The Project Gutenberg eBook of Die Amazone

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Title: Die Amazone

Author: Kasimir Edschmid

Release date: August 2, 2010 [eBook #33326]

Language: German

Credits: Produced by Jens Sadowski

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE AMAZONE ***

Die Amazone

Von Kasimir Edschmid

In den Auseinandersetzungskämpfen der östlichen Randstaaten wurde um Weihnacht von den Polen Feuer auf dem Gut des Großbesitzers Voß gelegt. Der alte Voß hatte westfälisches Blut in sich. Der Vater war ein Eingeborener, der bis an die Küste den Forst jagdbar gemacht hatte. Frederik de Voß war ungefähr fünfzig Jahre und unter der früheren Regierung Landschaftsdirektor.

Auf seinem Besitz gründete er die „Pania watja“, von der eine große Bewegung für die nationale Sache ausging. Bei den Abstimmungen in den Grenzgebieten, in denen auch seine Äcker und Scheuern lagen, stand Frederik de Voß mit allen Pferden und Dienern im Sattel vor den Lokalen und hielt die nationale Fahne in der Hand. Neben ihm standen in den Bügeln aufgerichtet seine Kinder, vier Söhne und seine Tochter Granuella. Auf dem Gut verkehrte die gesamte litauische Intelligenz. In Granuella bewegte sich das baltische Blut und sie stand mitten in der Atmosphäre von Haß und Freiheitslust, wie sie litauische Frauen nur schwer aufzubringen vermögen. Um diese Zelt annektierte der polnische Staatsstreich ihr Gebiet mit zwei anderen Grenzprovinzen. Granuella war damals fünfzehn Jahre und vermochte Helden zu entfachen mit dem weißgrauen Blick in dem Madonnengesicht. Das Haus wurde ein Mittelpunktt der Irredenta; einer der Brüder, Roland, reiste mit litauischen Ministern zu einer Konferenz des Völkerbunds, die anderen reizten die etwas stumpfe Bevölkerung gegen die Eroberer auf.

Frederik de Voß, sagte man, vermochte diesen letzten Schlag nie ganz zu verwinden und schwor überall, daß, wenn die europäischen Mächte das polnische Unrecht sanktionierten, er das ganze Terrain in eine Wüste verwandle. Vierzehn Tage nach Abreise der Kommission zum Völkerbund wurden Kisten auf den Hof gebracht. Nachts wurden mit Fackeln Tiere herausgelassen und an Ketten gelegt. Mit eisernen Maulkörben tobten sie in einem zementierten Keller, bis durch einen Unglücksfall eines entwich und in voller Flucht vom Voß-Hof herjagend ein polnisches Kind zerbiß. Daß Voß Wölfe aussetzte, steigerte die Erregung der Bevölkerung jenseits der Grenze.

„Schlangen und Haifische,“ sagte Voß, „sollen folgen,“ und ritt mit seinen Söhnen quer über das blühende Ackerland, das sie jahrhundertlang angebaut hatten. Er dachte es preiszugeben. Sie ritten die Kanäle hinauf und schauten mit den Pferdeköpfen kaum über den Mais. „Misericordia“, schrie plötzlich eine Figur in einer Priestersoutane und sprang entsetzt in die Höhe. Die Reiter warfen sich mehr, als sie sprangen, von den Pferden auf den Bauch, und der polnische Priester fing mit gebreiteten Armen die Salve von zehn Kugeln auf, welche durch sein Signal die de Voß erledigen sollten. Sie waren in fünf Minuten im Galopp auf dem Hof und ließen die Wölfe hinter den Franktireuren her. Drei warfen sie vor dem Dorf und fraßen die Weichteile heraus. Die Polen, die sich am Abend heranschlichen, zitterten vor Wut. In der Nacht zündeten sie die Scheuern um das Gut herum an.

Vor Granuellas Augen fielen die drei Brüder. Zu Zweien gingen die litauischen Knechte durch den Feuerschein über den Hof durch ein Detachement polnischer Soldaten, die ihre Uniformen nur oberflächlich mit Radmänteln und Säcken, durch die sie Kopflöcher geschnitten hatten, verdeckten. Ihre Blicke waren alle auf einen Mann gerichtet, der einen leicht ergrauten Schnurrbart trug und auf einem Maultier saß und unbeirrt in den Brand schaute.

Er war voll in der blutigen Flammenpracht erleuchtet und setzte sich allen möglichen Schüssen aus. Man sah über sein totenblasses Gesicht die Scheine unaufhörlich hinwehn. Sein Pelz deckte nicht den Säbel seines Regiments, und die Epauletten stießen Beulen in den Mantel über seinen Schultern.

Der junge Oberst ritt nun bis dicht vor das Gebäude, um dessen Holzsäulen das Feuer wie ein Karussel sich drehte und rief ein paar Worte zu dem Balkon hinauf, wo der alte Voß stand. Der hatte keine Kugeln mehr in seinem Gewehr, warf die beiden Pistolen nach dem Polen und rief: „Verdammt will ich sein, Fürst Gagarin, wenn ich davonkomme, so ich nicht die Kanäle morgen bis Warschau übers Land laufen lasse.“ Er fing bitter zu lachen an, als gleichzeitig die Flammen sich gegen den Balkon warfen. Er sah den Tod sicher.

Wieder sagte darauf der junge polnische Oberst etwas, das Voß in eine Art Raserei brachte. Er suchte herunterzuspringen, woran ihn Granuella hinderte, die an dem Gitter herangelaufen kam, dem einzigen feuerfreien Platz. Der junge Oberst ward fast wahnsinnig, als er sie sah.

Er ritt so nahe, daß sein Tier sich auf den Hinterbeinen hob, sah fest in die Augen des Mädchens und ritt mit gesenktem Kopf wieder weg, als habe man ihn zwischen die Schultern geschossen. Er liebte das Mädchen wie ein Verrückter, aber wie sollte er sie gewinnen, wo er ihre drei Brüder getötet hatte. Er schalt sich feig, daß er sie nicht gezwungen hatte vor dem Brand sich retten zu lassen, aber es war unmenschlich, in die Flamme zu springen, um jemand herauszuziehen, der lieber starb als ihn ansah. Er watete mit dem Maultier in einen Kanal, ließ sein Detachement mit den gefangenen Litauern, die rekrutiert werden sollten, an sich vorbeiziehen und war nahe daran, sich hinter ihnen eine Kugel durch den Kopf zu schießen. Nach einer halben Stunde war er wohl wieder bei sich, aber er hatte das Gefühl, keine Frau je wieder ansehen zu können.

Der Brand hatte sich auf alle Scheuern und Schober ausgebreitet. Das Vieh verbrannte unter großem Lärm in den Ställen. Die Schober brannten viel heller und höher, acht Stück, im Kreis um das Herrenhaus, wo man in immer rasenderen Stößen am Zittern des Bodens die Stöße empfand, mit denen die Bullen ihre Steinwände einzurennen versuchten.

Der Platz zwischen den Scheuern und der Mauer, die die Hofsiedelung im Viereck umgab, war hundert Meter weit, der Zwischenraum zwischen den Scheunen und dem Gutshaus zweihundert, und alles war so hell, daß man die Mäuse am Boden herumspringen sah. Das Tor war verrammelt mit Wagen, die übereinandergestürzt in der Einfahrt lagen, und der eiserne Teilflügel des Tors hing riesenhaft, schräg, nur in einer Achse in die Luft und spießte mit seinem Hellebardenabschluß ein Schwein, das von einem turmhohen Furagewagen hineingesprungen war. Plötzlich ritt eine Abteilung eines Litauerregiments über die Äcker und Kanäle heran.

Sie saßen ab, steckten die Köpfe über die Mauer, hoben die Nasen neugierig und sprangen auf einen Befehl hinüber. Der junge Leuchtenberg, der sie führte, kam mit dem Pferd über die Mauer und war der erste auf der Leiter, mit der man Granuella und den Vater rettete. Er trug sie selbst Schritt um Schritt und nicht sehr eilig über den dreihundert Meter taghellen Hof nach dem Kanal hinter der Mauer. Als er sie niederlegte, um sie mit Wasser an den Schläfen zu waschen, ward sie, die immer in seinen Blicke hineingeschaut hatte, ohnmächtig.

Das Detachement suchte die Polen noch zu erreichen. Die hatten die alte Polengrenze bereits überschritten, man kehrte daher auf das umstrittene Gebiet zurück, das dem Recht nach wohl den Litauern, der Macht zufolge den Polen gehörte, das eine Art Freikampfplatz der irregulären Truppen darstellte und um dessen Schicksal seit zwei Jahren in Lausanne beraten ward. Mit gesenkten Karabinern kamen sie zurück.

Voß schwur, als er seine Söhne sah, wie sie nebeneinander lagen, durch und durchgeschossen, mit einer plötzlich weinerlichen Stimme, nicht eher zurückzukehren, bis das Terrain wieder litauisch sei und er in einem schauerlichen Kreuzzug durch Europa an den Polen seine Rache genommen habe. Mit den drei Leichen auf einem Leiterwagen, neben jedem ein Bauer, der ihn umarmt aufrecht hielt, fuhr er über den Dünensand in die Fichtenwälder nach Kowno, Soldaten vor und hinter sich.

Neben dem Wagen Granuellas ritt der junge Herzog von Leuchtenberg eine Weile, salutierte dann und ritt zurück, denn das Mädchen schien immer noch in einer Ohnmacht, obwohl sie sprach und auf Anruf sich bewegte. Ihre Aufmerksamkeit schien völlig in der Feuersbrunst zurück gebannt zu sein und es war seltsam, wie sie mit einer eigenartig zarten Bewegung sich hinderte, den Kopf dahin zu wenden, woher sie kamen. Er beobachtete sie einige Augenblicke, nahm die Mütze von seinem ganz blonden Scheitel, unter dem eine angenehm gebogene Adlernase hervorsprang, pfiff den Rest des Detachements zusammen und sprengte die Grenze lang zurück, während der Trauerzug aus dem Wald ins freie Feld torkelte. Solange man ihn am hellen Himmelsrand sehen konnte, blickte Granuella, stehend, im Wagen ihm nach.

Der alte Voß hielt sich monatelang in Lausanne auf. Er richtete sich umständlich ein, mietete ein altes Hotel und stellte eine Wache davor. Er suchte durch seine Versipptheit mit belgischen Adelsfamilien einen Einfluß auf den Gang der Verhandlungen auszuüben und machte den Aufwand eines Fürsten. Die ständig arbeitenden Bureaus sahen in der Ruhe ihrer Arbeiten dem kleinen Kriegsspiel im Osten nicht ohne Neugier aber ohne jedes Interesse zu. Man erwartete Entscheidungen, die man selbst zu fällen vermied. Man hatte durch Zufall diese Randvölker, deren Namen man früher nicht wußte, befreit und hätte lieber gesehen, daß sie aus dem Erlös ihrer Schweine eine Börse bauten und sich mit Parfum bespritzten, statt daß sie die westlichen Ehrbegriffe mit übertriebener Entzündlichkeit nachmachten. Diese Kriegstüchtigkeit war allerdings ein Rechnungsposten gegen die Macht Lenins und man ehrte sie dadurch, daß man die Sache hinhielt und sich für keinen vorderhand entschied. Da Voß leidenschaftlich seine Sache liebte, langweilte er alle Instanzen zu Tode. Man gab ihm den Rat zu verschwinden. Zu seinem Unheil befolgte er ihn nicht.

Die jungen Attachés, die an seinem Tisch saßen, fingen an, hinter den Servietten ihn zu verspotten. In den Stuben ihrer Sekretäre wurde er vertröstet, wie man jemanden traitiert, der der Ansicht ist, die Welt sei der Gerechtigkeit halber da. Er schadete seiner Sache, weil niemand mehr davon hören wollte. Die Reisenden fanden es imposant, wenn er als Freiheitsheld ihnen gezeigt wurde, wie er mit Granuella am Quai des eaux vives mit seinem mächtigen Körper und dem Blond seiner Rasse herunterkam, aber seine Politik hatte gar keinen Transport.

Da der Alte mit Wagen und Pferden wirtschaftete wie zu Hause, konnte er auf die Dauer die Differenz zwischen der litauischen Mark und dem schweizer Franken nicht aushalten und begab sich nach Paris. Er war halb von Sinnen über die Erfolglosigkeit seiner Bemühungen. Revenüen aus den Gütern bezog er nicht mehr. Von einem Teil des Barvermögens lebte der letzte Sohn in London als Beirat immer zweckloser sich gestaltender Konferenzen. Man schien plötzlich überhaupt die ganze Frage suspendieren zu wollen und wartete auf einen Zufall, der das Grenzabkommen endgültig von selbst erledigte Für jemanden, dessen Güter während des Krieges sechsmal die Deutschen und fünfmal die Russen erobert und annektiert hatten, war die wirtschaftliche Lage mehr als ein Kartenspiel wert. Plötzlich galt es zu leben. Man hatte alle Energie nötig, den Unterhalt auf der Höhe zu halten. Seither kamen dem Besitzer von hunderttausend Morgen, der eine Provinz beherrschte, Gedanken derart nicht im Traume vor. Mitten in seinen Unternehmungen, die eine fixe Idee der Gerechtigkeit umkreisten, sah er sich mit ungeheuerlicher Energie in die Enge getrieben und fand sich in einer Situation gefangen, die schon fast verzweifelt war, als sie ihm bekannt wurde.

Seine Eitelkeit litt in dieser Nacht erstaunliche Qualen. Man war mittlerweile nach London übergesiedelt. Er stürmte im Salon seiner Hotelwohnung mit sich redend auf und ab, bestellte um drei Uhr Allasch und Tee, durchmaß die Wohnung knurrend in schräger Richtung hin und her. Um vier Uhr stürzte er plötzlich an das Balkonfenster, zog den Vorhang zurück und blieb, die abgerissene Schnur in der Hand, über dem Frühnebel stehen. Schon in der Frühe begab er sich auf die Bank von England mit einem Diener, der zwei große Aktienpakete unterm Arm trug. Er rechnete damit, eine Rente in Pfunden oder Sterling aufzunehmen über einen Teil seiner Besitzungen, die in Rußland lagen. Die englischen Banken übernahmen gern die Besitzrechte zu einundfünfzig Prozent auf ertraglose Werte, um sie bei einer Kursänderung der Arbeiterstaaten gewaltig unter der englischen Flagge auszubeuten. Trotzdem man in London an das baldige Ende Lenins glaubte, hatte man kein Interesse für die von Voß angebotenen Werte. Man empfahl ihm, seine litauischen Güter zu beleihen. Die Herren der Prokura, die ihn empfingen, sollten eine große Szene erleben. Der alte Seigneur riß seinen Kragen vom Hals und sagte, er werde eher Portier der Bank. Darauf wandte er sich um, winkte dem Boten und warf die Tür hinter sich zu. Obwohl die Offerte der Bank verständig war, fühlte er sich tagelang beschimpft. Das Gefühl, den Boden, um dessen politische Freiheit er sich in ihm unerträgliche Prozesse gestürzt hatte, geschäftlich benutzen zu müssen, gab ihm einen Schlag ins Gesicht. Er wankte in seinem ganzen Seelenbezirk. Mit irren Augen sah er die Ereignisse herankommen, die er nicht begriff und die ihn, pfui Teufel, noch weniger zu begreifen schienen. Mit zitternden Händen rückte er seinen Zylinder zurecht, als er Granuella den Mittag bei ihrer Freundin abholte, der Lady Douglas, die, zehn Jahre älter als sie, sie unter ihren Schutz genommen hatte. Die Douglas war eine entfernte Verwandte und hatte ihr Haus und ihre Anmut den Flüchtlingen geöffnet. Voß verschwieg ihr seine Lage. Wenn er von seiner Provinz in Zukunft sprach, hatte er mitten in seinem blondumbarteten Mund eine gewisse Weichheit bei der Artikulation. Im Herzen war er verzweifelt. Natürlich wären viel Hilfsmittel zu seiner Verfügung gewesen, allein durch seine Eigenart verlor er die Freiheit, sich ihrer zu bedienen. Wo es ihm gepaßt hätte, sich Freunden zu eröffnen, war das fragliche Vermögen zu gering. Die Blicke des Hoteldirektors zwangen ihn zu Entscheidungen im Hinblick auf seine lang aufnotierte Rechnung. Von allen Seiten bestürmten ihn nunmehr Schwierigkeiten, denen er nicht gewachsen war mit seiner herrischen Natur und Erziehung. Das englische Pfund begann sich gegen den Dollar stark zu senken, die Gläubiger holten ihre Ausstände ein. Er ging an der Börse ein Baisseengagement auf die polnische Mark ein, die sich besserte und ihn zerschlug.

Man verkaufte sein Auto, seine Pferde. Solange reiste er nach Brüssel und kam zurück, als sei in der Tat nichts geschehen. Auf seinem Tisch lag ein Telegramm seines Sohnes Roland, das nichts über die Verhandlungen enthielt, jedoch Schweizer Franks wünschte. Er konnte nicht helfen. Zum erstenmal im Leben empfand er Heimatlosigkeit. Er fühlte seine Umgebung feindlich und unzugänglich. Als er plötzlich sich an seine Gärten und die flache braungelbe Schonung erinnerte, zerriß ihn fast die Verzweiflung. Mit dröhnenden Schritten stolperte er in die Gassen hinein, die Vorstädte umgaben ihn mit dem Nachtgewölb. Das Elend, die Hilflosigkeit übermannten ihn. Seitdem er den Boden seiner Heimat verlassen, der ihm Sicherheit durch das Leben hindurch gewährleistet hatte, sprangen lauter unglückselige Dinge hinter ihm her. Er bewegte die Arme alle paar Minuten vom Körper weg. Es kam ihm vor, als sei er gefesselt. Er war von einer Hilflosigkeit zerschmettert, die ihn kindisch machte. Er hatte nur noch Gedanken nach Geld. Die Schatten der Vorbeihuschenden türmten sich über ihn, alles drückte ihn zu Boden, was ihm begegnete. Er kam über eine Brücke mit gurgelndem Wasser und sah sich plötzlich in einer bekannten Straße. Mit Erstaunen bemerkte er, daß er nach einigen Schritten sich an der Tür eines Emigrantenklubs befand. Er stieg hinauf, riskierte seine Ehre, indem er auf Wort spielte und gewann die Nacht tausend Pfund und fuhr nächsten Tags nach Paris. Daß er gerettet war, machte ihn glücklich und heiter.

Sie machten die Reise in kleinen Stationen über Antwerpen, Gent, Calais. Er beabsichtigte, für seine Tochter etwas zu tun, die ihm in den letzten Monaten aus dem Gesicht gekommen war. Das Unternehmen dieser Reise war heiter. Er nahm seine Tochter vor Rührung in die Arme, als sie zum erstenmal Buchenwald wieder an das Meer heranrücken sahen. Dahinter flogen Windmühlen und eine Herde Kühe kam ihnen entgegen. Sie waren beide hingerissen. De Voß, mit Tränen in den Augen, begann aus voller Kehle im Auto halbstehend, die nationale Hymne zu singen. Die Ebenen und Wiesen mit den Arbeitenden und dem Vieh hätten ihn fast zum Jüngling gemacht.

In Paris scharte er entschlossen die Jugend seines Randstaats um sich. Da die Verhandlungen in der Schweiz keine Fortschritte machten, verlegte er einige Wochen seinen Wohnsitz wiederum in die Schweiz, ohne indes etwas zu erreichen. Er hatte allerdings die Ehre, daß Lord Chamberlain ihn empfing, der das britische Reich damals vertrat und ein Vetter der Douglas war. Die Unterredung war kurz, aber er vermochte den Diplomaten an die besten Traditionen seines Volkes zu erinnern und sah ihn in einem majestätischen Moment bewegt, als er ihm die geschäftliche Feigheit der europäischen Staaten vorwarf, aber ein furchtbarer Schlag zwang ihn nach Paris zurück. Er vermochte sein Vermögen nicht mehr zu retten.

Er fuhr direkt zur Börse. Der Krach war entgültig und erledigte ihn. Es blieben lediglich einige südafrikanische Shares. Diesmal schien es keine Rettung mehr zu geben. Er wurde tiefsinnig. Er erholte sich wohl auch nie mehr von der Demütigung, die ihn zwang, wieder dem Gelde nachzulaufen. Bei einem Spaziergang in den Tuilerien fiel ihm ein Bankier ein, den ihm Lady Douglas als ihren Vertrauensmann in Geldsachen bezeichnet hatte. Hier griff zum erstenmal die Douglas in das Leben dieser Familie ein, die um ein Lebensrecht kämpfte, das sie seit einem Jahrhundert schon verloren hatte. Er ging zur Avenue Wagram zu Fuß und widerrief seine Absicht bei jedem dritten Schritt. Aber beim vierten entschloß er sich wieder von neuem. Schließlich trat er in das Privatbureau des Präsidenten.

Als dieser eintrat, hatte er sofort solchen Widerwillen gegen den Mann, daß er versuchte, mit einer Ausrede ihn zu verlassen, dann sah er ihn einige Sekunden an von dem schlechten Scheitel bis zu den falsch geknöpften Schuhen. Er nahm seinen Hut ab, verneigte sich und sagte: „Sie sehen in mir einen Mann, der sein Vaterland über alles liebte und der vernichtet ist.“

„Bedecken Sie sich,“ sagte der andere, der einen kleinen Sprachfehler hatte, „ich will sie retten.“ Der Mann hielt ihn trotz seiner imposanten Ausgaben drei Monate über Wasser, bis die Baisse nachließ und die Kurse der Unternehmungen, an denen er ihn gegen gute Prozente beteiligt hatte, wie die Affen kletterten. „Mein verehrter Baron,“ sagte der Bankier, „Sie sind saniert und ich hatte das Vergnügen dabei, einer verehrten Frau eine Gefälligkeit erweisen zu dürfen. Jetzt kehren Sie auf Ihre Besitzungen zurück.“

Darauf nahm Voß den Hut mit einer feierlichen Bewegung, als ob er etwas in tiefster Ehrerbietung heimlich grüße, bekam einen Kopf wie ein Schlagflüssiger und verließ ohne Dankeswort den Sprecher. Er schüttelte die Faust über diesen Zeloten. Er gewann seinen ganzen Stolz zurück. Es war prächtig, wie er damit sich selbst zurückgewann und mit sich prunkte. Einen Teil seines Gewinns sandte er in aufsehenerregender Weise an Roland de Voß nach Lausanne und eiferte ihn an, aufs heftigste tätig zu sein. Einige Wochen ging es ausgezeichnet.

Die Fürstin Trobetzkoi kam aus Nizza zu Besuch. Das Haupt der von ihm gegründeten Pania Watja, der jüngere St. Goar, ein Vetter der Fürstin, die den letzten polnischen Marschall auf der Promenade zur Rede gestellt hatte, traf ein. Noch einmal flatterten die kleinen Litauerfahnen an seinem Wagen mit der aufsehenmachenden Silberfaust zwischen den drei roten Kugeln. Auf den Wunsch St. Goars fuhren sie ans Meer. Sie standen am Vormittag lang auf der Düne und sahen in den starken Wind. Es war ein angenehmer Tag. In der Nacht tappte Voß an seinen Safe, der in einen suite-case eingebaut war. Er fand nichts mehr darin, Die Hände fingen ihm an zu zittern. Man war wieder am Ende. Von nun ab trug er das eine Auge etwas geschlossen.

In der Frühe beeilte er sich zu Granuella hinüberzugehen. Die war erstaunt, daß er ohne sich anzumelden, kam, weil das noch nie geschehen war, solang sie denken konnte. Selbst als ganz kleines Kind wurde sie jeweils erst von einem Mädchen auf seinen Besuch aufmerksam gemacht. Sie bemerkte, daß er eine graue Haut hatte. Daraufhin richtete sie sich auf. Im Zimmer flogen aus drei hängenden Käfigen Kanarienvögel hin und her und sangen. Die Zofe hatte die aufgewellten Cremegardinen halb hochgezogen und eilte hinaus.

„Packe alles,“ sagte er und sah sie mit aufgerissenen Lidern an. „Wir werden uns in Zukunft einzuschränken haben. Entlasse das Personal. Ich werde gehen, eine unseren Verhältnissen angemessene Wohnung zu finden.“

„Wie,“ sagte Granuella, „wir müssen anfangen zu verzichten? O, wie danke ich Dir, daß wir endlich dazu bereit sind.“

Voß war es in diesem Augenblick, als müsse er sterben. Denn er sah zum erstenmal seine Tochter so. Er hatte gedacht, daß sie toben würde. Diese Hingabe rührte ihn derart, daß er sich aus Schwäche auf ihren Bettrand setzen mußte, und immer wieder ihre Hand nahm und sie an sein Herz preßte. Er war restlos besiegt und erschüttert und küßte ihre Haare.

Als er allein war, machte das ihn unsicher. Er wollte seine Tochter das Opfer in Wirklichkeit nicht erleben lassen. Wie er in den Spiegel sah und dachte, daß er alle die Monate und Jahre an seiner Tochter vorbeigelebt hatte, brach er sogar in Tränen aus. Um Geld herbeizuschaffen, lief er zu dem Bankier, erreichte aber nichts, da er verreist war. Er suchte ihn gegen Abend noch einmal auf. Er hatte wieder keinen Erfolg, trotzdem dachte er nur daran, Granuella das seitherige Leben fortführen zu lassen. Als Granuella den Zurückkehrenden gedrückt sah, durchschaute sie alles, überraschte ihn mit fertigen Tatsachen, das Personal war entlassen, das Etablissement gekündigt, manches zum Verkauf ausgeschrieben und das meiste schon gepackt. Am nächsten Mittag zogen sie in eine kleine Wohnung am Friedhof Pair La Chaise.

Eine Weile lebten sie, daß es Granuella später vorkam, es sei die beste Zeit gewesen in ihrem Leben. Wenn Voß die Treppe herunterkam, sprang jedesmal der Concièrge aus seiner Loge und schlug mit dem Holzbein an den Schellenbaum, den er bei Verdun getragen. Voß pflegte kurz zu grüßen. Trotzdem war der Mann über die Frische begeistert, die da die Treppe herunterkam, und hinter der er einen General vermutete. Sein Herz schlug höher, er salutierte noch hinter ihm her, manchmal verfolgte er ihn mit seiner Krücke ein Stück auf der Straße und rief hinter ihm her: „So sehen Sie doch, mein Herr, wie frisch die Bäume sind. Es muß einen neuen Krieg geben, sapristi . . .“ Er blies sogar in die Hände über diesen Mieter und drehte sich vor Vergnügen im Kreis, wenn man ihn nicht sah.

Es war für Vater und Tochter eine entzückende Sache sich einzuschränken, weil sie es nicht gewohnt waren. Man machte Entdeckungen. Es war mehr eine Robinsonade und ein unterhaltendes Spiel als die Not. Was war das für ein Leben ohne Telephon und Diener. St. Goars Blicke wurden bei diesem Anblick der rührenden Sparsamkeit glücklich. Man gründete die Pania watja mit neuen Formeln, ein Strom von Belebung ging von beiden aus. Zu ihrem Glück setzten die polnischen Studenten-Manipel durch, daß die Pania watja aufgelöst werden mußte. Sie bestand unter anderem Namen verstärkt fort.

„Man muß arm sein, um eine Sache richtig machen zu können,“ wagte eines Tages sogar Voß zu sagen, als er erfreut zurückkam. Zu seinem Unheil war das bescheidene Leben aber ebenfalls zu knapp. Man streifte wieder die Not. In diesen Tagen mußte Rolands Scheck erneuert werden. Es blieb nur die Möglichkeit, den Sohn zurückzurufen. Granuella sagte: „Wir dürfen unseren Stolz nicht so sehr wachsen lassen. Wir müssen des Erfolges halber auf die Revenüen der Güter zurückgreifen, auch wenn die Polen darum herumsitzen. Man schmeckt es dem Gelde nicht nach, daß es nach den Schwarzbeinigen riecht.“ Sie hatten sich angewöhnt, nach den Landarbeitern in den Kanälen die ganze Station so zu nennen. Zu ihrem Erstaunen widersprach der von Geld durch die Not wieder ganz bezauberte Voß kaum. Es war umsonst. Denn bald kam die Nachricht, daß ein Semjimbeschluß die Ausfuhr von Geld aus dem annektierten Gebiet verboten habe. Das zertrümmerte Voß. An Rückkehr war nicht zu denken. Er wäre eher vom Dach des Hotels gesprungen. Wahrscheinlich hätte man sie ihm nicht einmal erlaubt. Nun empfand er seine totale Losgelöstheit. Es gab tatsächlich keinen Halt mehr für ihn, man hatte die Heimat wie ein Stück Körper von ihm abgeschnitten und er befand sich mitten in einer furchtbaren unübersichtlichen Flut. Es konnte nur ein Ziel geben, das gleichzeitig allein Halt verbürgte: Geld. Er bekam einen Zug, der seine Nase schärfer machte, den Mund spitzte, im Auge flackerte manchmal mit einem gelben Schein die Gier. Die Hände schnellten oft wie bei einem Vogel, der einen Ast ergreift, zusammen. Er war gemacht für Kämpfe, die eine gewisse Höhe an Stolz und Anspruch voraussetzten. Zu anderer Zeit wäre er ein großer Anführer für die Freiheit gewesen. Zu seiner Verwunderung wurde er rücksichtslos umgeworfen. Wo er an Adel sich klammerte, krachte die Not. Er glitt fast widerstandslos in die Hände von Glückssrittern und in die Fallen von Habenichtsen. Plötzlich war er hilflos, aber auch unfähig wie ein Kind. Er ging einfach glatt vor die Hunde in dieser Quälerei um die Existenz. Sein Widerstand war so erstaunlich gering, weil er selber fühlte, wie er abstarb in diesem Zeitalter, das seine Voraussetzungen schon gar nicht mehr kannte. Man mußte Paris verlassen. Er jagte hinter allen Möglichkeiten des Geldes wie ein Besessener her. Im Grunde ward das die mächtigste Bewegung in seiner Seele. Er hatte Angst in einem Vorstadthotel zu krepieren. Aus dieser Furcht entwickelte sich eine namenlose Habgier nach Geld.

Zuerst waren es noch korrekte Sachen, die an ihn heran kamen. So war er zum Beispiel wohlgelitten bei der Großherzogin von Luxemburg, die ihn ihr Gestüt beaufsichtigen ließ. Wegen seiner Zugehörigkeit zur Pania watja erreichte nach einigen Monaten diese Beziehung ein Ende. Der polnische Geschäftsträger wies darauf hin, daß Voß Anwesenheit am Hofe seine Regierung stark verstimme. Da der luxemburgische Frank gut stand, mußte man den Alten opfern. Zu allem Elend kam nun, daß die Polen, gegen die er den „Kreuzzug durch Europa“ unternommen hatte, ihn wie einen Fuchs zu jagen begannen, als sein Kreuzzug schon ein erbärmliches Gehetz durch immer erschrecklichere Not wurde. Das Halali des Staatschefs Pilsudski hinter ihm her brachte ihn fast ins Grab in den nächsten Monaten. Er war zu mürbe schon, um zu sterben an seiner Galle. Er war entschlossen nicht Hungers zu sterben. Also starb er auch nicht an Ehrgeiz, denn es fehlte die Zeit dazu. Ein Lichtblick war, daß er in Kissingen einen abgesetzten deutschen Fürsten am Brunnen traf, der auf seinem Gut übernachtet hatte und ihm nun klagte, daß Auseinandersetzungen mit englischen Banken sein Vermögen zerstörten. Er gewann Voß dafür, durch eine Reise seine Londoner Beziehungen in den Dienst seines Prozesses zu stellen. Voß fuhr nach Dover, dann nach London. Er war zu ungeschickt, trotz besten Drucks durch seine Bekannten, den Prozeß geschickt gegen die gerissenen Advokaten des englischen Fiskus zu leiten. Er nutzte Beziehungen falsch aus, bestach nicht und versprach, wo man Tatsachen sehen wollte. Er verlor durch schlechte Laune seine Beziehungen, denen er seine Unterlassungen und Fehler empfindlich vorwarf. Er hatte mehr zerstört, als vorher möglich schien. Gedrückt kam er nach Deutschland zurück. In München wachte er auf und besaß noch für drei Tage Geld. Das Gespenst saß schon auf seinem Bett. Es hatte ihn eingeholt. Es hatte lange im Dunkel gedroht. Da war es vor seinem Gesicht. Er war zerrissen und zerschlagen. Hoffnungslos schlich er durch die Straßen. Da drückte ein junger Mann dem Alten die Hand. Er sah St. Goar in die Augen. Er mußte im ersten Augenblick einige Schritte zurücktreten, dann frug er gierig: „Haben Sie Geld.“ St. Goar hatte reichliche Mittel. Er sanierte Voß, beteiligte ihn an schlesischen Werten, die gerade haussierten. Das sollte St. Goar aber schlecht bekommen.

Als der Alte sich im Besitz starker Mittel sah, erwachte das Gefühl für seine politische Aufgabe wieder in ihm, und zwar in ungeheuerlichem Maße. Die Hälfte seiner Einkünfte sandte er sofort an Roland de Voß, der gerade mit einer Studienkommission im Osten war. Mit einem Stab junger Feuerköpfe reiste er an allen Gouvernements und Börsen herum. Er ließ Proklamationen an die Parlamente und Bittschriften an die führenden Kabinette verfassen, Versammlungen abhalten und die Presse beeinflussen, kurz er machte soviel Wind und Redens um seine Angelegenheit, daß er sich alle zu Feinden zuzog, die am Schweigen darüber interessiert waren, und das waren die Mächtigsten und gerade die, die allein hätten helfen können.

Voß hatte nunmehr einen neuen Plan ausgeheckt, die Sache seiner Provinz zu beschleunigen, indem er sie in die Hände der Großindustrie legte, und jeweils, wo er zu Konferenzen erschien, sah man ihn von jungen Leuten und Dienern begleitet, die Gesteinproben mitschleiften. Er suchte nachzuweisen, daß gewaltige Schätze in dem umstrittenen Terrain steckten, und daß ein faules Volk wie die Polen sie vernichten würden oder zu dumm seien, sie zu verwenden. Er war jedoch bereit, jeder ausländischen Interessentengruppe alle Konzessionen, ja allen Verdienst, abzutreten, wenn sie über ihre Regierung den Sieg seiner Nation durchsetzten. Dieser Plan wurde damals von vielen Seiten ernstlich in Betracht gezogen, und es war nicht unsinnig, an seine Verwirklichung zu glauben.

Der treuste seiner Begleiter war ein junger Mann aus der bürgerlichen Familie Romanoff, die in Litauen ansässig war und eine hervorragende Menge von Begabungen in die noch spärliche Intelligenz sandte. Er hatte veilchenblaue Augen und ganz blonde Brauen. Sein Hals war fast klassisch, sein Haar mehr blau wie schwarz. Mit dem Mund verstand er so zu schweigen, daß es eine der anmutigsten Gesten war, die es in dieser Zeit gab. Die Überzeugtheit des alten Voß nahm damals eine solch riesenhafte Höhe an, daß sie wie eine plötzliche Krankheit wirkte. Das machte den alten Seigneur verdächtig bei aller Welt. Mit von Widerständen krankhaft aufgereiztem Feuer begann er nach so langer Pause des Verschollenseins und nach so atemloser Jagd nach dem Geld sich wie ein Ertrinkender in ein Schlachtfeld von neuen Plänen zu stürzen und sich daran zu verwirren. Unter anderem zahlte er St. Goar auf eine peinliche Weise den Dank für die Gutmütigkeit, mit der jener ihn an den Haaren aus dem Dreck und Skandal gezogen.

In Lausanne überwarf er sich wegen einer technischen Frage der Propaganda mit St. Goar beim Lunch und beleidigte den Verblüfften auf eine gewaltsame Art, worauf dieser mit einem langen Blick auf Granuella den Saal verließ. Voß vermochte Widerspruch nicht mehr zu ertragen. Genau so großartig, wie er knapp am Hunger lebend die Erzlager seiner Provinz den internationalen Industriekapitänen vor die Füße schmiß, genau so vergaß er, von welchem Geld er überhaupt lebte, als er seinen besten Helfer barbarisch traktierte. Es gelang allerdings, ihn zu einer Aussprache mit St. Goar zu bringen.

Sie fand im Salon des Hotels statt und St. Goar bewies viel Würde und Wille zur Verständigung. Er vermochte allerdings nicht, sich einem Gesichtspunkt seines Gegners, den er für verrückt hielt, anzuschließen. Leider ereiferte sich Voß maßlos und, um St. Goar für seinen Gewaltplan zu zwingen oder ihn unschädlich zu machen, drohte er einen Augenblick, ihn wegen gewisser Unregelmäßigkeiten aus der Bewegung auszuschiffen. In diesem Augenblick trat Granuella ein. Sie führte ihren Vater in die Ecke und sprach leis einige Worte zu ihm. Es schien, als ob sie ihn um Mäßigung bitte. Voß ging darauf ganz weiß im Gesicht an die Tür, öffnete sie und telephonierte im Nebenzimmer. Nach zwei Minuten kam der Portier des Hotels mit zwei Beamten der Fremdenpolizei.

„Dieser Herr hier,“ sagte Voß, und deutete auf St. Goar, „besitzt einen falschen Paß. Ich teile das Ihnen mit im Interesse des Landes, das mir Gastfreundschaft gewährt.“ Voß war in furchtbarer Verfassung. Am liebsten hätte er gesehen, daß man St. Goar an den Spiegel stellte und füsilierte. Er beachtete überhaupt nicht, daß die beiden Beamten ihn baten mit zur Präfektur zu kommen. Er sah in ihm lediglich den Feind seiner Methoden und seiner Sache, der zu vernichten sei. Er war durch die erbarmungslosen Stöße des Lebens in den letzten Jahren von einer fieberhaften seelischen Erkrankung begleitetet, die jedenfalls kein Irrsinn war, ihn aber veranlaßte, aus Angst vor dem raschen Ausgehn des Geldes alles mit einem bedeutenden Größenwahn zu sehen. Ohne Zweifel war er überzeugt, daß an der kleinen Differenz der Anschauungen mit St. Goar das Schicksal seiner ganzen Mission hänge und daß noch sicherer ohne seine eigene Hilfe die ganze Sache rettungslos zerfalle. Diese Verantwortung brachte ihn fast zum Wahnsinn.

Er bedachte dabei nicht, daß er mit St. Goar seine Börse verhaften ließ. Er war bei aller Begeisterung eigentlich ein Kind, dem entging, daß die Schicksale der Nationen keineswegs auf den Rollschuhen entzündeter kleiner Patrioten liefen. Er war der Trümmerhaufen einer abgeschiedenen Zeit aber immerhin sehr interessant, wie er, dampfend vor Zorn, mit seinem großen Körper über den Klubsessel gebreitet dalag. Granuella stand noch an der Wand. Nun kam sie herüber: „Ich vermute, daß Du sehr unrecht getan hast,“ sagte sie und bemerkte daß sein linkes Auge fast zugefallen war.

Daß seine Tochter, die nunmehr achtzehn Jahre alt war, aus ihrer Anonymität heraustrat, ließ Voß zuerst erstarren. Dann sprang er auf. Wie alle falsch Illuminierten entschloß er sich sofort, alles, was ihm lieb war, in seinem Herzen zu massakrieren und sich völlig zu isolieren. Er dachte damit seine Kühnheit zu verstärken, während er sich kastrierte. Auch konnte er seltsamerweise den Blick der Tochter schwer ertragen, kurz, er brüllte sie plötzlich nach einigem Schwanken wie ein Panther an. Sie wich zurück. Dann sagte sie kalt, sie billige die Ansichten St. Goars.

Der Alte schlug die Hände zusammen. Er vermochte es nicht zu fassen: „Meine Tochter! Meine Tochter!!“ . . . rief er dauernd. Granuella sagte nun mit festem Ton: „Ich erwarte, daß du St. Goar sofort deckst. Telephoniere zum Präfekten. Schreibe der Polizei. Lauf zum Gesandten . . . was Du vorziehst.“ Sie ereiferte sich.

„Wie . . .,“ schluchzte der Alte . . ., „wie — — Du sprichst mit Deinem Vater . . . .“

„Ich spreche,“ sagte Granuella, „mit einem Freund des Vaterlandes, der einen anderen den Feinden ausgeliefert hat, und ich weiß, was man in diesem Falle zu tun hat.“ Sie dachte damit zu sagen, er solle sich entschuldigen und die Sache wieder gut machen. Voß wurde im Übermaß der Erregung völlig ruhig, trotzdem oder wahrscheinlich, weil er den Sinn ihrer letzten Worte falsch als Rebellion verstand: „Ich gebe Dir Gelegenheit, dich nicht zu übereilen,“ sagte er und schloß sie ein.

Granuella war in einer furchtbaren Lage. Sie war entschlossen, St. Goar zu befreien, indem sie sich für ihn verwandte. Doch nach der Szene im Salon mußte der Gefangene der Ansicht sein, daß sie wie stets ihres Vaters Mitwisserin sei und seine Handlung billige. Dazu kam, daß Frederik de Voß sie eingesperrt hielt und überhaupt nicht mehr sichtbar ward. Sie mußte fürchten, wenn sie gewaltsam zu fliehen versuchte, auch den Vater durch den Skandal zu belasten und die Sache damit noch weit mehr zu verwickeln.

Nach etwa acht Tagen hörte sie ein Geräusch am Kamin, und als sie sich umdrehte, sagte eine Stimme, sie möge nicht erschrecken. Dann krümmte sich etwas, das zwischen den Paravants herausfiel, sich überschlug und aufschnellte: Romanoff. Sie vermochte ihr Staunen, ja ihr Zittern nicht zu verbergen.

„Ich komme durch den Luftschacht,“ sagte er stolz.

„Schweigen Sie,“ flüsterte Granuella, und legte den Finger auf die Lippen, „wenn mein Vater Sie erblickt, wäre es aus.“

Der junge Mann lachte leis: „Mit mir? Ich bin unabhängig und denke die Mittel zu kennen, die Ihren Vater fesseln.“

Diese unklar anmaßende Sprache mißfiel Granuella, aber es war einiges an dem Jüngling, was sie anzog. Vor allem bewies er ihr in jeder Bewegung eine Verehrung, die weit das landläufige übertraf. Sie war damals durch die Umstände ihrer Flucht und ihr Leben, ohne daß sie sich überhaupt je besonders geäußert hätte, etwas wie eine kriegerische Heilige für die jungen Schwärmer ihrer Nation. Sie war stets völlig hinter Frederik de Voß zurückgestanden. Man dachte, wenn man sie mit ihrem elastischen, fast federnden Körper und dem beinahe wollüstigen Madonnengesicht sah, an eine blonde Amazone, die den Tod und den Genuß mit einer unendlich süßen Kraft in sich vereinigte. Er schied auf dem gleichen Wege von ihr, auf dem er gekommen war.

Sie hatte ihm ihre Ansicht über St. Goar übermittelt; er erreichte es, bei einer Gegenüberstellung, die er zu einem anderen Zweck herbeiführte, ihn zu sprechen und überbrachte ihr die Nachricht, St. Goar habe nie an ihr gezweifelt. Seine Sache stand nicht gut, da Voß sich wie ein altes Raubtier in diesen Haß verbissen hatte und auf irgendeine geheime Art immer neues Material gegen ihn den Behörden zufließen ließ, die in einer panischen Furcht vor dem Eindringen revolutionärer Subjekte in die Schweiz lebten.

Granuella verabredete, daß sie bei der Lady Douglas interpellieren wolle, die den Schweizer Gesandten in England auf den Fall verweisen könne, und daß St. Goar infolge dieses mächtigen Protektorats frei werde, ohne daß Voß in die Sache hineingezogen werde.

„Er ist mein Vater, den ich wohl verehre,“ sagte sie lächelnd, „aber er ist närrisch geworden über die Liebe zum Vaterland, daß er es bald verdirbt.“ Romanoff schwieg nach dieser Äußerung betreten. Die ganze Unschuld und Unwissenheit des Mädchens ging ihm mit einer wundervollen Weichheit auf. Doch äußerte er nichts, er ließ sein Auge sprechen. Ihm war wichtiger als das Politische, daß Granuella seine Leidenschaft spürte. Doch hemmte ihn seine Verehrung und er kam nicht weit.

Voß verspielte im Kasino den Rest seines Geldes, während seine Tochter über den Speicher an einem Seil Besuch empfing. Doch war das Glück ihm plötzlich günstiger, er gewann zeitweise, und fand Gelegenheit, schon auf der schiefen Bahn, dennoch seiner fixen Idee mit der Hartnäckigkeit des schon halb gefällten Alters nachzugehen. Als er einmal Romanoff im Vorzimmer sah, schöpfte er, mißtrauisch wie er geworden war, Verdacht. Romanoff mußte nun nachts kommen. Das gab dem Zusammentreffen eine gewisse Heimlichkeit und Intimität. Granuella erwartete mit Herzklopfen den Moment um Mitternacht, wo es dreimal zirpte. Das andere ging mit jeweils neu bestaunter Energie vor sich, fast lautlos.

Diese beiden jungen Leute erglühten an dem Eifer, der ihre Ziele zusammenhielt. Diese Familien, die nur teilweise litauisches Blut in sich trugen, meistens Baltenfamilien entstammten, aber alle litauische Mischungen bis in die letzte Zeit in sich trugen, waren alle von einem unaufhörlichen blonden Haß gegen alles Polnische erfaßt. Diese mittelalterlichen Ritter waren durchaus von der sauberen Heiligkeit ihrer Kreuzzüge überzeugt. Hätte man einen ihrer Führer im Dialekt des zwölften Jahrhunderts angesprochen, er hätte vermutlich ebenso geantwortet. An der Wiege einer jungen Nation wiederholen sich in verkürztem Tempo aber ohne ein Überspringen alle Tugenden, aber auch alle Irrtümer der alten. Die Geschichte der Völker ist eine Kartothek des gleichen Unsinns, der, wo er tragisch wird, eine besondere Größe erreicht. Hinter diesem Glanz rennen die jungen Völker wie Verzauberte her. Die Gelehrten vermöchten von Babylon bis nach Karthago oder jenem Augenblick, wo von Byzanz die Macht an Rom überging, oder wo die Souveränität des Westens nach New York wanderte und die Idee der Völker in Moskau statt in Paris proklamiert ward, ihren Nationen zur Belehrung Beispiele in Haufen vorzuführen. Die Randstaaten, die am Kreisbogen des alten Europa entstanden, hätten eine Welt vor Staunen erstarren lassen, wenn sie den tausendsten Teil eines durchschnittlich klugen Gedankens gehabt hätten, als sie ihr Nest etablierten. Sie zogen es vor, statt die westlichen Demokratien einfach zu kopieren, deren Säuglingsniveau noch einmal darzustellen. An der Wiege neuer oder befreiter Nationen entstehen alle Dummheiten, aber sie werden durchgeführt mit den blendendsten Eigenschaften, deren das menschliche Geschlecht fähig ist. Diese beiden jungen Menschen, die nie über das Reich Gottes und nie über die furchtbaren Probleme der Einzelnen und der Massen nachgedacht hatten, erglühten einfach in schwärmerischer Hingabe an die Idee ihres Staates.

Eines nachts kam er wie außer sich. Er vermochte aus irgendeinem Grunde seine Leidenschaft nicht zurückzuhalten. Granuella fand seinen Kopf in ihrem Schoß. Seine Hände suchten immer über ihre Arme zu streifen. Sie sprang zurück und sah ihn mit aufgerissenen Augen an. Sie empfand die Liebe, die ihr entgegenschlug, aber sie dachte in diesem Augenblick nicht an Romanoff, sondern an den Herzog von Leuchtenberg, der sie aus dem brennenden Haus geholt.

„Was wollen Sie?“ schrie sie, „was wagen Sie?“

Der junge Mann war zerschmettert. Sie suchte ihn aufzurichten, als sie ihn so blaß sah.

„Verzeihen Sie,“ meinte er mit zuckenden Lippen, „ich habe Sie nicht beleidigt. Man zwingt mich abzureisen und ich vermag nicht ohne ein Wort der Zuneigung von Ihnen zu gehen. Lieber erschieße ich mich vor Ihrer Tür.“

Das Mädchen war tief gerührt. Sie nahm ihm die Pistole aus der Hand, die er ihr wie gelähmt überließ:

„Ich vermöchte keinen Mann zu lieben, der sich nicht um die Heimat die unausdenkbarsten Verdienste gemacht hätte. Aber ich spüre nichts für Sie, als jene Zärtlichkeit, die ich Ihnen schulde.“

„So lieben Sie einen andern,“ schrie Romanoff und schlug die Faust auf die Brust, als wolle er sie zerschmettern. Er dachte an St. Goar und fühlte sich plötzlich schmählich mißbraucht. Granuella war an die Wand getreten und so hinreißend, daß er sich unwillkürlich vor Bewunderung aufrichtete. Sie sagte fast tonlos etwas, das nicht vernommen werden konnte und schüttelte den Kopf.

Er stürzte auf ihre Hand und überströmte sie mit Küssen. Sie forderte ihn auf, zu bleiben und seine Reise aufzuschieben. Er sagte düster, er könne nicht.

„Warum?“ Er wandte sich um. Er suchte auszuweichen, etwas zu erfinden. Er fluchte auf sich, daß ihm nichts einfiel und verwirrte sich. Schließlich erfuhr sie, daß sie von St. Goars Geld gelebt hatten, daß Voß durch monatelange Versäumnisse das Vertrauen seiner Kreise eingebüßt habe, daß er sogar gewisse wichtige Akten und Namensverzeichnisse ohne Skrupel aus Rachelust mit St. Goar zusammen hatte verhaften lassen. Romanoff war auf dem Wege, daraus folgernden Schwierigkeiten vorzubeugen. Es traf sie fast tödlich. Sie hatte die Augen lange geschlossen und zitterte am Körper, als hinge sie im Wind. Zuletzt fragte sie mit harten Augen: „Warum habe ich das nicht lange bereits erfahren. Es wäre Ihre Pflicht gewesen, mich aufzuklären. Warum blieben Sie in seiner Gesellschaft?“

„Ihretwegen,“ sagte Romanoff und sah sie mit aller leidenschaftlichen Erregung an. „Ich konnte nicht vor Sie treten und sagen: „Frederik de Voß ist ein vom Geld zermorschter Habenichts, ein Verräter und ein gewissenloser Freund der Nation. Gott hilf mir. Ich habe es nun gesagt.“

„Gehen Sie, gehen Sie,“ rief sie und schlug mit der Faust in die Hand. „Es ist genug.“ Er wollte sich ihr zu Füßen werfen, da wurden sie unterbrochen. Es klopfte, sie öffnete. Ihr Vater trat ein.

Er sah Romanoff mit großen Augen an. Dann wandte er sich an seine Tochter. Er hatte Wind davon, daß sie St. Goar irgendwie stützte und mit dem erbarmungslosen Haß des Greises suchte er ihr diese Betätigung zu zerschlagen. Jedoch nach einigen Sätzen hielt er inne, als schraube ihm jemand die Rede von den Lippen ab. „Gehen Sie,“ sagte Granuella zu Romanoff. Der junge Mann kettete sein Auge an sie, bis die Tür sich hinter ihm schloß.

Vater und Tochter sprachen ungefähr eine halbe Stunde miteinander. Es gelang Voß noch einmal zu einem günstigen Resultat zu kommen. Sie beschlossen am Ende des Gesprächs die Wohnung zu verlassen. Voß sah sich plötzlich zwar seiner Autorität beraubt, aber von der Tochter mehr als früher verehrt. Es gelang ihr, ihr Herz dazu zu bringen, seine Fehler zu verzeihen. Infolgedessen gab sie ihm St. Goar preis und versprach, Romanoff nicht mehr zu sehen. Sie glaubte, wie auch als Kind schon, als sie den gewaltigen Mann vor sich weinen sah, wie an das Sakrament von neuem an seine Liebe zum Vaterland. Ihre Herzen einigten sich wieder, unter Tränen lächelnd schätzte Granuella sich glücklich, einen solchen Vater zu haben. Bei all ihrer Weltunkenntnis konnte ihr nicht entgehen, daß Voß überzeugt war von dem, was ihn bewegte. Als sie auf die Straße traten, trafen sie einen Trupp der polnischen Delegation, der, den Fürsten Gagarin in der Mitte, aus einem Konferenzgebäude über den Reitweg herüberkam. Das Gesicht des Fürsten war von Erregung so blaß wie damals, als die Flammen ihres Hauses sein Gesicht beleuchteten. Wie er vorbeiging, mit einer tiefen Verbeugung und aschfahlen Augen, drückten Vater und Tochter sich die Hände. Sie wünschten ihm einen fürchterlichen Tod.

Granuella war so, daß sie einmal vertrauen konnte. Eine zweite Enttäuschung würde sie töten oder zur Rasenden machen. Sie war zu ungewandt in der Kenntnis der Charaktere und hatte keine Erfahrung in der Gesellschaft, um die Schwäche ihres Vaters als unheilbar zu erkennen. Sie beschränkte sich darauf, mit dem ganzen Edelmut ihres Herzens an ihn zu glauben, eine Fähigkeit, die ebenso großartig wie verrückt war. Voß verlor wieder dauernd. Ohne Geld und Anhang verstrickte er sich an suspekte Kerle. Der Kampf ums Geld wurde riesenhaft für ihn. Eines Abends war er im Kasino aufgesprungen, hatte die Brusttaschen seines Fracks gewendet und das Futter in den Händen, als ihn jemand in seiner Verzweiflung anstieß. Der Mann war ihm dem Namen nach irgendwie bekannt und er folgte ihm hinaus. Dort sagte er ihm, die Provinzen seien den Polen zugesprochen worden. Darauf ging er schlendernd wieder weg, Voß war wie ein Pferd zusammengestürzt. Sein Zustand war um so entsetzlicher, als er sich auch wegen des Zustands seiner Kasse die entsetzlichsten Vorwürfe machen mußte. Er sah sich in jeder Hinsicht vernichtet und wäre für einen guten Tod dankbar gewesen. Die ganze Nacht weinte er mit Granuella, die ihn tröstete. Wirklich stellte sich anderen Tags heraus, daß die Zuteilung der Provinzen an Polen nur provisorisch war. Voß hatte aber nicht mehr Kraft genug, das auszuhalten. Das linke Auge schloß sich von dieser Nacht ab völlig. Er war seelisch zu sehr verludert, als daß der Schlag ihn nicht mitten durchgebrochen hätte. Sein Stolz ging mit diesem Unglück für allemale in den Kot. Er wurde fast kindisch und dachte überhaupt nur noch an Geld. Die Habgier wurde mit einer phantastischen Leidenschaft von ihm betrieben. In seinen Träumen weinte und bebte er um ungeheure Summen. Der Geiz saß in seinen Augen, die Geldlust machte seine Finger zittern. Dazu wurde er greisenhaft launisch, wackelte mit dem Kopf und fürchtete immer, er könne nicht mehr leben, während sich sein Kopf mit wirren Plänen quälte. Dabei verwaltete Granuella ohne sein Wissen die Ausgaben ihres Hausstandes mit Darlehen, die Lady Douglas ihr besorgte und für die sie mittlerweile ihre russischen Besitzungen verpfändet hatte.

Die Lebenshaltung des alten Voß war außerhalb des Hauses sehr trist geworden. Er verlor, je tollere Träume von großen Vermögen und ungewöhnlichen Verdiensten ihn juckten, in der Wirklichkeit auch die letzte Kritik. Er vernachlässigte seine Kleidung, um auf das Mitleid der Reichen spekulieren zu können. In seinen Rücken hatte sich ein devoter Zug eingeschlichen, er war entsetzlich unsicher und weinerlich geworden und seine Gesellschaft war abscheulich. Einmal sagte im Kasino ein Mann, der in der Diplomatie sehr bekannt und sein zynischster Gegner war, als er seinerzeit mit Wagen und Pferden das erstemal in Lausanne eingezogen war: „Dieser Mann da schien uns jungen Leuten der Konferenz albern, aber wir beneideten ihn. Er ist noch alberner geworden, aber man kann ihn nicht mehr beneiden und ich glaube man sollte ihn deshalb totschlagen.“ Die Umstehenden lächelten, weil, ohne ihr Gespräch zu beachten, Frederik de Voß mitten durch sie gegangen kam, aber der Sprecher schien es zu erbärmlich zu finden, um zu lachen, schob den hohen Hut in die Stirn und ging aus dem Foyer. Frederik de Voß las aus den Gesichtern der Menschen nur noch wie an einem Thermometer, wie weit sie für Geld in Betracht kamen. Alles andere übersah er bereits, er war nicht mehr zu kränken. Er hatte den Vogelblick mit seinem rechten Auge bekommen, mit dem er nach Beute spähte. Er dürstete so nach Geld, daß er alles an Geschäften annahm, was herbeikam, um es wieder zu verspielen. Die Briefe seines Sohnes schob er zitternd in eine Schublade, um sie aus dem Gesicht zu bekommen. Er hatte wahrscheinlich gar keine Vorstellung mehr davon, daß er Buchenwälder besaß, die bis ans Meer grenzten, und daß seine Maisfelder zwischen den Kanälen flimmerten.

Alle Welt wußte bereits über diesen Zusammenbruch Bescheid und man erzählte sich von ihm die abenteuerlichsten Geschichten der Erniedrigung. Als ein skrupelloser Agent, dem er mit seinem Namen ein übles Geschäft über die Grenze gedeckt hatte, ihm ein Drittel der Verdienste auszahlte, stürzte Voß vor ihm auf die Knie. „Väterchen“, rief er und schüttelte die Hand des Agenten mit seinen beiden Armen, „meine Kinder verhungern“. „Was wollen Sie“, fragte der Spediteur, der einen unglaublichen Namen trug. „Fünftausend Franks“, wimmerte der Alte in seinen Bart. Er war tiefunglücklich. Der andere trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und starb bald vor Lachen. Er kannte die Verhältnisse genau. In seinen Karpfenaugen glomm eine diabolische Idee, er warf eine Hand voll Silbermünzen durch sein Bureau und schlug die Arme über dem Kopf zusammen, so strengte ihn das Lachen an, um Luft zu bekommen, als der Edelmann wie ein Narr herumlief, und die Stücke einsammelte. Dieser Mann benutzte ihn nun zu seinem Vergnügen zu allen möglichen Peinigungen und Quälereien. Er hatte eine schwere Jugend gehabt und genoß nun, daß einer der Herrenkaste in seiner Hand war. So ließ er ihn die grauenhaftesten Dinge vornehmen, die Voß für das Geld, das ihn verzauberte, ohne Besinnen machte. Von alle dem ahnte Granuella nichts.

Granuella war überzeugt, daß die Sorgen ihren Vater abmagern ließen, gab keinem Zweifel in ihrem Herzen Platz und verdoppelte ihre Liebe zu ihm. Eines Abends fand sie Abschriften von Briefen. Es war kein Zweifel, daß ihr Vater mit den Polen verhandelte. Aus Goldgier hatte der Alte den besessenen Vorschlag gemacht, zurückzukehren. Er beabsichtigte die Okkupation anzuerkennen und verlangte dafür Rückgabe seines Vermögens und Auslieferung der beschlagnahmten Guthaben. Es war offensichtlich, daß dieses Vorgehen nur aus einem völlig zerrütteten Hirn kommen konnte. Die Erkenntnis war aber für Granuella so grausam, daß sie das Mädchen, da sie sie nicht tötete, furchtbar hellsichtig machte. Sie erkannte mit einem Blitzschlag alles. Sie fiel wortlos zu Boden.

Als sie die Augen aufschlug, kam die Dämmerung über den See. Sie glaubte diese Verhöhnung des Lebens nicht ertragen zu können. „Welch ein erbärmliches Schicksal“, dachte sie voll Wut. Darüber geriet sie so außer sich, daß sie aus ihrer tötlichen Müdigkeit aufsprang. Das rettete ihr wahrscheinlich das Leben, denn als sie mit geschlossenen Lidern die Stirn an das Fenster drückte, war sie mehr eine Wölfin wie eine Sterbende. Sie fühlte einen ungeheuren Zorn. Von einem Geräusch aufmerksam gemacht, drehte sie sich um. Voß stand in der Tür mit weißem Gesicht, schielend, nicht ganz nüchtern. „Du bist toll,“ sagte sie und ging hinaus.

Er folgte ihr durch zwei Zimmer. Sie stampfte auf, als er nicht zurückging. Sie konnte ihn nicht sehen, so außer sich war sie. Schließlich hielt sie sich mit der Hand fest an dem Vorhang, der an der Tür niederfiel und sagte: „Folge mir nun nicht weiter. Du zwingst mich sonst, einiges mit Dir zu reden, was ich Dir ersparen könnte,“ und setzte rasch hinzu: „Ich vermag es Dir aber auch zu sagen.“ Er schwieg und sah sie mit flackernden Augen wütend an. Da ging sie mit einer stürmischen Bewegung bis dicht an sein Gesicht heran. Ihre Kieferknochen strafften sich vor Energie und wurden weiß wie Seile: „Erbärmliche Geschichten, die Du machst,“ rief sie, „Du verhandelst mit den Polen. Du warst imstande, das Beste unseres Lebens unter deine Füße zu schmeißen. Ich wäre lieber gestorben, als dies erleben zu müssen.“ Das junge Mädchen war in einem Schmerz, der sie nichts mehr ertragen ließ: „Geh weg von mir. Ich ertrage Deinen Anblick nicht länger. Gott helfe mir,“ schluchzte sie.

Voß blickte sich im Zimmer um, er sah, daß er sie besänftigen müsse. Sein Auge blieb an dem Schreibtisch hängen. Er verwünschte seine Nachlässigkeit: „Du hast in falschen Sachen geblättert,“ sagte er und suchte zu lachen, obwohl seine Kniee deutlich zitierten. Er beschloß rasch, sich herauszuwinden, indem er ihr bewies, daß die Listen eine Falle für das polnische Gouvernement wären. Es gelang ihm gar nicht zu reden. Er hatte die unklare Vorstellung, daß er im Begriff stand, etwas sehr Wertvolles zu verlieren und krallte die Hände immer auf und zu. Aber die Angst, die in seinem Gesicht herumzuckte, schnürte ihm die Gurgel zu. Das junge Mädchen sah ihn an, ein Wrack, eine Leiche. Er hatte sie ohne Zweifel wieder getäuscht.

„Das will ich Dir sagen,“ flüsterte sie, „daß ich Dich durchschaue und entschlossen bin, ein Ende zu machen.“ Sie erstickte fast vor Tränen. Trotzdem war in diesen Sekunden das unerfahrene Mädchen zur Furie verwandelt. „Ich bin entschlossen, ein Ende zu machen, eh Du alles ruinierst. Du hast unsere große Sache zertrümmert. Du hast Dich an der Idee der Freiheit, für die wir heute gelebt haben, wie ein Wahnsinniger vergangen. Du hast uns von St. Goar leben lassen, ohne daß ich es ahnte. Ich habe Romanoff abreisen sehen wegen Verrätereien von Dir, die er einzurenken bestimmt war. Unser Geld fließt zu Roland, der es mit Dirnen vertut. Du verspielst es beim Roulette. Meinst Du, ich ahne die Posse nicht, die ihr alle mit meinem Herzen getrieben. Wir sind Bettler geworden, aber kein Strolch kann uns Ehre erweisen, und wenn wir noch leben, so ist es das Glück, das wir hatten, immer mit edlen Menschen zusammengetroffen zu sein.“ Sie warf sich auf den Divan und schlang die Arme um die Kniee. „Dieser alte Mann ist mein Vater“, dachte sie. „Ich erkenne ihn nicht in diesem scheinheiligen Greise, der sich abmüht, mich durch Winseln zu rühren. Wie schändlich hat diesen edlen Mann das Leben zerstört. Warum ist er nicht gestorben, als unsere Jugend in die Pania watja ihm noch zulief.“ Der alte Voß war gekränkt. Er verstand nicht, warum ihr Herz blutete, und um welcher erhabener Ideen willen sie litt. Er vermutete, daß sie ihm wegen seiner Bettelarmut Vorwürfe mache und murmelte vor Angst gröhlend: „Halte an Dich, sprich nicht über Dinge, von denen Du keine Kenntnis hast, denn ich habe mit Silberminen ein Vermögen gestern erworben in einer Spekulation, die einen anderen wie mich vernichtet hätte.“ Es war offensichtlich, daß er log. „Du wirst es morgen wieder verlieren. Ich will Dir etwas sagen,“ meinte Granuella, die plötzlich aus ihrer Vereisung erwachte, „ich bin Deine Tochter,“ und sie ging ungestüm auf ihn zu und küßte ihn . . ., „aber ich sehe keinen Kameraden mehr in Dir. Es ist wahr, daß ich Dich verlasse.“

Sie trat zurück. In diesem Augenblick geschah etwas Seltsames. Langsam öffnete sich das linke Auge des Alten und wurde ganz groß, weiter als das rechte. Das Mädchen überlief ihn mit einem Blick. Sie war plötzlich von einer wundervollen Fremdheit. Sie mußte das hinzufügen, was sie noch zu sagen hatte: „Ich möchte nicht,“ sagte sie und merkte, wie sein linkes Auge starr und entsetzt sie ansah, „daß ich vergäße, Du seist mein Vater, wenn ich Dir entgegentreten müßte.“ Sie fügte diesen Satz kalt hinzu und ging hinaus. Nach einer halben Stunde erst fand der alte Voß nach einer ihm unerklärlichen Aufregung die Kraft in ihr Zimmer zu laufen und nachzusehen, ob sie Schmuck zurückgelassen hätte. Sie besaß schon lange keinen mehr, er nahm aber an, sie hätte ihn darum betrogen und wühlte verzweifelt und auf sie fluchend in den Fächern. Sein linkes Zuge schloß sich wieder völlig. Granuella ballte auf dem Schiff währenddem die Hände um die Börse, die sie mitgenommen, im Anblick von Genf, das sie erreichen wollte:

„Dieses Metall hat vermocht, einen glühenden Geist wie meinen Vater zu zerstören,“ dachte sie voll heißem Kummer. Sie war kindlich genug, es wie Gift zu hassen. Drei Schritte weiter auf dem Verdeck kam St. Goar auf sie zu.

Dieser junge Mann hatte sich in anmutiger Ehrerbietung ihr gegenüber jederzeit bewährt. Sie hatte keinen Grund sich ihm nicht anzuvertrauen, zumal sie ja sich nicht verschwieg, daß er Grund hatte, ihrer Familie aufs heftigste zu zürnen: „Ich würde mich wundern, wenn Sie die Abscheulichkeiten ganz verwunden hätten, denen Sie durch unsere Schuld ausgesetzt waren,“ sagte sie, worauf er sehr unglücklich war und heftig errötete, denn er verehrte sie so, daß er ganz andere Dinge auf sich genommen hätte. Sie gab sich ihm vollständig in die Hände, als ob Vertrauen das natürlichste sei. Er besaß die Ritterlichkeit und Kraft genug, seine tiefe Leidenschaft zu verbergen oder wenigstens sich nicht zu erklären. Sie gestattete ihm, sie zu Lady Douglas zu begleiten. Er war stolz, von dieser schönen, hin und wieder verzagten Frau als Beschützer ausgewählt zu sein. Wenn sie über die vergangenen Dinge erschauerte, nahm er ihre Partei gegen den Schatten ihres Vaters, indem er diesen aber zu schonen verstand. Er hatte den Takt ihr eine wirkliche Hilfe zu sein. Der arme Bursche starb aus Anstand fast vor Leidenschaft, aber seine gute Gesinnung hinderte ihn wirklich daran, zu sprechen, bis sie bei der Douglas ankamen und er das Mädchen dem Schutz der erfahrenen Frau übergab. Er lief darauf einige Tage herum, ehe er sich zu erklären wagte. Dabei machte er eine so seltsame Figur, daß es sich bei den Gästen des Landgutes herumsprach und alle eher als Granuella wußten, wie es um ihn stand.

Entschlossen lauerte er ihr im Park eines Abends auf und sah sie herzklopfend einen der Wege hinuntergehen, an deren Ende schon der Mond zwischen blauen Schatten und Düften stand. Er wartete, bis sie umdrehte und nun voll Gewölk und den Abglanz des sie im Rücken treffenden und umhüllenden Mondlichts zurückkam. Da hielt ihn wieder eine geheimnisvolle Scheu zurück. Er flüchtete in eine Fliederlaube und fühlte den Abendtau sein Gesicht überströmen. Halb von Sinnen eröffnete er sich der Lady, die mit Granuella sprach. Sein Vermögen war in der Lage, ihr Leben vollständig zu ändern, er sagte auch über die Behandlung ihres Vaters das Vornehmste. „Sagen Sie ihm,“ meinte Granuella nach einer besinnlichen langen Pause und wandte sich brüsk herum, daß die Douglas ihr fast nachlaufen mußte, und kaum das folgende Flüstern Granuellas hörte. Es schien jedoch dem Gesicht St. Goars zufolge, der den Abend abreiste, daß sie ihn nicht ohne Hoffnung gelassen hatte. Diese Vermutung hatte einen weiteren seltsamen Grund. Seit dieses Mädchen mit einem Male so entsetzlich hellsichtig geworden war, schien sie überhaupt nicht mehr ihr Leben von den Hoffnungen ihres nationalen Ehrgeizes trennen zu können. Sie wurde dabei und wahrscheinlich dadurch immer weicher und frauenhafter.

Manchmal brach sie in Tränen aus über das Geschickt ihres Vaters, aber während sie in Weinen zerging, stand eine Zornfalte ihr wie einer gerührten Amazone auf der Stirn. Lady Douglas vermochte ihr leicht die Selbstvorwürfe zu nehmen. Sie bewies ihr durch Briefe alten und neuen Datums, daß die fürchterliche Gier nach Geld den Alten bis zur Besinnungslosigkeit beherrschte. Das war entsetzlich, nahm ihr aber den Alpdruck der Härte. „Man hätte Sie diesem Mann entrissen, wenn Sie nicht gekommen wären,“ meinte die Douglas mit einem etwas hochmütigen Gesicht. Granuella hatte eine Art, unerhört zu gefallen, daß es ihre Freundin ängstete, zumal das Mädchen selbst es überhaupt nicht zu bemerken schien.

Manche Dummköpfe von jungen Leuten, fürchtete die Douglas, würden aus Verzweiflung oder aus Ehrgeiz vielleicht skandalöse Dinge wagen, und sie sprach mit dem Mädchen vorsichtig darüber. Sie wollte sie wappnen. Es war überflüssig. Sie kam zur Einsicht, daß Granuella, je weniger sie sich aktiv an den politischen Dingen beteiligte, um so leidenschaftlicher mit der ganzen Glut ihrer Frauenhaftigkeit auf deren Erfolg zu warten und in einem unbestimmbaren Sinne sich als Preis für den kühnsten der Feuerköpfe zu betrachten schien. Irgend etwas Geheimnisvolles dieser Art bestimmte jedenfalls ihr Leben völlig und gab ihr auch den Reiz phantastischer Sicherheit. Bestimmt waren ihre Kindheitseindrücke mit grandioser Größe in ihr aufgerichtet und alles Spätere war geneigt, dagegen abzufallen oder von ihr leicht vergessen zu werden. Sie war ohne Zweifel im Innern nur darauf gerichtet, daß ihr Schicksal notwendigerweise mit dem ihrer Heimat zusammenfiele.

So empfand sie es mehr schändlich als mitleiderregend, daß Briefe ihres Vaters an sie selbst einzulaufen begannen, der sie mit fieberhaften Beschwörungen um Geld anging, ohne etwas hinzuzufügen, als einen Haufen von wirren Spekulationen, in die er sich stürzen wollte. Sie antwortete, sie besäße nichts, als was die Douglas ihr spende. Sie vermöge nur sich selbst anzubieten, schrieb sie voll Wut. Er antwortete wie ein Verrückter, er wolle kommen, sie anzusehen. Sie brauchte einen ganzen Tag, den sie im Garten herumlief, aufgescheucht und fassungslos, bis sie erfaßte, daß das Hirn dieses Mannes, der sie erzeugt hatte, unrettbar verworren sei. Sie verbot ihm zu kommen. Diesen Brief las die Douglas über ihrer Schulter in der Fliederlaube, deren Blätter sich duftig bewegten: „Ich glaube nicht, daß es eine Zeit gab, wo die edlen Charaktere so grenzenlos vor dem Geld kapitulieren mußten. Es hat die Kraft die besten Gebete zu zerbrechen.“ Die Lady hatte Grund, in anklagenden Metaphern sich über die Welt, die sie zu verstehen glaubte, aber doch wohl nur aus der Klugheit des Schmerzes heraus ablehnte, zu äußern. Sie mußte England verlassen, da ihr Gatte mit einer Person aus der Filmindustrie von schlechtem Wuchs und miserablen Zähnen öffentlich zusammenlebte, um vom Ausland her die Scheidung gegen diesen Mann in Gang zu bringen. Sie nahm Granuella mit auf ein großes schlesisches Besitztum, das sie mit nicht viel englischen Pfunden gekauft hatte aus dem fiskalischen Nachlaß einer Adelsfamilie, die infolge der Kriege und Teuerung ausgestorben war.

Die Erntezeit im Osten hatte einen entzückenden Glanz. Nach Jahren der Vagabondage durch Europa war es eine erstaunliche Erfrischung. Zwei Schritt über die Allee hinaus sahen sie einen riesigen Horizont überall auf das Land fallen. In offener Sicht war alles von der Helligkeit der Sonne bewegt und das Licht flutete in diesem unermeßlichen Raum herauf und herunter. Man sah wie die Sensen tief in das Korn einschnitten und hörte die Mägde schreien. Die ganze Ebene durchbrochen breite Wagen voll getürmter Garben. Die Farben waren unbeschreiblich. Niemand spürte, daß Granuella sich vor Sehnsucht verzehrte. Eines abends näherte sich mit hier seltenem Geschrei eine Verfolgung dem Park, über dem die Gesellschaft auf den Stufen der erleuchteten Terrasse thronte. Der Raum bis zu den Springbrunnen war nur ein paar Schritte weit. Dahinter lag das massive Dunkel der Bäume, durch die nur manchmal leuchtende Käfer schnurrten. Plötzlich trat ein junger Mann mit einer Dogge ins Helle und lachte über die Schulter ins Dunkle zurück, wo sofort wieder Stille anbrach. „Das Gesindel war toll genug, mich zu verfolgen,“ sagte er, indem er mit großer Liebenswürdigkeit zur Terrasse hinaufgrüßte. Man war erstaunt über diese Sprache. Lady Douglas machte ihn, als er heraufkam, aufmerksam, daß er von ihren Leuten spreche. Er nahm den Tadel nicht an, sondern bat um Gastfreundschaft. Es war ihm nicht zu widerstehen. Er war Flüchtling vor den Polen und wollte zu seinen litauischen Gütern zurück. Schon als er die Helligkeit betreten hatte, hörte Granuella ihr Herz schlagen. Er amüsierte die Frauen sehr mit seiner Erzählungsart. Die Männer wurden durch seine abenteuerliche Überlegenheit verärgert. Einer versuchte sogar eine Ungezogenheit, doch der Fremde gab ihm nur gesteigerte Höflichkeit zurück. Er hatte tolle Dinge zu erzählen dabei. Seit drei Jahren hatte sich unter dem Dach des von den Interalliierten Nationen geschützten Friedens ein kleiner Guerillakrieg entsponnen. Es war ein trojanisches Heldenleben, das man um die Grenze herum führte. Die Geschlechter, Städte und Stände hatten eine Art Turniere eingerichtet mit für jeden von ihnen passendem Ehrenkodex, je nachdem man die Unterlegenen bewirtete oder beraubte. Die Miniatur eines kleinen Mittelalters mit ebenso wahnsinnigen wie tugendhaften Manieren lag genau hier zwischen den Arbeiterzaren und den westlichen Demokratien in leidenschaftlichem Ausbruch, und es war kein Zweifel, daß, so kindisch im Grunde es ihnen klang, alle Männer den jungen Mann beneideten. Die Probleme Europas und der einzelnen hatten ihre Glatzen beschwert und ihre Nächte schlaflos gemacht, ohne daß diese überlegenen Standpunkte ihnen schließlich etwas anderes als einen ungeheuren Zynismus geboren hätte. Der junge Mann hatte eine Trompetenstimme, die ohne Hemmung in den Park hinausschmetterte. Er nannte Namen um Namen, die Granuella kannte. Sie äußerte kein Wort. Glücklicherweise beherrschte der Fremde die Situation so völlig, daß niemand etwas auffiel. Bald schilderte er die Rettung von Frederik de Voß. Ohne Zweifel hatte er daran teilgenommen.

Granuella sank fast zur Erde. Sie hielt in der Dunkelheit ihres Platzes ihr Herz mit den Händen bedeckt. Sie vermochte keine Silbe zu sprechen. Als der junge Mann ins Innere des Gutshauses trat, sich verabschiedete, um sein Zimmer aufzusuchen, erhielt er einen Zettel in die Hand gedrückt. Mit demselben Blick, mit dem er las „Kommen Sie“, verfolgte er die Dame, ging ihr nach und erkundete ihr Zimmer. Als er nach einer Weile mit geschmeicheltem Lächeln und ein wenig prahlerisch eintrat, fand er eine Dame, die ihm sagte:

„Mein Herr, ziehen Sie keine falschen Schlüsse und verurteilen Sie nicht meine Handlungsweise. Ich bin die Tochter von Frederik de Voß. Sagen Sie mir die Adresse und den Aufenthalt des Herzogs von Leuchtenberg und führen Sie mich hin.“ Mit Blut übergossen vermochte der junge Offizier kaum seine Haltung zu wahren. Er verneigte sich tief und nannte, was sie wollte. Am anderen Tag erzählten die Domestiken, Fräulein von Voß sei in großer Eile abgereist und habe einen Teil ihrer Wäsche vergessen.

Lady Douglas gab ihrer Freundin einen großen Beweis der Zärtlichkeit, daß sie sie nach Kowno begleitete. Sie folgte Granuella fast auf dem Fuße. Dort lernte sie den Herzog von Leuchtenberg kennen, dessen leichte sichere Art ihr gefiel und dessen Männlichkeit fast wie ein Nationalheld gefeiert ward, als er ankam. Mit einer schicksalhaften Bestimmtheit wußte Granuella auf den Mann zu treffen, der sie aus dem Feuer gerissen und für den sie sich, ohne daß sie es wußte, bestimmt hatte. Sie galt als die schönste Frau der Gesellschaft und die Neidischsten konnten ihm nicht versagen, daß er an der Spitze der Tugenden des jungen Landes stand. Hätte er nicht eine Frau besessen, mit der er in Scheidung lag, sie hätten sich wohl auf der Stelle vermählt. Es war ein beispiellos schönes und auffallendes Paar. Lady Douglas deckte ihre Beziehungen, es hätte niemand ihnen irgendeinen Vorwurf zu machen vermocht. Die Douglas war nicht nur eine der feinsinnigsten, sondern auch der instinktvollsten Frauen, was sie aber mit großer äußerer Überlegenheit verbarg. Ihre Eleganz war so ungewöhnlich raffiniert, daß man sie nicht schildern konnte, aber sie genau spürte. Sie hatte Granuella, als Leuchtenberg in die Stadt einfuhr, mit ihrem Wagen an den seinen gedrängt und er hatte sie sofort wiedererkannt. Sie reiste auch mit, als der Herzog, der in türkischen Diensten stand, zurück mußte.

Damals ging die Taktik seiner Gesinnungsgenossen darauf hin, durch Schwierigkeiten am Balkan die Polen mürbe zu machen zu Konzessionen in den immer noch umstrittenen Gebieten. Er hatte einige Erfolge erzielt und wollte versuchen, seine Stellung, soweit es ihm die Ehre, wie er glaubte, gestattete, abzuwickeln. Seine Rückkehr stand in aussichtsreicher Nähe. Inzwischen rollte sich seine Scheidung ab. Die Douglas behandelte er mit jener schroffen Ritterlichkeit, die nicht verhehlte, daß er sie haßte. Sie nahm an, daß es sein Kollektivhaß auf die interalliierten Völker sei, die sein Land verschacherten und die Gerechtigkeit nicht ehrten. Sie verschwieg auch, daß diese ewige Ritterlichkeit ihr auf die Nerven ging. Sie fuhr mit bis Florenz, man machte einen Umweg, um sich dort zu trennen. Als sein Schiff abfuhr in der Frühe, stand Granuella auf dem Balkon ihres Hotels. Sie winkte mit einem Taschentuch hinunter nach dem Meer, auf dem das Schiff groß wie eine Hand langsam hinausfuhr. Sie vermochte Lady Douglas nicht zu verbergen, daß ihre Lippen weiß waren wie Kalk. Sie wäre beinah über das Geländer gestürzt.

Nach einigen Monaten begab sich Leuchtenberg über Beirut nach dem Kaukasus, er hatte diese Expedition nicht verhindern und nicht ausschlagen können. Die Nachrichten hörten auf. Das dauerte ein Jahr. Es gab ein Dutzend Gründe, es zu erklären. Das Frühjahr verbrachte die Douglas auf ihrem schlesischen Gut. Im Mai tratschten die Pferdeknechte eines Besuchs von einer abenteuerlichen Karriere Leuchtenbergs im Osten. Den Sommer ging man ans Meer. Dort tauchte Romanoff auf und machte Granuella in fast einfältiger Weise den Hof. Man mußte ihn darauf hinweisen, wie albern es sei, bei ihrem Anblick zu erröten, beim Verabschieden blaß zu werden und nachts unter ihrem Zimmerfenster herumzurennen und die Beete zu zerstampfen. Die Douglas erwartete immer einen Gewaltstreich und hatte sich darauf eingerichtet. Eines Tages war er verschwunden. Bald darauf traf Granuella, die spazieren ging, hinter den Dünen einen Mann, der sich ihr zu Füßen warf. Man sah sie nunmehr viel mit St. Goar.

Sie machten Ausflüge zusammen, schwammen oder lagen in den Stühlen am Strand. Das Badevolk sprach über sie, das Einvernehmen schien eng. St. Goar war ein Mann von heldischen Schultern und schmalen Hüften. Er ging sehr elastisch und mit Haltung und hatte unstreitig Geist. Er war einer der nobelsten Männer und nicht ohne den Charme, der verbindet. Vielleicht besaß er zuviel Vorzüge und nicht genug Bestimmtheit. Er pflegte ohne Ursache gern angenehm zu lachen, was ihn sehr beliebt machte. Das ging wochenlang ohne Trübung. Beim Lunch wurde plötzlich ein Billet für St. Goar abgegeben, woraufhin er sich empfahl. Als Granuella ihren Abendgang nach der Mole machte, fand sie ihn auf der Landungsbrücke ganz vorn an der Dampferanlage in heftigem Wortwechsel mit einem Mann. Es hatte tags und die Nacht vorher gestürmt. Die Brechwellen überrannten, ohne daß die beiden es merkten, mit Gischtwolken die Barriere und hüllten hinter ihnen den Himmel in eine Schale von wildem Schaum. Granuella hielt einen Augenblick an. Die rote Sonnenglut lag prall auf dem Meer gerade vor dem Erlöschen des Gestirns, das in die Gischt hineinstürzte mit ungeheurer Majestät. Das junge Mädchen bebte vor Zorn. Als sie zu ihnen trat, standen Tränen der Güte in ihren Augen: „Ist es Ihnen zuviel geworden Romanoff“, fragte sie, „ich wähnte Sie bei meinem Vater, den zu bewachen Sie mir vorschlugen.“ Er konnte ihr Auge nicht ertragen und stammelte: „Mein Fräulein“, er bediente sich der malenden litauischen Ausdrucksweise, obwohl er vor Aufregung bebte, „Frederik de Voß benötigt nur selten noch eines Wärters. Er geht in seinem Garten herum, wo man blitzende Glaskugeln aufgestellt hat, in die er vernarrt ist. Er würde sie nie mehr verlassen. Vergessen Sie diesen Mann, Herrn de Voß, und wenn Sie ihn rasch in Ihrem Herzen vergessen, um so besser, um so besser. Er hat seinen Frieden.“ Das Mädchen drehte sich herum, daß es in die Röte sehen mußte und unwillkürlich die Augen zukniff:

„Man hat ihm drei Söhne vor den Augen erschossen“, sagte sie hart. Die zwei standen wie Soldaten vor ihr. Ja, sie wären auf ihren Wunsch ins Meer gesprungen, obwohl es wohl das Sinnloseste gewesen wäre. Sie gingen dann langsam die Landungsbrücke nach dem Strand zurück. St. Goar versuchte ihr zuzureden, da ihn ihre Härte erstaunte, er konnte in der Dunkelheit nicht sehen, daß sie Tränen in den Augen hatte und deshalb schwieg, um sich nicht zu verraten. Ihr glühendes Herz litt furchtbar aus Stolz, aber auch aus Mitleid mit dem Alten. Romanoff verschwand in der gleichen Nacht. Man geht nicht fehl zu vermuten, daß er innerlich befreiter abfuhr. Er konnte nach seinen Erfahrungen sicher sein, daß er auf St. Goar nicht eifersüchtig zu sein brauchte. Es war wohl, wie er dachte, vorteilhafter für ihn, um den Alten herum und also ihrem Herzen doch nah auf die Dauer zu sein, als sich in ihrer britischen Nähe zu befinden, wo er täglich sie verlieren, aber nie augenblicklich gewinnen konnte. St. Goar dagegen versuchte einen anderen Weg der Hoffnung.

Er war in dem Jahr, das ihm die Douglas seinerzeit in England nicht aussichtslos gelassen hatte, vor Sehnsucht bald schwindsüchtig geworden. Er stand eines Nachts auf, lief mit zwei Pistolen am Strand herum, schrie und delierierte, kehrte gegen Morgen zurück und begann plötzlich offenkundig zu werben. Er ging völlig tollkühn vor und überraschte Granuella ganz und gar. Sie waren etwa eine Stunde in der Dämmerung nach dem Leuchtturm zu gegangen und an den ersten Büschen der Anlage erst bemerkte sie seine völlige Verstörung. Er gebärdete sich auch bald wie ein Rasender. Was kann ich anderes tun als ihn beruhigen, dachte sie und stieß ihn sanft zurück. Sie bekam feuchte Lippen und ein fast vor dunklem Glanz perlmutternes Auge, was der Besinnungslose für ein gutes Zeichen hielt. Natürlich vermochte Granuella sich dem Geheimnis der Gelegenheit und der sinnlichen Kraft dieser Erklärung nicht ganz zu entziehen. Sie war innerlich ohne Zweifel weit entfernt auf ihn zu hören. Ihre Hand fuhr über seinen Kopf, aber sie dachte nicht an ihn. Das brachte ihn zur Verzweiflung. Sie war, seitdem sie einem Manne zugehörte, empfänglicher geworden für Leidenschaft und trotz der silbernen Dämmerung sah er, daß ihre Nasenflügel sich strafften. Er warf sich zu Boden, als er ihre Erregung sah und empfand, daß er sie dennoch nicht haben werde. Er war jedoch klug genug, sich zu mäßigen, da er ihr Gesicht voll Tränen sah. Es entsprach dem mystischen Glauben, der sie beide an ihre Nation band, daß sie keine Scheu hatte, ihm von Leuchtenberg zu sprechen. Die Angelegenheiten ihres Lebens und ihrer Leidenschaft waren mit einer bestimmten und fast vorgeschriebenen Planmäßigkeit in die Ziele ihrer politischen Absichten verwebt, und in diesem Dämmerklar der Gefühle verstand es sich von selbst, daß St. Goar begriff, daß ihr Leben nur dem Mann gehöre, der sie aus den Flammen gerissen hatte und auf dessen Lebenslauf ihr Herz als den vornehmsten und ersten horchte. Sobald er Gewißheit hatte, ließ ihn das nicht ohne Hoffnung, denn er war sich der Zuneigung und der vertrauensvollen Ergebenheit dieser Frau sicher. Fast zu eilig verließ er sie, als sie ihn bat zurückzukehren, um mit ihren Gedanken allein zu sein.

Während er mit fast zu Sicherheiten sich spannenden Hoffnungen den Strand entlang mit aufgewühlter Seele lief, ging Granuella die zweihundert Stufen zu dem Leuchtturm hinauf. Sie stand mit einem Herzen da, das die Erlebnisse dieser leidenschaftlichen Szene mit ungeheurer Empfindlichkeit nach der Richtung seines eigentlichen Ziels gewandt hatte, ja man hätte sie für eine Wahnsinnige halten müssen, wie sie, die Arme aufgerissen, auf der Brüstung stand. Mit der Energie einer Tollen erlebte sie das phantastische Glück der Gegenwart ihres entfernten Geliebten. Sie wäre fast von der Zinne gestürzt. Trotzdem der Herzog tausende Kilometer von ihr entfernt war, empfand sie in der Tat eine ungeheuerliche Bewegung. Seine Anwesenheit hätte sie nicht verstärkten können und die Verbindung, die sie auf der Höhe dieser Minute mit aller Tiefe ihres Wesens durchatmete, war fast tötlich schön. Das Meer lag unter ihr wie Getreide. Der Mond spannte mit seinen Lichtfurchen die Kanäle ihrer Heimaterde dazwischen. Was blieb ihr, als zu erstarren vor Glück, obwohl sie immer den eiligen kaum mehr vor Eile wahrnehmbaren Herzschlag in sich vernahm. Sie war keine eigentlich schwärmerische Natur und eher mit Geduld begabt, auf Genuß zu warten, als sich an Visionen zu begeistern in der Abwesenheit des Gegenstands ihrer Wünsche und ihres Schicksals. Sie hatte aber die bestimmte hellsichtige Zuversicht in dieser Nacht, daß ein ungeheures Glück nahe.

Dieses junge Mädchen mußte am Morgen hören, Leuchtenberg sei gefallen. Sie nahm es ohne Gefühlsäußerung auf, vielleicht lächelte sie sogar in den Winkeln ihres kühlen und doch wollüstigen Mundes. Sie sagte am Abend zu St. Goar, als er kam und sich stumm zu ihr setzte: „Ich glaube nicht, daß ich vergessen kann, Sie eine kleine Freude bei der Nachricht empfinden zu sehen.“ Ihre Offenheit beschämte ihn grenzenlos und öffnete wieder das Tor des Verstehens zwischen ihnen, das durch seine Unsicherheit einen Augenblick zugeschlagen war. Natürlich konnte er weder jetzt noch je in seinem Leben den Gedanken verlieren, daß er der natürliche Nachfolger Leuchtenbergs sein müsse und die Hoffnung auf eine Füsilierung des Herzogs war eines der sichersten Besitztümer seiner Seele. Er hätte den Triumph meistern müssen, denn er setzte damit alles, nämlich ihr Stück Zuneigung zu ihm, aufs Spiel. Er klagte sich fassungslos an. Sie war sehr gütig und entschuldigte ihn selbst. St. Goar empfand an diesem Tag die Furchtbarkeit seiner Lage, die ihm Granuella für immer nahm. Das einzige, was ihm den Weg zu ihr frei machte, würde als Gespenst sie ihm mit der Pistole noch weigern. Er verfiel in eine tragische Melancholie, in der der Entschluß in ihm reifte, sein Leben lang für dieses Stück Zuneigung bei ihr zu werben, auch wenn er sie nicht besitzen solle, zufrieden, wenn ihm das wenigstens bliebe. Von ihm wurde sie wohl am meisten und besten geliebt, obwohl er nicht wie andere dafür in den Tod hineinjagte. Sie zeigte ihm dafür eine nachsichtige Freundschaft nicht ohne Zärtlichkeit bis zu ihrem Sterben.

Niemand vermochte ihr abzuraten, als sie sich entschloß in die Heimat zu fahren. Ihre Familie galt immer noch als Mittelpunkt der Irredenta der Provinz. Sie begab sich, alle Warnungen freundlich ablehnend, am festgesetzten Tag auf die Reise. Jedermann sah einen schlechten Ausgang, sie allein tat es nicht im mindesten. In der Tat sah sie den Wind mit den Maisfeldern spielen, roch den Duft, den beseligenden träumerischen Duft der Gartenerde und sah die Sonne zwischen dem kühlen Schatten der Kastanienallee. Aber nur mit geschlossenen Augen in ihrem Kupee. Man fing sie gleich hinter der Grenze ab und gab ihr ein anständiges aber sie völlig abschließendes Gefängnis in einer Festung, von deren Namen sie keine Ahnung hatte. Man transportierte sie nachts und in geschlossenem Auto. Sie vermochte sich nicht mit der Douglas in Verbindung zu setzen, und die Nachforschungen, die diese anstellte, zogen sich wochenlang resultatlos hinaus.

Granuella suchte verhört zu werden, verfaßte Proteste, bat um Erklärungen. Es war, als verschwände jedes Zeichen von ihr in der Luft. Sie konnte über nichts klagen, aber sie kam nicht aus der geheimnisvollen Isolierung heraus. Es blieb nichts übrig, als sich auf den Stolz zurückzuziehen und die Dinge mit Hochmut abzuwarten. Das war nicht immer leicht, wenn man die Vögel und die Wolken ansehn mußte. Zu ihrem Glück liebte die Wärterin sie ebenso umständlich wie tief. Sie hatte die Neigung eines ergebenen Haustiers zu ihr gefaßt und sie tat ihren Dienst unter Schmerzensausbrüchen über ihre schöne Gefangene. Wenn sie Granuella in schwachen Stunden zart und in Tränen aufgelöst fand, küßte sie ihr das Kleid wie einer Heiligen.

Nach einer Zeit von etwa zwei Monaten kam eine Kontrolle der Regierung in die Festung. Der Führer benahm sich äußerst seltsam, prallte an der kaum geöffneten Tür Granuellas, die schlief, zurück, hauchte den Atem scharf aus und verschloß die Tür rasch hinter sich. In dieses Zimmer trat er überhaupt nicht ein, ließ sich die Listen vorlegen, tobte durch die anderen Zellen, steckte drei Pförtner sofort in strengen Arrest, fluchte über die Unsauberkeit und ließ den Kommandeur kommen: „Pfui Teufel, Sie Schwein“, schrie er ihn an, „schreiben Sie Ihren Abschied“, und warf ihm ein Papier auf den Tisch und schlug die Reitpeitsche quer über das Blatt. Weiter äußerte er nichts, ließ einen seiner Leute als Kommandeur zurück und reiste ab. Nach zwei Tagen kam er nachts wieder zurück. Man sagte, er hätte den Berg selbst wie ein Rasender hinauf gelenkt. Er blieb da, ob in Urlaub ob in einer Mission war nicht klar. Täglich ging er mit entschlossenem Schritt bis an die Tür der Gefangenen. Es war um die Zeit, wo sich niemand auf den Gängen befand. Wenn er die Klinke fassen wollte, griff er höher, bis sein Arm senkrecht stand. Dann drehte er um, ließ den Arm herunterfallen und verschloß sich im Bureau, wo er Akten studierte.

Nach einiger Zeit ging in dem Augenblick, wo er anmarschierte, die Tür weit auf. Die Wärterin, die nicht in dem Zimmer zu sein hatte, warf sich ihm zu Füßen und bettelte, ob sie ihm einen Brief übergeben dürfe. Das war verboten und er schob sie mit einem Tritt bei Seite. Granuella sah in das Gesicht des Obersten Gagarin. Ihre Blicke, die aus dem Wolfshaß heraufkamen, hatten einige Zeit, sich ineinander zu verketten. Der Fürst war General geworden und noch tiefer ergraut. Sein Gesicht war marmorweiß und fast jung geblieben. Zugleich nahm sie in seinem Blick, der die schrankenlose Energie der Soldaten seiner Zeit hatte, die gleiche Energie eines schmerzlichen Zugs wahr, der eigentlich sein ganzes Gesicht nun erfüllte. Plötzlich griff er an die Schläfe, grüßte und begann zu sprechen: „Es ist meine Aufgabe, Ihre Angelegenheit zu prüfen und zu bedenken, welchen Wert Ihre Anwesenheit für meine Nation hier haben kann. Die Verantwortung darüber ist völlig in meine Hände gelegt, auch inwieweit man sich Ihrer als Geisel für zukünftige Fälle bedienen kann. Diese Verantwortung ist ungeheuer, da ich jeden Tag meines Lebens für das Wohl der Nation nur atme. Ich würde mich eher in den Kasematten auf meinen eigenen Befehl erdrosseln lassen, als daß ich nicht auch in diesem Falle lediglich für die Nation handelte. Sie werden begreifen, wie entsetzlich mir die unerwartete Aufgabe über Sie zu entschließen geworden ist.“ Sie sah in den Hof hinab, wo man aufgeregt hin und her lief und dachte nach, welche Vorbereitung zu welchen Schrecken das sein solle. „Es ist meine Pflicht, Ihnen diese Briefe zu übergeben, die eingelaufen sind.“ Er hielt sie ihr hin und da sie nicht zugriff, legte er sie auf den Tisch. Sie standen sich wieder gegenüber. Er rang mit etwas, hielt es aber zurück.

„Obwohl es nicht mein eigentliches Amt ist, habe ich Ihnen eine weitere Mitteilung zu machen.“ Es war offensichtlich, daß er sich trotz seiner eisigen Ruhe in tiefster Bewegung befand. Sie dachte, indem sie ihn mit halbgesenkten Lidern ansah: er hat meine Brüder erschossen. Möge Gott ihn bei der ersten Gelegenheit töten . . . und schloß die Augen. Er hob die Hand an sein Käppi und salutierte: „Ich bringe Ihnen die Nachricht Ihrer Freiheit, Baroneß.“ Sie sah ihn mit aufgerissenen Augen an. Sie glaubte, er wolle ihr Herz langsam martern. Es war klar, daß er noch etwas, worauf es ihm überhaupt ankam, im Hintergrund habe. Er sagte langsam: „Wenn Sie die Grenze nicht innerhalb fünf Stunden überschreiten, werden Sie heute Abend erschossen sein. Bis zur Grenze kann Sie mein Auto bringen. Eilen Sie sich, je eiliger, um so besser. Es geht um Ihr Leben. Später wird die Grenze geschlossen sein, da man Unruhen befürchtet. Ich werde in der Zwischenzeit einen Brief nach Warschau zu telephonieren haben, den ich, an Sie gerichtet, öffnen mußte. Noch einmal, beeilen Sie sich.“

Sie wurde totenfahl. Sie erkannte die Schriftzüge Leuchtenbergs. Es wurde ihr klar, daß der Mann ein furchtbares Spiel gegen sie vorhaben müsse. Er reichte ihr ungeöffnet das Schreiben. Sie öffnete es aber nicht, sondern legte es auf den Tisch zurück. In diesem Augenblick empfand sie, daß dieser Mensch sich in einem grauenvollen Zwiespalt wand. Er war so unglaublich, daß sie ihn kaum anzusehen wagte. Seine Augen bohrten sich förmlich in ihr Herz hinein. Es wäre dem Fürsten ein Leichtes gewesen, mit ihr als Angelhaken den Leuchtenberg heranzulocken, den er mehr haßte, als er hätte sagen können. Er hatte den Entschluß gefaßt, die Frau loszulassen, mit der er als Geisel seiner Karriere einen starken Dienst hätte tun können. In der Tat hatte er sich geschworen für das, was er seinem Edelmut nachgab, sich zu rächen und den Herzog sofort zu töten, wo er ihn erreichen konnte, wenn dessen Ankunft den Beginn neuer Schwierigkeiten in den Provinzen bedeutete. Das Mädchen begriff in der einen Sekunde alles und schlug die Hände vor das Gesicht. So schlich sie bis an die Tür. Als sie diese erreicht hatte, blieb sie einen Augenblick stehen. Fürst Gagarin salutierte noch immer, obwohl ihm der Hals bald sprang. Sie sah ihm auf die Zähne. Er sagte aber nichts mehr.

Da sie aber an die Hölle, die sie in ein paar Minuten durchlebt hatte, nicht mehr glauben konnte, als sie im Auto saß, sondern alles für einen Traum hielt, fragte sie den Chauffeur, der sie an die Grenze fuhr: „Höre, ist Dein Herr, der General, der Herzog von Leuchtenberg?“ Sie hatte sich nach vorn gebeugt, er konnte aber in der rasenden Fahrt nicht zurückschauen und sie mußte wiederholen und ihr Ohr weit nach vorne schieben. „Nein, Frau“, sagte er kopfschüttelnd, „es war nicht der Herzog von Leuchtenberg.“ Darauf fragte sie: „Und nun? War es Fürst Gagarin?“ Darauf erwiderte der Chauffeur, es wäre der General Gagarin gewesen. Mittlerweile kamen sie an die Grenze. Sie hielt den Brief noch in der Hand, sie hatte vergessen ihn zu öffnen. Sie erbrach ihn und erbleichte. Das Blut schoß ihr in die Schläfen. Als sie ausstieg, sandte sie durch den Chauffeur dem General, der ihre Brüder erschossen hatte, das Tuch, mit dem sie in Florenz ihrem ersten Geliebten gewinkt hatte. Sie hätte es in der nächsten Sekunde lieber mit den Zähnen zerrissen. Dieser Mann, dem sie das Tuch sandte, hatte keinen anderen Gedankten, als den Herzog von Leuchtenberg zu töten. Es kam jedoch anders, und Fürst Gagarin kam nicht in die Lage, dafür, daß er Granuella de Voß, die er wahnsinnig liebte, zu ihrem ersten Geliebten entweichen ließ, zum Schutz seines Landes und als Sühne für seine Tat den Herzog abzuschießen. Leuchtenberg kam nicht in die Provinz.

Das junge Mädchen traf eine Woche nachher Lady Douglas und reiste mit ihr Leuchtenberg entgegen nach Süden, wo man sich besser traf als in der Nähe fanatisierter Kugeln. Diese Reise war der Höhepunkt ihres Lebens. Dieses Glück hatte sie nicht für möglich gehalten. Sie mußte immer wieder innehalten und von vorne anfangen zu denken, weil die Vorstellungen sich ihr verwirrten. Zu manchen Zeiten wußte sie kaum, was sie sprach, und starrte mit erschreckten Augen um sich, wo sie sich überhaupt befinde. Diese Woche war so, als trete sie immer aus einem Traum, um für Sekunden Wahrnehmungen zu machen, worauf sie wieder in den Traum zurücksank. Ein Gefühl von so maßlosem Entrücktsein hatte sie ergriffen, daß vor dieser machtvollen Verzauberung Lady Douglas Beängstigung empfand. Es schien unfaßlich, wie diese völlige Verwandlung noch zu übertreffen, ja überhaupt je wieder ins einfache Leben zurückzuleiten sei. Das Gespenst einer ungeheueren Gefahr lebte in dieser Wonne alle acht Tage hindurch. Die Douglas hatte eine Schatulle mit Papieren bei sich, um die Eheschließung, wo auch immer sie sich träfen, sofort vornehmen zu lassen.

Sie begegneten sich in Triest. Der Herzog kam mit einer Art Janitscharenregiment auf einem eigenen Schiff. Die Kapellen spielten, Schüsse wurden abgefeuert und Signale gewechselt. Der Einzug hatte einen beinahe offiziellen Anstrich, da die Souveränitäten von Dutzenden neuer östlicher Staaten nie durchschaubar waren, solange die asiatischen Auseinandersetzungskämpfe mit den Bolschewiken dauerten. Der Herzog hatte offenbar ein kriegerisches und abenteuerliches Dasein zu Ende gebracht. Er hatte so wilde Sitten, daß die Douglas ihre ganze Autorität gebrauchte, ihn kein Aufsehen erregen zu lassen. Granuella war fast von Sinnen vor Aufgelöstheit. Sie sah nichts und hörte nichts. Offenbar wußte sie gar nicht, wo sie sich befand. In der Nacht raubte sie Leuchtenberg, nachdem er sie geschickt während einer kurzen Abwesenheit der Engländerin in den Garten geführt hatte.

Auf einem eigenen Motorboot, in das er Blumen hatte werfen lassen, fuhr er sie nach einer kleinen Insel. Zwischen einer Lichterkette gelangten sie zu einem Haus auf einem Hügel. Er trug sie mehr, als sie ging. Was Granuella in dieser Nacht erlebte, war das Süßeste und Unfaßbarste für sie. Sie spürte selbst, alles Spätere sei überflüssig. Am liebsten wäre sie nicht wieder erwacht. Sie erinnerte sich, daß ihre Jugendträume alle auf etwas hingingen, das sie noch nicht damals erfassen und erblicken konnte. Das war es. Es war nun da. Sie empfand eine Bestätigung heute für alles, was sie getan und unterlassen hatte in ihrem Leben. Sie mußte Leuchtenberg wie einen Gott empfunden haben, der sie besuchte. Bei diesen beiden Menschen schlug das Feuer ihrer Begeisterung und ihrer Liebe immer wieder zusammen, wenn sie sich die Nacht zurückriefen, wo er sie aus ihrem Kindheitshause holte. Baroneß Granuella de Voß war überzeugt, daß sie ihr Vaterland umarme, wenn sie ihre Mädchenarme zärtlich um ihren Geliebten schlang, und daß die Sehnsucht, um die sie Jahre hindurch in der Fremde gewandert und die sie grauenhaft durchlitten, ihr nun mit Dank in dem besten Mann ihrer glühenden Nation sich erfülle.

Am Morgen vermochte sie von der Adlernase dieses Mannes nicht mehr zu entdeckten als die ferne Spur seines Schiffes, das wie ein Hauch in dem Meerblau schwebte. Der Herzog hatte sich aus dem Hafen des Freistaats entfernt und das Schiff wieder südlich gesteuert, nachdem er einen diplomatischen Auftrag erledigt hatte. Gewiß war er nicht ohne etwas wie Gewissen, obwohl bei Männern in Frauensachen diese Tugend nicht viel mehr als eine angenehme Verlogenheit bedeutet, aber er war keineswegs der Mann, ein wildes und hartes männliches Leben für eine auf Jahre verlängerte Schäferszene hinzugeben. Und er hatte in der Tat, abgesehen davon, ob sein Ideal gewichtig oder erbärmlich sei, wahrhaftig die Empfindung, Träger und Bringer eines unsterblichen und nie wieder erreichbaren Glücks gewesen zu sein. Granuella starb um eines Haares Breite, als sie begriff. Sie hatte bis zum Mittag aufgerichtet im Bett allein am Fenster gesessen. Als die Douglas sich über sie beugte, sah sie diese einen Augenblick an. Die Engländerin, die sie den Tag mit großer Ängstlichkeit gesucht hatte, nickte. Granuella wurde weiß und fiel auf das Gesicht. Sie hatte lange mit dem Tod zu kämpfen, und Lady Douglas vermochte lange nicht, ihrem Nicken hinzuzufügen, daß sie diese ganze Sache vorausgesehen habe.

Granuella wurde in der Folge sehr schön. Man sah nur ihre Zähne nicht mehr. Früher hatte sie die Lippen stets leicht geöffnet getragen. Sie hatte weniger Gelegenheit nunmehr zu lächeln. Ihr Bruder war während ihrer Krankheit auf eine unaufgeklärte Weise gestorben. Sie reiste daher, als sie die Nachricht vom Tod ihres Vaters erhielt, zu seiner Beisetzung noch einmal nach Kowno. Wie der blonde Erzengel stand sie mit dem wollüstigen Madonnengesicht zwischen den Fahnen und Uniformen. Sie blieb allein am Grab vor einem wilden Haufen Blumenkränzen: „Das da unten ist der Mann, mit dem ich meine Jugend geduldet, gelitten, gehofft,“ dachte sie. „Das Leben war zu schwer für ihn und hat ihn zerbrochen. Habe ich ihm nicht Unrecht getan, daß ich ihm deshalb zu zürnen wagte? Hat er diesen Unsinn nicht einfach nur eher durchschaut wie ich?“ Sie griff sich an die Stirn und fühlte die Traube blonden Haars, die aus dem koketten Turbanhut und dem dicht unter dem Kinn geführten Schleier herausquoll. Sie sah die letzten Menschen um die Ecke des Friedhofgangs biegen. Sie hatten dieses Wrack, das schon vor Jahren aus Leidenschaft zum Geld die Sache der Nation verriet wie einen großen Führer begraben. Sie war toll verliebt in diesen Vater, weil er dem Leben unterlegen war, aber sie verachtete die Schreier, die ihre Phrasen über seinen armseligen Tod geschwungen hatten, als ob ein Heros für sie gefallen sei. „Man hätte dieses Volk nie versuchen sollen zu retten. Es wäre vielleicht zu seinem besten gewesen, wenn man es hätte rädern lassen,“ dachte sie. Etwas fehlte nunmehr in ihrem Gesicht, aber es war unbestimmt was. Sie ging bis dicht an das Grab heran, dann drehte sie um. Um Weihnachstag heiratete sie den General Gagarin.

Seinen Anweisungen und Wünschen verstand sie sich völlig anzuschließen. Er vergötterte diese Frau. Er sprach auch in Gesellschaft, wenn sie abwesend war, nur mit einer märchenhaften Verehrung von ihr. Sie selbst wohnte des öfteren mit ihm auf dem väterlichen Gut, das nun endgültig polnisch war. Die interalliierten Mächte hatten schließlich die Macht, die die Provinz halten konnte, sanktioniert. Sie war auch bei allen Anweisungen auf der Seite ihres Gatten, der in der rücksichtslosesten Weise vorging. Wenn man sie gefragt hätte, was sie dabei empfinde, hätte sie voraussichtlich mit der Duldung aber auch der Härte, die sie auszeichnete, auf die Verachtung gedeutet, die sie für jene baltischen Schwärmer empfand, die, ehemals deutschen Blutes, mit ritterlichen und unklaren Gesten ihr Leben verkämpften, das nichts als nebelhaften Inhalt hatte. Die Phrasen taten ihr zu jeder Stunde weh. Sie konnte Begeisterungen nicht mehr ertragen, da sie auf der Kehrseite die Dummheit sah. Sie stand auf dem Boden ihres Mannes und hielt für recht, daß er behielt, was er besaß und daß er besaß, was er zu halten vermochte. Sie hatte Gelegenheit, sich in alle Geistesrichtungen ihrer Zeit zu versenken, es ist nicht gesagt, daß sie das primitive und wohl etwas kindische Ideal ihres Gatten zu oberst stellte, auch wenn sie es billigte. Als Frau war sie allen Schwingungen des Geistes ihrer Epoche zugänglich und selbst den Geheimnissen offen, in deren Schoß die Erde sich auf furchtbare Zeichen neu ankündigt. Aber als Frau wiederum fühlte sie sich in der brutalen Gradheit ihres Mannes geborgen, darüber mochte die Welt zerspringen. Sie hielt nicht genügend von ihr, um in Ereiferung darüber zu geraten. So war es ihr gleich, daß man sie haßte, wo sie der besinnungslosen Liebe des Generals sicher war.

„Gehen Sie,“ sagte sie, als sie sich unwohl fühlte, zu dem General Fürst Gagarin, der den Vorzug hatte, ihr Gatte zu sein, „dieses Telegramm bestellen.“ Nach zwei Tagen rannte, den Krummsäbel in der Hand, um nicht zu stürzen, ein fast weißhaariger litauischer General die Treppe herauf. Er schien völlig verstört und irrte sich in den Zimmern. Plötzlich riß er einen Teppich zurück. Sie war schon tot. Neben ihrem Bett stand Gagarin. Er grüßte stumm und nahm von ihrem Gesicht das Tuch, das sie ihm als erste Sache geschenkt hatte. Der Mann, der ihre Brüder erschossen, reichte es St. Goar, an dem sie ein wenig mit der Zärtlichkeit ihrer Glutseele gehangen und der zu spät kam. Er hatte die Nachfolgeschaft des Herzogs nie antreten dürfen. Die Männer reichten sich die Hände in einem plötzlichen Liebesempfinden, das wunderbar in ihren Augen glühte. „Ich beschwöre Sie, mir zu gestatten, dieses auf ihre Brust zu legen“, sagte St. Goar, und legte die Fahne mit der Silberfaust und den drei roten Punkten nieder, mit der sie zum erstenmal ans Meer gefahren waren. Er ließ sie eine Sekunde liegen, dann nahm er sie zu sich.

Als er das Haus verließ, sanken überall die Standarten. St. Goar schritt ein wenig torkelnd aus. Jemand lief hinter ihm her. „Geben Sie mir die Fahne — ich beschwöre Sie“, sagte Gagarin. St. Goar holte sie aus der Tasche und gab sie ihm mit einem herzlichen Gefühl und tiefer Verneigung. Sie mußten denselben Gedanken gehabt haben, sie lächelten, als ob ihr Leben umsonst gewesen wäre ohne diesen Augenblick oder vielmehr, als ob die ungeheure Seligkeit dieser Vereinigung alles auslösche, was sie im Guten und Schlechten gegeneinander getan hatten und noch tun würden.

Die Straße schien leer. Es konnte aber St. Goar nicht entgehen, daß das Volk der Toten fluchte. Er schaute seine Hände an, die ihre Brust berührt hatten und wäre fast darüber für immer stehen geblieben. „Sie hat mich ein wenig geliebt“, dachte er. Er war der Ansicht, es sei das glühendste Geschenk, daß sie ihn zum Sterben nicht missen wollte. Er faßte das Tuch und preßte es gegen sein toll gewordenes Herz. Der alte General war fast närrisch vor Glück. Er bedurfte einer Menge Kraft sich zu fassen, da er mit Uniform, in der er Hals über Kopf herübergejagt war, auf fremdem Territorium sich befand, und seinen Wagen herbeizuwinken.