nun warf sie den Kopf trotzig in den Nacken, stampfte mit dem Fuß auf:
»Ich will aber nicht, ich will nicht, daß der lange Pilgram mir meinen süßen Jungen totschießt! Wollen Sie mir helfen, wollen Sie mir einen vernünftigen Rat geben?! Oder soll ich meiner Wege gehen?«
»Hm ... also das sage ich Ihnen, Astachen, gehen Sie weg vom Theater, aus Ihnen wird niemals was. — Also, wenn's denn absolut sein muß, die Sache ist doch entsetzlich einfach: Wenn Studenten Dummheiten machen, dann steckt man sich hinter ihre Eltern. Leben die respektiven Herren Väter noch?«
»Beide, soviel ich weiß.«
»Na also, und wo wohnen sie denn, die würdigen Erzeuger der beiden Hitzschädel?«
»Der eine wohnt da hinten im Rheinland irgendwo, soviel ich weiß.«
»Welcher? Ihr moralischer Schwiegerpapa oder der andere?«
»Nein, der eine,« sagte Asta, und das alte Schelmenlächeln blitzte durch Grimm und Tränchen wieder hindurch.
»Also an den wird bis morgen nicht dranzukommen sein — und der andere?«
»Der andere, der ist, soviel ich weiß, irgendein hohes Tier in Dresden!«
»Teufel, das trifft sich ja glänzend! Also, setzen Sie sich auf die Bahn, Kindchen, und rücken Sie dem Alten — wie heißt er? — dem alten —?«
»Pilgram,« half Asta ein.
»Also, rücken Sie dem alten Pilgram auf die Bude und petzen Sie ihm, daß sein wackerer Sprößling seinen Monatswechsel dazu mißbraucht, statt hinter seinen Büchern zu hocken, andern jungen Leuten Löcher in den Bauch zu schießen. Ich wette, dann entwickelt sich alles weitere historisch.«
Asta sprang auf den Oberregisseur zu, der noch immer langhingestreckt auf dem schminkfleckigen Sofa lag, fiel ihm um den Hals und küßte ihn stürmisch.
»Ach, Franzel, Sie sind doch der Allerbeste! Das wird gemacht, das ist die Rettung!«
»Aber bitte, erst nach dem 'Lager' — die kleine Oerzen ist krank geworden. Sie spielen heut abend die Gustel von Blasewitz. Nachher reisen Sie meinetwegen, wohin Sie wollen.«
»Ich danke Ihnen, oh, ich danke Ihnen tausendmal, Sie Goldiger!«
»Es ist ein Skandal,« knurrte Franz Burg. »Da hat unser Herrgott endlich mal wieder eine richtiggehende Tragödie angelegt, und so ein dummes, kleines Gör zerreißt ihm das Konzept und macht eine Posse draus!«
Wenige Minuten nach halb zwölf stieg Asta Thöny am Böhmischen Bahnhof in Dresden aus dem Leipziger Schnellzuge. Sie hatte schon in Leipzig das Dresdener Adreßbuch eingesehen und festgestellt, daß der Senatspräsident am Oberlandesgericht Heinrich Pilgram in der Marschallstraße Nummer zweiundzwanzig wohnte.
In dem milderen Klima der Residenzstadt war der Neuschnee des gestrigen Tages schon geschmolzen und hatte das Pflaster mit einer zähen Schlammkruste überzogen. In den Straßen war schon alles Leben erstorben. Trübselig spiegelte sich der Schein der Straßenlaternen in den Kotlachen der überschwemmten Rinnsteine. Trübselig klapperte der Gaul durch die physiognomielosen Straßen der Vorstadt und durch die kaum angebauten Alleen an der Grenze der Altstadt.
Eigentlich doch ein wahnsinniger Plan: um Mitternacht einer wildfremden Familie auf die Bude zu rücken! Aber schließlich, man hatte doch wohl alle Veranlassung, ihr dankbar zu sein. — Endlich: da stand sie vor der Pforte einer vierstöckigen Mietskaserne, und während der Wagen von dannen rollte, riß sie sich schier die Hände ab in dem Bemühen, den Portier zu alarmieren.
Ein Tattergreis, der hastig Hose und Rock über sein Nachtgewand gezogen, mit wirrem Graukopf und schlampigen Pantoffeln empfing sie, bösartig knurrend, und war nur durch etliche Markstücke so weit zu bezähmen, daß er sie bei der schwankenden Beleuchtung einer schwelenden Handlaterne bis zum dritten Stock hinaufbegleitete, wo ein Porzellanschild mit der Aufschrift »Pilgram« an einer breiten, mit Vorhängen abgeblendeten Glastür den Eingang wies.
Drinnen alles finster.
Wahnsinnige Situation! Aber was half's! Die Klingel schrillte, und zu Astas freudiger Ueberraschung erschien schon nach wenigen Minuten ein verschlafenes Dienstmädchen, das entsetzt zurückprallte, als es der fremden, eleganten Dame ansichtig wurde.
Die Herrschaften seien in Gesellschaft, würden aber wohl bis ein Uhr wieder zurück sein ...
Den unbekannten Besuch in die Wohnung einzulassen, dazu war das Mädchen nicht zu bewegen, und so mußte Asta unter Führung des Tattergreises abermals die drei Stiegen hinunter, um draußen auf der ganz verlassenen Straße in Schlamm und Tauwind auf und ab zu patrouillieren, wie sie abends vorher im Schnee auf der Kleinen Fleischergasse auf- und abpatrouilliert war ...
Endlich nach einer Stunde Wartens nahten von der Altstadt her vier vermummte Gestalten: ein Herr im Zylinder, den Rockkragen hochgeschlagen, und drei Damen, eine kugelrunde und zwei schlanke, hochgewachsene, in Abendmänteln und Kapuzen.
Im Augenblick, als der alte Herr den Schlüssel einschob, um zu öffnen, trat Asta auf ihn zu:
»Um Verzeihung! Ich habe wohl die Ehre, Herrn Präsidenten Pilgram ...«
Der alte Herr richtete sich aus seiner gebückten Stellung auf, stand völlig verblüfft, musterte die Fragerin.
Im selben Augenblick sah Asta durch goldgefaßte Brillengläser hindurch zwei scharfe, klare Augen mit durchdringendem Blick auf sich gerichtet.
»Allerdings! Ich heiße Pilgram — Sie wünschen?!«
Inzwischen waren die Damen herangekommen, starrten völlig verblüfft und verständnislos auf die zierliche Gestalt im silbergrauen Jackett, deren Züge ein grauer Schleier fast ganz verbarg.
»Entschuldigen Sie gütigst, Herr Präsident, könnte ich Sie wohl einen Moment allein sprechen?«
»Was für eine Angelegenheit, bitte, meine Dame? Es ist ein Uhr!«
»Eine sehr dringende Angelegenheit,« stammelte Asta, »ich komme aus Leipzig, es handelt sich um Ihren Sohn.«
Ein noch schärferer Augenblitz traf das Mädchen.
»Hm ...« sagte er nur, dann bückte er sich aufs neue, schloß auf und sagte zu seinen Damen:
»Ihr seid wohl so freundlich und geht schon hinauf solange.«
Mit angstvoller Neugier musterten die drei Damen die Fremde, aber ein scharfes: »Also bitte!« veranlaßte sie, dem Wunsche des Familienoberhauptes Folge zu leisten. Die Tür fiel ins Schloß.
»Also zuvörderst, wer sind Sie?« fragte der alte Herr.
»Ich bin die Herzoglich Meiningische Hofschauspielerin Asta Thöny.«
»Hm ... und Sie wünschen?«
»Ihr Sohn Valentin wird sich morgen früh mit einem andern Studenten schießen.«
Die buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen, der graue Fransenschnurrbart zuckte.
»Und dieser andere Student ist wer?«
»Ein Herr Hans Thumser.«
»Hans Thumser?! Das ist ja ein Korpsbruder meines Sohnes!«
»Ihr Herr Sohn ist schon vor Wochen aus dem Korps ausgetreten ...«
»Was ist das?!«
Der Präsident richtete sich straff auf:
»Das müßte ich denn doch wohl wissen, mein Fräulein!«
»Es ist aber so, Herr Präsident.«
»Hm ... lassen wir's zunächst einmal dahingestellt, ob Sie recht haben. Was veranlaßt Sie, mir diese Mitteilung zu machen?«
Asta war auf diese Frage vorbereitet und hatte sich ihre Antwort zurechtgelegt.
»Ich bin ... mit Herrn Thumser ... nahe befreundet.«
»Hm — mit Herrn Thumser? Sie machen mir also Ihre Mitteilungen weniger im Interesse meines Sohnes als vielmehr in dem des Herrn Thumser, wenn ich recht verstanden habe?«
»Nein, das doch nicht, Herr Präsident. Allerdings ... vor allem doch wohl Herrn Thumser zuliebe ... Aber Ihren Herrn Sohn kenne ich auch, zwar nur sehr flüchtig, aber ich bin ihm zu großem Dank verpflichtet, er hat mich ... er hat mir gestern ... das Leben gerettet.«
Der alte Herr sah das erregte Mädchen mit einem Blick an, in dem ganz deutlich zu lesen war, er zweifle an ihrem Verstand.
»Darf ich Sie bitten, meine Gnädigste, Ihren Schleier zu heben, damit ich sehe, wen ich eigentlich vor mir habe?!«
Mit zwei raschen Bewegungen streifte Asta Thöny den Schleier in die Höhe. Sie fühlte sich mit scharfer Prüfung gemustert. Aber das Ergebnis mußte wohl nicht ungünstig sein, denn erheblich liebenswürdiger als zuvor fuhr der alte Herr fort:
»Darf ich Sie bitten, mein gnädiges Fräulein, sich mit mir hinauf in meine Wohnung zu bemühen: Sie werden mir erzählen.«
Er entzündete ein Wachsstreichholz und leuchtete dem seltsamen Gast die Treppe hinauf. Der Hausflur war nun hell erleuchtet. An einer halboffenen Tür drängten sich drei weibliche Köpfe, die hastig verschwanden, als der Präsident mit seinem Besuch eintrat. Sehr höflich nahm er dem Gaste den Regenschirm ab und geleitete ihn in ein dunkles Zimmer zur Rechten, entzündete zwei Gasflammen, bat, ihn einen Moment zu entschuldigen.
Einen raschen Blick warf Asta in dem Zimmer umher. Die übliche, gutbürgerliche Einrichtung der sechziger Jahre: Mahagonimöbel, grüner Plüschbezug, an den Wänden ehrwürdige Familienbilder in Oel mit Darstellungen von Priestern und Gelehrten aus den beiden letzten Jahrhunderten. Am Fenster ein Mahagonisekretär mit Rolljalousie, darauf zahlreiche Photographien in Ständerrahmen, unter denen Asta sofort die eines schlanken Studenten in Mütze und Band herauserkannte.
Der Präsident kam zurück, bat, auf dem Sofa Platz zu nehmen, und setzte sich ihr gegenüber in einen Plüschsessel. Er hatte abgelegt. Auf der linken Brust seines Fracks schimmerte eine blinkende Ordenreihe.
Und abermals mußte Asta die Geschichte des gestrigen Abends erzählen. Der Präsident lauschte gespannt, ohne sie mit einem Wort, mit einer Frage zu unterbrechen. Als sie geendet, trat er auf sie zu, streckte ihr die Hand hin:
»Ich danke Ihnen, meine Gnädigste. Das war sehr gescheit von Ihnen, daß Sie gekommen sind. Ich fahre mit Ihnen nach Leipzig. Ich habe schon nachgesehen, um drei Uhr vierzig fährt der Zug, um halb sechs sind wir drüben. Darf ich Sie inzwischen meinen Damen zuführen?«
»Sehr gütig, Herr Präsident. Und was wird werden, was wollen Sie tun?«
»Den beiden jungen Herren klar machen, daß ihre Eltern sie nicht deshalb großgezogen haben, damit sie sich untereinander als Zielscheibe benutzen.«
»Aber werden wir auch nicht zu spät kommen? Wollen Sie nicht vielleicht vorher noch ein dringliches Telegramm an Ihren Sohn ablassen?«
»Liebes Fräulein, ich war selbst einmal Student — bin sogar Alter Herr des Korps Franconia —, wie ich die Buben kenne, scheren sie sich in solchen Fällen den Teufel um ein väterliches Telegramm. Im Gegenteil: wenn sie erst wittern, daß wir ihnen auf der Spur sind, dann kriegen wir sie morgen früh überhaupt nicht mehr zu fassen. Um halb sechs Uhr sind wir dort, vor sechs Uhr wird's ja überhaupt nicht hell um diese Jahreszeit; inzwischen werden wir überlegen, was zu tun ist. Darf ich Sie jetzt bitten, zu meiner Frau und zu meinen Töchtern hinüberzukommen?«
»Verzeihung, Herr Präsident, würden Sie es nicht für besser halten, wenn Sie zunächst Ihre werten Damen über den Zweck meines Besuchs aufklärten?«
»Da haben Sie recht, liebes Fräulein. Wenn Sie mich also einen Augenblick beurlauben wollen ...?«
Nur wenige Minuten blieb Asta allein. Dann flogen zwei schlanke Mädels herein, in Balltoilette, mit glühenden Backen, glänzenden Augen, in denen die Angst um den Bruder und dabei doch auch brennende Neugier und gespannte Erregung standen, und stellten sich mit befangenen Knixen vor. Achtzehn und zwanzig mochten sie sein, die ältere dem Vater und Bruder wie aus den Augen geschnitten; die jüngere, ein munteres, molliges Ding, das Ebenbild der Mutter, wie sich alsbald herausstellte, als nun auch die rundliche Frau Präsidentin auf der Bildfläche erschien. Und alsbald saß Asta mit Valentin Pilgrams Mutter und Schwestern unter der Hängelampe eines altmodisch-behaglichen Speisezimmers. Man stopfte sie mit Butterbrot und Süßigkeiten, man fragte sie aus nach tausend Dingen, von denen sie keine Ahnung hatte.
Während dessen hatte sich der Präsident entfernt, kam nach ein paar Minuten zurück.
»So, mein gnädiges Fräulein, ich habe mir die Sache überlegt. Ich werde jetzt gleich zum nächsten Telegraphenamt gehen und eine dringliche Depesche an die Leipziger Polizei aufgeben. Hören Sie, was ich aufgesetzt habe:
'Königl. Kreishauptmannschaft Leipzig! Morgen früh soll dort Pistolenduell zwischen meinem Sohn Valentin und Stud. Hans Thumser stattfinden. Ort und Zeit unbekannt. Abreise sofort, um selbes zu verhindern. Ankomme 5.29 dort Dresdener. Erbitte Unterstützung, womöglich berittenen Gendarmen, am Bahnhof.
Pilgram,
Senatspräsident am Oberlandesgericht.'
So, ich nehme an, daß man einem königlichen Beamten meines Ranges in angemessener Weise entgegenkommen wird. Wenn die Polizei einigermaßen ihre Pflicht und Schuldigkeit tut, so kommen die jungen Herren morgen früh überhaupt nicht aus ihrer Bude heraus, sondern werden gleich mit Beschlag belegt. Sollte aber wider alles Erwarten die Sache nicht klappen, so sind wir ja da!«
»Ja, aber um Gottes willen, Herr Präsident,« meinte Asta, »wir haben doch keine Ahnung, wo die schreckliche Geschichte eigentlich vom Stapel gehen soll — wie wollen Sie das denn herauskriegen?«
»Ja, Papachen, wie willst Du das nur herauskriegen?« echoten die Töchter.
»Liebe Kinder, ich war doch selbst mal in dem Geschäft. Gebt acht: Wenn man sich schlagen will, geht man nicht zu Fuß heraus, sondern bestellt sich einen Wagen. Wenn man aber Korpsstudent ist, so hat man für diesen Wagen eine ganz bestimmte Bezugsquelle: das Korps nimmt nämlich seinen Wagen immer bei ein und demselben Fuhrwerksbesitzer, der ihm Vorzugspreise gewährt. Den Namen aber des Wagenlieferanten der Franconia, den kenne ich leider nur zu genau. Oder soll ich jetzt sagen: glücklicherweise? Ich habe nämlich am Schluß des vorigen Semesters für unseren guten Valentin noch eine ganz erkleckliche Wagenrechnung berappen müssen ... Der gute Mann wohnt in der Nähe des Bayrischen Bahnhofs, an ihn also wenden wir uns zunächst und versuchen herauszubekommen, wohin die Fahrt gehen soll.«
»Aber wird er's auch verraten?« meinte Asta, »das könnte das Korps ihn doch teuer entgelten lassen?«
»Ich glaube, wenn ich mit der Polizei drohe und darauf aufmerksam mache, daß man ihn wegen Beihilfe zum Zweikampf mit tödlichen Waffen am Schlafittchen kriegen könnte, dann wird er wohl mit sich reden lassen!«
»Ach, Papachen, wie klug Du bist!« riefen die Töchter, strahlend vor Entzücken über das unerwartete Abenteuer. Himmel, wie interessant endete der Abend, der so langweilig, ganz nach dem Schema F verlaufen war.
»Nun aber müssen Sie schlafen, liebes Fräulein,« meinte die Präsidentin, nachdem ihr Gatte sich entfernt hatte, um das Telegramm aufzugeben. »In einer Stunde müssen Sie schon wieder zum Bahnhof, die sollen Sie wenigstens zur Ruhe benutzen.«
Aber Asta dankte. Sie könne nachher in der Eisenbahn noch genug schlafen, sie würde jetzt doch kein Auge zutun. Nur Hunger habe sie noch, wenn sie's denn schon sagen solle, und Durst auch.
Und die vier Frauen schwatzten und lachten zusammen wie alte Freundinnen ... und nur selten einmal ging's einer von ihnen durch den Kopf, was für morgen auf dem Spiele stand.
Papachen würde schon alles machen. Wenn Papachen eine Sache in die Hand genommen hatte, dann konnte es ja nicht schief gehen!
Als Asta und der Präsident fast als einzige Passagiere dem Frühzuge entstiegen, trat ein behäbiger Herr in einem undefinierbaren Räuberzivil auf den alten Herrn zu.
»Verzeihen Sie gütigst, ich habe wohl die Ehre, Herrn Senatspräsidenten Pilgram ... Mein Name ist Gensel, Königlicher Kriminalkommissar. Stelle mich im Auftrage der Kreishauptmannschaft zu Ihrer Verfügung.«
»Ah, charmant, Verehrtester. Haben Sie auch einen Gendarmen zur Hand?«
»Der wartet draußen mit seinem Gaul.«
»Nun, und was ist sonst geschehen?«
»Ja, Herr Präsident, wir haben unser Möglichstes getan. Wir haben sofort zwei Kriminalschutzleute zu den Wohnungen der beiden jungen Leute geschickt und feststellen lassen, ob sie zu Hause wären. Ihr Herr Sohn hat seine bisherige Wohnung bei dem Kanzleirat Buchner seit gestern ganz aufgegeben und ist ins Hotel übergesiedelt, in welches, das wußten die Leute nicht. Und der andere, Herr Thumser heißt er ja wohl, der ist heut nacht nicht nach Hause gekommen.«
»Teufel! Das ist scheußlich — was nun?!«
»Ja, was nun, Herr Präsident? Ich weiß auch nicht, was ich machen soll!«
Der Jurist sann eine Weile nach, dann erklärte er dem Polizeibeamten seinen Plan, durch den Fuhrwerksbesitzer den Duellanten auf die Spur zu kommen.
Der Kommissar war völlig einverstanden. Man stieg in eine Droschke und rollte durch die hier noch immer mit kotigem Schnee bedeckten Straßen zum Bayrischen Bahnhof.
Im trüben Laternenschein huschten hastige Fußgänger vorüber, das Leben der großen Stadt erwachte — die Arbeit begann.
Die Herren berieten eifrig während der kurzen Fahrt. Der Präsident im Rücksitz, der Kriminalkommissar ihm gegenüber. Asta lehnte in ihrer Ecke, fröstelnd, übernächtig, von Angst geschüttelt, und lauschte der halblauten Unterhaltung der Herren.
Der Gendarm war vorausgetrabt. Als man vor dem Fuhrhof ankam, hielt er bereits an dem Portal mit dem Geschäftsinhaber, einem grobknochigen Mann in Flausrock und Holzpantoffeln.
Schnell kletterte der Kommissar aus dem Wagen und inquirierte sofort den Fuhrherrn:
»Ist der Wagen für das Korps Franconia schon fort?«
»Weeß Knebbchen, ja, Herr Kommissar, schon seit zehn Minuten is er weg ... tut mir sähre leid.«
»Und wohin geht die Fahrt?«
»Das kann ich Sie nich sagen, uff mei Ehrenwort nich. Der Wagen is bestellt für um den Herrn Volkner abzuholen, Kleine Fleischergasse fünfe ... aber da wird er nu ja woll ooch schon nich mehr sinn.«
Der Präsident war ebenfalls ausgestiegen und fragte: »Na, lieber Herr, Sie werden ja doch wohl eine Ahnung haben, wohin es geht?! Wo fahren denn die jungen Herren gewöhnlich hin, wenn sie was Besonderes vorhaben, he?!«
»Nu, mei gutester Herr, wenn ich's ehrlich sagen soll, gewehnlich machen se doch so was im Ratsholz ab, un da gibt's eigentlich nur een' Weg: Kaiser-Wilhelm-Straße 'runter, dann Kaiserin-Augusta-Straße, am alten Wasserwerk vorbei und ins Streitholz hinein. Freilich, was für ä Plätzchen se sich dasmal haben ausgesucht, davon habe ich Sie natierlich de leiseste Ahnung nich, mei gutester Herr.«
»Also, Herr Robolski,« sagte der Kriminalkommissar, »ich mache Sie darauf aufmerksam: Wenn sich's herausstellt, daß Sie uns nicht die reine Wahrheit gesagt haben, dann krieg' ich Sie bei die Hammelbeene, verstehen Sie mich?!«
»Mein Ehrenwort,« sagte der Fuhrherr, »mein heiligstes Ehrenwort, Herr Kommissar, das, was ich gesagt habe, ist alles, was ich weeß.«
»Schön! Also, Gendarm Mehlhorn, Sie haben gehört: sitzen Sie auf, traben Sie was haste was kannste nach dem Streitholz. Wir kommen nach. Sie reiten bis zum Schnittpunkt der 'Neuen Linie' und der 'Linie', meinetwegen auch die 'Linie' hinauf, bis zum Flußgraben, dann zurück bis zum Wegekreuz, dort warten! Merken Sie inzwischen was von den Duellanten, so greifen Sie selbständig ein, verstanden?!«
»Zu Befehl, Herr Kommissar!« sagte Mehlhorn dienstlich, schwang sich auf seinen Braunen und klapperte die Bayrische Straße hinunter.
Die beiden anderen Herren verabschiedeten sich mit flüchtigem Gruß und Dank von dem Fuhrwerksbesitzer, wiesen den Kutscher an, hinter dem Gendarmen drein zu fahren, stiegen ein, und die Gäule zogen an.
Die drei im Wagen schwiegen und sannen.
Vom Bayrischen Bahnhof blinkten grelle Signallichter, schrillten Lokomotivenpfiffe, ratterten mit dumpfen Stößen ausfahrende Züge über die Schienen. Drüber stand schon heller Tagesglast. Auf der matt erleuchteten Kreisscheibe der Bahnhofsuhr standen die beiden Zeiger in einer geraden, senkrechten Linie ...
O Gott, wenn man zu spät kam! Es konnte sich ja nur um Minuten handeln.
Hans Thumser erwachte. Oben an der Decke war irgend etwas, das blendete ihn. Mit verschlafenen Augen blinzelte er hinauf und sah, daß es Laternenschein war, der, von drunten herauffallend, das Lichtbild eines Fensters auf die weiße Tünche zeichnete. Teufel ja, wo kam das denn her? Das war sonst doch nicht so?!
Mit einem Mal fiel's ihm ein: er war ja gar nicht in seinem eigenen Zimmer, lag nicht in seinem Bett ... aber wo nur? Richtig, er war ja doch auf Volkners Bude — aber warum nur, was war denn eigentlich los?
Mit einemmal krampfte sich sein Herz zusammen in siedendem Schreck: o Gott, morgen früh —!
Eigentlich doch eine sehr vernünftige Idee von Volkner, ihn nicht allein zu lassen in dieser Nacht, in dieser vielleicht ... letzten Nacht. Und auch sonst war alles sehr vernünftig gewesen, was der Senior gesagt und geraten:
»Weißt Du, Thumser, vor einer solchen Affäre ist das einzig Richtige, sich so zu betragen, als sei gar nichts Besonderes los. Um Gottes willen, bloß sich nicht hinsetzen und ein halbes Dutzend Abschiedsbriefe schreiben: an die Eltern, an den Schatz, an die Erbtante, und wer weiß an wen sonst noch. Das hat ja gar keinen Zweck. — Mein Gott, so'n bißchen Knallerei! Ja, wenn Du jedesmal Dein Testament machen wolltest, wenn Du Dich in Lebensgefahr begibst, dann müßtest Du es von Rechts wegen machen, so oft Du vor die Tür gehst! Ueberall kann Dir ein Dachziegel auf den Schädel fallen. Und wenn Du in Deiner Bude und im Bette bleibst, kann schließlich die Decke einstürzen ...«
Des Korpsbruders rheinischer Leichtsinn hatte Hans Thumser über die Abendstunden hinweggeholfen. Man war auf der Kneipe gewesen, hatte Quodlibet gespielt und den blödesten Bierulk betrieben. Dann hatte Volkner ihn mit auf seine Bude geschleift, ihm großmütig sein Bett abgetreten und sich dann selber auf dem Kanapee einlogiert. Von dort herüber drang jetzt sein melodisches Schnarchen. Na ja, der hatte gut schnarchen!
Vorher aber, vor dem Einschlafen, hatten die zwei noch einen besonderen Trall ausgeheckt: Volkner hatte seine Geige genommen, und beide waren sie vor die Kammertür von Volkners bejahrter Hauswirtin gezogen und hatten ihr ein Ständchen gebracht, indem sie zu sanft hinschmelzender Violinbegleitung das schöne Lied gesungen hatten:
Erst als die Pantoffeln der Alten von drinnen gegen die Tür knallten, hatten sie Ruhe gegeben und waren dann beide auch sofort eingeschlafen.
Volkners Bude befand sich im ersten Stock des Hauses, das an der Kleinen Fleischergasse dem Cafébaum direkt gegenüber lag. Und der Lichtschein der Laterne, die neben dem Eingang des Restaurants stand, war es, der Hans Thumser geweckt hatte. Er tastete nach seiner Taschenuhr und stellte im matten Reflex des Deckenlichts fest, daß es zwei Uhr war.
Auf halb fünf war der Korpsdiener zum Wecken, auf viertel sechs der Wagen bestellt. Um viertel sieben sollte der erste Schuß fallen ... also noch zwei und eine halbe Stunde Schlaf und vielleicht noch vier und eine viertel Stunde zu leben ...
Die ganze vorige Nacht hindurch hatte Hans Thumser wie ein Sack geschlafen. Die nötige Bettschwere hatte er sich ja schon vor dem Zusammenstoß mit Pilgram angezecht. Der gestrige Tag war in beständiger Unrast hingegangen, und so kam jetzt in nächtlicher Stille zum erstenmal Ordnung in den Wirrwarr der Gedanken, die um das Schicksal der kommenden Morgenstunde flatterten.
Also sterben vielleicht ... und warum denn eigentlich? Nun, die Antwort war sehr einfach: Ein anderer war Hansens Ehre zu nahe getreten, hatte ihn tätlich aufs schwerste beleidigt, dafür galt es eben die standesübliche Sühne zu fordern.
Schön! Das klang ja ganz vernünftig. Aber schließlich ... eine Beleidigung hatte doch irgendeinen Grund, ein Motiv. Was hatte er Pilgram denn eigentlich zuleide getan? Was hatte er begangen, daß Pilgram ihn wie einen ehrlosen Buben behandelt hatte? Nun, das eine war ja klar: Pilgram war eifersüchtig, er bildete sich ein, er selber, Hans Thumser, sei sein Nebenbuhler bei Jucunda, und zwar ein begünstigter. Ein begünstigter? Ach, du lieber Gott ...!
Freilich, an ihm selber hatte es ja nicht gefehlt ... Und wer weiß, was geschehen wäre, wenn nicht im Augenblick, als Jucunda anfing, gnädig zu werden, sehr gnädig — — wenn nicht der andere dazu gekommen wäre, dieser fade Laffe, über dessen blasiertem Geckenschädel der Nimbus einer Fürstenkrone schwebte?
Aber schließlich, es war doch ein Irrtum, wenn Pilgram sich einbildete, Thumser sei glücklicher gewesen als er selber.
Also ein Mißverständnis! Ein Wahn!
Aber da war noch etwas andres, das nicht stimmte: Was das nur mit dem Brief gewesen war, den Pilgram ihm vorgehalten? Offenbar ein Brief von Jucunda, ein Brief, in dem sie sein Eintreten für ihre Ehre mehr oder weniger verblümt abgelehnt hatte. Und dieser Brief hatte auf einem Briefbogen gestanden, der seine, Hans Thumsers, Initialen trug. Wie kam der Brief auf dieses Papier? Erst jetzt in der Stille der Nacht fand Hans Zeit, um über dies Phänomen nachzugrübeln ...
Und plötzlich stand ihm der Augenblick vor der Seele, wie er Jucunda und ihrer Mutter sein Zimmer zur Verfügung gestellt hatte, um sich auszusprechen. Natürlich, das war's ja! Da hatten die Frauen das Uriasbrieflein ausgeheckt und das liebliche Plänchen gleich realisiert. Sie hatten genommen, was gerade zu erreichen war, das Briefpapier des Mannes, der ihnen vertrauensvoll seine Behausung zur Verfügung gestellt ...
Pilgram aber, der hatte natürlich für die sonderbare Erscheinung sich eine ganz andere Erklärung in den Kopf gesetzt. Er mußte sich eingebildet haben, der Korpsbruder sei mitschuldig an der Abfassung des Briefes, habe ihn vielleicht sogar redigiert ...
Also Mißverständnis Numero zwei.
Schön! Zwei grobe Irrtümer in der Rechnung. Wenn man sich aber einmal in Pilgrams vermutliche Auffassung hineinzudenken versuchte, so konnte man ihm schließlich nicht so unrecht geben, wenn er bis aufs Blut gereizt war, wenn er den einstigen Korpsbruder infamer Gesinnung und Handlungsweise verdächtigte.
Und darum Mord und Totschlag! Darum zwei junge Leben vor die Mündung geladener Pistolen gestellt! War das nicht Wahnsinn? War es nicht noch in diesem Augenblick Pflicht, eine offene Aussprache herbeizuführen, den Irrtum aufzuklären?!
Aber bei dem Irrtum war es nicht geblieben. Er hatte eine schreckliche Folge gehabt: die rasche Tat, eine Tat, die nicht milder war denn ein Schlag mitten ins Angesicht des Feindes. Und auch zu diesem Schlag wär's ja gekommen, wenn nicht die Korpsbrüder dazwischen getreten wären.
Mißverständnisse und Irrtümer ließen sich aufklären — die Tat war nicht ungeschehen zu machen. Der Kavalier, der von einem Kavalier einen Schlag erhält, muß blutige Sühne fordern. Das war das eiserne Gebot des Ehrenkodex, daran war nicht zu deuteln noch zu rütteln.
Und dann — wer mochte den ersten Schritt tun? Machte der sich nicht verdächtig, als sei es nur die Angst vor der blauen Bohne, die ihn zur Aussöhnung geneigt machte? Würde man ihn nicht der Kneiferei zeihen?
Der Kneiferei? Nun, wer vierzehn Schlägermensuren mit Ehren bestanden hatte, brauchte der sich vor dem Verdacht der Kneiferei zu fürchten?
Halt! So eine Knipserei, das war doch was andres als das bissel Bestimmungsmensur mit Binden und Bandagen.
Nein, da war nichts zu wollen, dafür war man Korpsstudent! Der andere, der war an allem schuld. Der hätte die Aussprache herbeiführen müssen vor der Tat. Daß er dem Freund, dem Korpsbruder aus drei Semestern eine ehrlose Gesinnung überhaupt zugetraut, das war die eigentliche Beleidigung, das war die Schmach, die nur mit Blut abgewaschen werden konnte. Die Worte, die Handlungen, die aus dieser abscheulichen Unterstellung erwachsen waren, die waren schließlich nichts anderes als der zufällige Ausdruck für einen Verdacht, der auch ohne Wort und Schlag ins Herz der Ehre traf.
Nein, es gab keinen anderen Ausweg — und so würde man morgen früh aufeinander losknallen »bis zur Kampfunfähigkeit«.
Und nun kamen die Gedanken an daheim. An Eltern und Geschwister — nein, das ging ja doch nicht, einen solchen Gang zu tun, ohne sich vorher von den liebsten Menschen verabschiedet zu haben. Wenn er nun fiel — wie sollten sie diese wirre, dunkle Geschichte verstehen? Sie würden doch nachforschen, würden wissen wollen, was denn eigentlich geschehen war, wie es hatte so weit kommen können — und dann war's zu spät. Dann war sein Mund, der allein Licht in die Wirrnis hätte bringen können, verstummt. Sein Tod würde den Lieben ein düsteres, grauenhaftes Rätsel bleiben.
Also das geht nicht. Hans wird aufstehen und einen langen, langen Brief an die Geliebten daheim schreiben. Ihnen alles erzählen, ohne Verschweigen, auch das Glück — die landläufige Moral nannte es ja wohl ein sündiges Glück —, das er in Asta Thönys Armen genossen, auch die verworrenen Dränge, die ihn zu Jucunda getrieben. Alles, alles wird er berichten, und so wird wenigstens Klarheit liegen über seinem schauerlichen Ende ...
Ob sie ihn verstehen werden daheim? Mein Himmel, der Vater ist doch auch einmal jung gewesen ...
Und in Gedanken entwarf Hans Thumser den Wortlaut seiner Beichte. Immer eindringlicher, immer inbrünstiger vertiefte er die Schilderung seines Seelenzustandes, immer heißer und drängender formte er seine Bitte um Verständnis, um Vergebung, um ein Gedenken ohne Groll. Und über all dem Sinnen und Grübeln war er plötzlich versunken und verschwunden und wachte erst wieder auf, als Volkner ihn wach rüttelte, und die schlampige Alte, die sie beide gestern abend angeserenadet, in Nachthaube und Nachtjacke, grimmigen Gesichts und knurrenden Mundes den Kaffee auf den Tisch setzte.
Nun war's zu spät, nach Hause zu schreiben. Nun blieb's doch bei Volkners Theorie.
Die trockenen Semmeln von gestern wollten nicht in die Kehle, der glühheiße Bliemchenkaffee blieb fast unberührt. Ein Glück, daß Volkner mit ein paar Tafeln Schokolade und einem besseren Schnaps versehen war.
Geschäftig bediente er den Korpsbruder, wie man um einen Kranken, um einen Sterbenden sich müht. Und dabei fühlte Hans Thumser ganz deutlich, daß der andere sich im tiefsten Innern höchst mollig fühlte bei dem Gedanken: Gott sei Dank, daß ich selber nicht derjenige welcher bin!
Um Punkt halb sechs knallte drunten die Peitsche des Kutschers. Die jungen Männer machten sich bereit.
Im Schauer des dämmrigen Morgens fuhr Hans Thumser fröstelnd zusammen, als sie vor die Tür traten, als sein Blick auf die eingeschnurrte Gestalt des Korpsdieners fiel, der übernächtig auf dem Bock neben dem Kutscher hockte und auf den Knien einen schmalen, schwarzpolierten Kasten trug ...
Nebeldurchdunstet lagen die Straßen. Das Weiß des frischen Schnees war längst in ein kotiges Braun verwandelt, das der Frost der jüngsten Nacht mit tausend Rauhreifkristallen überzogen hatte. Ringsum erwachte das Leben der großen, fleißigen Stadt der Arbeit.
Den Rockkragen hochgeschlagen, dampfenden Atems schritten die Männer, huschten die Frauen einher, jeder an sein Geschäft. Schwarz und finster reckten sich die Fronten der alten Straßen, deren Häuser sich im Laufe der Jahrhunderte aus eleganten Wohnpalästen in dumpfe, mit Affichen überladene Geschäftshäuser verwandelt hatten.
Aber die Nebel sanken, von Osten wuchs die junge Tageshelle. Erste, schüchterne Sonnenstrahlen spielten droben um die Giebeldächer, ein Tag voll winterlicher Herrlichkeit flammte herauf.
Nun wurden die Anlagen durchquert. Weißleuchtend zackte sich das Gewirr der umreiften Aeste ins junge Blau.
Ivo Volkner aber und Hans Thumser studierten eifrig den S. C.-Pistolen-Komment, der in einem handschriftlichen Exemplar auf ihren Knien lag, und zündeten eine Zigarette an der anderen an.
Ganz kühl und geschäftsmäßig sprachen sie immer und immer wieder den vorgeschriebenen Gang der Mensur durch, um später auch nicht den leisesten Schnitzer zu begehen.
Endlich aber hielt es Hans Thumser nicht mehr aus. Er schob das schwarzgebundene Heft zurück, riß das frostbeschlagene Wagenfenster auf, atmete in tiefen Zügen die Morgenfrische und sog mit brennenden Augen das Bild der Morgenwelt in sich hinein.
Und eine wilde Sehnsucht kam über ihn — Sehnsucht nach all dem Unsagbaren, das von da draußen in seine Seele hineinflutete, nach all dem unendlich Schönen des Lebens, das er doch kaum mit erstem Erwachen des Begreifens gegrüßt ... und das doch schon tausend Vorahnungen künftiger Glücksmöglichkeiten in ihm geweckt hatte. Ach, Glücksmöglichkeiten?! Nein, er war ja schon glücklich gewesen!
Asta Thöny! klagte es in seiner Seele. Gott! so undankbar konnte man sein? An sie hatte er noch gar nicht gedacht ... Daß er von ihr sich verabschieden mußte, das war ihm nicht einmal in den Sinn gekommen ... Und doch — wieviel hatte sie ihm geschenkt! Wie unsäglich gut war sie zu ihm gewesen, und er ... er hatte sie achtlos beiseite geschoben. Und das letzte, das er von ihr gesehen, waren bittere Tränen gewesen.
Zu spät ... Nun mußte das Schicksal seinen Gang gehen. Nun blieb nur noch eins: der Feindeskugel die Brust zu bieten und die Stirn dem wahllosen Walten des Geschicks.
Und doch, wie schön die Welt! Wie reich, was sich barg hinter den weißen Nebelschwaden, die das Kommende verhüllten. Wie selig selbst dieser Augenblick ahnungsvollen Grauens ...
Und Hans Thumsers Seele fühlte sich leben in diesem Augenblick. Leben, wie sie nie zuvor gelebt ... In langen, schmerzvollen Zügen trank sie das Glück des Augenblicks hinein. Das Glück, noch da zu sein, noch ein paar schmerzvoll süße Minuten lang die tiefe Wonne des Daseins atmen zu dürfen.
In einem billigen Zimmer des Hotel de Russie — dritter Stock nach hinten hinaus — hatte Valentin Pilgram sich einquartiert und die halbe Nacht mit Briefeschreiben zugebracht. Erst nach Mitternacht hatte er sich aufs Bett gestreckt und ein paar Stunden hingedämmert ...
Nun marschierte er auf dem Reitweg, der erst rechts, dann links der »Neuen Linie« durch das Streitholz führte, dem Kampfplatz entgegen, ein einsamer Wanderer ...
Er hatte sich nicht entschließen können, die letzten Augenblicke in Gesellschaft seines ihm tief unsympathischen Sekundanten Borgmann zuzubringen, mit dem er zweimal die Klinge und noch viel öfter in hitzigen Debatten des S. C. das Schwert des Wortes gekreuzt.
Um nicht mit dem Wagen zusammenzutreffen, war er vom Fahrdamm abgebogen, auf den Reitweg hinüber, auf dem um diese Morgenstunde noch keine Begegnung zu befürchten war. Er sah nicht die Pracht des jungen Tages, fühlte nicht die Schönheit des Daseins, die ringsum tausend Wunder winterlicher Herrlichkeit erblühen ließ. Er fühlte nichts als seinen Haß — sah nichts als die Gestalt des Gegners, wie sie nun gleich vor ihm stehen würde, ein sicheres Ziel dem stählernen Druck seiner Hand, dem unbeirrbaren Blick seines Auges.
Da ließ ein Geräusch ihn aufschauen, ein Geräusch, das rasch sich näherte. Pferdegetrappel war's, gedämpft durch den Schnee — nur wenn die Hufe ab und an gegen die harte Eiskruste stießen, die den Boden überzog, dann gab's einen klirrenden Ton. Der hatte ihn geweckt.
Da vorne, in den silbernen Nebeln, die noch über der Pleißeniederung lagerten, tauchten, schattenhaft abgehoben vom umgoldeten Himmel, zwei Reitersilhouetten auf: ein Herr und eine Dame. In raschem Trabe näherten sich die schnaubenden Gäule.
Valentin Pilgram konnte keines Menschen Blick ertragen in diesem Augenblick. Er trat rasch hinter den mächtigen Schaft einer Eiche und ließ die Reiter vorüberflitzen. Im letzten Augenblick erkannte er sie: es waren Jucunda und der Erbprinz.
Es war ihm, als hätte er einen Stoß vor die Brust erhalten. Er taumelte, starrte ein paar Sekunden wie ein Blödsinniger hinter den enteilenden Schatten her. Noch klang Jucundas übermütiges Lachen, des Prinzen näselnde Stimme in sein Ohr:
»... mal sehen, ob der Generalintendant meines alten Herrn für ein Gastspiel in diesem Winter ...«
Das waren die Worte, die er aufgefangen ...
Ha ha! — ha ha ha ha ha —!! Das also war das Ende! Darauf lief es hinaus!
Während er zum Todesgange schritt mit jenem andern, der ihm der Glückliche gewesen war bis zu diesem Augenblick ... In derselben Stunde ... pfui Deubel! pfui Deubel!
In dumpfer Betäubung trottete er weiter.
Wo war der blindwütende Haß, der ihm den Nacken gestählt, die Sehnen gestrafft? Verweht — verflattert, wie die weißen Nebelschwaden um die rauhreifumsilberten Kronen der Bäume zerwehten.
Und plötzlich ward er sich des grausamen Wahnsinns bewußt, der in all den Geschehnissen lag, die er selbst ins Rollen gebracht, und die nun abschwirrten, wie ein gräßlich zermalmender Mechanismus, unhemmbar, unwiderstehlich.
Da blinkte schon der Lauf der Pleiße ... da vorn tauchte aus den Morgendünsten der Umriß eines Wagens auf, der sich im Schritt gen Süden bewegte, und hinter ihm klang das Rollen eines zweiten Wagens.
Er beschleunigte den Gang, er mochte sich nicht überholen lassen, weder von seinem Sekundanten noch von der ... andern Partei.
Nun hatte er die »Linie« erreicht, verfolgte sie einige hundert Schritte weit gen Osten ... und sieh, da öffnete sich rechts eine weite Lichtung: die Heiderwiese ...
Am Wegekreuz hielt der Wagen, der vor ihm gefahren war. Er sah, wie drei männliche Gestalten ihm entstiegen und durch den Schnee ins Innere der Lichtung hinein wateten. Das waren die andern: Hans Thumser, Volkner, der Korpsdiener.
Valentin Pilgram blieb am Chausseerand stehen und wartete auf seinen Sekundanten. Nach wenigen Minuten war der Wagen heran. Ihm entstiegen Herr Borgmann im grellkarierten Winterpaletot, sehr zeremoniös, platzend vor Feierlichkeit, und Graf Schmettow, der Meißner-Senior, der als Unparteiischer zu fungieren hatte, verkatert, die Scherbe im Auge. Und ferner der alte Sanitätsrat Dr. Collwitz, der sich als zweiten Paukarzt einen seiner Assistenten mitgebracht hatte. Einen jüngeren, bebrillten Herrn mit langflutendem blonden Vollbart. Dieser wurde als Doktor Köllicker vorgestellt.
Pilgram dankte den Aerzten für ihr Erscheinen, die üblichen Redensarten wurden getauscht in gezwungen nachlässigem Tone, den der Ernst der Stunde mit frostigem Schauer durchzitterte. Dann stapften die Herren der Gegenpartei nach gen Süden.
Hinter ihnen schritt der Korpsdiener der Neo-Borussia, er trug einen mit gelben Messingknöpfen benagelten Koffer, der Instrumente und Materialien für die Aerzte enthalten mochte.
Valentin Pilgrams Blicke suchten den Gegner und erkannten die schlanke, geschmeidige Gestalt. Aber wohin war der Haß geschwunden, der ihn durch Wochen gemartert, wenn er Hans Thumsers bloß gedachte?! Er sah nur noch den Freund, den Korpsbruder aus drei Semestern.
Thumser hatte seinen Paletot abgelegt und stand mit offenem Jackett, über der Weste blitzte das grün-gold-rote Band.
Und dahin sollte man nun zielen, dahin das Todesblei entsenden?!
Und doch, es gab kein Zurück ... Und ob er wollte oder nicht, die grausame Farce mußte nun mit Anstand zu Ende gespielt werden ...
Und rasch und vorschriftsmäßig wickelte sich nun der Gang der Dinge ab. In genauestem Anschluß an den Wortlaut des Komments wurden nun die Plätze bestimmt, so daß das Licht gleichmäßig verteilt war; wurden die Waffen geladen, die Duellanten instruiert. Der Unparteiische schritt selber mit Riesensätzen seiner langen Storchbeine die Barriere ab und bezeichnete sie durch zwei niedergelegte Spazierstöcke, hüben und drüben. Noch zehn Schritt weiter jenseits wurden durch Kreuze, die in den Schnee geritzt wurden, die Plätze für die Duellanten festgelegt, die sonach durch fünfunddreißig reichlich bemessene Schritte voneinander getrennt waren.
Zuletzt nahmen die Sekundanten ihren Fechtern noch Brieftasche, Uhr und Geldbörse ab und geleiteten sie dann zu ihrem Platze. Dort übergaben sie ihnen die Waffen und traten dann jeder zwanzig Schritt zur Seite.
Der Unparteiische nahm seinen Stand zwanzig Schritte seitwärts von der Mitte der Schußlinie.
»Meine Herren!« sprach er mit schallender Stimme, »ich wiederhole noch einmal: ich zähle bis vier. Wenn ich eins! gezählt habe, dürfen Sie avancieren bis an die Barriere, bis vier müssen Sie abgeschossen haben. Herr Thumser, als der Beleidigte, hat den ersten Schuß. — Bin ich verstanden?«
Mit stummem Nicken antworteten die Gegner.
Hochaufgerichtet stand Hans Thumser und sah übers schneeblinkende Feld. Endlos schien ihm die Entfernung, die ihn von dem Feinde trennte. Aber er wußte, daß sie sich rasch verringern würde, zusammenschrumpfen zu einem schrecklichen Aug' in Auge ...
Ein jähes Frösteln rann durch seine Gestalt, kaum konnte er das Klappern seiner Zähne bemeistern, kaum den Hahn der Pistole spannen ... Und nun noch ein Blick in die goldige Morgenwelt hinaus. Ein Blick in die Zukunft, die vor ihm versinken wollte wie der Tau einer Nacht. Und da überfiel ihn eine jähe, ingrimmige Wut auf den, der ihm das alles rauben wollte. Nein, sich wehren ... sich wehren bis zum letzten Atemzug! Ins Herz den Gegner treffen — ins Herz! Wenn einer fallen soll, gut, so sei's der andere!!
»Eins!« scholl da schneidend scharf das Kommando des Unparteiischen.
Und nun war alles versunken, alles bis auf die hagere, starr emporgereckte Gestalt da drüben, die einst geliebte, nun bis in den Tod gehaßte ...
Wie fern sie war, wie klein ... und nun, nun kam sie heran, nun wuchs sie ... wuchs und wuchs ... und nun blieb sie stehen ... bot sich zum Ziel ...
Da raffte auch Hans Thumser sich zusammen. Mit hastigen Schritten schoß er vorwärts, bis seine Fußspitzen den Spazierstock berührten, der die Barriere bezeichnete.
»Zwei!« klang des Unparteiischen Stimme.
Hans Thumser hob die Waffe bis in die Augenhöhe, zielte auf des Gegners Brust, sah ganz deutlich, wie über dem Visier die breiten Schultern standen, das fahle Gesicht.
»Drei!«
Da drückte er los ...
Er sah den Gegner wanken, sah, wie die Rechte, welche bisher die Waffe gesenkt gehalten, eine rasche, zuckende Bewegung nach der linken Schulter machte. Dann aber fand der Taumelnde Halt, hob nun ebenfalls den Lauf, aber hoch bis über die Stirn, und schoß — schoß hoch in die Luft ...
»Vier!« klang das Kommando des Unparteiischen.
In diesem Augenblick ließ Valentin Pilgram die Pistole fallen und griff mit der Rechten krampfhaft in das linke Schultergelenk hinein.
Doktor Köllicker sprang zu, riß Pilgrams Rock auf, das weiße Hemd wies Blutflecken, er zertrennte es mit raschem Zerren, untersuchte das verletzte Gelenk. Dann winkte er dem Sanitätsrat, der hinzutrat.
Auch Borgmann, der Sekundant, und Graf Schmettow eilten zu dem Verwundeten heran.
Der lächelte mit schmerzverzerrtem Munde. »Viel scheint's nicht zu sein, meine Herren. Von mir aus kann's weiter gehen!«
Aber der linke Arm hing kraftlos herunter, ein Versuch, ihn zu bewegen, mißlang.
Die Herren steckten in flüsternder Beratung die Köpfe zusammen. Die Forderung lautete bis zur Kampfunfähigkeit ... und die lag wohl nicht vor, obwohl das Schultergelenk schwer verletzt schien.
Hans Thumser trug's nicht länger. Der andere hatte, obwohl getroffen, seinen Schuß verloren gegeben. Was konnte das bedeuten? Doch nur dies eine: die Erkenntnis begangenen Unrechts.
Hans winkte seinen Sekundanten heran.
»Ich kann nicht mehr, Volkner — geh und biete Satisfaktion an ...«
In derselben Sekunde scholl auf der Chaussee ein hastiges Hufegeklacker, und eine atemlose Männerstimme keuchte:
»Halt! Im Namen des Gesetzes: halt, meine Herren!«
Zwischen den Büschen des Wiesenrandes tauchte ein goldblinkender Helm auf, ein grüner Waffenrock, der braune Bug eines Pferdes, in rasendem Galopp gestreckt. Fünf Minuten später preschte der Reiter an der Gruppe der Herren vorüber, die sich um den Verwundeten zusammengeballt hatten, warf den Gaul herum, versuchte den Flankenzitternden, Schäumenden zum Stehen zu bringen.
Hans Thumser hielt sich nicht länger. In langen Sätzen übersprang er die fünfzehn Schritt, die ihn von dem Verwundeten trennten, streckte ihm die Hand hin:
»Komm, Pilgram — das geht ja doch nicht mehr!«
Die Herren, die den Verwundeten umdrängten, hatten ihm Platz gemacht.
Aug' in Aug' standen die einstigen Freunde einander gegenüber, tauschten einen Blick, in dem mehr als Versöhnung lag ... Genesungsglück schimmerte darin, neue Hoffnung, neues Leben ...
Mit der heilen Rechten schlug Valentin Pilgram in Hans Thumsers Hand ein ... und auf einmal lagen die Jünglinge sich in den Armen.
Da klangen wiederum Hufschläge auf der Chaussee. Und sieh, ein Wagen hielt am Wiesenrand, ihm entstiegen zwei Herren und eine Dame, die mit hastigen Schritten über den schneebedeckten Wiesengrund herankamen.
Nun löste sich aus der Gruppe der drei die hagere Gestalt eines alten Herrn in Gehpelz und Zylinder los, der mit langen Sätzen über die klirrenden Schollen voranstelzte. Immer hastiger ward sein Gang ... ward zum Lauf ...
»Donnerwetter!« schrie da Volkner plötzlich, »sieh doch nur, Pilgram — Dein alter Herr!«
Die Aerzte hatten sich ins Mittel gelegt und die Umarmung der wiedergefundenen Freunde getrennt, um sich ihres Patienten zu bemächtigen und die verletzte Schulter genauer zu untersuchen.
Nun hob Valentin Pilgram den Kopf, alles wich zurück, so daß die Gruppe der Herankommenden frei wurde — und Pilgram erkannte seinen Vater ...
Schon war der Präsident heran, ergriff mit beiden Händen die Rechte des Sohnes, die sich ihm entgegenstreckte. Mit zuckenden Augen, mit zuckenden Lippen standen Vater und Sohn einander gegenüber.
»Ihr verfluchten Bengels!« sagte der alte Herr, »was macht Ihr für Geschichten?«
»Etwas zu spät bist Du doch gekommen, lieber Papa — Du siehst, der Fall ist bereits erledigt!«
»Ich wollt's Euch auch geraten haben! Schlimm genug, daß es so weit gekommen ist! Na, was hat's denn abgesetzt?«
»Ach, nicht der Rede wert,« lachte der Junge und zwang den grimmigen Schmerz nieder, der von dem verletzten Gelenk aus durch den ganzen Oberkörper fraß.
»Nun, und Du wunderst Dich gar nicht, daß ich hier bin?!«
Valentins Blicke hatten die Gestalt des jungen Weibes erkannt, das nun herankam in Begleitung eines dicken Herrn. An diesen ritt der Gendarm heran und machte ihm in dienstlicher Haltung eine Meldung, während das Mädchen mit glühenden Backen und strahlenden Augen nähertrat, um dann ein paar Schritt vor den Herren plötzlich tiefbefangen stehen zu bleiben.
»Die da, nicht wahr?« fragte Valentin den Vater.
»Jawohl, die da ... zum Dank für ... vorgestern!«
»Ach, ich glaube, es war ihr weniger um mich zu tun ...« sagte Valentin Pilgram und suchte das Auge des wiedergefundenen Freundes.
Aber der hatte keinen Blick für ihn. In tiefer Erschütterung, regungslos starrte er zu der hellen Gestalt hinüber, die über die weißen Schollen herangeschwebt kam wie ein Frühlingshauch. Als sie nun aber stehen blieb, da sprang er ihr entgegen, die Hände weit ausgestreckt. Da hob auch sie ihm die Hände entgegen, und er ergriff sie und drückte sein glühendes Gesicht hinein.
Erbprinz Heribert hatte nach seiner Rückkehr vom Morgenritt wie gewöhnlich von neun bis zwölf das Kolleg besucht und war dann in seine Wohnung im Hotel Hauffe zurückgekehrt, um mit Major von Gorczynski zu frühstücken.
»Nun, Durchlaucht, wie war's?« Der Major hob das Portweinglas.
»Danke, ganz nett.«
»Nur ganz nett?!«
»Ach, wissen Sie, lieber Gorczynski, ich glaube, das ist eine von den ganz Gerissenen ... die sichert sich vorher — verstehen Sie?«
Der aufwartende Lakai brachte auf silbernem Brett eine Besuchskarte. Der Prinz las:
Pilgram
Senatspräsident am Königlichen Oberlandesgericht
Dresden.
»Haben Sie gesagt, daß wir beim Frühstück sind?«
»Zu Befehl, Durchlaucht, aber der Herr bittet dringend um eine Unterredung.«
»Schön — ins Empfangszimmer.«
Als der Bediente verschwunden war, reichte der Erbprinz seinem Erzieher die Karte hinüber.
»Vermutlich der Vater meines ... äh ... meines Kollegen!«
»Kollegen?! Wieso?«
»Na, weil der auch auf die Buchner reingefallen ist. Kommen Sie mit, lieber Gorczynski — für alle Fälle.«
Hoch aufgerichtet, die Ordensrosette im Knopfloch seines Ueberrocks, erwartete der alte Herr den jungen Fürsten. Des Umgangs mit hochgestellten Persönlichkeiten gewohnt und seiner guten Sache sicher, neigte er sich mit gemessenem Selbstbewußtsein.
»Sehr erfreut — Herr Präsident, was verschafft mir die Ehre? Darf ich bekannt machen? Herr Major von Gorczynski — Herr Präsident Pilgram. — Stört Sie die Gegenwart meines Begleiters, Herr Präsident?«
»Ich bitte, Durchlaucht.«
»Bitte Platz zu nehmen, meine Herren.«
»Durchlaucht, ich komme im Interesse meines Sohnes Valentin, den Sie kennen!«
»Ich habe die Freude.«
»Durchlaucht wissen, daß mein Sohn aus dem Korps Franconia ausgetreten ist, um Ihnen gegenüber für eine Dame eintreten zu können, von der er annahm, daß Sie, Durchlaucht, ihr — —«
»Hm ...« machte der Erbprinz, »ich weiß.«
»Durchlaucht haben die Güte gehabt, diese Angelegenheit in ritterlicher Weise beizulegen. Trotzdem hat das Korps Franconia aus Rücksicht auf Durchlaucht davon Abstand genommen, meinen Sohn in die Reihen seiner Mitglieder wieder aufzunehmen.«
»Allerdings ...« sagte der Erbprinz. »Das habe ich mir wohl so gedacht — aber wenn ich mir eine Zwischenbemerkung erlauben darf, Herr Präsident: die Geschichte war mir höchst fatal ... und ich habe mich seitdem vom Verkehr bei dem Korps fast völlig zurückgezogen ... Es war mir kolossal peinlich ... verstehen Sie, Herr Präsident?«
»Ich begreife sehr wohl,« sagte der Präsident ruhig. »Die jungen Herren haben wohl eine zu geringe Meinung von Euer Durchlaucht wohlwollendem Verständnis für die korpsstudentische Auffassung gehabt, sonst hätte sich doch wohl ein Ausweg finden lassen, um meinem Sohn die wohlverdiente Ehre der Zugehörigkeit zu dem Korps — zu dessen Alten Herren ich, beiläufig bemerkt, auch selber zähle — wiederum zu verschaffen. Oder täusche ich mich, Durchlaucht?«
»Ne, ne, mein verehrter Herr Präsident. Sie haben in der Tat vollkommen recht ... Wenn's nach mir gegangen wäre ... aber man hat mich ja gar nicht gefragt. Mir für meine Person wär's ja doch zehnmal angenehmer gewesen, wäre die ganze Geschichte diskret behandelt worden. Aber man hatte ja die Sache dermaßen übers Knie gebrochen ... ich stand vor einem fait accompli ... und da hielt ich's für das beste, mich um gar nichts mehr zu bekümmern. Das werden Sie begreifen, nicht wahr, Herr Präsident?«
»Ich begreife vollkommen, Durchlaucht. Ich sehe aber auch, daß ich mich in meinen Vermutungen über Eurer Durchlaucht Ansichten von der Sache in keiner Weise getäuscht habe: und darum komme ich jetzt mit der formellen Bitte, die der Zweck meines Besuches ist: wollen Durchlaucht die große Güte haben, durch meinen Mund dem Korps Franconia mitteilen zu lassen, daß einer Rückgabe des Bandes an meinen Sohn Ihrerseits nichts im Wege steht?«
»Aber mit dem größten Vergnügen, Herr Präsident! Ich bin ja höchst erfreut, daß die fatale Geschichte endgültig aus der Welt kommt ...«
»Ich danke ehrerbietigst für diese Gnade, Durchlaucht. Ich glaube, sie ist an keinen Unwürdigen verschwendet! Da Sie nun aber in so überaus verständnisvoller Weise meinem Vorschlage entgegengekommen sind, so darf ich wohl auch noch eine andere Begebenheit erzählen, die mit der besprochenen nicht ganz ohne Zusammenhang ist, und die glücklicherweise ebenfalls eine Wendung zum Besseren genommen hat?«
Und nun erzählte der Präsident in knappen Worten von dem Renkontre der beiden einstigen Korpsbrüder und seinem blutigen Austrag. Die Motive des Zusammenstoßes ließ er unberührt. Er konnte sich wohl vorstellen, daß der Erbprinz den Zusammenhang auch so durchschauen würde ... und darin hatte er sich nicht getäuscht. Als er geschlossen hatte, erhob sich der Erbprinz und streckte seinem Besucher die hagere Hand hin:
»Ich danke Ihnen, Herr Präsident, Ihre Geschichte soll mir eine Lehre sein ... gewisse Leute sind anscheinend ... äh ... mit Vorsicht zu genießen. Was meinen Sie, lieber Gorczynski? Na, ich werde mir's merken!«
»Gestatten Durchlaucht nochmals meinen ehrerbietigsten Dank.«
»Aber ich bitte, mein verehrter Herr Präsident — nur ich habe zu danken, nur ich ... Sie haben mir einen größeren Dienst geleistet, als Sie vielleicht ahnen. Grüßen Sie Ihren Sohn, oder noch besser: sagen Sie ihm, ich hoffe heute abend auf der Frankenkneipe mit ihm auf gute Freundschaft anzustoßen ... Doch halt! Vorher müssen wir noch einmal ins Theater ... Nicht wahr, lieber Major? Heut ist ja die Abschiedsvorstellung der Meininger, das dürfen wir uns doch nicht entgehen lassen ... Aber nachher, nicht wahr, Herr Präsident, dann treffen wir uns im Cafébaum!«
»Ich hatte gleichfalls vor, das Theater zu besuchen, Durchlaucht, wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf — und zwar mit meinem Sohn und unserm Korpsbruder Thumser. Die Verletzung meines Sohnes ist ja freilich nicht ganz unbedeutend: das linke Oberarmbein ist in Höhe des unteren Ansatzes des Oberarmkopfes getroffen, die Kugel ist im Knochen stecken geblieben, konnte aber mit Leichtigkeit entfernt werden.«
»Sehr erfreulich zu hören, Herr Präsident. Also auf Wiedersehen heut abend, nicht wahr?«
Um zwölfeinhalb Uhr fuhr der alte Pilgram am Cafébaum vor, stieg die Stufen zur Frankenkneipe hinan und wurde vom Korpsdiener in das Konventszimmer geführt, wo Franconias Korpsburschen bereits zum C. C. versammelt waren.
Ehrerbietig begrüßte die Schar der Studiosen den Alten Herrn, der sofort beim Eintreten eine grüne Mütze, die der Korpsdiener ihm dargereicht, auf seinen grauen Schädel gestülpt hatte.
Volkner bat Platz zu nehmen und eröffnete den C. C. Er erteilte dem Alten Herrn Pilgram das Wort. Dieser berichtete über seinen Besuch bei dem Prinzen und entledigte sich seiner Mission.
Mit strahlenden Gesichtern vernahmen die Korpsburschen die frohe Botschaft.
Unmittelbar, nachdem der Alte Herr geendigt, sprach der Senior:
»Ich stelle den Antrag, dem früheren C. B. Pilgram, gewesenen Zweiten, Ersten, Ersten das Band zurückzugeben. Wünscht jemand zu dem Antrage das Wort?«
Alles schüttelte den Kopf, aus jedem Auge strahlte helles Glück. Hans Thumser aber schämte sich nicht, daß ihm zwei Tränen über die frischen Wangen rollten. Unfähig jeden Wortes, reichte er dem Präsidenten über den Tisch hinüber die Hand.
Und nun saßen sie im Carolatheater, auf einer der vordersten Parkettreihen. Präsident Pilgram inmitten der beiden jungen Gesellen, zur Rechten sein Sohn: er trug den linken Arm in der schwarzen Binde, fest im Gipsverband verschient, den Rock nur lose über die linke Achsel gehängt, den Aermel leer. Ueber die rechte Schulter aber, über die Weste und die schwarze Binde zog sich das grün-gold-rote Band.
Hans Thumser saß zur Linken. Ueber den alten Herrn hinweg aber schauten die Freunde sich immer und immer wieder in die Augen. Sie fühlten: so hatten sie sich noch nie gehört, so sich noch nie geliebt. Und diese Liebe, die würde nun bleiben fürs ganze Leben ...
Oft aber flogen ihre Blicke auch nach der zweiten Proszeniumsloge des Parketts vorn rechts hinüber. Da saß der Erbprinz, die Scherbe im fahlen Gesicht, und hinter ihm verschwanden die groben Züge, der wehende Schnurrbart des Majors im Dämmer des Logenhintergrundes.
Aber auf den blasierten Zügen des jungen Fürsten lag heute ein seltsames Leuchten, das noch niemand an ihm gekannt hatte. Und wenn sein Blick den Augen des alten und der beiden jungen Franken da unten im Parkett begegnete, dann lachte sein ganzes Gesicht so knabenhaft fröhlich, so jung und gut, als sei auch er ein x-beliebiges junges Studentlein und nicht der Erbe eines deutschen Fürstenthrones.
Ringsum aber drängte sich ganz Leipzig und füllte das Haus bis zum letzten Stehplatz droben auf der Galerie. Eine festlich dankbare Stimmung lag über der erregten Versammlung.
Fünf Wochen lang war dies Haus ein Tempelhaus gewesen. Fünf Wochen lang hatte man hier den höchsten Offenbarungen gelauscht, welche die edelste Blüte der zeitgenössischen Bühnenkunst geschaffen hatte im Bunde mit den erhabensten Genietaten der großen Szenenbeherrscher des Dramas der Weltliteratur. Und nun wollte man am letzten Tage noch einmal mit voller Seele, mit allen Sinnen genießen, wollte in sich aufnehmen die gigantischste Schöpfung der deutschen Tragödie: »Wallensteins Tod«.
Das Spiel begann.
Inmitten der Bilder seiner Gestirne stand der einsam-stolze Mann, über dessen Haupte schon die schwarzen Fledermausschwingen des Verbrechens, die Rabenfittiche des Todes rauschen. Am nächtlichen Himmel suchte er den Stern seines Lebens, der sich nun so bald verfinstern sollte ... Und in raschen, unfehlbaren Schlägen vollzog sich sein Geschick.
Der alte Herr aber da vorn im Parkett und seine beiden jungen Gefährten harrten ungeduldig des Augenblicks, da der Vorhang sich zum dritten Akt heben und die beiden Mädchengestalten auftauchen würden, die so tiefe Furchen in die Herzen, in die Geschicke der jungen Männer gezogen.
Und sieh — nun erfüllte sich's.
Die Gardine rauschte empor; und es erschloß sich ein dunkler wuchtiger Saal mit Kamin, Gobelins, gepolsterten Bänken an den Wänden. Nach hinten stieg eine Treppe empor, im Bogen geschweift aus massivem, dunkelgebeiztem Eichenholz mit schwerem Renaissance-Geländer. Sie führte zu einer langen Galerie, die gegen die Bühne zu von einem riesigen, aus zahllosen kleinen Scheiben bestehenden Glasfenster abgeschlossen war.
Und wie verloren in dem weiten, angstdurchschauerten Raum saßen vorn rechts auf der Bank zwei Frauengestalten mit weiblichen Arbeiten beschäftigt, während eine dritte oben auf der Galerie stand und aus den Fenstern nach drunten spähte — Wallensteins Schwägerin, die Schwester seiner Seele ...
Die zwei da unten aber — die beiden jungen Franken, die kannten sie.
Scheu und wesenlos wie ein gutes, dienstbares Geistlein hockte Asta Thöny als Fräulein von Neubrunn neben der jungen, schönheitsstrahlenden Herrin.
Die aber saß weiß und blaß, den adligen Kopf in schmerzvoller Starrheit zurückgelehnt an die braune Täfelung.
Sie war die Schönheit, die versinken muß unterm erbarmungslosen Schritt des Schicksals, sie war die Tugend, die zermalmt wird von den geifernden Kinnbacken des Verbrechens, sie war die leuchtende Seele des gigantischen Gedichts, sie war ... das Ideal ...
Und alles vollendete sich nun.
Mit unerhörter Wucht stampfte das Fatum daher und ließ den Lügenbau der friedländischen Größe zusammenkrachen. Blatt um Blatt sank hernieder von dem ragenden Baum, bis er einsam stand, entlaubt, doch herrlich in seinem starren Trotz.
Und nun kam jene gewaltigste aller Szenen, die Valentin Pilgram und Hans Thumser als Pappenheimer Kürassiere mitprobiert hatten, und der sie nun als Zuschauer nur lauschen durften, wie damals, als Hans, ein scheuer Primaner, sie zum erstenmal erschaut, dahinten, weit in der Heimat — im Barmer Stadttheater, auf dem Eckplatz des zweiten Ranges.
Zwischen den zwei eisengeharnischten Männern, dem fürstlichen Vater rechts, dem ritterlich prangenden Geliebten links stand das unglückselige, geopferte Mädchen. Vor die grausame Pflicht gestellt, zu wählen zwischen Gehorsam und Liebe.
Und sie wählte den Gehorsam ... Mit den unschuldig reinen Händen riß sie die Liebe aus ihrem Herzen und stieß sie von hinnen ... in den unerbittlichen Schlachtentod ...
War das Jucunda Buchner? War's das junge Ding von achtzehn Jahren, mit dem die zwei schlanken Burschen da unten an einem Tisch gesessen, in einer Stube? Um derentwillen sie heut morgen in der Frühe des leuchtenden Wintertages einander mit der Pistole in der Hand gegenüber gestanden hatten, während sie mit einem gefürsteten Knaben über Feld ritt, nur von dem einen Gedanken erfüllt, ein Gastspiel am Hoftheater in Nassau-Dillingen für den nächsten Winter herauszuschlagen?
Nein, sie war es nicht. Ihre sterbliche Hülle war's! Und doch auch die nicht mehr. Auch die verwandelt, erhöht, durchleuchtet, durchseelt von der geheimnisvollen Flamme, die tief drinnen in ihr loderte, unerklärlich, unbegreifbar ... der heiligen Flamme, die, solange sie loderte, alles überstrahlte, alles verzehrte, alles verklärte, was irdisch, was menschlich, was gewöhnlich, was häßlich war an ihr ...
Horch, schon brandete von draußen der Schwall der Pappenheimer heran ... Schon klang die wilde Feuerweise des Reitermarsches, der zu Kampf und Tode lud ...
Und nun — nun tobte der rasselnde Schwall die Stiegen hinauf, stapfte in die Galerie hinein, daß die Scheiben klirrend barsten, strudelte die Treppe hinunter, überschwemmte in immer erneuten Güssen blinkender Wogen die ganze Bühne ... entblößte Schwerter, haßflammende Blicke ...
Und inmitten die zwei jungen Menschen, — neben dem todgeweihten Manne das todgeweihte Weib, die weiße, unschuldig leuchtende Gestalt, das tief gesenkte, sterbensmatte Haupt.
Und nun, nun ist der grausame Kampf zu Ende gekämpft. Aus dem Arm der Geliebten reißt Oberst Max sich los.
Und mit hochgereckten Armen stürzt er sich hinein in die eisenschäumende Woge. Die brüllt hell auf, schäumt gischtend empor, schlingt ihn hinunter, reißt ihn von hinnen. Die Treppe hinauf strudelt der gärende Schwall — noch einmal taucht der wehende Helmbusch, der silberne Harnisch auf ... versinkt aufs neue in den gleißenden Fluten. In den wütenden Jubel der todestrunkenen Schar gellen die wirbelnden, erzenen Rhythmen des Reitermarsches ...
Da unten, da vorn, bricht das verlassene Kind vor des starren Vaters eisenumschienten Knien zusammen ... es erfüllt sich das tragische Los des Schönen auf der Erde ... Das Edle sinkt ... Das Ideal verweht ...
Vorbei ... vorbei ...
Während die Gardine niederrauschte, legte der alte Präsident seine beiden Hände um die Schultern der jungen Männer zu seiner Rechten und seiner Linken:
»Kinder ... jetzt versteh' ich Euch ...!«
Am andern Morgen begleitete Hans Thumser seine Asta im Wagen zum Bayrischen Bahnhof. Das Leipziger Gastspiel der Meininger war zu Ende — weiter rollte der Thespiskarren ... Schon übermorgen abend würde man im Gärtnerplatz-Theater in München mit »Jungfrau« eröffnen ...
Auf dem Bock thronte ein riesiger Reisekoffer. Vier Kisten mit Kostümen waren schon als Eilgut vorausgegangen.
Drinnen aber im Wagen lachten die zwei und machten die tollsten Witze. Das Herz war ihnen gar zu voll und gar zu schwer.
»Asta ...« sagte Hans mit einem Male im tiefsten Ernst, »— ich bin ein dummer, grüner Junge ... und ein Habenichts dazu ... sonst sagte ich zu Dir: Laß uns zusammenbleiben ...«
»Du Dummerle!« schalt Asta heftig und gab ihm einen derben Klaps auf die Backe — »Du bist doch wirklich ein riesengroßes Dummerle! So etwas darf man nicht einmal denken ... so ein feiner, nobler Junge wie Du ... und eine ... eine Landstreicherin wie ich ...«
Aber ihre Lippen zuckten bitter und sehnsüchtig dabei, und in den Augen schimmerte es verdächtig ...
»Pfui, Asta! Abscheulich, so von Dir zu sprechen! Von meiner ... meiner süßen Asta —!«
»Sag's noch einmal!« bat Asta. »Es klingt so schön ... und ich werd's ja doch niemals wieder hören ...«
»Niemals wieder?! So oft Du willst, Süße, so oft Du willst ... und so oft ... ich ... kann ...«
»Da hast Du's ja ... Du wirst nicht können, mein armes Dummerle ... und ich ... ich werde auch nicht wollen ... Es war so schön ... nun ist's zu Ende ... und das ist gut so. Für uns beide ... für mich auch ... Denn wenn's noch länger gedauert hätte ... dann ... dann wär ich am Ende doch nicht mehr von Dir los gekommen ...«
»Asta ... Asta ... So viel hast Du für mich getan ...«
»Ja siehst Du — da hast Du wieder so recht mein ganzes Pech: alles, was ich für Dich hab' tun wollen, ist beim guten Willen geblieben ... Ich hab' Dich glücklich machen wollen ... und Du bist zur Jucunda gelaufen ... Ich hab' Dir das Leben retten wollen ... und bin zu spät gekommen ... Eh wir dazwischen kamen, hattet Ihr Euch schon vertragen ... So geht mir's immer — —«
»Asta ... mein Mädchen ... ich ... ich hab' Dich ja so lieb ... so unsagbar lieb ... ich laß Dich nicht fort ... ich ... ich brenne durch ... Ich geh' mit nach München ... Ich frage Euren Herrn Burg, ob er einen Volontär brauchen kann ... Ich sollte meinen, zu einem Komödianten müßt' es doch auch bei mir reichen ...«
Asta tupfte die Augen mit ihrem Spitzentüchelchen, und die zuckenden Mundwinkel lachten schon wieder ihr lieblichstes Spitzbubenlachen.
»Ne, Hanserl — das glückt Dir nicht ... Das können wir vor Deinen Herren Eltern nicht verantworten! Bleib Du, was Du bist ... ein Jurist ... oder ... werd' einmal ein Dichter, wenn Du kannst ... ich glaube, Du kannst — — und dann, in zehn oder zwanzig Jahren schreibst Du einmal ein Stück, das über alle Bühnen geht — mit einer wunderhübschen Rolle für die komische Alte darin ... Und wenn Du dann auf Reisen zufällig einmal nach Krotoschin oder nach Stallupönen kommst und siehst an irgendeiner Bauernkneipe oder Scheune den Theaterzettel einer Schmiere kleben, die Dein Stück spielt, und hinter der Rolle der komischen Alten findest Du den Namen Asta Thöny ... dann setz Dich irgendwo unter das 'verehrliche Publikum' ... aber ganz, ganz weit hinten ... daß ich Dich nicht etwa erkenne ... und denk' daran, daß das alte, häßliche Weiblein da oben einmal in Deinen Armen gelegen hat ... vor langer, langer Zeit ... als Du noch jung warst und unberühmt und nichts weiter als ein Korpsstudent in Leipzig ... Gelt, Hans, Das tust Du —?«
Hans Thumser konnte nicht sprechen. Er küßte nur immer wieder die rosige, weiche Hand, die er zwischen seinen harten, waffengestählten Tatzen eingepreßt hielt, als wollte er sie zerdrücken.
Der Wagen hielt vor dem Abfahrtportal des Bayrischen Bahnhofs. Es war zehn Uhr morgens. In grellem Weiß standen die beschneiten Dächer gegen das satte Himmelsblau, das gleißende Sonnenlicht.
Auf dem Bahnsteig hielt bereits der Münchener Schnellzug. Für das Ensemble der Meininger waren auf Bestellung ein paar Extrawagen angehängt worden. Im Kassenflur, unter der Halle, wimmelte es von glattrasierten Männergesichtern, von lebhaften mit betonter Eleganz gekleideten Frauen. Riesige Koffermassen wurden in die Gepäckwagen verstaut ...
Daß Asta Thöny sich auf dem Bahnhof in Begleitung eines grünbemützten Studenten einfand, erregte keinerlei besondere Sensation unter ihren Kollegen und Kolleginnen. Derartiges war man von ihr gewohnt. Sonst war's meist eine Uniform ...
Die große Jucunda schritt mit spöttischem Naserümpfen an dem Paare vorüber, einen ungeheuren Strauß der wunderbarsten Rosen in der Hand, den ihr soeben ein prinzlicher Lakai überbracht hatte. Ja ... den Rosenstrauß hatte sie wohl ... aber keinen herzlieben Jungen zur Seite, der bei ihr hatte bleiben wollen bis zum letzten Augenblick ... Nur ihre Eltern gaben ihr das Geleit, Mutter Doris aufgedonnert im unglaublichsten Staat — Vater Kanzleirat im abgeschabten Winterpaletot und zerbürsteten Zylinder, ein armseliger, hüstelnder Schatten neben den beiden mächtigen Frauengestalten.
Die übrigen Kollegen gingen mit diskret abgewandten Gesichtern an Asta und ihrem schmucken Begleiter vorüber.
Nur Franz Burg trat grüßend heran:
»Guten Morgen, Kleine ... Na — ist das Ihr Dichter?«
»Ja, liebster Freund — das ist er ...«
Burg lüftete lächelnd seinen Hut, nannte seinen Namen, streckte dem Studenten die Hand hin:
»Nun, ich sehe, Sie sind noch sehr lebendig ... Höchst erfreulich das.«
Mit korrekt eingewinkeltem Arm schlug Hans Thumser ein in Franz Burgs Händedruck und zog höchst offiziell die Mütze.
»Hm,« machte der Oberregisseur und musterte ungeniert das feierlich zurechtgefaltete Jugendgesicht — »vorläufig ist noch nicht viel zu lesen auf der Physiognomie da ... aber wer weiß ... vielleicht stehen wir uns noch einmal an anderer Stelle gegenüber, und Sie legen mir ehrfurchtdurchfröstelt das Manuskript Ihres ersten Dramas in die Hand ... wer weiß! Dann wollen wir uns dieses Augenblicks erinnern ...«
»Und ich werde mich Ihres 'Wallenstein' erinnern, Meister — — einstweilen lassen Sie mich Ihnen dafür danken ...« sagte der Student ... und Franz Burg sah auf einmal mit Staunen, wie auf dem jungen Gesicht die feierlich korrekten Falten sich auflösten, wie aus den dunklen Augen eine heiße Flamme sehnsüchtiger Leidenschaft schlug. Da leuchtete auch sein Blick dem jungen Gesellen freundlich und ermunternd ins Gesicht.
»Also — auf dereinstiges Wiedersehen, junger Freund —! Jetzt aber sollt Ihr zwei die paar letzten Augenblicke noch füreinander haben, Kinder ...«
Die paar letzten Augenblicke — —
Hans Thumser und Asta Thöny senkten die Häupter und die Blicke ... Hoben sie dann und ließen die Augen lange, lange ineinander ruhen ... Dabei schwiegen die Lippen, Unsagbares quoll auf in ihren Herzen.
»Bitte Platz nehmen!« schnarrten da die Stimmen der Schaffner.
Da warf Asta die Arme um Hans Thumsers Nacken. Es kümmerte sie nicht, daß die Kollegen vom Fenster aus mit Grinsen und halblautem Scherz den Abschied beobachteten ...
»Leb wohl ... mein Hanserl ... auf ewig ... leb wohl ...«
»Nein ... nicht auf ewig ... das ist ja unmöglich ... das ertrag ich ja nicht —«
»Ach, Hanserl — wie gut Du das ertragen wirst ... aber Du ... von Zeit zu Zeit einmal an mich denken ... gelt? an ... Dein ... erstes Glück ... gelt, Hanserl?!«
Aus der finstern Halle polterte der Zug in die sonnige Morgenhelle hinaus. Grell im Sonnenlichte leuchtete der weiße Rauchschwaden, den der enteilende Schlot der Maschine hinter sich herzog. Und ein großes Abschiedwinken ging aus den Fenstern des Zuges, ging auf dem Bahnsteig, wo in ganzen Rudeln die Freunde und Verehrer standen, welche die scheidende Künstlerschar bis zum letzten Augenblick begleitet hatten ...
Ein Tüchlein aber wehte länger als alle andern ... und Hans Thumser blickte ihm nach, winkte ihm nach, bis alles vorbei war.
Dann wandte er sich rasch und schritt gesenkten Hauptes aus der Halle. Einen Korpsstudenten in Couleur sollte niemand weinen sehen.
Von Walter Bloem sind früher erschienen:
Sonnenland
Eine Fahrt in die Schönheitswelt Griechenlands, in die Märchenstädte des Orients an Bord eines schmucken Lloyd-Schiffes, auf dem der Zufall eine bunte Reisegesellschaft zusammenwürfelt. Ein munterer Kreis meist humoristisch gesehener Gestalten und im Hintergrund ein leuchtender Reigen von Kultur- und Landschaftsbildern aus den gesegneten Zonen des sonnigen Südens.
Preis 1 Mark
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Das lockende Spiel
Ein Buch vom Theater, von seiner berauschenden Magie, die keinen aus ihrem Zauberkreis entläßt, der ihr einmal verfiel. Wer es einmal gespielt hat das »lockende Spiel«, er kann es nimmer lassen. Eine neue Theatergründung in Berlin wird zum Mittelpunkt für ein fröhliches Ringen um die Palme des Bühnendichters, Schauspielers, Regisseurs. In diesen Kampf verkettet sich ein zweites »lockendes Spiel«, das Spiel und Gegenspiel der Liebe bei zwei jungen Menschenpaaren.
Preis 1 Mark
Verlag Ullstein & Co / Berlin-Wien
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Anmerkungen zur Transkription
Rechtschreibung und Zeichensetzung des Originaltextes wurden übernommen, nur offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert.
Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt, fremdsprachliche Passagen, die im Original in Antiqua gesetzt sind, sind kursiv dargestellt, für Abkürzungen, wie C. C. und Regentenzahlen wie XIV wurde dies nicht gemacht.