Title: Pipin: Ein Sommererlebnis
Author: Rosa Mayreder
Release date: July 10, 2020 [eBook #62601]
Most recently updated: October 18, 2024
Language: German
Credits: Produced by the Online Distributed Proofreading Team at
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made available by the HathiTrust Digital Library.)
Rosa Mayreder
Pipin
Von derselben Verfasserin sind bisher erschienen:
Aus meiner Jugend. Novellen. 1896.
Übergänge. Novellen. 1897.
Idole. Roman. 1899.
Ein Sommererlebnis
von
Rosa Mayreder
Leipzig 1903
Hermann Seemann Nachfolger
Alle Rechte vom Verleger vorbehalten.
Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig |
Neulich einmal waren wir in einer Gesellschaft mit dem Advokaten beisammen, der den Ehescheidungsprozeß Josef Balthasar Stöger's geführt hatte. Natürlich kam das Gespräch gleich auf diesen Fall. Denn in der Welt wurde gerade von nichts anderem geredet – das heißt, in einem jener vielen bürgerlichen Kreise, von denen jeder annimmt, daß er »die Welt« sei. Die Welt also war sehr beschäftigt mit Josef Balthasar Stöger's ehelichen Angelegenheiten. Er selbst hatte sich der Teilnahme wie der Neugier, allen bedauernden Händedrücken und indiskreten Blicken so bald als möglich entzogen und eine Reise um die Erde angetreten.
Man wußte ja längst, daß er von seiner Frau betrogen wurde; vom ersten Tag seiner Ehe an hatte niemand etwas Anderes erwartet. Es war alles gekommen, wie es kommen mußte, mit unfehlbarer Sicherheit und Notwendigkeit. Etwas von einem Naturgesetz lag darin, beinahe etwas Beruhigendes und Befriedigendes. Josef Balthasar Stöger war dazu geboren, betrogen zu werden. Jedermann hatte auch vorausgesetzt, daß er sich mit dieser Thatsache bei Zeiten abgefunden, sich ohne Widerstreben in das Unvermeidliche ergeben habe. Deshalb war an der ganzen Sache nur eines unverständlich: warum er versuchte, sich das Leben zu nehmen, als er an der Untreue seiner Frau nicht mehr zweifeln konnte. Er schoß sich eine Kugel in die Brust, wie um dieses thörichte Herz zu strafen, das ihn so sehr in die Irre geführt hatte. Aber die Kugel war mitleidiger als seine Frau; sie ging an seinem Herzen vorbei, und er mußte weiterleben in all dem Aufsehen, das die Entlarvung und Scheidung mit sich brachte.
Allerdings blieb es nicht unbekannt, daß nicht er es war, der diese Entlarvung herbeigeführt hatte. Seine Mutter und seine verheiratete Schwester, empört nicht minder über seine Langmut wie über das Treiben seiner Frau, waren die Regisseure. Sie hatten es, wie die Welt behauptete, geradezu darauf abgesehen, seine Frau so öffentlich als möglich bloßzustellen, damit er endlich genötigt wäre, Ordnung zu machen, und nicht länger versuchen könnte, die Augen zuzudrücken.
Ja, Josef Balthasar Stöger war ein lässiger Wächter seiner Ehre gewesen – darin lag seine Schuld. Die Untersuchungen der Welt, wie weit auch er für sein eheliches Mißgeschick verantwortlich sei, führten stets zu diesem Ergebnis. Und noch etwas fiel sehr zu seinen Ungunsten in die Wagschale. Er war ein lächerlicher Mensch. Wie konnte ein lächerlicher Mensch die Anmaßung haben, eine so schöne Person zu heiraten und zu glauben, daß er ihr als Mann genügen werde? Ein lächerlicher Mensch sollte niemals heiraten; man kann als Frau allenfalls einen launenhaften, einen treulosen, einen groben, einen tyrannischen Mann ertragen, nur einen lächerlichen nicht.
Als das Gespräch bei dieser These angelangt war, sagte der Advokat zu der Dame, die sie aufstellte:
»Verzeihen Sie, meine Gnädige, was wollen Sie damit sagen, daß er ein »lächerlicher Mensch« war? Worin bestand denn das Lächerliche an ihm, wenn ich fragen darf?«
»Das läßt sich nicht definieren. Alles an ihm war lächerlich; er hatte ein lächerliches Air; wenn er eine Bewegung machte, so sah er lächerlich aus, und wenn er etwas sagte, so bekam es gleich einen lächerlichen Anstrich – mit einem Wort, er war eben ein lächerlicher Mensch.«
»Merkwürdig! Ein Mensch von so grenzenloser Herzensgüte müßte doch eher etwas Sympathisches haben, namentlich für Frauen, sollte man meinen. Aber ich bemerke, daß es gerade die Frauen sind, die ihn lächerlich finden.«
»Herzensgüte! Was nennen Sie denn seine Herzensgüte? Er ist ein schwacher und bornierter Mensch, alles in allem; zuerst hatte ihn seine Frau am Gängelband und jetzt Mutter und Schwester –«
»Aber ganz und gar nicht, meine Gnädigste! Wenn es nach dem Willen seiner Angehörigen gegangen wäre, hätte er gegen seine Frau von aller Schärfe des Gesetzes Gebrauch machen müssen. – Wie die Dinge lagen, wäre er nicht verpflichtet gewesen, ihr auch nur einen Kreuzer auszusetzen. Und Sie wissen ja, daß seine Frau von Hause aus gänzlich unbemittelt war. Er aber hat, gegen den Willen seiner Angehörigen, wohlgemerkt, in der freigebigsten Weise für sie gesorgt, so freigebig, daß er sich selbst, trotz seines Reichtums, manche Einschränkung wird auferlegen müssen.«
»Das war sein Fehler von allem Anfang an«, sagte eine alte Dame stirnrunzelnd. »Er hätte seiner Frau von Anfang an den Herrn zeigen müssen, statt ihr in allen Dingen nachzugeben. Eine Frau, die sich nicht vor ihrem Manne fürchtet, wird sich immer allerhand erlauben, was schließlich auf Abwege führt.«
* * *
Während der letzten Jahre hatte ich Josef Balthasar Stöger allmählich aus den Augen verloren; und der unglückliche Ausgang seiner Ehe schien mir nicht der geeignete Anlaß, neuerdings mit ihm anzuknüpfen. Es wäre für ihn nur eine schmerzliche Mahnung gewesen, daß er seinen Weg nicht mit Glück gegangen war – eine doppelt schmerzliche Mahnung, weil auch ich seinerzeit zu denen gehörte, die ihn davon abzuhalten suchten.
Der Zufall wollte es, daß ich am Tage nach dem voranstehenden Gespräch einen Brief von ihm erhielt.
An Bord des »Cristoforo Colombo« 27. März 1900. |
Verehrte Frau!
Seit gestern Morgen bin ich auf dem hohen Meer. Die alte Welt ist hinter mir in den Ozean versunken – nichts mehr als Wasser und Himmel, so weit das Auge reicht. Ich mache keinen Versuch, von der Größe dieses Schauspiels zu reden; ich will nur sagen, daß ich jetzt erst den Mut finde – nein, Mut ist nicht das rechte Wort, denn ich brauche gar keinen Mut dazu, um Ihnen gegenüber, die Sie immer meine nachsichtsvolle Freundin waren, das Vergangene zu erwähnen. Also daß ich jetzt erst das Bedürfnis fühle, mich mit Ihnen in Verbindung zu setzen. Sie werden wohl denken: er ist halt auch so ein Undankbarer, der sich um seine alten Freunde nicht kümmert, bevor nicht das Unglück bei ihm eingekehrt ist. Aber sehen Sie, gerade, weil das Unglück hinter mir versunken ist wie die alte Welt, deshalb komme ich wieder zu Ihnen. Nicht das Leiden, nur das Unglück. Und bisher habe ich nicht gewußt, daß das zweierlei ist. Wie soll ich es Ihnen nur sagen? Mein Herz ist wieder voll Dank, voll Dank; und zugleich ist es doch tot, verdorrt wie eine Pflanze, die aus ihrem Erdreich ausgerissen worden ist. Dieser Vergleich paßt aber nicht; denn ich lebe ja wieder, ich lebe wieder innerlich, als ob ich ein anderes Erdreich gefunden hätte. Und das ist es, was ich Ihnen erzählen will.
Vor vier Tagen habe ich mich in Genua eingeschifft. Meine Mutter hat mich bis dahin begleitet; und ich weiß kaum, wie ich hingekommen bin. Ich ließ mit mir geschehen, was festgesetzt war; mein Schwager hatte das Reiseprogramm ausgearbeitet, Ankunft, Abfahrt, Ankunft, Abfahrt, alles zuverlässig nach dem letzten Eisenbahntarif. Ich sollte an die Riviera, in die belebtesten, elegantesten Orte, wo sich die Hautevolée von ganz Europa trifft und alle Tage ein anderes Fest ist. Zerstreuen sollte ich mich, niemals einen Augenblick mit mir allein sein, immer unter Menschen, immer im Gewühl, umgeben von heiteren sorglosen Gesichtern: Das hatten sie mir verordnet. Es war schrecklich. Der bloße Gedanke an die Unterhaltungen, die mir bevorstanden, raubte mir die Fassung. Da war freilich nicht viel zu rauben. Gefaßt – o Gott, ich war nicht gefaßt, ich war nur stumpf, nur müde, nur innerlich gestorben. Jeden Tag in der Frühe beim Aufwachen dachte ich mit Schaudern: ein ganzer Tag, ein ganzer, endloser Tag fängt wieder an! Wozu, wozu? Wozu geht ein unnützer, lebensuntauglicher, schiffbrüchiger Mensch mit einem falschfreundlichen Gesicht herum und will sich zerstreuen, und will thun, als hätte er noch etwas vom Leben zu erwarten? – Dann war ich nicht imstande, den Entschluß zu fassen, der dazu gehört, sich im Bett aufzusetzen, und blieb liegen wie ein Gelähmter, unfähig, ein Glied zu rühren, bis die Mutter den Kopf bei der Thür hereinsteckte und mit ihrer ängstlichen Stimme sagte: »Fehlt dir was, Pepi, weil du nicht aufstehst? Soll ich um einen Doktor schicken?«
So waren wir nach Genua gekommen, und so sollten wir am nächsten Morgen nach San Remo weiterfahren. Da hielt ich es nicht mehr aus. Ich stand auf, zog mich an und ging fort. Es war noch nicht Mitternacht. Der Hausknecht wollte eben das Thor zumachen; er grüßte mich mit einem einverstandenen Grinsen und trug sich als Führer an. Ich sagte, ich wüßte schon meinen Weg, und ging so rasch davon, als wüßte ich ihn wirklich. Das Meer ist aber in Genua nicht schwer zu finden; man kann es nicht verfehlen, wenn man nur immer bergab geht. Und als ich unten war, ging ich an der Küste fort, aus der Stadt hinaus. Da war ich endlich allein, nach allen diesen furchtbaren Wochen das erste Mal wieder allein!
Der abnehmende Mond stand über dem Meer; unten an den Felsen leuchtete die Brandung. Ihr gleichmäßiges Rauschen hatte etwas Besänftigendes, etwas Verlockendes. Man brauchte nur hinabzusteigen, zehn Schritte, fünfzehn Schritte – vielleicht glitt man in dieser schwachen Helligkeit aus und fiel hinab zwischen die Klippen, wo die Brandung rauschte. Dann wurde man hinausgetragen in das glänzende Meer – – – – – – – – – – – – –
Hatte ich denn noch ein Recht zu leben? Ich lebte ja gegen meinen Wunsch und Willen, nur aus einer Ungeschicklichkeit, weil ich auch hier nicht zu treffen verstanden hatte. Immer daneben zu greifen, immer das nicht zu sehen, was jeder andere sieht – unverbesserlich, unabänderlich, unheilbar dumm, das lag auf mir mit einer unerträglichen Gewißheit und erdrückte mich. Wenn irgend ein Mensch gewarnt worden war, wenn irgend ein Mensch die Möglichkeit gehabt hatte, seinem Unglück zu entgehen, so war ich es. Das war ja das unerträglich Demütigende, daß alle, die mich mit Güte oder mit Gewalt seinerzeit von meinem Willen abbringen wollten, recht behalten hatten, und ich mit meiner innerlichen Sicherheit, mit meinem Glauben und Vertrauen Unrecht!
Aber hier, in dieser ungeheuren Einsamkeit, hatte dieser Gedanke auf einmal seinen Stachel verloren. Auf einmal erschien er mir ganz gleichgültig. Er fiel von mir ab wie eine Kette, in der ein Glied aufgeht.
Und wie ich so saß und hinausstarrte auf den schimmernden Meeresspiegel, fühlte ich, daß eine Wandlung in mir vorging. Dieses ohnmächtige kleine Ich, dessen Nichtigkeit mich so elend machte, schien hinauszufließen in die weite Welt und wurde ein Teil von ihr; es gehörte zu ihr wie der Stein, auf dem ich saß, wie der Nachtwind, der in den Büschen säuselte, wie das Wasser, das da unten rauschte. Und aus dieser Weite kam es zu mir zurück als ein Geschenk der Natur, in das sie etwas von sich selbst hineingelegt hat, das Beste, was sie geben kann. Und jetzt schien es mir nicht mehr elend und gering. Und jetzt sah ich alles in einem anderen Licht. Etwas Neues kam über mich, das ich nicht ausdrücken kann, so ein Gefühl, daß alles, was sich ereignet hatte, notwendig und in sich unabänderlich war. Daß es für mich das Leben war, das zu mir gehörte, und daß kein anderes aus mir hervorgehen konnte, und daß ich es deshalb hinnehmen mußte, ohne zu mucksen, weil es eben das meinige war, wie ein Vater sein Kind hinnehmen muß, wenn auch andere Leute schönere, begabtere, glücklichere Kinder haben. Wenn mir jetzt die Macht gegeben worden wäre, diese sieben Jahre aus meinem Leben zu streichen, hätte ich es gethan? Wenn ich wieder dorthin gestellt worden wäre, wo ich vor sieben Jahren stand, hätte ich anders gehandelt? Nein, tausendmal nein!
Und da fiel die andere Kette von mir ab. Sobald alles in mir selbst beschlossen lag, dann brauchte ich auch kein Ankläger mehr zu sein, kein Richter und kein Rächer. Ich hatte der Welt die Ehre gegeben, das war ihr Recht – sollte ich für mich nicht die Liebe behalten dürfen? Die war mein Eigentum, innerlich, und alles äußerliche Geschehen hatte damit nichts zu schaffen. Die ganze Zeit her war ich in einer Art Verpflichtung zu Groll und Haß gesteckt wie in einem Panzer, hatte mir mit aller Gewalt weiß machen wollen, daß alles aus sei zwischen ihr und mir. Jetzt aber, ganz allein mit Himmel und Erde, wußte ich, daß sich in meinem Innern nichts geändert hatte, daß sich nie etwas ändern würde. Alles, was geschehen war, war nur an der Oberfläche geschehen, in der Tiefe blieb alles wie früher. Und sollte es bleiben. Vielleicht wird auch ihr das Leben eines Tages schwer und bitter sein, vielleicht wird ein Tag kommen, an dem sie Hilfe braucht – aber auch wenn dieser Tag niemals kommt! Für mich ist sie wieder, was sie früher für mich war, das schöne, herrliche, hohe Weib, das sie sein könnte, wenn es keine äußeren Einflüsse gäbe, denen sie unterliegt. Dieses Bild ihres wahren Wesens lebt in mir, untrennbar mit mir verbunden, dieses Bild bleibt mein eigen, ist mein für alle Zeit. Es war ein Schiff, das fuhr im Sonnenschein übers Meer; dann kam ein großer Sturm, und es ging unter. Niemals mehr wird es über das blaue Meer fahren. Aber unten auf dem Grunde liegt es still und unversehrt. Die stummen Fische betrachten es mit ihren großen runden Augen, und bunte Muscheln, schön wie Schmetterlinge, setzen sich darauf ...
Und während der Nachtwind von den blühenden Gärten Frühlingsgerüche an mir vorübertrug, während der Mond seinen Weg über den wolkenlosen Himmel vollendete, während die Brandung leise wurde, und das Meer glatt, schien es mir, als ob diese Meeresstille in mich hereinflösse und mich ausfüllte mit ihrer großen Ruhe und Herrlichkeit. Erinnerungen kamen und gingen; aber sie hatten nichts Peinigendes mehr. Ich dachte an eine andere Mondnacht; da spiegelte sich auch diese glänzende Scheibe in einer stillen Wasserfläche. Lachende glückliche Menschen standen herum und spielten mit glänzenden Gedanken. Erinnern Sie sich noch, gnädige Frau? Damals erzählte Dr. Kranich die Geschichte von der Mondfee und den schwarzen Schwänen, über die ich so lachte, weil ich keine Ahnung hatte, wie ominös sie war. Und Elmenreich machte daraus eine Geschichte vom fliegenden Holländer, die ich auch nicht ganz verstand. O diese nachträgliche Einsicht, daß man nichts von dem verstanden hat, was um einen vorging! Aber still! Das ist ja vorüber und abgethan. Mir ist jener Abend unvergeßlich geblieben, weil ich damals zum erstenmal in einer plötzlichen Eingebung fühlte, daß sich etwas Großes und Neues in mir zugetragen hatte. Es war kühl geworden, während wir da unten am Ufer standen und lachten; ich glaubte bemerkt zu haben, daß sie schauderte. Als ich ihr ihre Jacke brachte, sah sie mich mit einem so seltsamen Blick an; und dann – ich hielt ihr die Jacke zum Anziehen – dann lehnte sie sich einen Augenblick, einen ganz flüchtigen Augenblick lang an meine Schulter. Nein, niemals wird der Glanz, den dieser Augenblick in meine Seele goß, erlöschen! – – – – –
– – Die Zeit verging. Ich versank allmählich in einen Halbschlummer, ohne daß ich die Augen von dieser magischen, unendlichen Meeresfläche abwenden konnte. Alte Knabengeschichten, Knabenwünsche tauchten wie im Traume auf, die kühnen Robinsonaden, von denen man voll ist, wenn man die ersten Indianerbücher in die Hand bekommt. Vielleicht lag in meinen Knabenidealen ein richtiger Instinkt: es wäre doch besser für mich gewesen, ich wäre irgendwo am Orinoko oder Maranon Pflanzer geworden ... (Sie sehen, ich bin vor Rückfällen noch immer nicht sicher!)
Jedenfalls hat die seltsame Klarheit, mit der diese Gedankenwelt wieder vor mir aufstieg, das Kommende vorbereitet. Als ich nämlich in der ersten Morgendämmerung über den Hafen nach Hause ging, fiel mir ein großer Dampfer in die Augen, auf dem schon in dieser frühen Stunde ein geschäftiges Treiben herrschte. Ich redete einen vorüberkommenden Matrosen an: um acht Uhr ging das Schiff nach Rio de Janeiro ab. Und wie ein Blitz durchfuhr es mich: Da gehst du mit! Ich lief nach Hause; noch ganz außer Atem stürzte ich zur Mutter hinein, und sagte: Mutter, steh auf, packe meine Sachen; ich fahre heute um acht Uhr nach Rio de Janeiro. Die arme Frau glaubte im ersten Schrecken, ich hätte den Verstand verloren. Aber als sie sah, daß ich Ernst machte, und auch, daß ich voll froher Laune und ein verwandelter Mensch war, ergab sie sich leichter, als ich zu hoffen gewagt hatte, in meinen Entschluß.
Sie dürfen mir glauben, gnädige Frau: als die Ankerkette rasselte und die erste unbestimmte Bewegung durch das Schiff ging, da erfüllte mich ein so reines, ganzes Gefühl, wie ich es seit Jahren nicht mehr empfunden habe. Seit Jahren! Aber nichts mehr davon! Ich gehe in die neue Welt – nicht um ein neuer Mensch zu werden, sondern um mich mit dem alten in mir dauernd wieder vertragen zu lernen. Und so werde ich auch von der anderen Seite der Erde eines Tages – kann sein erst in vielen Jahren – wieder zurückkommen
als Ihr getreuer, unveränderlicher Pipin. |
* * *
Diese Zeilen riefen mir vergangene Zeiten lebhaft in die Erinnerung zurück. Sie waren der Anlaß, daß ich mich wieder mit Personen und Ereignissen zu beschäftigen begann, die inzwischen aus meinem Gesichtskreis entschwunden waren. Ich suchte alte Papiere hervor, Briefe, die ich in einer mehrmonatlichen Abwesenheit an meinen Mann geschrieben hatte, Tagebücher, in denen ich manches aufgezeichnet hatte, was mir aus besonderen Gründen damals nahe ging. Damals stand allerdings für mich nicht Josef Balthasar Stöger im Vordergrund.
Jetzt widme ich ihm diese Blätter. Ich habe sie in ihrer ursprünglichen Gestalt gelassen, ohne Ergänzungen hinzuzufügen, obwohl sie nur eine sehr lückenhafte Chronik seines Geschickes bilden.
Denn was erfährt man von dem Geschicke derjenigen, die neben uns leben? Irgend etwas ereignet sich; aber es ist nicht das Gleiche für alle, die dabei sind. Jeder handelt nach seinen verborgenen Gründen, geht nach seinem heimlichen Ziele, und der Zuschauer deutet die äußeren Zeichen. Die innere Seite des Geschehens bleibt unsichtbar und unmitteilbar; sie muß erraten werden, wie man ein Rätsel löst. Darin liegt eine Gefahr des Lebens, aber auch ein Zauber. Wer das erfahren hat, wird es vorziehen, wenn der Zuschauer sich nicht in einen Erzähler verwandelt.
Elmenreich: »Eine herrliche Gegend? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, gnädige Frau? Gebirge ist das Unerträglichste, was es auf der Welt giebt! Und gar ein solches Gebirge wie hier! Diese Berge ohne Größe der Linien, einer vor den anderen getürmt – eine zwecklose Einengung des Horizontes, weiter nichts. Der Teufel soll mich holen, wenn ich jemals künftig wo anders Erholung suche als am Meer. Der Anblick des Meeres, das ist es, was man braucht; etwas Ungeheures, an das der Mensch nicht herankann, etwas ganz Großes, ganz Wildes, ganz Ungebändigtes, vor dem man den erbärmlichen Schnickschnack der Kultur vergißt. Nichts sehen als Wasser und Himmel, nichts hören als das Rauschen der Brandung, die das Denken einschläfert, dieses gottverdammte Denken, an dem man vor der Zeit alt und hinfällig wird und unbrauchbar für alle guten und gesunden Dinge des Lebens.
Hingegen das Gebirge – pfui Teufel! In den Thälern herumbummeln, auf diesen braven, wohlgeebneten, kiesbestreuten Promenadewegen, wo man dem Regierungsrat Müller und dem Hofrat Mayer und allen übrigen Mayer und Müller der Welt begegnet, während einem die Berge vor der Nase stehen wie zum Hohn! Dort oben die Freiheit, die Einsamkeit, die Größe! Wer aber kann denn jeden Tag auf einen solchen einsamen Gipfel klettern, von dem man drei Tage lang den Knieschnapper behält, nachdem man wieder unten ist? Und dann einsame Gipfel, schon gut! Nicht einmal die halten sich mehr frei von den lästigen sozialen Wesen, von denen die Thäler bewimmelt sind. Das Bergsteigen ist so recht die Erfindung eines banausischen Zeitalters, das nichts Hohes unangetastet lassen kann, eine Erfindung für Alpenvereinsmitglieder, die in der Natur nur die markierten Wege suchen. Einstmals wohnten auf den Bergesgipfeln die Götter; heute – Gott steh uns bei! Giebt es denn noch eine Höhe ohne Schutzhütte und Touristen? Und gar die Zahnradbahnen! Empörend, diese gemästeten Kommerzienräte, vor denen man auch 2000 Meter über dem Meere nicht mehr sicher ist! Das ganze deutsche Flachland hat man jetzt bei uns in den Bergen auf dem Halse! Unlängst, bei einem Ausflug nach Sankt Wolfgang – dieser ehemals so reizende Ort, man möchte blutige Thränen weinen –«
Der Hotel-Omnibus klapperte und rasselte, während wir durch die schlechtgepflasterten Straßen des Marktes fuhren. Elmenreich mußte schreien, um sich verständlich zu machen. Er bemerkte nicht, daß er mir eine unangenehme Enttäuschung bereitete, indem er gleich bei meiner Ankunft die Gegend heruntermachte, die er mir noch drei Wochen früher so lebhaft angepriesen hatte.
Als wir uns nach einer halbstündigen Fahrt wieder einem Orte näherten, grüßte Elmenreich jeden dritten Menschen. Er schien sämtliche Sommergäste zu kennen. Jemand sprang sogar für einen Augenblick auf den Wagentritt und rief herein: »Heute um 5 Uhr Rendezvous auf der Seewiese; Sie sind doch dabei, Herr Doktor?«
Dann sah ich eine jugendliche Männergestalt, ganz in weißen Flanell gekleidet, die Straße kreuzen. Eine blaubunte Schärpe leuchtete für einen Augenblick unter dem weißen Rock hervor. Und auch der wiegende Gang mit den kurzen Schritten war nicht zu verkennen, obwohl mir die Gestalt gleich wieder aus dem Gesichte verschwand.
»Wenn ich nicht wüßte, daß es unmöglich ist, möchte ich schwören, daß eben – Graf Hermosa vorübergegangen ist«, sagte ich, ungewiß, ob nicht Elmenreich schon bei dem bloßen Namen außer sich geraten würde.
Ohne sonderliche Gemütsbewegung versetzte er in seinem gewohnten ärgerlichen Tonfall:
»Natürlich ist er vorübergegangen! Er treibt sich ja den ganzen Tag hier auf der Straße herum.«
»Wie? Graf Hermosa ist wirklich hier?«
»Warum sind Sie so verwundert darüber, gnädige Frau?«
»Ja aber – begegnen Sie ihm da nicht zuweilen?«
»Zuweilen? Täglich, stündlich, jeden Augenblick.«
»Und – und weicht er Ihnen dann aus? Oder grüßen Sie einander?«
»Warum sollen wir uns denn nicht grüßen? Wir speisen doch mittags und abends an demselben Tisch!«
Elmenreich ärgerte sich über meine Verwunderung.
»Sie halten dergleichen Menschen für zu wichtig, gnädige Frau«, sagte er geringschätzig. »Der gute Graf ist nicht bedeutend genug, als daß man dauernd mit ihm in Feindschaft leben könnte. Man muß solche Leute als das nehmen, was sie sind – als einen Stoff zur Unterhaltung. Im Grunde habe ich ihn nie für etwas anderes gehalten.«
»Aber Elmenreich! Wenn Sie jetzt behaupten wollen, daß Sie den Grafen nie ernst genommen haben!«
»Also meinetwegen: früher habe ich mich wohlwollend mit ihm unterhalten – und jetzt habe ich das Wohlwollen gestrichen. Aus der Welt schaffen kann ich ihn nicht, so lasse ich ihn eben mitlaufen.«
* * *
(Aus einem Briefe an meinen Mann.)
2. Juli 1893.
... denn in einen Kurort geschickt werden, hat immer etwas von einer Verbannung. Man wird herausgerissen aus der natürlichen Lebensform und in eine künstliche verpflanzt, in welcher der Müßiggang regiert. Man fühlt sich ausgeschaltet, unnütz, überflüssig.
Und daß ich hier ohne dich ausharren muß, macht das Gefühl des Verbanntseins noch lebhafter. Ohne dich nimmt das Leben für mich eine seltsame Kälte und Fremdheit an; es ist, als ob es alle Wärme und alles Licht von dir empfinge. Die Menschen und Dinge gleiten an mir vorbei, aber sie nähern sich mir nicht. Und so werde ich hier allein herumgehen und darüber nachdenken, wie öde die Welt ist ohne diese göttliche Zuflucht einer geliebten Seele. Ich werde allein herumgehen unter lauter Fremden, die da neben mir hinleben mit undurchdringlichen Stirnen wie mit geschlossenen Visieren, gleichgültig, höflich, nur mit sich selbst beschäftigt –.
Aber du hast recht: ich bin undankbar. Ich vergesse, daß Elmenreich da ist.
Ja, Elmenreich ist da. Er erwartete mich auf dem Bahnhof, als ich ankam; er hatte ein Bouquet Alpenrosen mitgebracht, um es mir zu überreichen. Ich glaube, daß er sich sogar über meine Ankunft freute. Und das Gesicht eines Freundes an einem fremden Orte ist auf alle Fälle ein lieber Empfang. Aber – je nun, Elmenreich ist der Mensch des Aber. Ich glaube fast, daß er es gewesen ist, der mich auf den Gedanken an die undurchdringlichen Stirnen und die geschlossenen Visiere brachte. Das scheint ihm gegenüber nicht am Platze zu sein; redet er denn nicht so viel, teilt er nicht alles mit, was ihm durch den Kopf geht –? Aber gerade sein vieles Reden macht ihn unerkennbar, kommt mir vor. Zum mindesten erscheint er mir in dieser fremden Umgebung nicht wie ein Altbekannter, wie ein Freund. Ich weiß nicht, warum: ich hatte auf einmal den Eindruck, als sei er ein anderer. Bei uns zu Hause, auf seinem gewohnten Platz, mit uns allein, ist er mir etwas Vertrautes, zu uns Gehöriges gewesen; hier fühlte ich plötzlich, wie wenig man einen Menschen kennt, den man immer nur in einer Situation gesehen hat ...
* * *
Elmenreich begleitet mich auf meinem vorgeschriebenen Morgenspaziergang, obwohl er selbst nicht zum Kurgebrauch hier ist. Ich verstehe nicht ganz, warum er sich hier aufhält. Hört man ihn, so gewinnt man den Eindruck, daß ihm hier nichts behagt, am wenigsten die vielen Menschen, mit denen er fortwährend in Berührung kommt.
»Fremde Menschen – was für eine Plage! Sich selbst wieder in Szene setzen müssen! Sich aufspielen müssen vor diesen gleichgültigen Augen, deren Blick immer an der Oberfläche haften bleibt! Und dazu das Befremden über das wunderliche Wesen, das aus der stillen Intimität des eigenen Innern herausgestiegen kommt! Wie angenehm haben es doch die Leute, die sich immer so wohl fühlen in der eigenen Haut, daß sie niemals auf den Gedanken kommen, was für ein erstaunliches und rätselhaftes Ding dieses Ich im Grunde doch ist, dieses Ich, das da in unserem Körper agiert wie ein schlechter Schauspieler. Zu denken, daß es Menschen giebt, die noch nicht auseinandergefallen sind in Zuschauer und Schauspieler! Die immer ganz bei sich zu Hause sind, sich ganz identifizieren mit dem Spiritus familiaris, der die Maschine in Bewegung setzt. Weiß der Teufel: was mich betrifft, mein Zuschauer zischt seinen Schauspieler gewöhnlich aus. Er ist gewöhnlich nicht erbaut über das Auftreten dieses mittelmäßigen Künstlers. Und doch ergreift er, wenn's darauf ankommt, für ihn Partei gegen das Publikum in der Außenwelt, das ihn aus der Stimmung bringt. Uff! Wenn der Mechanismus des Innenlebens so kompliziert geworden ist, sollte man sich nicht mehr den Berührungen aussetzen, die mit der Geselligkeit verbunden sind. Man erleidet zu viele Störungen. Und man braucht einen unverhältnismäßigen Aufwand von Kraft, um sich wieder ins Gleichgewicht zu setzen ...«
Wir waren eine Stunde oder länger auf einem einsamen Waldweg gegangen; als wir auf den Promenadeweg einlenkten, kamen gerade die Kurgäste von ihrer Morgentour zurück. Es wimmelte nur so von Menschen. Und Elmenreich kannte jedermann, begrüßte jedermann, blieb mit jedermann fünf Minuten beisammen stehen.
»Diese vielen Begegnungen sind Ihnen gewiß lästig«, sagte ich. »Könnten wir nicht einen anderen Weg einschlagen?«
Man braucht hier bloß hundert Schritt abseits zu gehen, auf einen der Wege, die der Verschönerungsverein nicht in Stand hält, und man ist ganz allein.
Aber Elmenreich überhörte meine Bemerkung. Er schien sich in dieser Gesellschaft ganz wohl zu fühlen.
»Nur eines bitt' ich Sie, Elmenreich: stellen Sie mir nicht alle Ihre hiesigen Bekannten vor, wenn wir ihnen begegnen!«
»Das geht doch nicht anders«, antwortet er erstaunt. »Was würden sonst die Leute denken?«
»Nun, Sie könnten ja Ihren Bekannten nachträglich sagen, daß ich menschenscheu bin oder dergleichen –«
Das versetzte ihn in Heiterkeit:
»Sie und menschenscheu! Niemand paßt besser für den Umgang mit Menschen als Sie! Sie besitzen die Gabe des Zuhörens – und im Grunde verlangt jeder zu allererst von seinen Mitmenschen, daß sie hören, was er zu sagen hat. Jeder will selber reden, keiner will zuhören. Deshalb ist ein aufmerksamer und teilnahmsvoller Zuhörer der geeignetste Gesellschafter. In diesem Punkte werden Sie nur von einer einzigen Person übertroffen, die ich kenne, und das ist Pipin.«
»Pipin? Wer ist Pipin?«
»Pipin – mna, Pipin ist Pipin. Gegenwärtig befindet er sich auf einer Bergtour mit Dr. Kranich. Wenn er zurückkommt, werde ich ihn Ihnen vorstellen – außer Sie bestehen darauf, daß ich Sie mit niemandem mehr bekannt mache –?«
* * *
Die Messe war aus. Ein Strom von Menschen ergoß sich ins Freie, Einheimische und Sommergäste durcheinander. Unter diesen größtenteils Damen, aber auch eine kleine Anzahl älterer Herren.
Elmenreich lehnte sich an das eiserne Geländer, das die Umgebung der Kirche von der höhergelegenen Fahrstraße trennt, und sah hinunter.
»Da kommen sie alle, die Sonntagsreiter des Glaubens«, sagte er verächtlich, »alle, die sich's mit dem lieben Gott nicht verderben wollen, für den Fall, daß er wider Erwarten doch da sein sollte. So machen sie ihm jeden Sonntag wenigstens eine Anstandsvisite, wenn sie sich schon die übrige Woche nicht um ihn kümmern. Mich wundert nur, daß diese Männer sich nicht schämen, mitten unter den Weibern einherzumarschieren –«
Da sagte hinter uns eine helle, übermütige Stimme in einem spöttisch wohlwollenden Ton: »Warum wundern Sie sich darüber, Elmenreich? In Amerika ist das nichts Ungewöhnliches. Dort gehört das Kirchengehen durchaus nicht bloß zum cant der Frauen.«
Als ich mich umwandte, sah ich zwei Reihen wundervoller weißer Zähne, die aus einem lachenden Mund blendend hervorblitzten. Diese Zähne beherrschten das ganze Gesicht; ich hatte fürs erste keinen anderen Eindruck als ein phänomenales Gebiß.
Elmenreich sagte halb über die Achsel: »Haben es denn dort die Leute auch notwendig?«
»Warum haben es die Leute hier notwendig, nach Ihrer Meinung?« versetzte das phänomenale Gebiß.
»Nun, es giebt bei uns gewisse Esel, die eine Löwenhaut tragen, und es daher als ihre Pflicht betrachten, »mit gutem Beispiel voranzugehen«, oder auch Wölfe, die es für ihr weiteres Fortkommen zuträglich halten, wenn sie sich einen Schafpelz umhängen, oder auch Schweine, die sich in den Geruch der Frömmigkeit bringen wollen, um sich für höherstehende Nasen angenehm zu parfümieren –«
»Gott wie witzig! Strengen Sie sich nicht so an, Elmenreich! Sie leben noch in dem Glauben, daß der höhere Mensch geistreich sein muß. Wissen Sie nicht, daß der Witz längst aus der Mode ist? Daß es nichts Altmodischeres giebt als das Geistreichsein?«
»Wodurch zeichnet sich denn gegenwärtig der höhere Mensch aus – nach Ihrer Meinung?«
»Durch sein Herz!«
Elmenreich wandte sich mit einem Ruck nach dem phänomenalen Gebiß um. »Wie? Durch sein Herz? Was ist das Neues? Seit wann sind Sie auf das Herz verfallen?«
»Ich suche nur mehr Menschen von Herz. Gedanken sind überflüssig und unangenehm; Gefühl ist das Einzige, was das Leben erträglich macht. Ich bin für die schönen Gefühle; alles andere lehne ich gegenwärtig ab.«
Elmenreich lachte höhnisch und sagte zu mir gewendet laut: »Dieser Doktor Kranich hat immer geniale Einfälle! Es ist ja unendlich wohlfeiler, auf Gefühle zu posieren als auf Gedanken. Gedanken muß man mindestens irgendwo gelesen haben, während man Gefühle ohne weiteres aus Eigenem bestreiten kann –«
Obwohl Dr. Kranich hierauf ein jauchzendes Lachen ausstieß und sich vor Vergnügen auf den Zehenspitzen schaukelte, fand ich es nicht ganz behaglich, so als Schallwand für Elmenreichs Glossen zu dienen.
»Das ist Dr. Kranich?« fragte ich, um das Gespräch abzubrechen. »Da muß also auch Pipin wieder hier sein?«
»Oh meine Gnädigste – I beg your pardon, Elmenreich hätte mich wohl vorstellen können –«
»Die gnädige Frau ist menschenscheu, man darf ihr niemanden vorstellen«, brummte Elmenreich.
Daraufhin blieb mir nichts übrig, als in Dr. Kranichs Gelächter einzustimmen. Ich bemerkte, daß über seinen herrlichen Zähnen zwei schwarze, stechende Augen funkelten, die durchaus nicht mitlachten.
»Was aber Pipin betrifft, meine Gnädigste, so muß ich bemerken, daß wir beide keineswegs inséparables sind, wie Sie anzunehmen scheinen –«
»Na, lieber Arthur, wenn Sie wirklich die Menschen nach dem Herzen taxieren, dann können Sie sich nur eine Ehre daraus machen, mit Pipin in einem Atem genannt zu werden.«
Dr. Kranich jauchzte wieder laut auf.
»Unbezahlbar, dieser Elmenreich!« sagte er wie überwältigt vor Vergnügen. »Ist er nicht amüsant, gnädige Frau? Was für eine himmlische Grobheit! Darin ist er unübertrefflich, unnachahmlich! Ich kenne auf beiden Hemisphären keinen Menschen, der ihm darin gleich käme. Aber Sie haben recht, Elmenreich: ich sollte in Pipins Gesellschaft mein Herz zu bilden suchen. Und ich will gleich den Anfang damit machen.«
Er lüftete den Hut und schwang sich mit behenden Sätzen die Stufen hinab, die zur Kirche führten. Etwas Mutwilliges, Selbstbewußtes, Ueberlegenes war in seinen Bewegungen, wie er so hinuntersprang. Seine Gestalt war schlank und biegsam; der schwarzblaue Stoff seiner enganliegenden Kniehosen zeichnete in knappen Falten langgestreckte, elegante Glieder. Er erinnerte an eine jener königlichen Katzen des Südens, die eben so schön sind als gefährlich, an einen schwarzen Panther, der wohl gezähmt ist, vor dem man aber doch auf der Hut bleiben muß.
Unter der Kirchenthür erschienen eben so ziemlich als die Letzten eine auffallend schöne junge Dame und an ihrer Seite ein unbedeutend aussehender, ganz junger Mann, mit einem blonden Backenbärtchen, das wie der Flaum eines eben ausgekrochenen Küchleins war. Hinter ihnen tauchte noch eine Uniform mit goldenem Kragen und ein bunter Blumenhut von ansehnlichem Umfang auf.
Elmenreich wandte sich ab. »Gehen wir, bevor sich diese ganze Gesellschaft uns an die Fersen hängt«, sagte er finster.
* * *
(Aus einem Briefe.)
6. Juli 1893.
... Es ist wirklich etwas Unsympathisches in dieser Gegend. Lauter Veduten. Man kann keine halbe Stunde unterwegs sein, ohne daß man auf einen »Punkt« gerät. Und dann steht immer in breitspuriger Gegenständlichkeit ein mehr oder weniger schneebedeckter Berg da, der nichts neben sich aufkommen läßt. Die Natur hat hier ihre Ruhe und Unbefangenheit verloren. Sie gewährt der Seele keinen Raum. Sie ist keine Zuhörerin, sie will immer selber reden. Noch mehr, sie will immer angestaunt werden. Und sie ist durch den Menschen noch ausdrücklich hergerichtet für das Angestauntwerden.
Es giebt hier schauerliche Felsenkessel, in denen verwitterte Trümmer übereinandergehäuft sind, ungeheure Wände, die senkrecht herabstürzen, furchtbare Schluchten, wo eisgrüne Wässer in der Tiefe brausen – aber alle diese Schrecknisse sind unschädlich gemacht durch Geländer, Stege, Brücken, Wegweiser. Man glaubt sich in einer weltverlorenen Einsamkeit, aber plötzlich erblickt man eine Bank mit der unvermeidlichen Inschrift: »errichtet vom Verschönerungsverein«. Das erweckt eine verdrießliche Vorstellung, als wäre einem immer jemand auf den Fersen, als gäbe es keine Stelle mehr, wo man wirklich mit sich allein sein kann.
Und dazu die Kurgäste, diese Parasiten der Natur! Sie stören und verderben sie, sie gehören nicht zu ihr. Der Stil einer Landschaft ist vernichtet, wo die erste Villa steht. Die Villa, das ist die architektonische Verkündigung eines platten und stimmungslosen Lebens, in dem das Vergnügen die Herrschaft führt. Man braucht bloß eine Villa und ein Bauernhaus zu vergleichen, um als Mensch der Stadt etwas wie Beschämung vor den Bauern zu empfinden. Ihnen hat die Natur ihren Ernst und ihre Einfalt aufgeprägt, die harte Selbstverständlichkeit mit der sich das Leben vollzieht. Sie haben noch Stil in ihrer Erscheinung wie in ihren Wohnstätten; man sieht ihnen an, sie leben mit der Natur in einer wirklichen Ehe, die nicht zum Vergnügen der Einzelnen gemacht ist, die man nicht aufheben kann, sobald die Zeiten schlecht werden, in jener strengen und unauflöslichen Ehe, bei der es um Leben und Tod geht, in der man ausharren muß, auch wenn der unerbittliche furchtbare Winter anbricht.
Abseits von allen Punkten und Veduten habe ich eine Stelle gefunden, die nur mir allein bekannt ist – außer den Einheimischen, die nicht zählen. Kein Promenadenweg führt hin, keine Marke bezeichnet die Richtung. Es ist eine Wiese tief im Wald; ringsherum sieht man nur die schwarzen Wipfel der Fichten und darüber den Himmel. Kein Berg, keine Felsenzacken, nichts, was sich aufdrängt, was mitreden will. Eine kleine Blockhütte, in der ein Rest vergilbten Heues vom vorigen Jahre liegt, steht auf der Wiese und am Waldrand gegenüber eine helle, hohe Buche. Mitten unter lauter Fichten eine einzige Buche. Zu ihren Füßen liegt ein großer grauer Stein. Jemand, der lange tot ist, hat einmal die Buche zu dem großen grauen Stein gepflanzt. Aus irgend einem Grunde, den niemand mehr weiß. Aber die Buche und der Stein denken in der Stille daran. Ich liebe die Buche und den grauen Stein wie gute Gefährten, die stumm bleiben, wenn sie sehen, daß man seinen Gedanken nachhängen will ...
* * *
Seit sechsunddreißig Stunden gießt es in Strömen. Das Thermometer zeigt sieben Grad Reaumur. Es ist um elf Uhr vormittags so finster in dem langen Speisesaal, daß die Petroleumlampen angezündet werden müssen. Nun herrscht ein peinliches Zwielicht; alle diese gelangweilten Gesichter sind halb blau, halb gelb, sie werden aber nicht interessanter dadurch. Noch weniger die weiblichen Handarbeiten, die das Regenwetter aus Koffern, Schachteln und Körben herausgetrieben hat. Eine ganze Armee von Kreuzelstichen ist längs den Tischen aufgepflanzt; sie eröffnen eine beängstigende Perspektive auf bürgerliche Wohnungen mit Schutzdecken und Tischläufern und Salongarnituren samt den dazu gehörigen Kaffeegesellschaften und Visiten.
Ein Aechzen und Stöhnen der Langeweile kommt von allen Tischen, an denen nicht Karten gespielt wird.
Elmenreich: »Da sitzen wir also einmal in den Wolken! Aber die Wolken sind Gegenden, die man nur aus der Ferne genießen kann ... Hol mich Gott! Auch die Menschen gehören zu jenen Gegenden, die man nur aus der Ferne genießen kann. Giebt es etwas Deprimierenderes als zweihundert Menschen auf einem Fleck beisammen? Nicht ohne Grund sind alle großen Menschenfreunde, die Heiligen, Propheten und Erlöser, in die Wüste gegangen. Hätten sie denn nicht zusammengesperrt mit zweihundert Exemplaren der Spezies Mensch, alle Neigung zu ihrem Werke verlieren müssen?«
Am Tische nebenan sitzen zwei ältere Herren.
»Ich muß sagen, ich schlafe hier wie eine Kanone. Von zehn bis sieben in einem Zug ohne Aufwachen –«
»Bei mir will es noch immer nicht kommen. Alle zwei Stunden bin ich wach, und von vier Uhr ab geht es überhaupt nicht mehr –«
»Und dieser Appetit! Ich kann meinen Kaffee schon beim Aufstehen kaum erwarten.«
»Das könnte ich leider nicht behaupten. Und gar heute! Ich glaube, der Kalbsbraten mit Rahmsauce gestern abends hat mir geschadet. Solche Gasthaussaucen sind immer verdächtig.«
»Ja, man hat gleich einen verdorbenen Magen!«
»Und ich besonders. Ich vertrage nun einmal keine Veränderung in meiner gewohnten Kost.«
»Wissen Sie, was ich mache, wenn ich einen verdorbenen Magen habe?«
»O da habe ich auch ein ausgezeichnetes Mittel –«
Elmenreich stand geräuschvoll auf und stieß seinen Stuhl zurück. »Jetzt kommen die Hausmittel an die Reihe. Da will ich doch lieber einen Spaziergang im Regen machen. Gehen Sie mit, Arthur?«
Dr. Kranich rauchte friedlich seine Zigarette daneben: »Warum denn? Diese lieben kleinen Philistergespräche sind doch so nett. Man denkt dabei so angenehm an nichts. Sie haben etwas Stimmungsvolles wie die Erinnerungen an die Kindheit; sie bleiben sich immer gleich wie alle guten Dinge auf der Welt.«
»Doktor Kranich, Panegyriker der Idiotik! Aber das ist Geschmackssache. Ganz wie Sie wollen; ich gehe.«
An der Thür begegnete er zwei Ankommenden. Es war das schöne Mädchen und die Uniform mit dem goldenen Kragen. Als diese Beiden herankamen, stieß der Besitzer des verdorbenen Magens einen Ruf der Erleichterung aus.
»Ah, da sind Sie endlich, Herr Oberst! Wir warten schon mit Schmerzen auf Sie. Bei diesem verzweifelten Wetter weiß man ja gar nicht, wie man die Zeit totschlagen soll, wenn man nicht seine Partie Tarock hat.«
Der Oberst grüßte ziemlich unterthänig; er gestand nach gewissenhafter Vergleichung der Taschenuhren eine Verspätung von zehn Minuten zu und entschuldigte sich umständlich. Eugenie habe durchaus mitgehen wollen; aber Frauenzimmer und Pünktlichkeit –! Deshalb sollte ein Soldat von Rechtswegen niemals heiraten; eine Frau und eine erwachsene Tochter, das belade einen Soldaten mit zu vielen weiblichen Ansprüchen –
Er schien unversehens die Tarockpartie mit einer Schlacht zu verwechseln und redete sich in Eifer.
Der Besitzer des verdorbenen Magens wandte sich mit einem galanten Lächeln gegen die Tochter. Einer so schönen Sünderin sei ja doch im Voraus alles verziehen; wer würde da nicht sofort die Waffen strecken –?
Dame Eugenie stand unnahbar; sie antwortete weder auf die Vorwürfe, noch auf das Kompliment mit der geringsten Veränderung ihrer Miene.
Indessen legte sich Dr. Kranich ins Mittel und nahm dem ungestümen Soldaten die weitere Sorge für seine weibliche Bürde ab, indem er ihr, nicht ohne korrekt um meine Erlaubnis gebeten zu haben, einen Platz an unserem Tische anbot. Und dann begann er mit ihr ein Gespräch über Toiletten und Frisuren, in Ausdrücken und Wendungen, als ob er selbst eine Dame oder ein Schneider wäre. Er kritisierte ihren Anzug vom Kopf bis zu den Füßen, lobte und tadelte mit Kennermiene. Durch eine geschickte Handbewegung lüpfte er sogar den Saum ihres Rockes, um die »dessous« zu prüfen.
Sie ließ alles gleichgiltig geschehen. Mit gesenkten Augen gab sie kurze einsilbige Antworten; wenn sie ihre Augenlider einmal aufschlug – langsam und müde, als ob das Gewicht dieser dunklen, langen Wimpern nicht zu heben wäre – so that sie es, um einen Blick in die Richtung der Eingangsthüre zu werfen. Sie schien zerstreut und unruhig; sie hörte nur mit halbem Ohre zu, kam mir vor.
Es konnte noch keine Viertelstunde vergangen sein, als sich die Thür öffnete und Elmenreich wieder eintrat.
»Unerträglich, dieses Wetter«, sagte er und schüttelte die Tropfen von seinem Wettermantel. »Keine Möglichkeit, eine Viertelstunde Luft zu schnappen, ohne bis auf die Haut durchnäßt zu werden.«
Dr. Kranich befühlte angelegentlich den Wettermantel. Na, das sei aber doch nicht der Rede wert! Elmenreich scheine noch keine ernsthaften Strapazen mitgemacht zu haben, wenn er über ein bißchen Feuchtigkeit schon außer Rand und Band komme –
Ja, ja, er wisse schon, am Ohio und Mississipi sei der Regen viel nässer als in Europa –
»Sehen Sie nur, Fräulein Eugenie: Dieser Mensch sagt viel lieber mir eine Bosheit, als Ihnen ein Kompliment. Elmenreich, das ist kein schöner Charakterzug von Ihnen. Gestehen Sie doch ohne schäbige Ausreden, warum Sie so rasch wieder zurückgekommen sind.«
Aber Elmenreich wurde gleich sehr übellaunig. Er verbat sich trocken solche »geschmacklose Bemerkungen«, setzte sich halb abgewendet an den Tisch und versank in Schweigen.
Auch Eugenie war mit Elmenreichs Erscheinen vollkommen stumm geworden.
Dr. Kranich machte einige Versuche, unbefangen sein Gespräch fortzusetzen; zuletzt sagte er mit einem sonderbaren Lächeln:
»Ich sehe, Elmenreich, Sie sind entschlossen, mich wegzuschweigen. Sie haben mit Fräulein Eugenie Dinge zu reden, bei denen ich überflüssig bin. Nun denn, als großmütiger Rivale räume ich freiwillig das Feld. Kann man ethischer handeln?«
Elmenreich erblaßte vor Aerger, Eugenie errötete. Lachend entfernte sich Dr. Kranich und gesellte sich zu einer Gesellschaft am anderen Ende des Saales.
»Ich – ich fürchte mich beinahe vor Dr. Kranich«, flüsterte Eugenie mit einem Blick auf Elmenreich. »Er thut und sagt immer gerade dasjenige, womit er jemandem am meisten Aerger oder Verlegenheit bereiten kann.«
»Das fehlte noch, daß die jungen Damen anfangen, sich vor ihm zu fürchten«, versetzte Elmenreich aufgebracht. »Machen Sie ihm um Himmels willen nicht das Vergnügen, sich durch ihn in Verlegenheit setzen zu lassen!«
»Und doch machen Sie ihm das Vergnügen, sich über ihn zu ärgern!«
»Fällt mir nicht ein. Was er sagt, ist mir so gleichgiltig, wie wenn ein Hahn kräht oder ein Hund bellt.«
»Also dann – was ist dann schuld, daß Sie so verstimmt sind, Herr Doktor?«
»Ich bin nicht verstimmt.«
»Und vorgestern – vorgestern haben Sie auch die Flucht ergriffen, als Sie uns aus der Kirche kommen sahen!«
»Ach Gott, ich tauge nicht für Gesellschaft. Sie waren ohnedies umringt genug –«
»Es ist doch nicht alles eins, von wem man umringt ist –!«
Elmenreich machte eine skeptische Miene.
»Ich bin kein passender Umgang für junge Damen. Sie sind an Huldigungen gewöhnt, Fräulein Eugenie, und Sie haben ein Recht, sie zu beanspruchen. Aber dazu tauge ich nicht.«
»Habe ich denn Huldigungen von Ihnen beansprucht?«
»Ein Mensch wie ich kann Sie ja nur langweilen. Ich habe schon zu vieles erlebt; da verändert sich die Perspektive des Lebens. Sie sehen lauter aufsteigende Linien, Linien, die in die Zukunft führen; ich sehe fast nur mehr die absteigenden Linien der Vergangenheit.«
»Erzählen Sie mir davon, von Ihren Erlebnissen, wollen Sie nicht?«
»Erlebnisse! Da stellen Sie sich auch etwas wer weiß wie Interessantes vor, etwas Spannendes, Romanhaftes, Wunderbares. Aber das Leben ist kein interessanter Roman, weiß Gott! ... Wünschen Sie nicht, sie kennen zu lernen, diese trostlose Oede eines Geistes, der ohne Illusionen ist! Sie sind jung und schön, was wissen Sie davon! Mit zwanzig Jahren hat man keinen Grund zu murren. Da hadert man nicht mit dem Leben. Da hat man so viel Zeit vor sich, daß man denkt, es müsse ewig so dauern. Aber dann, wenn noch einmal zwanzig Jahre um sind, wenn die Zeit immer rascher und rascher vergeht, wenn man sie verzweifelt festhalten möchte, um Atem zu schöpfen, um nicht weiter hinabzujagen auf der abschüssigen Bahn; wenn man dasteht wie ein herbstlicher Baum, von dem jeder Tag ein Blatt abreißt, und man muß es so wehrlos geschehen lassen, so ohnmächtig! ......
... Muß man sich nicht zuletzt fragen, wozu man denn lebt, wenn das Aelterwerden nur ein Herabsteigen vom Gipfel des Lebens ist? Alle Gebiete des Denkens hat man durchwandert wie ein Vergnügungsreisender, der kein Daheim besitzt. Man ist überall gewesen, man kennt die ganze Welt, man hat alles hinter sich gelassen, und nun ist man müde und schwindlig, als wäre man die ganze Zeit im Kreis herumgegangen. Ein Ziel, einen Zweck, einen Glauben! Eine spanische Wand, die man vor dieser schwarzen Leere aufstellen kann! Etwas, an das man sein Herz hängen kann! .....
... Wie könnte es anders bei einem Menschen aussehen, der nichts von alledem erreicht hat, was ihm in den Jahren der Hoffnung erstrebenswert schien! Der hundert Anläufe genommen hat und immer auf halbem Wege stehen geblieben ist, weil er an dem Werte des Erstrebten irre wurde. Ja, da liegt's! Nicht irre werden, weder an sich, noch an der »Sache« – das ist die große Tugend, die alle Einseitigkeit, alle Anmaßung, alle Prahlerei der Thatmenschen aufwiegt!«
Das Gesicht des schönen Mädchens blieb unbeweglich wie eine Maske. Nichts in ihren Mienen ließ darauf schließen, daß sie Anteil nahm. Möglicherweise ist es nur diese Unbeweglichkeit ihrer Züge, die ihr etwas Kaltes giebt, etwas Verstecktes und Abweisendes.
Mich aber verdroß es, daß Elmenreich so mit ihr redete. Hatte ich nicht gedacht, daß es besondere Augenblicke sind, in denen seine leidende Seele ihr Schweigen bricht und ihre geheimste Qual offenbart –? Es giebt Dinge, die nur groß sind, solange sie unausgesprochen bleiben. Vielleicht kann man sie einmal im Leben mitteilen, in einer einzigen und unvergleichlichen Stunde, die den Zauber der Stimmung mit sich bringt, jenes geheimnisvolle Medium, in dem allein die Seele einer anderen Seele begegnen kann – –
Und nun vernahm ich die Worte wieder, die einstmals in einer solchen Stunde gesprochen worden sind. Diesmal aber machten sie einen anderen Eindruck auf mich. Lag es an mir, lag es an der Umgebung? Die jungen Damen kicherten, die alten Herren gähnten, und nebenan wurde der Pagat ultimo angesagt.
Als Elmenreich schwieg, sagte Eugenie: »Wie ich Sie beneide um Ihre großen Reisen! Nichts Herrlicheres kann ich mir vorstellen, als –«
»Um meine großen Reisen? Wieso?«
»Nun ja, Sie sagten doch eben, Sie kennen die ganze Welt? Das wäre mein sehnlichster Wunsch! Ich möchte das ganze Jahr auf Reisen sein, im Winter an der Riviera oder in Kairo, im Sommer in der Schweiz oder in Norwegen, und ich würde nicht müde und schwindlig werden. Man braucht doch in der Welt nur Geld zu haben, dann stehen einem alle Herrlichkeiten offen. Wenn ich denke, daß es soviel Sehenswertes giebt, und ich soll es vielleicht nie kennen lernen –! Ach, nur fort, nur fort!«
Dann, als hätte sie schon zuviel gesagt, verstummte sie jählings, und hörte wieder unbeweglich zu, während Elmenreich eine große Rede über das Lästige und Banale der Vergnügungsreisen hielt.
Später kam jemand von einem Nachbartisch herüber.
»Können Sie vielleicht Auskunft geben, Herr Doktor«, sagte er zu Elmenreich mit Gelächter, »wo steckt denn Pipin? Es ist schon ein allgemeines Fragen um ihn. Die jungen Damen möchten gerne Kirschen haben; da könnte doch Pipin geschwind einmal in den Markt laufen.«
Er lachte laut.
Eugenie sah den Lachenden von oben herab an.
»Pipin ist in den Markt gegangen, um etwas aus der Apotheke zu holen«, sagte sie kühl. »Die Mama hat ihn darum gebeten; sie ist heute nicht ganz wohl.«
Der Lachende entschuldigte sich und ging an seinen Tisch zurück. Dort entstand eine große Heiterkeit; der Umstand, daß Pipin im Regen herumlaufen mußte, schien eine unwiderstehliche Komik zu haben.
* * *
Ein grelles, kreischendes Lachen nähert sich. Es ist die Dame mit dem bunten Blumenhut, die so lacht, und ihr Begleiter, der sie so unterhält, ist einer der anwesenden Würdenträger. Daneben geht Eugenie, stumm, unbeweglich, mit einem lässigen, müden Schritt, und einem Gesicht, das so teilnahmslos ist, als höre sie einem Gespräch in einer fremden Sprache zu.
Als sie schon fast vorüber war, erblickte sie mich. Sie grüßte, zögerte einen Augenblick lang unschlüssig und kam dann auf mich zu.
»Ich bin so müde«, sagte sie. »Würden Sie mir erlauben, daß ich mich einen Augenblick neben Sie setze?« Und in einem trockenen, herrischen Ton gegen ihre Begleiterin gewendet: »Ich bleibe hier, ich bin zu müde, um weiter mitzugehen.«
Die Dame rief über die Achsel ein »Thu, was du willst« her und entfernte sich mit dem amüsanten Würdenträger.
Nach einigen Umschweifen kam Eugenie alsbald auf Elmenreich zu sprechen.
»Was für ein interessanter und ungewöhnlicher Mensch! Er ist ganz anders als die anderen, viel gescheiter, viel überlegener. Durch nichts läßt er sich imponieren; er durchschaut alles. Und er hat etwas so Melancholisches, das ist so interessant. Gewiß hat er viel Unglück erlebt! Hat er nicht? Sie kennen ihn ja schon lange, gnädige Frau?«
Und während ich versuchte, auf dieses offen zur Schau getragene Interesse für Elmenreich einzugehen, empfand ich deutlicher als je, wie wenig ich ihn kenne. Ich kenne alle seine Anschauungen und Meinungen – aber ihn selbst? Sein Leben? Er hat mir zwar viel von seinem Leben erzählt – aber wieviel kann ein Mensch beim besten Willen davon erzählen? Oder gäbe es in Elmenreichs Leben thatsächlich keine Erlebnisse, sondern nur Meinungen und Anschauungen? Nur intellektuelle Begebenheiten?
Und doch schien in der Vorstellung, daß er einen ungewöhnlichen Reichtum von Erlebnissen hinter sich habe, unzählige wunderbare Abenteuer, die Anziehungskraft zu bestehen, die er auf Eugenie ausübte. Seine Art und Weise, sich ablehnend, unerbittlich, steifnackig gegen alle Anerbietungen der Außenwelt zu verhalten, deutete sie als Wirkung einer unvergleichlichen Erfahrenheit und Ueberlegenheit; und es war unschwer zu erkennen, daß der Gedanke, diese vermeintlich so hochfahrende, unbeugsame Seele zu besiegen, einen eigenen Zauber für sie besaß. Besonders, da diese Ueberlegenheit gepaart war mit einem geheimnisvollen Gram. Irgend ein großes Unglück mußte in seinem Leben geschehen sein, davon war sie unerschütterlich überzeugt. Seine Weltverachtung konnte nur durch ungeheure Schicksalsschläge hervorgebracht sein, durch etwas ganz Furchtbares und Gewaltsames. Als Erklärung dafür schien sie die Schändlichkeiten eines weiblichen Wesens zu bevorzugen; am liebsten hätte sie die Geschichte eines frevelhaften Treubruches gehört. So durchdrungen war sie davon, daß sie mich ungläubig anlächelte, als ich sagte, daß es in Elmenreichs Leben keine harten Schicksalsschläge gebe, daß ihn vielmehr das Glück in allen Stücken begünstigt habe. Es sei bloß eine düstere Grundstimmung seines eigenen Innern, an der er leide, ein Hang seines Wesens zu Mißmut und – ich wollte sagen Lebensüberdruß, aber ich brachte dieses Wort nicht über die Lippen. Kann man das innerste Geheimnis eines Menschen mit einer landläufigen Marke stempeln und auf eine Nachfrage hin preisgeben?
Da Eugenie dieses Stocken bemerkte, sagte sie:
»Oh, ich weiß, das sind Dinge, die man nicht mitteilen kann. Aber nichtwahr, diese düstere Grundstimmung hat ihre Ursachen? Sie können es mir unbesorgt anvertrauen, gnädige Frau, ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich es nicht weiter erzählen werde. Aber ich möchte so gerne – glauben Sie nicht auch, daß er noch glücklich werden könnte? Sie sagen ja selbst, daß das Glück ihn im übrigen besonders begünstigt hat. In äußerlichen Dingen liegt also die Veranlassung zu seinem Unglück nicht? Hat er denn überhaupt irgend einen Beruf?«
»Er ist Advokat, aber er übt seine Praxis nicht aus –«
»Warum nicht?«
»Er findet, daß man als Advokat zu sehr in die Erbärmlichkeit der Durchschnittsmenschen hineinverstrickt wird –«
»Er ist also nicht darauf angewiesen, einen Beruf auszuüben?«
»Er ist völlig unabhängig.«
»Der Glückliche! Und doch ist er so unzufrieden? Nein, nein, dafür muß es einen Grund geben! Ein reicher, unabhängiger Mensch kann doch sonst nicht so unzufrieden sein!«
Und davon war sie durchaus nicht abzubringen. Eine düstere Grundstimmung ohne äußere Veranlassung konnte sie als zureichende Erklärung nicht gelten lassen.
Daß ich zu keinerlei weiteren Mitteilungen zu bewegen war, schien sie bloß als Unaufrichtigkeit auszulegen, oder als Unfreundlichkeit. Sie fiel mit einem Male in ihre kühle, statuenhafte Haltung zurück, blieb noch einige Minuten schweigend neben mir sitzen und empfahl sich dann mit einer konventionellen Entschuldigung, daß sie gestört habe.
* * *
(Aus einem Briefe.)
10. Juli 1893.
... Man kann unmöglich gleichgiltig ihr gegenüber bleiben. Ihr Blick allein macht betroffen. Er hat etwas Suchendes, Fragendes, Saugendes; er bleibt hängen an demjenigen, auf den er sich heftet, wenn sie vorübergeht. Und goldene Funken glühen in diesen Augen wie vom Reflexe ihrer blonden Haare, die sich kräuseln, ringeln, locken in einem unentwirrbaren Spiele, um sich über ihrem Nacken zu einem glänzenden Knoten zu schlingen. In ihrem höchst regelmäßigen Gesicht herrscht für gewöhnlich jene Miene hoheitsvoller Unnahbarkeit, in die ein Zug resignierter Schwermut gemischt ist, als trauere sie beständig darüber, daß die Welt so häßlich und so gemein ist. Du wirst diese Miene schon bei schönen Frauen gesehen haben. Es liegt viele Kunst und die Kultur von Jahrhunderten darin: sie soll den Eindruck hervorbringen, daß nichts Gewöhnliches, geschweige etwas Niedriges ihrer Trägerin nahe kommen könne. Und jede Bewegung, die ganze Haltung ist auf die gleiche Tonart gestimmt. Die Geberden dieser jungen Dame haben etwas vornehm Ansichgehaltenes, ein wohlabgewogenes Maß, das die Vorstellung erweckt, daß es in keinerlei Umständen durch gemeine Hast oder elementare Heftigkeit zu stören wäre. Und unter diesen fürstlichen Allüren der Schönheit verbirgt sich ihr Wesen undurchdringlich wie unter einem kostbaren Goldbrokat, dessen großlinige Falten nichts von der Gestalt verraten, die ihn trägt.
Ihr Vater hat vor kurzem zum zweitenmal geheiratet – seine frühere Wirtschafterin, sagt man. Eine sehr hübsche, sehr herausfordernde, sehr energische Frau und in allen Stücken das Gegenteil ihrer Stieftochter. Keine vornehmen Manieren, keine damenhafte Würde, sondern sehr lärmend und sehr ungeniert. Niemand weiß etwas Näheres über dieses Familienleben, aber jedermann errät, daß es zum mindesten für die Tochter kein angenehmes sein kann. Daß sie sich nie beklagt, erhöht die Sympathie, die sie besitzt. »Sie sollte heiraten, das wäre das Beste für sie«, sagen die ganz Wohlwollenden. Aber die Weltkundigen versetzen: »Zum Heiraten gehört wie zum Kriegführen vor allen Dingen – Geld.« Noch andere ziehen die Augenbrauen hinauf und ergänzen: »Und um ruhig an der Seite einer so schönen Frau zu leben, muß man entweder ein Tyrann sein oder – ein Esel.«
Bei dieser Gelegenheit habe ich auch einige gemeinnützige Betrachtungen über die soziale Mission der Schönheit gehört. »So schöne Frauen dürften von Rechtswegen nicht einem einzigen gehören. Wozu hätte die Natur ihnen sonst die fabelhafte Anziehungskraft verliehen, mit der sie alle männlichen Wesen an sich locken –? In der Oekonomie der Natur ist solchen schönen Frauen eine andere Rolle zugedacht als sich die bürgerliche Moral träumen läßt.«
Es war Dr. Kranich, der diesen Kommentar zur Oekonomie der Natur in Dingen der weiblichen Schönheit gab ...
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(Aus einem Briefe.)
12. Juli 1893.
... Außer diesen gehört noch der Graf zu unserer Tischgesellschaft. Ich bilde mir ein, es liegt immer eine Spannung in der Luft wie vor einem Gewitter. Aber die Luft bleibt trotzdem ruhig und kühl. Elmenreich wird schweigsam, sobald der Graf kommt; unausgesprochene Glossen auf den Lippen und versteckte Bosheiten in den Augenwinkeln sitzt er da, und spielt mit seinem Barte; wenn er etwas zu sagen hat, wendet er sich an Pipin oder an mich. Mit Dr. Kranich ist er kurzangebunden, mit Pipin grob, mit den Kellnern übellaunig, mit dem Grafen aber höflich. Er sieht ihn nie an; geschieht es, daß der Graf eine Bemerkung an ihn richtet, die er nicht überhören kann, so antwortet er auf das Tischtuch hin.
Die Art des Grafen kennst du ja. Er hat hier wieder einen Freundschaftsbund geschlossen. Sein gegenwärtiger Intimus ist der Brunnhofer Seppl, ein handfester junger Bursche, der als Bergführer, Gepäcksträger, Ruderknecht, Bote und dergleichen im Hotel beschäftigt wird. Er gehört unter die sogenannten schönen Männer; und es scheint, er weicht auch im Punkte seiner intellektuellen Fähigkeiten nicht von jener Regel ab, nach welcher die Natur in ihrer haushälterischen Weise die körperlichen Vorzüge an den geistigen abzuziehen pflegt. Der Graf verbringt fast den ganzen Tag in seiner Gesellschaft; häufig sieht man beide in der größten Sonnenhitze auf der staubigen Fahrstraße, den Brunnhofer Seppl mit einem Pack auf dem Rücken, den Grafen mit einem Päckchen auf dem Arm, das er ihm zur Erleichterung abgenommen hat.
Dieses Verhältnis erregt hier kein geringes Aergernis, wie du dir denken kannst. Unter den Hof- und Regierungsräten hat der Graf ohnedies wegen seiner bunten Schärpe heftige Feinde; diese Schärpe wirkt auf sie wie jenes rote Tuch, das bei den spanischen Stierkämpfen eine bekannte Rolle spielt. Und sie ergreifen jeden Anlaß, um ihrer Erbitterung über ihn Luft zu machen. Einer von ihnen sagte zu mir: »Da kann man sehen, wie weit es mit den Aristokraten schon gekommen ist! Sie sind gar nicht mehr fähig für den Umgang mit gebildeten Menschen.«
Dr. Kranich hingegen behauptet, der Graf habe dieses Freundschaftsbündnis eigens zu dem Zwecke begonnen »pour épater les bourgeois.« Und diese verrückten Spaziergänge in der Sonnenhitze unternehme er nur, um seinem gebleichten Gesicht wieder ein wenig »spanische Patina« zu geben. Denn seine spanische Abkunft, die ihm ein so interessantes Relief verleiht, sei sehr fragwürdiger Natur; sein Vater habe eine getaufte Jüdin aus Brünn geheiratet um sich »auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege« aus seinen finanziellen Kalamitäten zu ziehen. – Es ist nicht gut, dem schwarzen Panther in die Klauen zu fallen!
Der neue Freund hat aber den alten nicht aus dem Herzen des Grafen verdrängt, ich wette darauf. Seine brennenden Augen gehen noch immer unter halbgeschlossenen Lidern ruhelos herum, bis sie sich plötzlich auf Elmenreich wie auf ein langgesuchtes Ziel richten, mit einem unverständlichen Ausdruck, vielleicht vorwurfsvoll, vielleicht hochmütig herausfordernd. Aber sobald Elmenreich eine Bewegung mit den Brauen macht, als wolle er ohne aufzuschauen diese Blicke von sich abschütteln, ergreifen sie die Flucht, und die langen, bläulichen Lider verschleiern eilends ihr Geheimnis.
Im übrigen benützt der Graf jede Gelegenheit zu kleinen Anknüpfungen mit Elmenreich; er reicht ihm das Salzfaß, die Wasserflasche, den Brotteller, er hebt ihm die Serviette auf, die Elmenreich ein paarmal während jeder Mahlzeit verliert und unter Fluchen auf dem Boden sucht. Man kann dann wohl bemerken, daß er unablässig mit ihm beschäftigt ist, wenn er scheinbar nicht auf ihn achtet. Oft antwortet er auf ein Wort Elmenreichs früher als derjenige, an den es gerichtet war; und während er die ganze Welt mit einer zerstreuten und nachlässigen Geringschätzung überhört und übersieht, hat er immer Aug' und Ohr für alles, was von Elmenreich kommt.
Aber Elmenreich verharrt unstörbar in seiner ablehnenden Kälte; selbst Dr. Kranich, der mit lächelnder Schadenfreude zwischen ihm und dem Grafen stichelt, vermag nicht, ihn zu beirren. Nur unmerklich, gewiß sehr wider seinen Willen, klingen Untertöne in seiner Stimme mit, die auf Uneingestandenes schließen lassen, auf Erschütterungen in der Tiefe. Es ist wie ein Erdbeben, das in einem leisen Zittern bis an die Oberfläche gelangt. Man horcht auf, man stutzt – doch man kann nicht unterscheiden, ob dieses Erzittern wirklich von einem Erdbeben kommt, oder ob bloß der gewöhnliche Tageslärm vorübergehend stärker an den Mauern rüttelt.
Abends ist die Temperatur um einen Grad wärmer. Und je weiter die Zeit fortschreitet, desto mehr scheinen sich die Grenzen zu verwischen. Die Geister phosphoreszieren in ihrer beständigen Reibung, es funkelt von Schwerthieben und Degenstichen, Pfeile fliegen nach verborgenen Zielen, es wird beständig ins Blaue geschossen – »gilt es mir oder gilt es dir?« Aber alle diese Brandraketen gehen unschädlich vorüber. Keiner der Getroffenen meldet sich; denn keiner will der Getroffene sein.
Oder ist es der Alkohol, der die Schärfe der Gegensätze in eine angenehme Wolke einhüllt? Wenn das Bier zu Ende geht und der Weinkeller geschlossen wird, braut Dr. Kranich amerikanische Getränke. Cognac, Rum, Slibowitz, was nur immer an Spirituosen aufzutreiben ist, verarbeitet er je nach der Witterung mit Eis oder mit kochendem Wasser; die letzten Zitronen des Hauses werden ausgepreßt, das letzte Stück Zucker, das die Wirtschafterin vorgegeben hat, muß ausrücken. Es wird spät und immer später; die Kellner lehnen herum und gähnen laut; einer nach dem anderen verschwindet, eine Lampe nach der anderen erlischt, und Pipin, der Zuhörer, macht krampfhafte Anstrengungen, seine lichtblauen Augen offen zu halten.
Um Mitternacht, wenn ich aufbreche, begleitet er mich bis zum Hause; diese Gelegenheit benützt er, um gleichfalls Reißaus zu nehmen. Wann die anderen zu Bett gehen, gehört in das Gebiet der Legende. Der einzige überlebende Kellner vertritt allerdings stets die Ansicht, daß es »nicht sehr spät« war; aber es ist anzunehmen, daß dieses kellnerische Zeitmaß durch die Höhe des Trinkgeldes bestimmt wird. Wenigstens bemerke ich, daß Pipin beim Fortgehen dem Kellner immer etwas in die Hand drückt, worauf dieser auffallend erfrischt mit einer tiefen Verbeugung die Thür hinter uns schließt ...
* * *
Fragmente der Abendgespräche.
Dr. Kranich: »Etwas Neues, etwas Neues! Nur das Neue hat hinreißende Gewalt, nur das Neue begeistert, entzündet die Herzen, erweckt Stärke, Kampfbereitschaft, Siegesgewißheit –«
Elmenreich: »Oder auch das Alte, das für etwas Neues gehalten wird – was auf eins herauskommt. Man kann sagen, daß die Enkel immer den Geschmack und die Gedanken aus der Jugend ihrer Großväter für etwas Neues und Niedagewesenes halten. Nichtsdestoweniger betrachtet jede Generation die Anschauungen, die sie propagiert, als die alleinseligmachenden, als einen ungeheuren und epochalen Fortschritt. Und die jungen Menschen sind so kampfbereit und siegesgewiß, weil sie in aller Borniertheit glauben, daß sie das »Neue« erfunden haben, daß sie die »erste Generation« sind, daß mit ihnen die bessere Zukunft anbricht. Kann man aber dieses ganze Treiben noch ernst nehmen, wenn man einmal erlebt hat, wie die nächste Generation mit Lärm und Geschrei als Heilslehre gerade das Gegenteil von dem verkündet, was die frühere mit Lärm und Geschrei auf den Altar gehoben hat –?«
Dr. Kranich: »Elmenreich, Sie reden, wie das Alter eben daherredet. Denn genau in dem Augenblick, als man einsieht, daß das Neue eigentlich etwas Altes und Längstdagewesenes ist, wird man aus einem jungen ein alter Mensch. Jugend ist Illusionsfähigkeit – nichts weiter als das. Der alte Mensch kommt vermöge seiner Einsicht in ein ganz falsches Verhältnis zu den Illusionen; er greift alle diese lieben Seifenblasen mit seinen harten, knochigen Fingern an und fühlt sich überlegen, wenn sie zerplatzen. Er weiß nicht, dieser Einsichtsvolle, daß der junge Mensch die Welt mit wunderbaren, wenn auch vergänglichen Gebilden bereichert, während er selbst nichts in der Hand behält als einen schmutzigen Tropfen.«
*
Dr. Kranich: »Die Wilden könnten in manchen Punkten unsere Lehrmeister sein. Welche geniale Idee, for instance, die Alten und Schwachen, die jede Gemeinschaft als unnötiger Ballast beschweren, sans façons über Bord zu werfen! Indessen wir Kulturmenschen herumgehen und den besten Teil unserer Jugend daran wenden müssen, uns die Alten vom Leibe zu halten. Und obendrein diese philanthropischen Veranstaltungen, alle schwachen, kränklichen, verpfuschten Exemplare der Gattung sorgfältig aufzupäppeln, damit sie am Leben bleiben und sich ungehindert vermehren können!«
Elmenreich: »Ich dachte, Sie wären gegenwärtig für die »schönen Gefühle«, Arthur? Aber Sie verstehen wohl die schönen Gefühle der Hottentotten darunter?«
Dr. Kranich, lächelnd: »Täglich, wenn ich mein Morgengebet verrichte, sage ich: Lieber Gott, nimm die Alten, Schwachen und Kranken zu dir; sie passen ja doch besser in den Himmel als auf die Erde! Denn Sie wissen, Elmenreich, ich glaube an Gott. Allerdings an einen Gott der Starken, Mächtigen und Gesunden. Daher fordern meine religiösen Gefühle, daß die Starken und Gesunden ganz nach Herzenslust darauf los leben und dafür sorgen sollen, daß sie sich vermehren und zahlreich werden wie der Sand am Meer.«
*
Elmenreich: »Diese Todeszuckungen der europäischen Kultur, die wir für die Wehen einer neuen Daseinsform halten, dieser allgemeine Zerfall, den wir als die Heraufkunft der freien Individualitäten betrachten! Fäulnis, nichts als Fäulnis! Der Zersetzungsprozeß der bestehenden Gesellschaftsordnung. Ein stinkender Sumpf, aus dem ein ungeheures Quacken schallt. Und alle diese Frösche, sie wollen sich »entwickeln«, sie wollen Evolution, Kulturfortschritt, Uebermenschentum. Deshalb sitzen sie im Sumpf und quacken.«
Pipin, sehr schüchtern: »Aber eine Hoffnung, einen Wunsch nach dem Höheren muß man doch haben! Irgend etwas! Ein Ziel, eine Richtung!«
Elmenreich: »O ja, natürlich haben wir ein Ziel, natürlich haben wir eine Richtung! Wir haben unseren Standpunkt, unsere Weltanschauung. Jeder seine eigene für sich. Denn wir sind Einzelne, wir sind Eigene, wir sind souveräne Individuen, nur sich selbst gleiche. Wir sind freie Herren unseres eigenen Willens. Nur allein das Leben gehorcht uns nicht, das widerspenstige, eigensinnige, gemeine Leben, in dem das Gesetz der Trägheit und das Gesetz der Schwere regiert – und noch einige andere Gesetze, die wir nicht beachten oder nicht kennen. Es schreitet über uns hinweg, es läßt uns beiseite, es übersieht uns; wir stehen irgendwo im Winkel, unthätige Zuschauer, verlassen von allen Lebensmächten, deren Herren wir nicht sind –«
Graf Hermosa: »Ja, das Leben ist ein wirrer Traum, fühlen wir nicht zuweilen so deutlich? Ist uns nicht, wir müssen erwachen, wir sind dem Erwachen ganz nahe? Wie Engelsflügel es umweht uns und hebt uns in heiligen Ahnungen aufwärts, zu bewegen scheint sich der Schleier, der das Jenseits verhüllt – aber wieder die bleierne Dumpfheit des Schlafes zieht uns herab, und wir träumen weiter in Angst und Not und Qual, allein in der Finsternis, ohnmächtig, gelähmt, hilflos, währenddem der schauerliche Spuk des Lebens tobt durch unsere Adern ...«
Der Graf seufzt laut – etwas zu laut für eine von Affektation völlig freie Gemütsbewegung. Niemand antwortet. Dr. Kranich raucht seine Cigarette mit dem Behagen eines Menschen, dessen Lebensschlaf von jedem Alpdruck verschont ist; Elmenreich trinkt sein Glas leer und sagt dann zu Pipin:
»Aber lassen Sie sich nur nicht verleiten, einen Stein auf das zu werfen, was trotz alledem das beste Eigentum des Menschen ist. Weil es etwas Gewordenes, etwas Werdendes ist und nichts Vollendetes, ist es deshalb weniger ehrwürdig, weniger wertvoll? Es geht dem Gedanken selbst wie allen Genies: er wird verläumdet, beschimpft, gesteinigt von denen, die seine Mission in der Welt nicht begreifen. Leute, die in den Kellern des Gefühles herumlungern und ihren Haschischrausch für höhere Eingebungen halten, sind ja gar nicht imstande, die herrliche Helligkeit des Bewußtseins zu schätzen. Sie reden von den Offenbarungen der Nacht, weil in der Nacht die Sterne sichtbar werden, und sie bemerken nicht, daß sie dafür die ganze unerschöpfliche Pracht des Tages in den Kauf geben, diese Lichtscheuen, Lichtmüden, diese Nachteulen des Geistes, die immer dann ausfliegen, wenn der Abend einer Kultur zu dämmern beginnt« ...
*
Eine Viertelstunde später. Dr. Kranich beschreibt die Andachtsübungen und Riten einiger freireligiösen amerikanischen Sekten. Elmenreich findet, daß man als Europäer noch immer einen Vorsprung besitzt vor diesen amerikanischen Versuchen, sich mit dem Welträtsel auseinanderzusetzen.
Graf Hermosa: »Europa, das heißt, auf einem falschen Wege sein und doch immer weitergehen, totmüde und sterbenskrank, und halten ein Irrlicht für einen Leitstern. Europa, das ist nur ein mißratener Ableger von Asien. Asien ist den rechten Weg gegangen, und gekommen ans rechte Ziel. Welche Anmaßung, daß Europa sich aufspielt als moderne Menschheit! Und Grund, stolz zu sein, welchen? Besitzt denn die moderne Menschheit auch nur einen Tropfen Balsam zu gießen in eine verwundete Seele? Einen Tropfen Labsal den Dürstenden? Und was ist der Lärm, der aus dem Sumpfe schallt, anders als ein Schrei nach Erlösung? Alle die armen niedrigen Seelen, die aus dem Sumpfe ihre Stimme erheben, sie schreien vor Hunger, sie schreien nach dem Brote des ewigen Lebens, und es wird ihnen nicht gegeben. Denn die es geben sollten, sperren zu ihre Thüren, sitzen hinter geschlossenen Thüren allein, und welche von ihnen weinen, welche von ihnen lachen. Aber welche von ihnen wissen, daß sie ebenso bedürftig sind der Erlösung wie die armen Seelen im Sumpfe –«
Elmenreich stößt sein Glas zurück. Zu Dr. Kranich: »Na, hören Sie, Arthur, was haben Sie da für ein Zuckerwasser angemacht? Das ist ein Getränk zur Anfeuchtung für Nachmittagsprediger in einer Sonntagsschule. Geben Sie mir doch den Cognac herüber, sonst wird mir schlecht im Magen ...«
Elmenreich kam mit Eugenie den Promenadeweg herab. Sie waren in ein sehr lebhaftes Gespräch verwickelt. Ich wollte vorübergehen, aber Elmenreich hielt mich an.
»Gut, daß Sie kommen«, sagte er in einem sonderbar nervösen, gereizten Ton. »Vielleicht wird Fräulein Eugenie Ihnen eher Glauben schenken als mir. Bestätigen Sie ihr, was ich sage! Meine Worte machen keinen Eindruck; Fräulein Eugenie glaubt mich besser zu kennen als ich mich selbst. Sie lebt in dem Wahn, daß in mir was ganz besonderes steckt, daß ich im Geheimen ein ganz großartiger Mensch bin, nur so von außen voll Schlacken und unangenehmer Eigenschaften, die aber alle gleich abgestreift wären, wenn ich einmal in die rechten Hände käme –«
Das schöne Mädchen stand mit gesenkten Augen daneben und bohrte ihren Sonnenschirm in die schwarze Walderde. Ohne aufzublicken murmelte sie:
»Aber Herr Doktor! Das habe ich doch nie behauptet –«
»Nun ja, Sie sagen das freilich nicht so geradezu, aber ich errate es, ich lese es in Ihrer Miene, ich höre es aus dem Ton, in dem Sie mit mir sprechen. Und wenn Sie mich für einen unausstehlichen, unbrauchbaren, mißratenen Patron halten, so haben Sie ja recht tausendmal recht –«
»Aber wie können Sie nur –«
»Diese Prämisse ist völlig zutreffend und beweist Ihr gesundes Urteil. Nur die Schlußfolgerung, die Sie ziehen, gehört in das Gebiet jener Logik, wie sie den jungen Damen eigentümlich ist. Welche junge Dame glaubt nicht, daß es ein Zaubermittel giebt, durch das jede verfehlte, männliche Existenz zu kurieren wäre! Welche junge Dame glaubt nicht, daß sie die Mission hat, der rettende Engel irgend eines solchen verwunschenen Prinzen zu werden! Diese lieben kleinen Mädchen sind ja ganz charmante Wesen, das leugne ich nicht; aber sie denken eben, wenn sie einen Fingerhut voll Oel auf eine wilde See gießen, werden alle Stürme besänftigt und alle Wogen geglättet sein –«
»Es ist nicht schön von Ihnen, darüber zu spotten«, sagte Eugenie mit vibrierender Stimme.
»Ich bin weit entfernt davon, über diese holden Täuschungen der Mädchenintelligenz zu spotten. Aber Sie können es mir nicht übel nehmen, daß ich mich an meine eigene Lebenskenntnis halte. Wahrscheinlich besteht sie zwar gleichfalls aus Täuschungen, wenn auch aus weniger holden; nur werden Sie mich von meinen Täuschungen ebensowenig kurieren wie ich Sie von den Ihrigen. – Nein, Fräulein Eugenie, glauben Sie mir, es giebt nichts Undankbareres als ein Rettungswerk an fertigen Leuten; dergleichen endet immer mit einer immensen Enttäuschung. Sie haben die Vorstellung, daß ich ein sogenanntes goldenes Herz in einer rauhen Schale bin; und Sie hören nicht auf mich, der ich doch zum Kuckuck besser wissen muß, was in mir steckt. Eine bittere Mandel, weiter nichts –«
Eugenie lächelte unmerklich. »Da Sie das selbst sagen, glaube ich es erst recht nicht. Damit beweisen Sie mir nur das Gegenteil.«
Und Elmenreich ereifert sich, macht sich mit Schwung herunter, erfinderisch in der Negation wie immer. Ja, eine bittere Mandel, eine taube Nuß, die außen vergoldet ist, nichts weiter. Wozu war denn ein solches Subjekt überhaupt auf der Welt? Einer von jenen Ueberflüssigen, von jenen Lebenszuschauern, die mit den Händen in den Hosentaschen daneben stehen, während sich die anderen im Schweiße ihres Angesichtes rackern. Die in ihrer Loge im ersten Rang sitzen und den Kämpfern in der Arena auf den Kopf spucken. Die selbst nie einen Finger rühren und immer besser wissen, wie es die anderen machen sollten. Ein Einäugiger, der sich unter den Blinden als König geberdet, weil er nicht bemerkt, daß die Blinden ihren Weg in der Finsternis finden, während er sich hundertmal verirrt; ein kalter Räsonneur, der sich überlegen fühlt, wenn er als Frost auf alle Blumen fällt, die so unvernünftig sind, zu blühen. Ein Pflastertreter der Geistigkeit, der überall hingekommen ist und nirgends etwas geleistet hat. Ein heulender Derwisch des Denkens, der sich ewig um sich selber dreht, in der Meinung, dadurch den Dingen auf den Grund zu kommen. Ein Baron Münchhausen der Erkenntnis, der sich an seinem eigenen Schopf aus dem Sumpfe ziehen will –
Eugenie lachte. Auch ihr Lachen ist leise und gemessen, fast nur die Andeutung eines Lachens. Ihr Gesicht verändert sich nicht dabei; sie öffnet nur ein wenig den Mund, so wenig, daß kaum der Rand ihrer Zähne sichtbar wird.
Dieses Lachen machte Elmenreich stutzig. Er hielt inne und sah befremdet auf.
»Da ist nichts zum Lachen«, sagte er finster. »Sie haben eben von solchen Zuständen keinen Begriff! Wenn Sie wüßten, wie einem solchen Menschen zu Mute ist, würden Sie nicht lachen.«
»Aber Herr Doktor, wenn jemand über sich selbst so lustig redet, kann es doch nicht gefährlich sein!«
»Lustig? Das kommt Ihnen lustig vor? Ich bin also für Sie eine Art trauriger Hanswurst, der umso komischer wirkt, je melancholischer er sich geberdet? Aber ich gestehe, Fräulein Eugenie, die Rolle des unfreiwilligen Komikers zu spielen, hab' ich nicht Lust. Das Leben hat mir zu wenig Humor dafür gelassen –«
Er war ernstlich böse.
Eugenie blickte ihn fassungslos an. Das Weinen schien ihr nahe zu sein.
»Nun weiß ich wirklich nicht mehr, was ich sagen soll! Ich kann es Ihnen nicht recht machen –«
»Ja, ich bin ein unleidlicher Patron, hab' ich es Ihnen nicht gesagt? Geben Sie mich auf, Fräulein Eugenie; wir werden uns nie verständigen. Mit solchen vertrackten Menschen wie ich ist nicht auszukommen, wie oft soll ich es denn wiederholen? Wollen Sie durchaus nicht hören?«
Sie legte schweigend ihre Hand mit dem Rücken an die Stirne und schloß die Augen. Ueber ihr marmornes Gesicht, dessen Linien so bedeutend sind, und das so wenig von dem verrät, was sich in der Tiefe dieser Seele abspielt, ging eine flüchtige Bewegung – vielleicht Beschämung, vielleicht Enttäuschung, vielleicht nur Aerger.
Elmenreich sah diese Geberde. Und seine Haltung veränderte sich; er zog Eugeniens Hand von ihrer Stirne weg, schüttelte sie halb scherzhaft und halb leidenschaftlich und sagte mit einer Stimme, die nicht ohne Zärtlichkeit war:
»Gott bewahre, Gott bewahre! Wir werden uns doch dergleichen nicht zu Herzen nehmen! Es wäre ein Frevel an diesen himmlischen Augen, wenn sie durch Thränen getrübt werden sollten. Das möchte ich nicht verschuldet haben, nein, das nicht!«
Eugenie schlug die Augen auf. Sie waren trocken. Ein kühler, abweisender Blick fiel auf Elmenreich.
»Ich habe nicht geweint«, sagte sie stolz. »Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen.«
Da wurde auch Elmenreich sogleich wieder der Alte. Er versetzte kurz: »Desto besser«, und dann gingen beide verstimmt und schweigend nebeneinander her.
Am Ende des Promenadenweges lief uns Pipin entgegen. Er war ganz erhitzt und aufgeregt.
»Welches Glück ich habe!« rief er und schlug die Hände zusammen wie ein Kind. »Der liebe Gott meint es mit mir beinah so gut wie mit der gewissen Heiligen – Sie werden ja wissen, wie sie heißt, Herr Doktor – ich meine diese, Fräulein Eugenie, die sich mit einer Notlüge aus der Affaire zog. Eben habe ich mir Ihrem Herrn Papa gegenüber durch eine Notlüge geholfen – und sieh da, es trifft alles ein!«
Eugenie erblaßte.
»Dem Papa gegenüber? Der Papa ist doch auf die Jagd gefahren? Ist er schon wieder zurück?«
»Es ist etwas dazwischen gekommen, ich weiß nicht was. Ich glaube, Fräulein Eugenie, es wäre gut – vielleicht wären Sie geneigt, gleich nach Hause zu gehen. Er war ein wenig ungehalten darüber, daß Sie abwesend waren und Ihre Frau Mama allein – oder vielmehr nicht allein, sondern ohne Sie. Da sagte ich – verzeihen Sie, aber es schien mir in diesem Augenblick das Einfachste – ich sagte auf gut Glück, daß Sie mit der gnädigen Frau zusammen spazieren gegangen sind: und siehe da, ich hab' es erraten!«
Eugenie runzelte die Augenbrauen und antwortete nichts. Sie beschleunigte aber ihren Schritt sofort.
Pipin hielt mich zurück; als ein genügender Zwischenraum zwischen den Vorangehenden und uns entstanden war, teilte er mir flüsternd mit, bei welchem peinlichen Auftritt er eben Zeuge gewesen sei. Er wollte versprochene Bücher bringen; beim Gartenthor traf er mit dem Oberst zusammen, der angeblich von einem vereitelten Jagdausflug zurückkehrte. Aber diesen Jagdausflug scheine er nur vorgeschützt zu haben, nur darauf angelegt, seine Frau unvermutet zu überfallen. Unglücklicherweise sei sie in der That mit dem betreffenden Herrn, der dem Oberst nicht passe, allein im Garten gewesen. Seine erste Frage war nach Eugenie; denn die Frau habe den strengen Befehl, die Tochter nie allein ausgehen zu lassen – wahrscheinlich damit sie selbst nie unbeaufsichtigt bleibe. Und als es sich nun herausstellte, daß Eugenie nicht zu Hause sei, machte der Oberst eine unerhörte Szene, eine Szene, die jeder Beschreibung spotte. Er schimpfte und fluchte wie ein Hausknecht, ohne sich vor den unfreiwilligen Zeugen zu genieren. Die Frau aber blieb ihm nichts schuldig: und so wäre es fast zu Thätlichkeiten zwischen den beiden gekommen, wenn nicht schließlich die Zeugen sich ins Mittel gelegt hätten – auf die Gefahr hin, von dem Wüterich hinausgeworfen zu werden. »Guter Gott, was für ein Daheim für dieses arme, schöne, edle Geschöpf! Wie schrecklich, diese Existenz zwischen einem rohen Vater und einer leichtsinnigen, ungebildeten Stiefmutter! Eine so herrliche Erscheinung in einer so gemeinen Umgebung! Wenn man sie daraus befreien könnte! Wenn man sie retten könnte!«
Pipin's unbedeutendes Gesicht wurde beinahe anziehend in dem Ausdruck der Empfindung, von der es bewegt war.
Nach einer Pause fuhr er nachdenklich fort:
»In diesem Punkte ist mir Elmenreich unbegreiflich. Wenn ich an seiner Stelle wäre – es ist ja anmaßend und kindisch, sich so etwas vorzustellen, aber wenn ich an seiner Stelle wäre, ich würde – lieber Gott! Ich glaube, ich würde vor Stolz und Glück den Verstand verlieren. Und ihn berührt es weiter gar nicht, er ist ewig verstimmt und schlecht aufgelegt Vielleicht bemerkt er es nicht einmal. Nein, wirklich, er ist mir unbegreiflich.«
* * *
(Aus einem Briefe.)
20. Juli 1893.
... Du hast wohl richtig geraten. Ich fühle selbst, daß ich mich Elmenreich gegenüber verändere. Dir kann ich es ja gestehen: ich fange an, nicht mehr ganz wie früher – was nur? Während ich es nennen will, fehlt mir das Wort dafür. Nicht mehr ganz wie früher an ihn zu glauben? Aber er ist noch immer derselbe rechtschaffene Mensch, der Mensch des überlegenen Urteils, der unbestechlichen Selbsterkenntnis, der Mensch ohne Täuschung über sich und die anderen: kurz, noch immer alles, was ihn mir zu einer imponierenden und verehrungswürdigen Erscheinung gemacht hat. Nur scheint mir – ganz im allgemeinen scheint mir in jeder Freundschaft der Augenblick bedenklich, in dem man die erste Schwäche entdeckt, die erste Unzulänglichkeit. Es ist eine entscheidende Wendung, wie die Wasserscheide auf einer Straße: von jetzt an geht es bergab. Unaufhaltsam! Unaufhaltsam, so gerne man oben bleiben möchte ...
Wie schwer ist es, einen Menschen in seiner Bedingtheit und Unvollkommenheit zu begreifen! Wir wollen immer etwas Ganzes und Fertiges, Helden oder Schurken, Engel oder Teufel. Daß der Mensch als etwas Halbes dazwischen steht, macht ihn unverständlich und ungenießbar.
Aber im besonderen brauchte das nicht zuzutreffen. Es ist doch gar nichts vorgefallen, gar kein greifbarer Anlaß eines Zerwürfnisses, einer Verstimmung. Nein, wirklich nicht das Geringste! Bloß, daß ich immer deutlicher die Empfindung habe, der Elmenreich, den wir vor drei Jahren kennen lernten, sei ein anderer Mensch gewesen als der Elmenreich von heute. Du wirst einwenden, daß sich ein Mensch nicht so rasch verändert, am allerwenigsten in Elmenreichs Alter. Immerhin gäbe es Erklärungsgründe. Es könnte ja der Einfluß des Grafen gewesen sein, der damals günstig auf ihn einwirkte. Nicht etwa, weil der Graf eine so ausgezeichnete Persönlichkeit ist, sondern weil Elmenreich ihn liebte, weil er ihn für eine hoffnungsvolle und vielversprechende Erscheinung hielt. Damals erwartete er doch große Dinge von ihm, wenn er das auch heute nicht mehr zugiebt. Und es muß zu seiner Verbitterung nicht wenig beitragen, daß der Graf einen so ganz anderen Weg eingeschlagen hat. Wie es auch sei: man reißt nicht eine Seele aus seinem Herzen, ohne daß tiefe Narben davon zurückbleiben – –
Oder hätte nur ich mir ein Bild von Elmenreich gemacht, das nicht ganz zutrifft? Und ich wäre einfach im Begriff, die Fehler meines Bildes durch eine genauere Kenntnis zu korrigieren? Unlängst sagte er zu mir unter anderem: »Die Menschen glauben gewöhnlich das von einem, was man selbst über sich aussagt. Sie merken nie, was hinter diesen Aussagen steht, was man mit oder ohne Absicht verschweigt. Und dann erlebt man die merkwürdigsten Ueberraschungen, wenn man zufällig einmal erfährt, als was man in der Vorstellung seiner Nebenmenschen existiert.« Ich war ganz betroffen über diese Worte, denn ich hielt sie für eine Anspielung; aber als ich darauf eingehen wollte, sah ich sofort, daß sie nicht im Entferntesten auf mich gemünzt waren.
Ich habe angefangen, seine Gespräche aufzuschreiben. Dabei verhehle ich mir nicht, daß es ein schlechtes Zeichen ist, wenn man das Bedürfnis empfindet, die Aussprüche eines Freundes schwarz auf weiß zu besitzen ...
* * *
Graf Hermosa teilt die Menschen in drei Klassen: in Geistesmenschen, Naturmenschen und Maniermenschen.
Gestern erläuterte er dieses System vor einem gemischten Auditorium, nämlich vor Elmenreich, Pipin, dem Brunnhofer-Seppl und mir. Auf Grund vertrauter Mitteilungen, die nicht bekannt sind, scheint er den Brunnhofer-Seppl unter die Geistesmenschen zu rechnen, und behandelt ihn vollkommen als seinesgleichen.
Elmenreich und ich waren zufällig vorübergekommen. Kaum erblickte der Graf Elmenreich, als er seine Rede unterbrach und sich ihm in den Weg stellte.
»Ich erkläre; Pipin hat mich darum gebeten«, sagte er in einem demütigen Ton, als müßte er sich entschuldigen. »Pipin hat nicht verstanden; Pipin möchte wissen, wer hinter den verschlossenen Thüren sitzt, und wer aus dem Sumpfe schreit: Pipin hört zu und denkt nach, aber er versteht nicht, er ist noch ein Neophyt. Darf ich um die Ehre bitten, zwei Zuhörer mehr zu haben?«
Elmenreich verbeugte sich formell und blieb einen Augenblick stehen. Er musterte Pipin mit einem mißbilligenden Blick.
Der Graf fuhr in seinem Vortrag fort, mit seiner erloschenen Stimme, die sich kaum jemals über ein Flüstern erhebt in seiner andeutungsvollen, abgebrochenen Weise, die den Eindruck macht, daß er unaussprechliche Geheimnisse, etwas ganz Wunderbares und Unmitteilbares bei sich behält. Es kam mir vor, als rede er ausdrücklich für Elmenreich, als sei alles, was er sagte, an diesen gerichtet, obwohl er sich scheinbar nur an Pipin hielt.
Unter Maniermenschen verstand er die Philister, die Satten und Zufriedenen, die innerlich leer sind und sich deshalb mit konventionellen Begriffen ausfüllen, mit der Ehre, mit der Pflicht, mit der Moral. »Sie sind keine Menschen der inneren Wahrheit, sie sind Menschen der äußeren Manier. Der höhere Typus des Menschen lebt in einem anderen Elemente; er lebt nicht in der Zufriedenheit, sondern in der Sehnsucht. Die Sehnsucht ist der Weg der Erlösung. Der Einfältige, der arm an Geist ist, der Naturmensch, geht den Weg unwissentlich und blind, der Erleuchtete, der Geistesmensch, geht ihn mit Wissen und zielbewußt. Und welchen Weg er auch gehe, es ist für ihn nur ein Weg in jenes Reich, das unsichtbar ist den gemeinen Augen, aber ahnungsvoll gegenwärtig demjenigen, der von der turris eburnea der Eingeweihten die Welt schaut. Wie könnte es für diesen Schauenden noch Sünde geben? Welche That könnte er begehen, die nicht aus ihm selbst ihre Rechtfertigung empfinge? Kann daher der Geistesmensch nicht alles thun, was nach der Ansicht der Maniermenschen ein unauslöschliches Schandmal bildet? Alles – wenn es für seine Seele der Weg der Entfaltung ist? Kann er nicht sein Ehrenwort brechen, nicht stehlen, rauben, morden – und es wird für ihn nur eine Stufe sein –?«
Seine tiefen, brennenden Augen, unter denen violette Schatten liegen, hefteten sich auf Elmenreich. Es war eine flehentliche Frage in seinem Blick; und mit der südlichen Lebhaftigkeit seiner Geberden unterstrich er die eindringliche, verhaltene Leidenschaft dieser Frage. Er erhob seine beiden Hände gegen Elmenreich – wunderbar gepflegte Hände mit schlankem weichen Fingern, auf denen in zahlreichen Ringen herrliche Juwelen funkeln.
Elmenreich stand mit der gleichgültigen und gelangweilten Miene eines Menschen da, der Gemeinplätze oder Phrasen anhören muß; der Brunnhofer Seppl hatte in seinem gebräunten Gesicht einen Ausdruck so düsteren Ernstes, daß man wohl vermuten konnte, er habe irgend eine Geistesmenschenthat auf dem Gewissen, über die er bisweilen maniermenschliche Regungen unangenehmer Art empfinde; Pipin aber starrte mit hochhinaufgezogenen Augenbrauen den Grafen an, sein Gesicht war ganz rot und ein banges Erstaunen malte sich in seinen Mienen. Der Atem schien ihm zu versagen; in der Stille, die entstanden war, schnappte er hörbar nach Luft.
Da wandte sich Elmenreich gegen den Grafen.
»Halten Sie ein, Graf«, sagte er spöttisch, »Sie stürzen diesen armen Neophyten zu früh in die Schrecknisse der letzten Grade.«
Der Graf warf den Kopf zurück und streifte Pipin mit einem ungnädigen Blick.
Und in einem Ton, der keine Widerrede gestattete, fügte Elmenreich hinzu: »Pipin, kommen Sie jetzt mit uns. Wenn Sie etwas nicht verstehen, können Sie ja mich fragen; ich werde Ihnen schon Auskunft geben.« Damit kehrte er dem Grafen den Rücken und setzte seinen Weg fort.
Pipin schloß sich ihm gehorsam an; aber er blieb in sich gekehrt und schweigsam.
Heute sagte er zu Elmenreich sehr vergnügt: »Ich glaube, ich weiß jetzt unter welche Gattung Menschen ich gehöre – denn zu den Geistesmenschen darf ich mich nicht rechnen, und zu den Maniermenschen, offen gestanden, möcht' ich doch nicht gezählt werden –«
»Seien Sie nicht so albern, Pipin«, versetzte Elmenreich grob. »Sie werden doch diese Klassifikation nicht ernst nehmen?«
»Warum denn nicht?« antwortete Pipin unschuldig. »Ich finde sie großartig, das muß ich sagen. Und Sie, gnädige Frau?«
Aber Elmenreich ließ mir gar keine Zeit, mich zu äußern.
»Das hat Ihnen gerade noch gefehlt, Pipin, daß Sie sich solches Zeug in den Kopf setzen. Sie wären imstande, nächstens auf dem Promenadenweg dem Regierungsrat Müller die Geldbörse abzujagen, um sich vor dem Grafen als Geistesmensch zu legitimieren –«
»Ich habe doch eben erklärt, daß ich mir durchaus nicht anmaße, unter die Geistesmenschen gezählt zu werden –«
»Na, ein Geistesmensch sind Sie allerdings nicht, aber trotzdem ein Kerl, der mehr wert ist, als mancher andere. Sehen Sie denn nicht ein, daß alle willkürlichen Normierungen der Menschen keinen Schuß Pulver wert sind? Nichts als ein jeu d' esprit für solche Narren wie der Graf einer ist, und eine Leimrute für solche Narren, wie Sie einer sind –?«
Ich wendete ein, daß es doch ganz den Anschein gehabt hatte, als wolle der Graf nicht auf Pipin, sondern auf ihn Eindruck machen.
»Auf mich? Als ob ich diese Leier nicht längst auswendig kennte! Bei mir verfängt das nicht mehr. Uebrigens vielleicht – vielleicht glaubt er, daß er damit noch etwas bei mir erreichen kann. Aber da täuscht er sich gründlich!« Und mit zunehmender Heftigkeit fuhr er fort:
»Ich werde Ihnen sagen, Pipin, unter welche Gattung Menschen er selber gehört. Lassen Sie sich nicht ein mit Leuten, die neue Klassen der Menschen kreieren, um sich selbst auf die oberste Stufe zu stellen, die sich als innerliche Kaiser und Könige aufspielen, weil sie keinen Platz im äußeren Leben ergattern können! Ich kenne sie, diese Ichprotzen, die aus der Kultur des Ich einen Kultus des Ich machen! Die selbstgefällig die Ausdünstungen ihrer angefaulten Seelen beschnuppern, um uns ihre Defekte als neue Seiten der menschlichen Natur aufzutischen! Diese commis voyageurs in geistigen Modewaren, die immer die Neuheit der Saison für eine erlösende Wahrheit ausgeben ... Je nachdem der Wind weht, hält man sich für einen Franz von Assisi, wenn man seine zerrütteten Nerven ein paar Wochen auf dem Lande ausruhen läßt, oder für einen Cäsar Borgia, wenn man seine Gymnasiastenstreiche zum Besten giebt; sie glauben schon, was Neronisches zu sein, wenn sie einen der Seitenwege einschlagen, auf denen die Instinkte niedergehender Kulturen lustwandeln –«
Ich machte einen Versuch, ihn zu unterbrechen:
»Aber hören Sie doch auf, Elmenreich! Wie paßt denn das auf den Grafen?«
»Was ihnen in die Hände fällt, wird zur Karikatur, die Ausschweifung und das Empfindungsraffinement, die brutale wie die sentimentale Pose. Sie können keine ihrer erbärmlichen Liebesaffairen erzählen, ohne Gott, Welt, Menschheit hineinzupfuschen. Und wenn sie sich mit Weibern oder Comestibeln überladen haben, fangen sie an, von ihrem Erlösungsbedürfnis zu reden. Sie behängen sich mit tiefen Erkenntnissen, wie Maulesel mit Schellen und glauben etwas für die Unsterblichkeit zu thun, wenn sie in allen Gassen damit herumläuten, bis die anständigen Leute Fenster und Thüren zuschlagen und alle tiefen Erkenntnisse zum Henker wünschen –«
Da leuchtete mir ein, daß hier nicht eine Beobachtung, sondern eine Leidenschaft Ausdruck suchte. Ich erinnerte mich an das, was Dr. Kranich neulich über Elmenreichs Verbitterung gesagt hat:
»Er bekommt seine ersten grauen Haare; bekanntlich aber hassen die Menschen von Vierzig nichts auf der Welt so sehr als die Menschen von Zwanzig.« Und mit einem Lächeln, unter dem seine blendenden Zähne so lieblich glänzten, als könnten nur gütige und milde Worte zwischen ihnen durchgleiten, hatte er geschlossen:
»Ueberdies posiert der gute Elmenreich mit seiner Galle. Galle ist ein wohlfeiles Surrogat für Tiefe. Und was gäbe er nicht darum, wenn er selber ein »tiefer« Mensch wäre!«
* * *
Ein Meteor ist aufgestiegen, das alle anwesenden höheren Menschen zu verdunkeln drohte. Zum Glück verschwand es alsbald wieder und ließ nur eine vorübergehende Sensation wie einen flüchtigen Feuerschweif hinter sich.
Beim Mittagstisch in der großen Veranda.
Dr. Kranich weiht eben Pipin in einige Geheimnisse der amerikanischen Küche ein, während der Graf am anderen Ende des Tisches mit würdevoller Ergebung in das Unvermeidliche an einem sehr zähen Kalbsbraten kaut, und Elmenreich dem Kellner zum hundertsten Mal erklärt, daß er unbedingt entschlossen sei, diesen »Schlangenfraß« nicht länger zu sich zu nehmen. Da ließ sich an einem leerstehenden runden Tisch in der Mitte ein junger Mann nieder. Er trug einen Folianten unter dem Arm, den er sogleich vor sich aufschlug. Seine langen, schwarzen Haare fielen ihm in fettigen Strähnen über die Backen und verdeckten sein Gesicht, als er sich so über das Buch beugte. Man sah nur eine große Nase mit einem großen goldenen Zwicker herausragen. Ein weiter Kameelhaarmantel umgab in reichlichen Falten seine Gestalt bis zu den Füßen, die nach Art der römischen Hirten mit Bundschuhen versehen waren.
Als der Kellner ihm die Speisenkarte überreichte, blickte er mit weltverlorener Miene auf und fragte mit sanfter Höflichkeit:
»Was wünschen Sie, lieber Freund?«
Und auf die Frage, ob er nicht zu Mittag speisen wolle, versetzte er wie aus einem Traum erwachend:
»Ach so! Nun ja; bringen Sie mir ein Glas Wasser, ich bitte!«
Dann öffnete er seinen Mantel über der Brust. Ein gelbliches Baumwolltuch, das ein herausfordernd ungewaschenes Aussehen hatte, erschien an der Stelle, die bei anderen Europäern durch eine Kravatte eingenommen wird. Es war kreuzweise übereinandergelegt und durch eine umfangreiche Agraffe von rätselhaften Umrissen zusammengehalten.
Er langte in die linke Brusttasche und zog ein flaches Glasfläschchen mit einer hellgelben Flüssigkeit heraus, das er vor sich auf den Tisch stellte. Dann langte er in die rechte Brusttasche und zog ein Pergamentsäckchen heraus, das er gleichfalls vor sich hinstellte.
Sämtliche Anwesende verfolgen mit gespanntem Interesse jede seiner Bewegungen. Selbst der Graf unterbricht sein ergebungsvolles Kauen, winkt den Kellner zu sich und fragt:
»Wer ist dieser Fremdling?«
Die Nachricht, daß derselbe nur ein unbekannter Passant sei, vermindert das Interesse keineswegs. Niemand ißt mehr; alle Gespräche sind verstummt; die Kellner stehen herum und glotzen ihn an.
Und in diesem feierlichen Schweigen entkorkte der Fremdling gelassen, als wäre er allein auf der Welt, sein Fläschchen, goß einige Tropfen Oel in seine hohle Hand, schüttete aus dem Pergamentsäckchen einige Erbsen dazu, und ließ sie, indem er sich weit zurückbeugte, in seine Mundhöhle verschwinden. Das wiederholte er, bis das Pergamentsäckchen leer war. Dann reinigte er seine Hände, indem er sie gegeneinander rieb und sich ein paarmal über die Haare fuhr. Zuletzt trank er das Glas Wasser aus und rief:
»Kellner, zahlen!«
Der Kellner bemerkte spöttisch, daß das Wasser vorläufig noch umsonst zu haben sei.
Aber mit unstörbarer Freundlichkeit griff der Fremdling abermals in die Falten seines Prophetenmantels, zog einen Silbergulden heraus und überreichte ihn dem Kellner.
»Für Ihre Mühe, lieber Freund«, sagte er wie oben.
*
»Pipin, gaffen Sie diesen verehrungswürdigen Mann nicht so unverschämt an«, ermahnte Dr. Kranich ernst.
»Was? Verehrungswürdig?« versetzte Pipin, der sich vor Lachen nicht mehr halten konnte. »Das ist doch ein Narr, oder ein Geck! Warum würde er sonst seine Mahlzeit hier, statt an dem nächstbesten Brunnen, einnehmen? Hab ich nicht recht, Dr. Elmenreich?«
Elmenreich stieß nur einen Laut unaussprechlicher Verachtung aus.
Dr. Kranich jedoch erklärte mit erhöhtem Gewicht, ein Mensch, der es verstehe, sich mit so unbeweglicher Seelenruhe zum Gegenstand des allgemeinen Gelächters zu machen, sei ein wahrhaft überlegener Mensch. »Sie, lieber Pipin, halten es vielleicht für ein Zeichen von Mut und Ueberlegenheit, wenn ein Mensch sich duelliert, wozu jeder beliebige Leutnant die Seelenstärke aufbringt. Aber sich dem öffentlichen Spott aussetzen und nicht mit einer Wimper zu zucken, hundert Augen mit Geringschätzung auf sich gerichtet sehen und nicht einen Moment die Fassung zu verlieren, sich lächerlich machen mit vollem Bewußtsein, das können nur die ganz seltenen Menschen. Ich werde mich ihm zum Zeichen meiner Hochachtung vorstellen.«
Gerade als Dr. Kranich sich anschickte, seinen Vorsatz auszuführen, stand der Fremdling auf und entfernte sich. Vorher hatte er seine Busennadel aus dem Baumwolltuch gezogen und sie als Lesezeichen in das Buch gesteckt, das er auf dem Tische liegen ließ.
»Nun, Doktor Kranich«, sagte Elmenreich, »da Sie soviel Courage haben, gehen Sie doch einmal nachsehen, was für ein Buch das ist, in dem Ihr Held so dringend zu lesen hat.«
»Fürchten Sie sich nicht, Elmenreich, Ihre Neugier soll befriedigt werden auch ohne mich. Pipin, das ist eine Aufgabe für Sie. Stehen Sie unauffällig auf, gehen Sie unauffällig an dem Tisch vorbei und lesen Sie unauffällig den Titel des Buches.«
Pipin traf vor dem Tische mit einem Dutzend anderer Abgesandter zusammen. Er kehrte sehr nachdenklich zurück.
»Es ist lateinisch«, sagte er. »Obenauf steht Arcana coelestia; alles Uebrige habe ich in der Eile nicht lesen können. Denn das Merkwürdigste ist die Kravattennadel, die er hineingelegt hat. Denken Sie sich: sie besteht aus einer Schlange, die sich in den Schweif beißt! Und diese Schlange schlingt sich um einen sechseckigen Stern, und in diesem Stern hängt ein Ding, das aussieht wie ein kleinwinziger Stimmschlüssel. Das muß etwas zu bedeuten haben! Ich glaube wirklich, Doktor Kranich hat Recht, dieser geheimnisvolle Fremde ist jemand Besonderer, glauben Sie nicht auch, gnädige Frau?«
Indessen war der Fremdling zurückgekommen. Eilig huschten die letzten Neugierigen auf ihre Plätze. Er aber steckte friedlich seine Nadel wieder an, nahm sein Buch in den Arm, schlug seinen Mantel mit einer weiten, malerischen Bewegung vorne übereinander und ging.
Der lang zurückgestaute Strom der Rede ergoß sich jetzt in brausenden Wogen durch die Veranda. Von den Tischen der Räte drangen Laute der heftigsten Entrüstung herüber. Sie verhinderten Elmenreich, seine eigene Entrüstung zu äußern; denn Dr. Kranich sagte lächelnd:
»Da drüben haben Sie ja Gesinnungsgenossen, Elmenreich. Wollen Sie nicht hinübergehen und mit den Hofräten heulen?«
Als man sich gesegnete Mahlzeit wünschte, fiel es auf, daß der Graf fehlte. Niemand hatte ihn fortgehen gesehen.
Er ist auch beim Abendessen noch nicht wiedererschienen.
Pipin: »Das wäre mein Ideal: ein Kreis hervorragend gescheiter Menschen, die so recht auf der Höhe der Kultur stehen, die alles begreifen, was in der Welt vorgeht und darüber gut zu reden wissen, so daß man die Empfindung hat, man lebt ganz im Zentrum, man lebt so reich und intensiv, als es zur Zeit möglich ist. Und mit solchen überlegenen, ausgezeichneten Menschen in einer wahren, lebenslänglichen Freundschaft verbunden zu sein – sagen Sie, Herr Doktor, wäre das nicht ein himmlisches Glück?«
Elmenreich: »Puah! Lebenslängliche Freundschaft! Wie können Sie denn in Ihrem Alter noch so was erwarten! Lebenslängliche Freundschaft ist nur möglich unter Menschen, die stehen bleiben, also unter nicht modernen Menschen; denn das macht ja den modernen Menschen aus, daß er sich beständig wandelt. Und dann – giebt es etwas Langweiligeres als lebenslängliche Freundschaft? Man kennt sich längst auswendig, man hat sich nichts Neues mehr zu sagen, keine Ueberraschungen mehr zu machen, keine Rätsel mehr aufzugeben! Man weiß schon im Vorhinein, was der werte Freund in jeder Lage denken und thun wird; so oft er zu reden anfängt, fragt man sich gähnend: Du lieber Gott, wird er denn sein ganzes Leben lang auf diese paar Gedanken reisen?«
Pipin, nach einer Pause schüchtern: »Aber weil wir schon bei diesem Gegenstande sind, Herr Doktor – darf ich offen sprechen?«
Elmenreich unwirsch: »In Gottes Namen, wenn Sie wieder einmal etwas nicht bei sich behalten können.«
Pipin: »Ich verstehe nämlich nicht – Sie werden freilich sagen, daß ich nicht alles zu verstehen brauche. Aber vielleicht ist Doktor Kranich falsch unterrichtet. Er behauptet nämlich –«
Elmenreich: »Gewöhnen Sie sich doch dieses schreckliche Nämlich ab, Pipin. Nämlich ist ein geradezu schwachsinniges Wort.«
Pipin errötet, faßt sich aber gleich wieder: »Danke; ich werde es mir abgewöhnen. Doktor Kranich also behauptet –«
Elmenreich: »Gehört Doktor Kranich zur Sache?«
Pipin bemerkt nicht, daß Elmenreich ausweichen will. Er fährt tapfer fort:
»Ei freilich! Er behauptet näm – pardon, er behauptet, daß Sie vor einigen Jahren der beste Freund des Grafen waren, – wie er sich ausdrückt: frère et cochon mit ihm. Ist das wahr?«
»Und wenn es wahr wäre?«
»Dann verstehe ich nicht – Sie haben mir ja erlaubt, offen zu sprechen, Herr Doktor – ich verstehe nicht, wie Sie jetzt so böse auf ihn sein können. Wenn man einmal eines Menschen Freund ist, muß man es doch bleiben!«
Elmenreich macht eine Bewegung ärgerlicher Ungeduld. Pipin aber läßt sich nicht einschüchtern.
»Ich bitte Sie, Herr Doktor, sagen Sie mir die Wahrheit! Die Sache beunruhigt mich auf das Tiefste. Sie sind doch beide so großartige, bedeutende Menschen! Wie herrlich müßte es sein, wenn Sie beide wieder vereinigt wären! Gäbe es denn kein Mittel?«
»Lassen Sie das, Pipin!«
»Ist es wirklich unmöglich? Können Sie mir nicht wenigstens den Grund sagen? Den Anlaß Ihres Zerwürfnisses? Vielleicht ist es ein bloßes Mißverständnis gewesen, das nur aufgeklärt zu werden braucht? Vielleicht, wenn Sie sich dazu bewegen ließen, mit mir darüber zu sprechen, könnte ich dem Grafen – glauben Sie mir, Herr Doktor, ich würde nichts unversucht lassen! Ich würde alles – sagen Sie doch ein Wort!«
Elmenreich schien durch Pipins Eifer gerührt. »Pipin, das verstehen Sie nicht« – sagte er, aber in einem väterlichen Ton.
»Vielleicht doch! Versuchen Sie es wenigstens! Gott, wenn es mir gelänge, wenn – wenn ich das bewirken könnte, ich wäre närrisch vor Freude!«
»Also da Sie es durchaus wissen wollen: es ist gar kein besonderer Anlaß gewesen, gar kein Zerwürfnis. Wir haben uns einfach auseinandergewandelt.«
»Auseinanderge – was?« fragte Pipin.
»Auseinandergewandelt!« wiederholte Elmenreich mit Betonung. »Nun werden Sie wohl begreifen, daß da nichts zu machen ist.«
Pipin sah nicht sehr überzeugt aus. Er seufzte, wagte aber keine Frage mehr.
Abends nahm er Dr. Kranich beiseite. »Ich möchte Sie etwas fragen«, sagte er mit wichtiger Miene. Als ich mich entfernen wollte, hielt er mich zurück. »Oh, es ist kein Geheimnis, gnädige Frau; vielleicht können Sie mich aufklären, falls Doktor Kranich nicht wollte. Denn Doktor Kranich ist leider nicht geneigt, sein Wissen und Können in den Dienst anderer zu stellen. Denken Sie sich, neulich hat er gesagt, daß das »Humane« ein überwundener Standpunkt ist, von dem nur mehr Provinzschullehrer und gebildete Damen das Heil erwarten –«
»Ei Pipin, Sie fangen an, mich bei den gebildeten Damen zu denunzieren? Wollen Sie etwa mit der gnädigen Frau einen Wohlthätigkeitsverein für Arme im Geiste gründen?«
Ungehaltener, als ich ihn jemals gesehen, versetzte Pipin: »Ach bitte, lassen Sie doch die gnädige Frau aus dem Spiel! Ich wollte Sie ja nur fragen, weil Sie sich in allen modernen Fragen so gut auskennen, was denn das heißt: »sich einfach auseinander wandeln –?«
»Wo haben Sie denn das aufgeschnappt?«
»Ist das nicht alles eins?«
»Ich frage, wo Sie das aufgeschnappt haben?«
»Wenn ich es sagen muß: Doktor Elmenreich behauptete es von sich und dem Grafen. Er sagte wörtlich: »wir haben uns einfach auseinandergewandelt.«
Dr. Kranich lachte laut auf. »Na, dann zerbrechen Sie sich Ihr Köpfchen nicht darüber, Pipin. Das ist nur für die upper ten thousand des Geistes und nicht für Sie.«
* * *
26. Juli 1893.
... Dir mehr über Pipin mitzuteilen? Wer Pipin ist? Aber es fällt doch niemandem ein, darnach zu fragen. Er ist da, das ist genug. Und namentlich ist er immer da, wenn etwas von ihm gebraucht wird. Jemand langweilt sich – Pipin leiht ihm Bücher; jemand hat keinen Regenschirm – Pipin bringt ihm den seinen; jemand macht eine Bergpartie – Pipin versorgt ihn mit Bergstock und Landkarte; jemand hat sein Taschentuch vergessen – Pipin zieht ein frisches aus der Tasche; jemand fürchtet, sich zu erkälten – Pipin wickelt ihn in seinen Plaid; jemand hat sich in den Finger geschnitten – Pipin klebt ihm englisches Pflaster auf; jemand fühlt sich schlecht – Pipin hält ihm den Kopf. Was immer geschehen mag, Pipin wird um Hilfe gerufen; was immer fehlen mag, Pipin schafft es herbei. Es ist mit Sicherheit anzunehmen – obwohl Pipin darüber die strengste Verschwiegenheit bewahrt – daß er auch in hervorragendem Maße angepumpt wird. Denn Pipin ist eben so reich, als er gefällig ist.
Ein Umstand fällt mir auf, den ich mir nicht ganz erklären kann. Pipin wird von allen Gruppen dieser bunt zusammengewürfelten Gesellschaft, von den freien Geistern und höheren Menschen wie von den Würdenträgern und Titulaturgrößen bis herab zu jenen untergeordneten Elementen, die nach keiner Richtung qualifiziert sind – belächelt. Jedermann nimmt seine Dienste als etwas Selbstverständliches an, und jedermann macht sich lustig über ihn, kaum daß er außer Hörweite ist.
Vielleicht liegt die Veranlassung dazu bloß in dem Namen Pipin, den er sich giebt, obwohl er eigentlich Josef heißt, mit der vorstadtmäßigen Variante Pepi. Wer die Idee hatte, diesen Pepi in einen Pipin zu verwandeln, ist nicht bekannt; aber Dr. Kranich war es, der den Namen Pipin mit dem schmückenden Beiwort »der Dumme« versah. Viele kennen seinen wirklichen Namen gar nicht; alle Welt nennt ihn einfach Pipin. Und nun heißt es Pipin hin, Pipin her; und wenn er den Rücken kehrt, verbreitet sich ein behagliches Schmunzeln, und das Wort »der Dumme« summt wie ein dumpfer Glockenton von allen den schmunzelnden Lippen.
Warum sollte ein Name nicht genügen, um einen Menschen in den Augen seiner Mitmenschen lächerlich erscheinen zu lassen? Aber es ist auch möglich, daß er sich durch etwas in seinem Benehmen lächerlich macht. Er ist immer voll Dienstfertigkeit und Aufmerksamkeit – auch jenen gegenüber, die gewohnt sind, als etwas Nebensächliches und mit Geringschätzung behandelt zu werden. Nun nehmen sie an, daß Pipin tief unter ihnen stehe – weshalb wäre er sonst voll Dienstfertigkeit und Aufmerksamkeit gegen sie? Und noch eine Eigenschaft hat Pipin, die geeignet ist, ihn in den Augen der »ernsthaften« Menschen herabzusetzen. Er bewundert alles. Immer ist er voll Staunen über irgend etwas. Die Natur, die Welt und die Menschen sind ihm ein Gegenstand unerschöpflicher Bewunderung. Dadurch erweckt er den Anschein der Inferiorität; denn die meisten befinden sich doch in einem Zustand beständigen Mißvergnügens, und es ist ihnen nichts recht zu machen. Sie sind Kritiker, nicht Bewunderer, und finden darin einen Beweis ihrer Ueberlegenheit über die Dinge und Menschen ...«
* * *
Mondaufgang am Seeufer. Staffage: Eugenie, Dr. Kranich, Elmenreich, Pipin, ich.
Dr. Kranich unterhält sich damit, in den öligen Wasserspiegel, dort, wo der Mond wie ein goldenes Wasserrosenblatt schwimmt, Steine zu werfen. Dann zerfällt der Mond in glitzernde Trümmer, hüpft unruhig über die Wellenkreise und sammelt mühsam wieder seine zerrissene Scheibe.
Eugenie steht mit Elmenreich abseits.
»Patsch!« sagt Dr. Kranich und stößt mit dem Fuß einen großen Stein ins Wasser. »Fräulein Eugenie, ich bemühe mich seit einem Jahrhundert vergeblich, Ihre gnädige Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Erbarmt Sie der arme Mond gar nicht, der da so gern ungestört auf dem Wasser liegen möchte und sich selber betrachten? Sie wissen doch, im Mond sitzt eine wunderschöne Fee, die sich wie alle schönen Frauen unersättlich in dem Spiegel schauen will –«
»Das hab' ich nie gehört«, versetzt Eugenie; »im Mond sollen zwei Liebende zu sehen sein, die sich küssen –«
»So weit versteigt sich meine Phantasie noch nicht! Ich weiß bis jetzt nur, daß diese wunderschöne Fee einsam in ihrem Nachen fährt und sich langweilt. Es fehlt ihr zwar nicht an Gesellschaft; ein ganzes Heer von Schwänen zieht hinter ihr drein, angelockt durch ihre märchenhafte Schönheit. Alle Arten von Schwänen sind darunter; feiste, solide, mit ernsthaften Absichten und kleinen beginnenden Glatzen hinten auf dem Kopf; und unglückliche magere, die bloß einen langen Hals und lange Zähne beim Anblick der Mondfee kriegen, weil sie keine fixe Stellung haben und nicht einmal noch Aussicht auf Quinquennalzulagen; junge Schwäne, ganz rosig wie Spanferkel vor Anbetung und Liebe, die mit einem schwärmerischen Augenaufschlag hinter den anderen herschwimmen und demütig warten, ob die Mondfee einmal bemerken wird, daß sie auf der Welt sind; und freche schwarze Schwäne, mit einem blutroten Ring auf dem Schnabel, die nach jedem hacken, der sich vordrängen will –«
Pipin ist begeistert. »Großartig«, ruft er und hustet vor übermäßigem Ergötzen, während Eugenie unbeweglich bleibt und nach Elmenreich sieht, was er für ein Gesicht macht.
»Und alle diese Schwäne singen unermüdlich die Mondfee an, jeder nach seiner Weise, die feisten soliden mit ehrbaren Annäherungsversuchen und notariell sichergestellten Lockrufen; die rosenroten jungen tragen ihr in gereimten Vierzeiligen Herz und Hand entgegen; die frechen schwarzen aber schreien nur siegesgewiß kuckuck, kuckuck –. Denn die schwarzen Schwäne, Fräulein Eugenie, sind von sonderbarer Abkunft. Es war einmal ein Kuckuck, der verliebte sich in eine große schwarze Amsel. Aber die Amsel wollte nichts wissen von seiner Liebe, weil der Kuckuck kein épousseur ist und bekanntlich kein Nest baut. Mit einem so liederlichen Vogel wollte sich die Amsel nicht einlassen. Da sagte der Kuckuck: O liebe Frau Amsel, wie könnt ihr doch einem Kuckuck mit solchen moralischen Bedenken kommen! Laßt das meine Sorge sein; wir Kuckucke brauchen ja gar kein Nest, wir legen unsere Eier nach gutem Kuckucksrecht in fremde Nester. Und als die Amsel das Kuckucksei gelegt hatte, trug es der Kuckuck in ein Schwanennest; dort brütete es der schneeweiße Schwan gewissenhaft aus. Es entstand zwar ein großes Schütteln des Kopfes in der Verwandtschaft über den unvermuteten schwarzen Sprößling; aber gutmütig, wie diese schneeweißen Vögel einmal sind, machten sie sich weiter keine Gedanken darüber.«
»Der Schluß ist schwach, mein lieber Arthur«, sagte Elmenreich; »es fehlt ihm die Pointe –«
»Und die Mondfee?« fragte Eugenie. »Kommt die Mondfee in der Geschichte nicht mehr vor?«
»Die Mondfee fährt in ihrem goldenen Nachen weiter, ungerührt und unergründlich, wie eine marmorne Sphinx –«
»Ich behaupte, die Mondfee ist in den fliegenden Holländer verliebt«, begann Elmenreich. »Sie hat sich's in den Kopf gesetzt, kein anderer als der fliegende Holländer soll es sein, so wundervoll romantisch, wie sie sich ihn vorstellt, melancholisch, weltschmerzlich, unbändig gescheit aber doch zugleich erlösungsbedürftig. Und wenn ein Schiff vorüber fährt mit einer dunklen Gestalt am Steuer, so erhebt sie ihre Sirenenstimme und streckt ihre weißen Hände dem Unbekannten entgegen. »Komm zu mir, ich will dich erlösen«, ruft sie ihm zu und winkt mit dem Taschentuch. Geschmeichelt hält der Unbekannte an, um in den goldenen Nachen einzusteigen.
»Ich kenne dich, du bist der fliegende Holländer«, sagt die Mondfee mit ihrer Sirenenstimme.
»Du lieber Gott, nein, ich bin ein ganz gewöhnlicher Sterblicher«, versetzt der Unbekannte enttäuscht.
Aber die Mondfee bleibt dabei, daß er der fliegende Holländer sei; »ich habe dich ja«, sagt sie und weist mit ihrem Lilienfinger ins Blaue, »ich habe dich ja auf jenem geheimnisvollen Schiffe gesehen, das dort in der Ferne segelt.« Denn das ist das Eigentümliche an dem fliegenden Holländer, daß er immer in der Ferne segelt und niemals von dem goldenen Nachen der Mondfee eingeholt wird. Der Unbekannte will der Sache auf den Grund kommen; er rudert aus Leibeskräften, bis er das spukhafte Schiff erreicht. Am Steuer sieht er eine vermummte Gestalt stehen; die fragt er beherzt: »Alle guten Geister loben Gott den Herrn – wer bist du?« Da bewegt sich das Phantom – und mit Staunen nimmt er wahr, daß er selber es ist, der dort am Steuer steht, aber in einem phantastischen Kostüme, mit Scharlachmantel und Barett und gestickten Königskronen an den Rockaufschlägen. »Wer ich bin?« antwortet der gespenstische Doppelgänger und wirft sich in die Brust. »Ich bin derjenige, den sich die Mondfee unter dir vorstellt –« und schwupps! ist er wieder unerreichbar weit weg.«
Dr. Kranich gähnt. »Das ist nichts für mich, dabei muß man sich etwas denken«, sagt er zu Eugenie; »dieser lasterhafte Elmenreich will einen immer zum Nachdenken verleiten –«
»Sind Sie etwa noch niemals mit Ihrem Phantom zusammengestoßen, Arthur? Es liegt doch etwas Furchtbares, fast Schauerliches in dem Gedanken, daß wir so wenig wissen, als was wir in dem Gehirn unserer Nebenmenschen existieren. Heften sich nicht an unsere einfachsten und flüchtigsten Worte unberechenbare Wirkungen? An Worte, die wir unbedacht hinaussprechen unter dem Einfluß einer vorübergehenden Stimmung? Und diese Worte werden in fremden Seelen eine Macht, über die wir selber keine Gewalt haben –«
Pipin, der indessen verschwunden war, kehrte jetzt zurück. Er hatte Eugeniens Jacke aus der Veranda geholt.
»Ihnen ist kalt, nicht wahr?« sagte er, während er ihr beim Anziehen behilflich war. »Ich habe gesehen, daß Sie auf einmal so blaß geworden sind –. Vor lauter Märchenerzählen hätten wir beinahe die arme Mondfee vergessen –!«
* * *
Pipin: »Ich möchte Sie gerne etwas fragen, lieber Doktor, darf ich?«
Elmenreich: »Schon wieder?«
Pipin: »Aber Sie müssen mir aufrichtig antworten –«
Elmenreich, zu mir gewendet: »Da hören Sie diesen Menschen! Aufrichtig antworten! Und das sagt er so leicht hin, als ob er da eine Kleinigkeit verlangte, etwas Selbstverständliches! Als ob Aufrichtigkeit nicht zu den schwierigsten und verantwortlichsten Dingen gehörte, die ein Mensch auf sich nehmen kann!«
Pipin: »Aber gehen Sie doch, Herr Doktor, Sie werden doch nicht auch anfangen, mich aufzuziehen?«
Elmenreich: »Ueberdies bin ich ein durchaus unaufrichtiger Mensch, Pipin; Aufrichtigkeit ist nicht meine Sache –«
Pipin, glühend: »Sie? Sie sind der ehrlichste Mensch unter der Sonne!«
Elmenreich: »Den aufrichtigen Menschen, die immer mit ihrer »Wahrheit« herausplatzen, fehlt einfach das geistige Schamgefühl, deshalb entblößen sie ihre Seele bei jeder Gelegenheit. Und sie muten es auch den anderen zu, die anständig genug sind, ihre Kleider anzubehalten. Zum Kuckuck, wissen denn diese Leute nicht, daß Kulturmenschen einander nicht ohne Widerwillen nackt sehen können?«
Pipin, ratlos: »Dann bitte ich um Verzeihung, Herr Doktor. Ich habe es aber wirklich nicht so gemeint. Ich sagte ja nur »aufrichtig«, weil ich – je nun, sagen Sie selbst, was hat man denn von einem unaufrichtigen Urteil?«
Elmenreich: »Im Gegenteil: wer hat etwas von einer Aufrichtigkeit, die nicht schmeichelhaft für ihn ist? Der Mensch mit dem dämonischen Glauben an sich selbst verachtet den Tadel und haßt den Tadler; der Mensch aber, dem dieser Glaube fehlt, wird durch den Tadel entmutigt und ins Herz getroffen. Und wissen Sie, Pipin, da will ich noch lieber einen solchen wütenden Stier des Selbstbewußtseins wider mich aufgebracht haben, als eine solche arme Seele tiefer ins Fegefeuer des Zweifels hineinstoßen. Offen gestanden, es ist mir zu unbequem, eventuell einen solchen Zusammengefallenen mit gütlichen Argumenten aufrichten zu sollen, bis er wieder halbwegs allein stehen kann –.«
Pipin wußte sich nicht zu helfen. »Das habe ich wieder recht ungeschickt angefangen«, sagte er, während er aus Verzweiflung den Hut abnahm und sich den Kopf kratzte. Dann auf einmal lachte er erleichtert.
»Ach so, Sie meinen, daß Sie an mir einen solchen Zusammengefallenen hätten, wenn Sie aufrichtig gegen mich wären? Da brauchen Sie nichts zu fürchten, lieber Doktor; es handelt sich gar nicht um mich. Ich wollte Sie ja nur fragen, was Sie aufrichtig, aber wirklich aufrichtig, über Fräulein von Gabielski denken?«
»Ueber Fräulein von Gabielski? Warum fragen Sie das gerade mich?«
Elmenreich warf unter seinen gerunzelten Augenbrauen hervor einen strengen Blick auf Pipin, der dunkelrot wurde. Er antwortete nicht gleich.
»Ich habe mir gedacht, daß Sie ein gewisses Vertrauen, eine gewisse Zu – ein gewisses Wohlwollen für mich haben – Sie sehen, Herr Doktor, ich bin nicht so ganz ohne Selbstbewußtsein! Und wenn ich Sie nun bitte, geben Sie mir einen solchen Beweis von Vertrauen –?«
»Sie sind ein Kindskopf! Welchen Wert glauben Sie denn, daß solche bestellte Vertrauensbeweise haben können?«
»Also nein, nicht als Beweis von irgend etwas. Sondern sagen Sie es mir nur als Menschenkenner, als Mann von überlegenem Urteil, als Ihre ganz persönliche Meinung –«
»Ich weiß nicht, was Sie wollen. Fragen Sie doch lieber die gnädige Frau; wenn es sich um Frauen handelt, muß man immer Frauen fragen; die sehen da viel schärfer als wir Männer.«
»Daran zweifle ich nicht: aber wenn es nun gerade Ihr Urteil ist, das mich interessiert, Ihre ganz persönlichen Empf – wie soll ich denn nur sagen, damit Sie nicht unangenehm berührt sind, oder damit Sie mich nicht für zudringlich halten –? Ihre persönliche Meinung halt!«
»Hol mich Gott, was haben Sie denn vor, Pipin? Wollen Sie dieser jungen Dame einen Heiratsantrag machen?«
»Gesetzt den Fall – was würden Sie dazu sagen?«
Elmenreich faßte Pipin mit beiden Händen bei den Schultern und schüttelte ihn heftig. »Mensch, Mensch, Sie werden doch nicht –?«
Pipins Miene schien ihn zu beruhigen. Er ließ ihn los, ging ein paarmal auf und ab, und sagte dann kühl:
»Also meine persönliche Meinung über Fräulein Eugenie! Mna! Lieber Pipin, über junge Mädchen giebt es kein Urteil. Wer soll denn erraten können, was für ein Schmetterling aus einem solchen Seidencocon ausfliegen wird? Und was meine persönliche Meinung über die Ehe betrifft, so kann ich Ihnen nur sagen: entweder man muß den Mut haben, kopfüber hineinzuspringen, auf den ersten Anlauf, ohne einen Blick in die Tiefe zu werfen, als Abenteurer und Glücksritter; oder – nun, sobald man sich besinnt, ist es aus; man kehrt tausendmal lieber um und geht den langweiligen ebenen Weg der Junggesellenexistenz allein weiter, als daß man sich in diesen schauerlichen Abgrund stürzt, der da vor einem liegt.«
»Aber ganz so schrecklich kann die Sache nicht sein, da doch die meisten Menschen den Sprung machen!«
»Das ist nur ein Beweis mehr, daß die meisten Menschen gedankenlos und empfindungsroh sind. Sonst könnte eine so furchtbare Institution wie die Ehe nicht bestehen. Wenn in einem Zirkus zwei reißende Bestien in einen Käfig zusammengesperrt werden und sich zerfleischen, dann schreien die Empfindsamen über Tierquälerei; sie bemerken aber nicht, daß sie selbst alle paarweise in Käfige gesperrt werden, und daß der Mensch in seiner gemeinen Alltäglichkeit das bösartigste Vieh auf der Welt ist. Giebt es etwas Abstoßenderes als diese Tragikomödie der Ehe, in der zwei von Natur aus so feindliche Wesen wie Mann und Weib mit ihren primitivsten Instinkten auf einander losgelassen werden, um sich durch ihre albernen Gewohnheiten und schäbigen Unarten, durch die ganze erbärmliche Notdurft des täglichen Lebens zu Tode zu schinden –?«
»Aber wenn sich die beiden lieben –«
»Desto schlimmer! Sie glauben wohl auch, Pipin, die Liebe ist ein Packesel, dem man alles aufbürden kann, was im Leben lästig und schwierig ist? Und dann: welcher denkende Mensch wird im Zustand des Rausches eine Entscheidung auf Lebenszeit treffen wollen? Verliebt sein, heißt nichts anderes, als eine illusionäre Vorstellung auf eine ganz unbekannte Person übertragen. Wenn man aus Liebe heiratet, erhebt man diese unbekannte Person zur »Lebensgefährtin«, um durch die Erfahrung belehrt zu werden, wie sehr man sich im Zustande der Illusion verrechnet hat. Nein, lieber Pipin, Liebe und Ehe – das sind zwei getrennte Welten, die vernünftige Menschen nicht in Verbindung setzen wollen. Aber kommen Sie so einer höheren Tochter mit dergleichen! Da wird jedes Bedenken über die Ehe gleich als persönliche Beleidigung aufgefaßt, als eine böswillige Betriebsstörung. Heiraten, heiraten, das ist das Alpha und Omega ihres ganzen Denkens. Wenn sie einen Mann kennen lernen, so sehen sie ihn gleich daraufhin an, ob er für sie »passend« ist oder nicht –«
»Nun ja, ja«, unterbrach ihn Pipin etwas ungeduldig. »Das ist aber ganz selbstverständlich, da ja das Heiraten in der That das Alpha und Omega für sie bedeutet. Wie sollten sie denn nicht alle Mittel anwenden –«
Aber Elmenreich ist nicht der Mann, der sich unterbrechen läßt. Er fuhr fort:
»Und dann sieht man erst, wie undifferenziert diese zarten und feinen Wesen sind. Wo die äußeren Verhältnisse entsprechende sind, wird ihnen alsbald auch der Inhaber dieser »Verhältnisse« eine interessante, eine anziehende, eine liebenswerte Persönlichkeit, da verzeihen sie alles, da dulden sie alles, da ertragen sie alles, ganz wie es der heilige Paulus von der Liebe will. Man muß sie nur kennen, diese Virtuosinnen der standesgemäßen Liebe, um zu wissen, was man von ihrem leisen Entgegenkommen und ihren verschämten Anbiederungsversuchen zu halten hat –«
»Sie sind ein Weiberfeind«, rief Pipin mit Entrüstung.
»Nein, lieber Pipin, ich bin nur für reinliche Unterschiede. Die Hochschätzung meiner Person ist mir sehr wertvoll bei Frauen, die an meinen übrigen Verhältnissen nicht interessiert sind. Und was die erotischen Vergnügungen betrifft – nun, wissen Sie, Pipin, wenn schon einmal dafür bezahlt werden muß, dann zieh ich diejenigen Personen vor, die diese nackte Thatsache nicht mit dem Brimborium der Liebe überschminken. Alles in allem: um den Preis der Ehe kaufe ich die Erlaubnis nicht, meine schönen Gefühle durch den täglichen Gebrauch abzunützen.«
»Ach Gott, Sie haben ja gar keine schönen Gefühle, sonst würden Sie nicht so reden«, sagte Pipin verzweifelt. »Was helfen alle diese allgemeinen Betrachtungen, wenn sie auch zehnmal richtig sind? Sehen Sie denn nicht, wie die Sachen liegen? Ein schönes, edles, herrliches Geschöpf schmachtet in der erbärmlichsten Umgebung, wird mit Füßen getreten, muß täglich, stündlich alle Qualen erdulden, die nur immer einem höheren Wesen durch niedrige und rohe Menschen zugefügt werden können – und Sie stellen allgemeine Betrachtungen über die Ehe und die standesgemäße Liebe an! Nein, ich begreife Sie nicht, Herr Doktor! Können Sie da wirklich ruhig zusehen? Sind Sie denn in Ihrem Innern nicht der Meinung, daß da etwas geschehen soll?«
»Ich fühle in meinem Innern durchaus keine Nötigung, mich bei jeder beliebigen Andromeda als Perseus aufzuspielen. Und da Sie mich um meine aufrichtige Meinung gefragt haben, so würd' ich auch Ihnen dringend raten, Pipin, sich vor jedem derartigen Versuch zu hüten. Es sollen Fälle vorkommen, wo die befreite Andromeda sich späterhin selbst in einen Drachen verwandelt, der über den voreiligen Perseus herfällt –«
Pipin knöpfte mit zitternden Fingern seinen Rock zu.
»Verzeihen Sie, aber ich bin wirklich nicht imstande, diesen Ton länger auszuhalten«, sagte er und ging hastig weg, bevor Elmenreich ihn zurückhalten konnte.
* * *
Welche seltsame Gewalt die Stimmung der Umgebung ausübt!
Jemand spielte Orgel in der Kirche. Gedämpft drangen die Töne heraus wie aus einer unbestimmten, raumlosen Ferne; zuweilen schwollen sie heulend an, zuweilen starben sie in ein ersticktes Flüstern hin. Es dämmerte; die tiefherabhängenden Wolken färbten sich mit einem schwermütigen Violett und zerrissen hier und dort. Dann sah man auf graue Felswände oder schwarze Wälder wie auf unbegreifliche fremde Welten. Aber nur in einer kurzen Vision; die Nebel zogen sich wieder darüber, wallten abwärts, aufwärts, in einem lautlosen, feierlichen Spiel, ruhevoll geschäftig wie in verschwiegener Vorbereitung wunderbarer Dinge.
Elmenreich steht neben einem der Grabsteine und betrachtet in tiefem Nachdenken den Rasengrund, der so viele menschliche Leiber verschlungen hat. Nach einem langen Schweigen richtet er sich aus seiner Versunkenheit auf.
»Diese Musik, diese furchtbare Musik! Gehen wir doch fort! Ich kann die Musik nicht ertragen! Sie reißt etwas auf in meinem Innern, das sonst verschlossen ist, und alle dunklen Gestalten kommen daraus hervor, die ich nicht sehen will, die ich nicht hören will –«
In seiner Stimme war jener Ton des Leidens, der immer mitklingt, wenn er von sich selber spricht. Und ich sagte: »Ja, lassen Sie uns gehen. Es ist besser, man räumt der Musik keine Gewalt ein; sie verspricht immer etwas, ohne es zu halten –«
Aber er hörte mich gar nicht, und er ging auch nicht fort. Er blieb an der niedrigen Mauer lehnen, das Gesicht hinausgewendet gegen den Himmel. Die alten, verfallenen Grabsteine ragten neben ihm auf wie Geistererscheinungen, stumme, hoffnungslose Zeugen, daß alles Leben ewig in dem ungeheuren Ozean des Nichts ertrinkt.
Und ich glaubte zu wissen, was in dieser schweigenden, versunkenen Gestalt vor sich ging. Deutlich als hätte ich sie eben vernommen, lebten die Worte in meiner Erinnerung auf, die er einst in einer ähnlich feierlichen Stunde zu mir sagte, die Worte, die einen so großen Eindruck auf mich machten, daß sie mir der Schlüssel zu seinem ganzen Wesen geworden sind.
»Ich bin mit dem Leben unzufrieden, es ist mir eine Last. Und warum sollte ich mich nicht davon freimachen können, wie von einer anderen Plage und Last? Aber ich will die Entscheidung darüber treffen als ein freier und besonnener Mensch; und ich will mir vorher das Leben darauf hin ansehen ein paar Jahre lang. Wir leben für gewöhnlich so blind in den Tag hinein, als ob es sich von selbst verstünde, daß man lebt. Man könnte aber auch das Leben einmal unter der Perspektive seiner Wertlosigkeit betrachten – und in dem Augenblick, als man erkannt hat, daß es nichts wert ist, ein Ende machen, aus freiem Entschluß, mit unbewegter Seele, göttlich überlegen über Tod und Leben ...«
Oft seither, wenn ich ihn stumm und finster vor sich hinbrüten sah, dachte ich mit einem Schauer, daß er vielleicht jetzt über Leben und Tod entscheide. Mit einem Schauer fragte ich mich oft, ob wohl der Termin, den er sich gesetzt hat, abgelaufen sei. Und Elmenreich schien mir aus der Reihe der gewöhnlichen Sterblichen herausgetreten, dem gemeinen Erleben entrückt. Etwas wie eine höhere Mission schien einen Nimbus um ihn zu verbreiten. Er war ein Richter zwischen Sein und Nichtsein. Deshalb löst er alles Geschehen in Reflexionen auf und verwandelt seine Umgebung in bloße Zuhörer. Er sucht keine Antworten, keine Zustimmung, keine Meinung eines anderen. Ein Argument, das er nicht selbst findet, ist etwas Fremdes und Unbrauchbares für ihn. Und er muß immer allein mit sich bleiben und kann niemals von einem anderen etwas empfangen.
Ueber die grauen Wogen des Nebels kam ein Anhauch von Röte heraufgeflogen. Er setzte die Gegend in ein wundersam verheißungsvolles Zwielicht. Morgen, wenn die Sonne heraufsteigt, werden diese Schleier fallen. Dann stehen alle Gipfel in wolkenloser Klarheit am Himmel und erfüllen die Thäler mit dem Glanz ihres Anblicks – die Thäler, für die ihre grauenvollen Schluchten nur sanfte blaue Schatten, ihre tötlichen Einöden nur leuchtende Sonnenflecke sind.
Das Orgelspiel erhob sich zu einer triumphierenden Schlußkadenz. Die Töne rauschten noch einmal laut auf, schwollen in breiten Fluten herein, den Friedhof mit festlichem Brausen umbrandend.
Dann plötzlich tiefe Stille. Entzaubert, ernüchtert lag die Welt in der grauen Dämmerung. Von der Straße leuchteten die ersten Laternen herüber. Es wurde empfindlich kalt; wie Reif senkte sich die Feuchtigkeit als blasser Schimmer auf die Wiesen.
Elmenreich schüttelte sich wie ein Erwachender. Er wendete sich an mich und begann zu reden.
Aber was er sagte, war nicht das, was ich erwartete. Es war bloß der Kommentar zu seinem gestrigen Gespräch mit Pipin. Ich hatte seine schweigende Versunkenheit ganz falsch interpretiert. Und wie ungerecht es auch sein mochte – ich war verdrießlich darüber und nicht geneigt, auf sein Gespräch einzugehen.
»Ist man nicht ein Narr, wenn man sich vor dem Unglück fürchtet? Was könnte mir schließlich dabei geschehen? Unglücklich werden? Als ob ich jetzt glücklich wäre! Was hat man denn davon, daß man im Leben immer mit heiler Haut davongekommen ist, dank seiner Besonnenheit, dank seiner »höheren Einsicht« –? Man leidet zuletzt an seiner heilen Haut eben so sehr als an allen Wunden der Enttäuschung und Verbitterung. Giebt es etwas Lächerlicheres als die Borniertheit der Erkenntnismenschen, die beständig den Ast absägen, auf dem sie sitzen? ... Eine Illusion, ein Königreich für eine Illusion! In diesem einen Fall einmal nichts durchschauen, nichts besser wissen, in diesem einen Fall glauben und vertrauen, blind sein, aber glücklich, glücklich! Ganz hinschmelzen in der süßen Wärme, die von der Illusion ausströmt! Und warum nicht? Es könnte ja etwas Echtes im Hintergrund sein! Möglicherweise ist doch nicht alles Berechnung, Anempfindung, Komödie! Ich könnte mich doch auch einmal täuschen. Dieses Mißtrauen ist vielleicht nur eine andere Art Verblendung. Man müßte sich eben Beweise schaffen, untrügliche Beweise. Hja! untrügliche Beweise für die Menschen des Mißtrauens! Ohne Beweise zu glauben, da liegt's! Das ist die ganze Kunst, zu lieben. – Aber nur vor allem nicht merken, wer da so geschäftig am Werke ist! Wer da so wütend an der Kette reißt! Wer da die Oberseele verleumdet, um die Geschäfte der Unterseele zu besorgen. Eine angenehme Stellung für das Ich, so als beteiligter Zuschauer dabei zu sein, wie sich die Interessen der Gattung und die Interessen der Persönlichkeit in den Haaren liegen! Diesen Krieg zweier entgegengesetzter Instinktsphären in der eigenen Brust mitzumachen! Und etwas schreit nach Glück, nach Glück, nach Frieden, nach Ruhe – nach allem, was einfach ist und widerspruchslos. Zum Teufel mit der Persönlichkeit, wenn sie Händel anzettelt, wenn sie sich auflehnt, wo sie zu gehorchen hätte! Zum Teufel mit der Einsicht, wenn sie das Leben schwer und kompliziert macht, statt es zu erleichtern! ...«
Unversehens fixiert er mich mit einem prüfenden Blick.
»Nun, und Sie sagen gar nichts?« fragt er beinahe vorwurfsvoll. »Sie müssen doch auch einen Eindruck haben, eine Meinung! Man geht doch an einer solchen Erscheinung auch als Frau nicht gleichgiltig vorüber?«
»Aber Elmenreich! Glauben Sie denn im Ernst, daß meine Meinung den Eindruck, den Sie selber haben, im Geringsten beeinflussen könnte? Meine Meinung würde Sie nur zum Widerspruch reizen – nicht weil Sie sie geringschätzen, sondern eben, weil Sie sich nicht beeinflussen lassen wollen –«
Da lacht er mit seinem kurzen, scharfen Lachen. »Ja, das ist wahr! Ich bin dazu verurteilt, mit mir allein zu bleiben in alle Ewigkeit ...«
Hier entstand eine Lücke in diesen Aufzeichnungen. Mein Mann holte mich zu einer kleinen Reise ab, und ich war ungefähr eine Woche abwesend.
Als ich zurückkam, fiel es mir auf, daß eine Art Entfremdung zwischen Pipin und Elmenreich eingetreten war. Nicht als ob Pipin weniger ehrfurchtsvoll jeden Wink Elmenreichs beobachtet hätte. Aber es war nicht mehr Elmenreich, dem er sich anschloß, wenn mittags die Tafel aufgehoben wurde, es war der Graf. Die herablassenden Blicke, mit denen Graf Hermosa sonst Pipins Annäherungen duldete, hatten sich in vertrauliche verwandelt; er ergriff beim Fortgehen Pipins Arm, und man konnte unschwer merken, daß er wichtige Angelegenheiten mit ihm verhandelte.
* * *
11. August 1893.
... Der mich am freudigsten begrüßte, war Pipin. Er kündigte mir gleich an, daß eine Ueberraschung bevorstehe und fragte, ob ich ein paar Stunden Zeit für ihn habe.
Dann führte er mich einen Weg den Wald hinauf, abseits von den großen Heerstraßen des Promenandenpublikums.
Unterwegs teilte er mir mit, daß es dem Grafen gelungen sei, mit jenem »Fremdling«, der kurze Zeit vor deiner Ankunft hier durchgekommen war, Beziehungen anzuknüpfen. Damit habe der Graf einen tüchtigen Rekord über Doktor Kranich erzielt. Denn während Dr. Kranich sich begnügte, die Unerschrockenheit dieses außerordentlichen Menschen hervorzuheben, und es bloß bis zur Absicht brachte, sich ihm vorzustellen, sei der Graf ihm nachgereist, habe seine Bekanntschaft gemacht und ihn bewogen, sich für einige Zeit hier niederzulassen –
Einen Rekord über Dr. Kranich? Es sei mir gar nicht bekannt gewesen, daß der Graf solche Ambitionen gegenüber Dr. Kranich hege –
Dr. Kranich habe doch einmal von sich gesagt, er sei champion of the world in allen Fragen der höheren Geisteskultur – müsse man das nicht als eine direkte Herausforderung für Elmenreich und den Grafen betrachten, die beide sicherlich den gleichen Anspruch auf diese Weltmeisterschaft hätten –?
Im Grunde seines Herzens natürlich finde der Graf diesen beständigen Wettbewerb unwürdig und beschwerlich; deshalb habe die Erscheinung des Fremden ihm den Plan eingegeben, diesen Mann als den wahrhaft Ueberlegenen, als »geistige Potenz hors concours«, der sich alle freudig unterordnen könnten, hierherzubringen und in unserer Mitte festzuhalten.
Vorerst aber mußte für den Fremden eine entsprechende Unterkunft geschaffen werden. Ihm ein Hotelzimmer anzubieten, wo über ihm, unter ihm, neben ihm lärmende Gäste mit Husten, Spucken, Schnarchen, mit Geplapper und Gepolter ihr Wesen trieben, das lehnte der Graf auf das Entschiedenste ab. Und alle Wohnungen, jede Kammer, jede Dachluke jetzt in der haute saison von Kurgästen und Sommerfrischlern besetzt!
Wer anders konnte da Rat schaffen, wenn nicht Pipin? Und Pipin rannte drei Tage lang von früh bis Abend die ganze Gegend ab; dann glaubte er seine Aufgabe gelöst zu haben. Am Abhang des Tressensteines, ganz einsam auf einer Lichtung im Wald, liegt ein kleines Gehöft, inmitten von Scheune und Stallung ein Bauernhaus mit einem weißgetünchten Vordertrakt und vielfach geflicktem Schindeldach. Dort hatte Pipin den Gast eingemietet, in der guten Stube des Hauses, in der das Gastbett der Bäuerin steht.
Eine noch junge Frau, abgemagert bis auf die Knochen und von jener mißfarbigen Blässe, die durch den Sonnenbrand in ein schmutziges Gelb verwandelt worden ist, begegnete uns im Flur. Ihre eingefallenen Wangen röteten sich ein wenig, als sie Pipin, der vor mir eingetreten war, erblickte. Ich sah zwei glühende, in tiefen Höhlen liegende Augen erwartungsvoll von ihm zu mir gehen. Aber gleich darauf erlosch diese belebte Miene in einem Ausdruck der Enttäuschung. »I han gemoant, der gnä' Herr bringt 'n schon mit«, sagte sie mit tonloser Stimme.
Pipin lachte. »Ja ja, so sind die Frauen!« versetzte er scherzhaft. »Zuerst haben Sie ihn durchaus nicht bei sich aufnehmen wollen, und jetzt können Sie seine Ankunft nicht erwarten.«
Aber die Frau schien nicht geneigt, auf diesen Ton einzugehen. Sie verschwand wie ein Schatten, ohne eine Antwort zu geben.
»Ich habe ihr einiges über den Fremden erzählt und vielleicht ihre Neugierde dabei zu hoch gespannt«, sagte Pipin zur Erklärung, während wir über die schmale Holztreppe in das Zimmer hinaufstiegen. »Aber ich mußte sie doch vorbereiten, daß da nicht ein Stadtmensch von der landläufigen Art einziehen wird, sondern jemand Besonderer – so eine Art Einsiedler in härenem Gewand, hab' ich ihr gesagt, der halt auf seine eigene Façon selig werden will. Mir scheint gar, sie stellt sich jetzt einen wirklichen Einsiedler und Heiligen vor, der mit Händeauflegen die Krankheiten vertreiben kann. Armes Weib! Da fehlt's wohl auch irgendwo gewaltig! Sie hat alle ihre Kinder und zuletzt ihren Mann kurz hintereinander verloren – und jetzt ist sie selber krank, wenn nicht gar übergeschnappt. Und da glauben wir immer, die Bauern, das sind noch die gesunden und natürlichen Menschen!«
Das Aussehen des Zimmers scheint allerdings seine Worte zu bestätigen. Ringsherum an den Wänden, über dem hochgetürmten Bett, das bis zur halben Höhe des Zimmers hinaufsteigt, über dem harten, mit schwarzer Wachsleinwand überzogenen und mit weißen Porzellannägeln beschlagenen Sofa, bis in die hinterste Ecke, die ein großer grüner Kachelofen einnimmt, hängen zahllose Heiligenbilder, billige Farbendrucke in grüngelben Tönen, darstellend schönfrisierte Heilandsgesichter mit Dornenkronen, von welchen das Blut in dicken Tropfen herabrinnt, Mariengestalten, denen sieben Schwerter in die blaudrapierte Brust gestoßen sind, herausgeputzte Heilige, die ihre Marterwerkzeuge als Trophäen in den Händen halten – eine Galerie des Leidens, die durch den Kontrast zwischen dem Gegenstand und der fabriksmäßig gleichgültigen Darstellung ganz unerträglich wird. Ein Glasschrank ist mit Wachsstöcken angefüllt, mit Rosenkränzen, mit Wallfahrtsmedaillen, mit Weihbrunnkesseln aus Blech oder Porzellan, mit quecksilberbelegten Glasleuchtern, in denen bunte Wachskerzen stecken; obenauf unter einem Glassturz steht ein Kruzifix, auf dem ein vergilbtes wächsernes Brautkränzlein hängt, daneben in einer blaugläsernen Vase ein Bouquet graurötlicher Blumen aus geknetetem Brot.
Und in der halben Dämmerung, die von den schwärzlichen Balken der Decke auf die grauviolett schablonierten Wände herabzufließen scheint, glimmen alle diese Dinge mit fahlen Glanzlichtern und verleihen dem Raum etwas Unheimliches. Eine unbefriedigte und gewaltsame Frömmigkeit redet hier, die Not einer gepeinigten Seele, die sich nicht genug thun kann in Opfern und Gebeten vor der zürnenden, unerbittlichen Macht auf dem Throne der Welt.
»Gerade komfortabel ist das Zimmer nicht«, sagte Pipin entschuldigend; »aber meinen Sie nicht auch, gnädige Frau, daß man es einem so ungewöhnlichen Menschen eher anbieten kann als ein Hotelzimmer?« ...
* * *
(Aus einem Briefe.)
12. August 1893.
... Auf dem Rückweg fragte ich gestern Pipin, was denn zwischen ihm und Elmenreich vorgegangen sei. Da schüttete er sein ganzes Herz vor mir aus.
Daß sich Eugenie für Elmenreich auf das Lebhafteste interessierte, war doch niemandem ein Geheimnis, und gewiß diesem selbst am wenigsten. Trotzdem trieb er nur ein zweideutiges Spiel mit ihr; sobald sie ihm entgegenkam, kehrte er seine abstoßendste Seite heraus, sobald sie verstimmt war und sich zurückzog, suchte er sie wieder auf, wollte sie versöhnen und benahm sich so, daß er sie geradezu kompromittierte, falls er nicht die Absicht hatte, Ernst zu machen. Und diese Absicht hatte er nicht, darüber konnte kein Zweifel bestehen. Oder hatte er sie dennoch? Dachte er in Wahrheit nicht vielleicht trotz allem anders als er vorgab? Was bleibe aber übrig, als sich an seine Worte zu halten, wenn man über ihn gefragt werde?
Und Pipin war gefragt worden. Pipin war ausgezeichnet worden, Pipin war zum dienenden Knappen avanciert, mit der Möglichkeit, dereinst zum Ritter geschlagen zu werden.
Und schon war er seiner Dame mit Leib und Leben unterthan, und es unterliegt keinem Zweifel, daß sie fortan das regierende Prinzip seines Lebens sein wird.
Eugenie hatte ihn zu ihrem Vertrauten gemacht. Wenige Tage nach unserer Abreise geschah es, daß Pipin sie allein im Garten traf. Sie war in tiefe Melancholie versunken; Pipin glaubte Spuren von Thränen in ihren Augen zu bemerken. Da wagte er es, ihr seine Dienste anzutragen. Und sie sah nicht mehr kühl und gelangweilt über ihn hinweg; sie hörte ihn mit einer gewissen Aufmerksamkeit an. Dann wurde sie zusehends heiterer und begann ein Gespräch über gleichgültige Dinge. Aber schon allein, daß sie ihn eines Gespräches würdigte, empfand er als eine Gunst, die sie ihm bisher noch nie erwiesen hatte. Das Gespräch lenkte sich sehr bald auf Elmenreich; halb scherzhaft, halb im Ernst behauptete sie, Elmenreich sei ein Weiberfeind ... Auf diesem Wege kam Pipin dahin, ihr die ganze Unterredung, die er mit Elmenreich über die Ehe gehabt hatte, mitzuteilen.
Seither glaubte Pipin in ihrem Betragen gegen Elmenreich eine Veränderung zu bemerken; sie schien ihm auszuweichen, und wenn sie mit ihm zusammentraf, beachtete sie ihn geflissentlich nicht.
Pipin war in großer Unruhe und Bedrängnis über die wahre Veranlassung dieser Wandlung. Hatte er selbst sie mit seiner Mitteilung bewirkt? Oder war schon vorher etwas zwischen Elmenreich und Eugenie vorgefallen? Die bloße Möglichkeit, daß er da eine Ungeschicklichkeit begangen habe, daß er Ursache an einer für Elmenreich ungünstigen oder unerwünschten Wendung sein könnte, machte ihn fassungslos. Er rang die Hände.
»Nein, ich könnte mir das nie verzeihen! Daß ich daran Schuld sein sollte, ich, der ich so sehnlich gewünscht hätte, ihm einen Dienst zu erweisen, etwas zu thun, was seine Gemütsstimmung verbessern könnte! Natürlich bin ich gleich, als ich anfing, etwas zu merken, zu Elmenreich gegangen, um ihm alles zu sagen. Aber Sie wissen ja, wie schwer es ist, mit ihm zu reden. ›Eine Veränderung in Eugeniens Benehmen? Ist mir nicht aufgefallen;‹ sagte er vollkommen kühl; und dann gab er mir den Rat, mir nicht anderer Leute Angelegenheiten zu Herzen zu nehmen. Nun bitte ich Sie! Ihm sollte keine Veränderung aufgefallen sein, wenn sogar ich diese Veränderung bemerkt habe? Es war klar, er wollte ausweichen; aber ich ließ mich nicht irre machen, ich bestand darauf, daß ihm diese Veränderung nicht entgangen sein könnte, und daß ich alle Ursache hätte, zu fürchten, ich selber sei daran schuld, weil ich nämlich – also wegen des Gespräches über die Ehe. Da lachte er – es war aber kein ungezwungenes Lachen, das können Sie mir glauben – schlug mich mit der Hand auf die Schulter und sagte: ›Pipin, das war das Gescheidteste, was Sie machen konnten. Ich bin sehr zufrieden darüber.‹ Nun, ich will augenblicklich tot niederfallen, wenn das nicht ganz gegen seine wirklichen Empfindungen gesprochen war! Aber was soll ich thun? Kann ein Mensch wie ich Elmenreich durchschauen, wenn er sich nicht durchschauen lassen will? Ich habe ihn angefleht, mir die Wahrheit zu sagen – aber er bleibt dabei, daß ich ihm nur einen Dienst erwiesen habe, für den er mir dankbar sei. Und doch, und doch! Ich werde den Gedanken nicht los, daß es in seinem Innern ganz anders aussieht, als er merken lassen will ...«
* * *
Der Graf legt seine Serviette weg und tritt nicht ohne Feierlichkeit vor mich hin.
»Ich hege die Hoffnung, daß sich etwas wahrhaft Außerordentliches begeben wird. Ich richte die Bitte an Sie, gnädige Frau, daran teilzunehmen. Ich gebe mir die Ehre, Sie einzuladen, übermorgen auf den Berg Alvernia zu kommen« (lächelnd) – »ich sage Alvernia, weil der Tressenstein nunmehr würdig ist, genannt zu werden mit einem erleseneren berühmteren Namen. Ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich das Werkzeug sein könnte, einen ungewöhnlichen Kreis zu versammeln um einen ungewöhnlichen Mann –«
Seine brennenden Augen heften sich auf Elmenreich und mit einer plötzlichen Bewegung faßt er heftig dessen Arm, als wollte er ihn nötigen, auf der Stelle mitzukommen.
Elmenreich weicht einen Schritt zurück.
»Sie lehnen ab?« murmelt der Graf tonlos.
Elmenreich versetzte kalt: »Ihre Einladung war nicht an mich gerichtet. Und Sie wissen ja, Graf, ich bin ein zu gewöhnlicher Mensch für alle ungewöhnlichen Vorgänge –«
Der Graf erhebt seine Hände. Seine Hände haben eine merkwürdige Ausdrucksfähigkeit – etwas überredendes, schmeichelndes, liebkosendes.
»Oh! wenn Sie so sprechen! Damit haben Sie Ihre Zusage gegeben –«
»Meine Zusage wozu? Ich müßte doch vorher genauer wissen, was geschehen soll –«
»Sie werden kommen, Sie werden hören, Sie werden urteilen. Sie lieben es nicht, über Dinge zu urteilen, die Sie nicht haben selbst gesehen. Sie können nicht ablehnen, bevor Sie gehört und gesehen haben.«
Der Graf nähert sich ihm wieder um einen Schritt, und Elmenreich weicht wieder einen Schritt zurück.
»Gut also. Ich habe zwar schon gesehen, aber ich will auch noch hören. Sie sollen mir nicht nachsagen, daß ich voreingenommen bin.«
Der Graf greift mit beiden Händen nach Elmenreichs Hand.
»Ich danke Ihnen! Ich bin glücklich über Ihre Güte. Tonuelo, ich habe nie aufgehört, zu hoffen –«
Elmenreich schüttelt die Hände des Grafen ab, wie man ein Insekt abschüttelt, ungeduldig, mit Widerwillen.
»Ich heiße Anton«, sagt er, rot vor Zorn und in einem gereizten Ton, der in gar keinem Verhältnis zu dem geringfügigen Anlaß steht. »Lassen Sie mir meinen rechtschaffenen, gewöhnlichen Namen; ich wohne nicht auf dem Berg Alvernia.«
Er dreht ihm schroff den Rücken. Stumm verbeugt sich der Graf; seine Gestalt fällt in sich zusammen wie zerbrochen.
Diese Pedanterie mit dem Namen erschien mir kleinlich; und etwas wie Auflehnung wider Elmenreichs Hochmut verleitete mich, als der Graf sich mit Pipin entfernt hatte, eine Bemerkung über das Peinliche dieses Auftrittes zu machen.
»Wie?« antwortete Elmenreich mit einigem Erstaunen; »Sie finden meine Art und Weise peinlich? Und die Art und Weise des Grafen, die ist Ihnen nicht peinlich?«
»Der Graf benimmt sich wie ein Mensch, der Versöhnung sucht – dabei ist nichts Peinliches, das ist eher rührend. Sie aber demütigen ihn vor anderen – und das ist es, was ich peinlich finde.«
»Und sonst fällt Ihnen in der That nichts auf?«
»Es fällt mir auf, daß er voll Wärme und Liebe für Sie ist, daß er zu leiden scheint, während Sie ihm nur Gleichgültigkeit und Abneigung bezeigen.«
»Nun, und glauben Sie nicht, daß wir da beide unsere Gründe haben, er für seine Wärme und Liebe, ich für meine Gleichgültigkeit und Abneigung –?«
* * *
Im Hausflur wartete Pipin und nötigte mich in sein Zimmer. Dort stand der Tisch mit großen Körben beladen. Er öffnete sie der Reihe nach und wühlte behutsam in der Holzwolle, mit der sie gefüllt waren.
»Ich muß Ihnen doch meine Schätze zeigen« – er hielt eine ungeheure Traube in die Höhe –. »Pompös, was? Da erinnert man sich doch an die biblische Geschichte, wo die Kundschafter aus dem gelobten Land mit der großen Weintraube zurückkommen. Und diese Birnen! Und gar diese Pfirsiche! Muß das eine Freude sein, wenn so ein Prachtexemplar reif wird! Dieser Duft! Diese Farben! Dieser Sammet! Ein wahrer Triumph der Kultur! Und was für ein lieber Gedanke ist es, daß die Natur solche Herrlichkeiten hervorbringt, wenn man sie mit Verstand und Liebe behandelt!«
Er packte aus, räumte ein, packte wieder aus und freute sich wie ein Kind.
Dieses Obst ist für das »Fest des ersten Versuches« bestimmt, zu dem uns der Graf eingeladen hat. Der Meister werde eine Predigt halten, so vertraute mir Pipin an; und der Graf sei voll großer Hoffnungen und Pläne, die aber vorläufig noch tiefstes Geheimnis bleiben sollten. Da aber das Ganze in der Form einer Landpartie vor sich gehen werde, mußte man auch an die Bewirtung denken. Der Graf habe es für unschicklich erklärt, in Gegenwart des Meisters Schinken oder sonst irgend einen »Leichnam« zu verzehren; deshalb ließ Pipin aus Görz diese Früchte kommen, die auch der Meister trotz seiner strengen Lebensweise vielleicht nicht verschmähe. Schon beginne sich die allgemeine Aufmerksamkeit dem »Einsiedler vom Berge Alvernia« zuzuwenden; auf ihren lebhaften Wunsch hin werde auch Fräulein Eugenie mit von der Partie sein – ein Zugeständnis, das Pipin erst nach eindringlichen Bitten von Graf Hermosa erwirkte. Denn der Graf sei bekanntlich ein Sonderling in diesem Punkte; er liebe die Frauen nicht, und je jünger und schöner sie sind, desto weniger. Das heißt: Nicht, als ob er nicht alle Hochachtung vor ihnen hätte; aber zusammen wolle er nicht mit ihnen sein, namentlich nicht mit unverheirateten. Ja, ja, ein merkwürdiger Mensch, Graf Hermosa, nicht ohne Schrullen und Launen, zugegeben, aber groß, kühn, hinreißend. Was für eine Phantasie! Was für eine Leidenschaft! Die Welt, mit seinen Augen angesehen, erscheint wie in bengalischer Beleuchtung. Wenn man ihm zuhört, wird man geneigt, an alle unerhörten Ereignisse zu glauben, an Wunder und große Geheimnisse, denen wir gefühllos und blind gegenüberstehen, während sie sich vor uns abspielen. Kein Zweifel, der Graf wisse mehr von den verborgenen Dingen, als dem gewöhnlichen Verstand offenbar werde, der Graf sei ein Führer in unentdeckte Länder, in unsichtbare Gebiete des Lebens. Wundervolle Perspektiven gebe es dort, herrliche Aussichten, Hoffnungen, so berauschend, daß man nicht mehr begreift, wie man das alltägliche Leben mit seiner platten Nüchternheit ausgehalten hat –
»Sie machen mich ja ganz neugierig, Pipin! Was für Hoffnungen denn, was für Perspektiven? Können Sie mir nicht etwas Positiveres darüber verraten?«
»Positiveres? Offen gestanden, Positiveres weiß ich selber noch nichts. Ich bin erst auf dem Wege, »im ersten Vorhof«, wie der Graf sagt. Und das ist doch selbstverständlich, nicht wahr? Denn ich bin ein gewöhnlicher Mensch, der bis vor kurzem nichts von alledem geahnt hat. Aber vielleicht, mit redlichem Bemühen, werde ich einmal mehr davon wissen.«
»Also bis jetzt sind alle die Herrlichkeiten – Versprechungen?«
»Ja, Versprechungen, wundervolle Versprechungen! Sagen Sie selbst: ist es nicht Zeit? Muß nicht etwas geschehen? Sehen wir nicht alle ein, daß das Leben regeneriert werden muß? Fühlen wir nicht alle im Innersten eine Sehnsucht nach etwas Neuem? Nach einer anderen Form des Lebens? Glauben Sie nicht, daß Tausende und Tausende nur auf denjenigen warten, der ihnen den Weg zeigt? Ja, es muß etwas geschehen, das ist klar. Und es wird etwas geschehen, Sie werden schon sehen. Herrgott, wie ich mich freue, wie ich mich freue!«
Er rieb sich die Hände vor Vergnügen, hob seine Körbe vom Tisch auf den Boden, vom Boden auf die Stühle, von den Stühlen wieder auf den Tisch und sagte dabei nur immer: »So ein Glückskind wie ich! Bin ich ein Glückskind! Wie ich mich freue, nein, wie ich mich freue!«
Dann ergriff er mich bei der Hand und sah mich mit seinen hellblauen Augen beweglich an:
»Freuen Sie sich doch auch, gnädige Frau! Ich möchte so gerne jemanden haben, der sich mit mir freut, damit ich nicht allein bin mit diesem köstlichen Freudegefühl –«
»Aber Pipin, ich weiß wirklich nicht recht, worüber Sie sich so freuen, ich meine, aus welchem Grunde –?«
»Ach Gott, ich weiß es ja selber nicht! Ich bin nur so glücklich, so voll Freudigkeit – das Leben kommt mir so reich vor, so vielversprechend, so groß, so – so – ich habe so ein Gefühl der Dankbarkeit, daß ich da bin, daß ich lebe, daß mir so viel gegeben wird! So ein Gefühl der Zuversicht, als ob etwas Außerordentliches bevorstünde, etwas Großes und Wundervolles, daß alle Menschen einander die Hände drücken werden vor überströmender Glückseligkeit ...«
Unter der Buche neben dem grauen Stein. Alle Menschen sind weit weg; es giebt nur Bäume auf der Welt, unschuldige, schweigsame Bäume, die still auf ihrem Platze stehen und den Himmel betrachten. Von ihren Wurzeln herauf steigt ein feuchter Erdgeruch Er erweckt eine wundersame Stimmung, etwas wie Andacht vor der Fülle, vor der ewigen unerschöpflichen Fruchtbarkeit des Lebens. So innig beisammen Tod und Leben und so leidlos beide in dieser Welt!
Auf den frommen grünen Moosgrund niederzuknien und auszusprechen das Wort, das erst vernehmbar wird in dem großen Schweigen, wenn alle Geräusche des menschlichen Treibens verstummt sind!
Und die Einsamkeit des Waldes antwortet. In dem großen Schweigen spricht die Einsamkeit von dem, was unmitteilbar ist. Die Erde spricht; sie spricht von der ewigen unerschöpflichen Fülle des Lebens. Sie spricht: Fühle, fühle, mein Kind, ich habe dich, ich halte dich, ich trage dich durch die Ewigkeit!
*
Ein Geräusch. Bricht ein Hirsch durch den Wald? Es ist der schwarze Panther. Er geht über die Lichtung auf die Blockhütte zu. Das hohe Gras, das noch vom Morgentau glänzt, steht hinter ihm wieder auf; leicht, unhörbar, mit schwebenden Schritten geht er.
Bei der Blockhütte angekommen, reckt er seine schlanke Gestalt hoch auf, und beginnt unter dem Dache Heu herabzuholen, so lange, bis er im Schatten der Hütte ein aufgehäuftes Lager errichtet hat. Er wirft sich in übermütiger Lust darauf hin; dann erhebt er sich zur Hälfte und blickt sitzend rings herum. Sein Körper ist wie ohne Schwere; er gehorcht jeder Bewegung in einem Linienspiel voll Anmut und Kraft.
Plötzlich schnellt er empor, springt wieder auf die Füße. Hat er mich erblickt?
Jedenfalls thut er, als hätte er mich nicht gesehen. Er dreht sich um, steckt die Hände in die Hosentaschen und schleudert mit dem Fuße den Heuhaufen, den er eben aufgeschichtet hat, wieder auseinander. Zugleich intoniert er ein wunderliches, rauhes Geschrei:
»Hoiho, Hoiho,
Hulli hulli hulli ho, hulli ho –«
Schreiend stellt er sich mitten auf die Lichtung in die Sonne.
Eine Zeit lang stieß er so in kurzen Absätzen dieses Gebrüll aus. Dann verschwand er in den Wald.
Wenige Minuten später hörte ich ihn hinter mir sagen:
»I beg your pardon, meine Gnädigste! Wenn ich eine Ahnung gehabt hätte, daß Sie hier meditieren, wäre ich früher nicht so lärmend gewesen. Sie belauschen hier das »Schweigen im Walde«, nicht wahr? Oder haben Sie für hier ein Rendezvous? Ein köstlicher Platz für solche Zwecke! Schade, daß Sie mir mit dieser Entdeckung zuvorgekommen sind! Jetzt haben Sie das Recht der Priorität.«
»Die Priorität zum Zwecke von Rendezvous kann ich Ihnen ohne Nachteil für mich abtreten.«
Er lächelte und setzte sich neben mich:
»Good gracious, giebt es denn hier nur die kleinste Möglichkeit einer bonne fortune? Eine einzige Erscheinung – aber da müßte ich mich mit Pipin und Elmenreich in ein Wettrennen einlassen. Und diese beiden sind doch zu wenig up to date, als daß das einen Zauber für mich haben könnte. So bleibt mir nichts übrig, als mir die Banalität dieses Aufenthaltes mit meinen Reiseerinnerungen zu vertreiben. Ich muß mir von Zeit zu Zeit vorstellen, daß ich nicht hier bin, um es hier auszuhalten. Eben früher war ich in Norwegen. Was ich Ihnen unfreiwillig zum Besten gab, war der Ruf der norwegischen Sennen, wenn eine Kuh sich verirrt hat. Echte Kehllaute, an Ort und Stelle studiert. Dieses Europa hat doch nur mehr Interesse an seinen Grenzgebieten; der Rest ist schauderhaft langweilig. Uniformierte Trivialität. Die Polizei als segensreiche Himmelstochter: überall Sicherheit, Ruhe, Ordnung. Kulturdevise: è proibito di lordare ... Das neunzehnte Jahrhundert kommt mir vor wie ein langer Katzenjammer nach dem Rausch des achtzehnten. Oder wie die gewissen älteren Herren, die tugendhaft werden, nachdem sie sich ausgetobt haben; sie halten ihre Schwäche für Moral.«
Er stand wieder auf und ging mit einiger Nervosität hin und her.
»Wollen Sie nicht lieber einen Spaziergang machen?« fragte er etwas ungeduldig. »Da ich doch das Schweigen im Walde verscheucht habe, ist hier nichts mehr zu holen –«
»Sie vergessen mein Rendezvous, Dr. Kranich –«
»Das heißt, Sie wünschen von mir befreit zu sein, meine Gnädigste. Ja, es ist eine verdammte Sache um die unverhofften Zeugen bei Rendezvous. Die Menschen haben so ein naives Gefühl der Daseinsberechtigung; sie merken nie, wann sie überflüssig sind.«
Er warf aus seinen stechenden schwarzen Augen einen bösen Blick auf mich. Dann lachte er laut auf, mit seinem jauchzenden, triumphierenden Lachen.
»Ja, gnädige Frau, Sie wünschen mich in Ihrem gnädigen Herzen zum Teufel, und ich bleibe da und merke nichts. Wer wird nun eher das Feld räumen, Sie oder ich?«
»Dr. Kranich, ein unverhoffter Zeuge wird doch nichts sein, worüber ein »Herr des Lebens« sich nicht hinwegsetzen könnte?«
»Die lieben Frauen sind aber nie ›Herren des Lebens;‹ sie haben ewig andere Herren über sich. O bitte, das soll keine Lästerung sein: es ist ja eine sehr reizende Eigenschaft dieser teueren Wesen, daß sie so gerne abhängig sind. Ich möchte diese Eigenschaft an ihnen nicht missen. Nur giebt es Lebenslagen, in denen sie einem fatal wird – und die unverhofften Zeugen gehören zu diesen Lebenslagen, nicht wahr, meine Gnädigste?«
Unten aus dem Walde trat eine weiße Gestalt. Sie kam aus einer anderen Gegend, als Dr. Kranich gekommen war; aber sie nahm wie er quer über die Wiese die Richtung nach der Blockhütte zu, ohne zu zögern und ohne sich umzusehen.
»Hei, was für ein schönes Wild«, rief Dr. Kranich. »Es scheint ja, daß auf diesem lauschigen Plätzchen alle Rendezvous des Ortes abgehalten werden –«
Er trat rasch vor und stieß sein Geschrei von früher aus: »Hulli, hulli ho, hoiho –«
Die weiße Gestalt blieb stehen wie angewurzelt.
»Hierher, Fräulein Eugenie, hierher! Hier finden Sie eine erlesene Gesellschaft. Hulli ho, hulli ho!«
Die weiße Gestalt rührte sich nicht. Dr. Kranich sagte lächelnd zu mir: »Ich hoffe, Sie verraten nicht, daß das ein Warnungsruf für verirrte Kühe ist. Die norwegischen Kühe scheinen im allgemeinen intelligenter zu sein als die hiesigen.«
Da die weiße Gestalt immer noch unbeweglich stand, setzte er hinzu: »Hier muß man wohl deutlicher reden«, und lief ihr entgegen.
Sie standen einige Augenblicke in der Sonne beisammen, ehe sie herauf kamen.
Eugenie sah aus wie eine aus den Wolken gefallene Göttin. Reizend angezogen: ein Kleid aus weißer Battist-Stickerei, um die Taille ein breites, rotblumiges Seidenband, das rückwärts in langen Schleifen hinabfiel. Dazu ein hochroter Sonnenschirm.
In ihrer apathischen Weise sagte sie zu mir: »Was für ein Zufall! Ich wollte einmal ganz planlos durch den Wald streifen – und nun trifft man sich doch wieder!«
Dr. Kranich lächelte spöttisch. »I beg your pardon, Fräulein Eugenie, aber für einen solchen Streifzug sind Sie nicht ganz praktisch toilettiert! Gestehen Sie's doch lieber: Sie haben hier herum ein Rendezvous, bei dem Sie keine unverhofften Zeugen brauchen können. Die gnädige Frau und ich werden Ihnen das Feld räumen.«
Eugenie sah ihn mit ihren großen, etwas zu runden Augen sprachlos an. Sie war sehr rot – aber es konnte auch vom Reflex des roten Schirmes sein, den sie aufgespannt auf der Schulter liegen hatte.
* * *
Bei Tisch, nachdem der Graf sich mit Pipin entfernt hat.
Dr. Kranich: »Ich behaupte: Der Mann achtet im Grunde keine Frau, die er – parbleu, jetzt hätt' ich beinahe Ihre Anwesenheit vergessen, meine Gnädigste! Wenn ich mich also für Damenohren ausdrücken soll: Der Mann achtet im Grunde kein weibliches Wesen, in das er mit Erfolg verliebt ist.«
Elmenreich: »Eine feine Ansicht von der Liebe!«
Dr. Kranich: »Ansicht? Lieber Elmenreich, Sie scheinen den naiven Glauben der Mindergebildeten zu teilen, daß der höhere Mensch seine »Ansichten« wie Kleider trägt, die man an- und ausziehen kann –«
Elmenreich: »Na, zum Mindesten bemerke ich, daß er sie nach der Mode an- und auszieht.«
Dr. Kranich – »alle echten Ansichten aber sind Spiegelungen einer Seele. Schicksale, Elmenreich. Warum bemoralisieren Sie meine »Ansicht« von der Liebe? Hand aufs Herz, Elmenreich: geht es Ihnen denn besser?«
Elmenreich stößt einen unartikulierten Laut aus, ungefähr wie jemand, der eine Fliege von seiner Nase wegscheuchen will.
Dr. Kranich lächelt unmerklich, zieht seine Dose aus der Tasche und dreht sich mit wunderbarer Geschwindigkeit eine Cigarette. Während er sie anzündet: »Zu Ihrer Zeit, Elmenreich, hat sich der höhere Mensch eben nur seine »schönen« Gefühle eingestanden; heute weiß er, daß er sich alles eingestehen kann, was in ihm ist, weil es in ihm ist. Basta cosi.«
Elmenreich, sehr gereizt: »Nein, lieber Arthur, zu meiner Zeit hat sich ein Mensch mit niedrigen Ansichten überhaupt nicht als »höherer« Mensch aufspielen können. Zu meiner Zeit hat man auch sein Glück bei den Frauen nicht mit solchen Ansichten gemacht. Ob man es heute macht, weiß ich nicht.«
Dr. Kranich lächelt etwas mehr, schnippt mit dem Finger ein klein wenig Asche von seiner Cigarette weg. Dann bläst er eine dicke Rauchwolke vor sich her und sagt ernst:
»Ja, Elmenreich, man macht es. Und dann hat man erst recht keine Ursache, zu achten. Aber wenn Sie wollen, kann ich mein Axiom auch affirmativ formulieren: Der Mann achtet im Grunde nur diejenigen Frauen, die ihm widerstehen. Die aber langweilen ihn.«
Das Fest des ersten Versuches.
Unterwegs.
Wir sind in einer geschlossenen Kolonne ausgerückt: vorne Elmenreich und Eugenie, dann Dr. Kranich und ich, hinter uns der Graf und Pipin, als Nachhut der Brunnhofer Seppl mit Pipins Körben und Plaids.
Elmenreich scheint einen seiner bewölkten Tage zu haben. Er spricht mit Eugenie von seinem Alter – immer ein Anfang zu unerfreulichen Stimmungen.
Ich ergreife die Gelegenheit, um Dr. Kranich einen Wink zu geben.
»Machen Sie doch ihm gegenüber keine anzüglichen Bemerkungen mehr über sein Alter, Dr. Kranich. Es kann Ihnen gewiß nicht entgangen sein, daß das ein wunder Punkt bei ihm ist!«
»Deshalb mache ich ja diese Bemerkungen, meine Gnädigste. Hätten sie sonst einen Zauber für mich?«
Und dann entwickelt er seine Anschauungen über den »Fall Elmenreich«.
»Ein verwundeter Ehrgeiz ist die Quelle seiner Bitterkeit. Aber nie würde er es seinem Ehrgeiz abgewinnen, das einzugestehen. Daß er nicht etwas Großes werden konnte, hat ihn gehindert, überhaupt etwas zu werden. Er ist ein chercheur, der nichts gefunden hat. So geht er herum wie alle ratés, räsonniert über die gähnende Leere des Daseins, über das Illusionäre der menschlichen Bestrebungen, und rechtfertigt sich selbst, indem er alles, Menschen, Dinge und Gedanken, »durchschaut« und ihre Nichtigkeit nachweist –«
»Er gehört zu den Menschen, die an sich selber leiden –«
»Das heißt, er ist so eine Art geistiger Flagellant. Er geißelt sich und verschafft sich dadurch die Wollust, sein ohnmächtiges Selbstbewußtsein in Zuckungen zu versetzen. Und er ist grausam wie alle Ohnmächtigen; er geißelt auch die anderen mit. Wenn er schon vor sich selber nichts gilt, so sollen auch die anderen nichts gelten. Das ist charakteristisch für die Menschen mit defektem Selbstbewußtsein: es fehlt ihnen das Organ, das die Wertschätzung anderer erst möglich macht. – Warum erweisen Sie mir die Gnade, mich anzulächeln?«
»Nun, Doktor Kranich, ich denke: Sie gehören nicht unter die Menschen mit defektem Selbstbewußtsein –«
»Beim Zeus, nein!«
»Aber das »Organ der Wertschätzung anderer« ist bei Ihnen doch verkümmert geblieben.«
Jauchzendes Gelächter.
Eine wunderliche Begleitung, dieses überschäumende Lachen, zu dem Gespräche, das Elmenreich indessen mit Eugenie – oder vielmehr mit sich allein – führt!
»Wozu unsere Geschäftigkeit, wozu alle die Pläne, Absichten, Entwürfe, Aufgaben, Ziele? Der ganze Lärm, den wir machen, dient er nicht bloß dazu, die eine furchtbare Frage in unserem Innern zu übertäuben, die Frage nach dem Warum des Lebens –? ...... Es könnte ja sein, daß wir alle zusammen wahnsinnig sind. Daß die ganze Menschheit bloß eine Schar von Verrückten ist, die ihren Wahnvorstellungen nachjagt. Sind nicht vielleicht die einzigen weisen und einsichtigen Menschen diejenigen, die hingehen und sich einen Strick um den Hals knüpfen oder eine Pistole vor den Kopf schießen, um diesem gräßlichen Narrenhaus endgiltig zu entrinnen?«
»Und wie er mit seinem Pessimismus Pfauenräder schlägt!« fuhr Dr. Kranich belustigt fort. »Das wird doch eine originelle Methode sein, den Hof zu machen!«
»Den Hof zu machen?«
»Vielleicht ist es übrigens keine ganz verfehlte Spekulation. Den lieben kleinen Mädchen imponieren, das ist die Hauptsache, wodurch, das ist Nebensache. Faute de mieux kann es auch durch Lebensüberdruß sein. Und wie es scheint –« er warf einen spöttischen Blick aus den Augenwinkeln auf mich – »macht man damit Eindruck auf alle Frauenherzen –«
Wir gingen knapp hinter Elmenreich. Bei seiner lauten, heftigen Redeweise war jedes seiner Worte zu hören. Und wie hätten diese Worte keinen Eindruck auf mich machen sollen! »... Ich bin mit dem Leben unzufrieden; es ist mir eine Last. Und warum sollte ich mich nicht davon freimachen können, wie von einer anderen Plage und Last? Aber ich will die Entscheidung darüber treffen als ein freier und besonnener Mensch; und ich will mir vorher das Leben daraufhin ansehen noch ein paar Jahre lang. Wir leben für gewöhnlich so blind in den Tag hinein, als ob es sich von selbst verstünde, daß man lebt. Aber in dem Augenblick, als man erkannt hat, daß das Leben nichts wert ist, soll man ein Ende machen, aus freiem Entschluß, mit unbewegter Seele, göttlich überlegen über Tod und Leben ...!«
Dieselben Wendungen, derselbe Tonfall, dieselben Ausdrücke sogar!
»Ich muß das arme Mädchen von diesem unausstehlichen alten Klageweib befreien«, sagte Dr. Kranich. »Sie gestatten, gnädige Frau? Da es meinen bescheidenen Mitteln doch nicht gelingt, die Konkurrenz mit Ihren eigenen Gedanken zu bestehen –«
Er war mit einem Satze neben Eugenie. Ich sah, daß sie sich sofort zu ihm wandte. Ihr herrliches Profil zeigte keinerlei Gemütsbewegung; Elmenreichs Worte schienen nichts weniger als einen erschütternden Eindruck bei ihr hervorgebracht zu haben. Sie kehrte sich kein einziges Mal mehr nach ihm herüber. In ihrer gemessenen Weise stimmte sie alsbald in das bekannte jauchzende Lachen ein.
Nachdem Elmenreich eine Weile schweigend nebenher gegangen war, verlor er sich zwischen den Bäumen. Eugenie schien es nicht zu bemerken.
*
Gleich darauf stürzte Pipin auf mich zu. Beunruhigt sah er sich nach allen Seiten um:
»Wohin ist Doktor Elmenreich verschwunden? Ist etwas vorgefallen? Er wird sich doch nicht im letzten Augenblick anders besonnen haben? Guter Gott, das wäre ein Schlag für den Grafen –«
Und schon war auch der Graf da. Er schien in der That nahe daran, über Elmenreichs Verschwinden außer sich zu geraten. Eine verzweifelte Unruhe arbeitete in seinem blassen Gesicht; »er muß, er muß, er muß!« murmelte er eigensinnig. Und dann gab er die widersprechendsten Befehle; Pipin sollte allein hinaufgehen und dem Meister sagen, daß alles gescheitert sei, der Brunnhofer Seppl aber sollte die Körbe niederstellen und den Wald durchstreifen, um Elmenreich einzufangen und, wenn nötig, mit Gewalt zurückzubringen.
Schließlich gelang es Pipin, ihn einigermaßen zu beruhigen: Elmenreich habe versprochen, zu kommen, und Elmenreich halte unter allen Umständen, was er verspreche.
Als wir kaum unseren Weg wieder aufgenommen hatten, begann es zu regnen. Neue Schwierigkeit. Bei Regen konnte das »Fest des ersten Versuches« nicht abgehalten werden. Das Zimmer des Meisters war nicht geräumig genug, um sechs Zuhörer zu fassen; auch wollte er nur im Freien, »im Angesichte der Natur« seinen Vortrag halten. Wenn der Regen nicht aufhörte, mußten wir umkehren.
Eugenie und Dr. Kranich waren schon weit voraus; Pipin lief ihnen mit einem Regenschirm nach, während wir drei Uebriggebliebenen uns unter die Bäume stellten und abwarteten.
Die Zeit verging; der Graf trat vor Nervosität unaufhörlich von einem Fuß auf den anderen und fragte alle zwei Minuten den Brunnhofer-Seppl um seine Meinung als einheimische Autorität in Wettersachen. Aber der Brunnhofer-Seppl machte es wie alle meteorologischen Autoritäten und gab seine Meinung dahin ab, daß sich etwas Bestimmtes nicht vorhersagen ließe.
So gingen wir endlich dennoch im Regen weiter. Es kam mir vor, als ob das »Fest des ersten Versuches« unter einem schlechten Stern beginne.
*
Vor dem Hause des Meisters.
Der Regen hat aufgehört. Als wir auf die Lichtung kommen, liegt das Bauernhaus behaglich in dem ersten hervorbrechenden Sonnenstrahl und läßt sein gesprenkeltes Schindeldach trocknen. Auf der Bank vor der Eingangsthür sitzt der »Meister«, die Hände auf den Knien, den Kopf auf die Brust geneigt, in einer Versunkenheit und Ruhe, die etwas Würdevolles hat. Vielleicht aber auch etwas Künstliches; denn er muß uns wohl sehen, wie wir aus dem Schatten des Waldes auf die Lichtung in die Sonne heraustreten.
Wir haben uns am Waldrand wieder alle zusammengefunden; auch der Vermißte, der »verlorene Sohn« Elmenreich, stand dort und schloß sich an.
Konventionelle Begrüßung und Vorstellung. Der Graf nimmt den Meister beiseite und flüstert mit ihm, während Pipin unter den alten hohen Fichten neben dem Hause geschäftig seine Plaids ausbreitet und die Plätze anweist. Dann verschwindet der Meister im Hause, und wir setzen uns im Kreise auf die Plaids.
Die Sonne fällt in schmalen Streifen zwischen dem glitzernden Grün herein; kleine Regenbogen glühen ringsherum in Tropfen und Tröpfchen. Ueber die dürren Tannennadeln, die zu einem roten Teppich auf dem Boden ineinandergewirrt sind, steigen Ameisen mit großen schwarzen Köpfen und betasten angelegentlich alles, was ihnen im Wege liegt. Grünschillernde Käfer gehen vorüber, schwerfällig, als hätten sie eine metallene Rüstung zu tragen. Goldene Fliegen schießen herum und bleiben in der Luft stehen, wo es ihnen gefällt. Mücken tanzen auf und nieder, spielen miteinander in einem Reigen voll geheimnisvoller Seligkeit.
Oben durch die Wipfel schimmern weiße Wolken auf einem Himmel, der so tiefblau ist, daß man hindurch zu sehen glaubt auf die ungeheure dunkle Tiefe dahinter. In der Ruhe, die herrscht, hört man nur das leise Ticken fallender Tropfen.
Ein großer Frieden, eine wundersame Harmonie. Nichts Störendes ist hier – außer den eleganten Gestalten, die sich auf den Plaids, so bequem es gehen will, einrichten, mit Bewegungen und Geberden, die ihre Herkunft von gepolsterten Salonmöbeln nicht verleugnen können. Ja, diese elegante Gesellschaft sieht in dieser Umgebung vollkommen überflüssig aus.
*
Nach einiger Zeit kam der Meister aus dem Hause heraus, mit bedächtigem Pastorenschritt, den Blick zu Boden gesenkt. Als er zu sprechen begann, heftete er seine Augen nicht auf die Zuhörer; er sah in die Bäume hinauf, als richte er seine Worte nur an sie und nicht an uns.
Seine Augen haben etwas Sympathisches; hinter seinem goldenen Zwicker hervor schauen sie unschuldig und mit einer sanftmütigen Zerstreutheit in die Welt. Sie erwecken den Eindruck, daß sie keine deutlichen Wahrnehmungen aus der Realität vermitteln. Es sind die Augen eines weltunkundigen Menschen. Weniger sympathisch sind seine Mundbewegungen, während er spricht. Die Unterlippe, die ein wenig nach rückwärts flieht, macht sich durch allzureichliches Muskelspiel bemerkbar. Diese Unterlippe ist nicht ganz bei der Sache; sie hat keine Naivität. Sie gehorcht nicht ohne Widerrede dem Wort, sie lebt auf eigene Faust. Es ist die Lippe eines selbstgefälligen Menschen.
Er spricht eintönig, fast larmoyant, mit einer farblosen Stimme, langsam aber fließend, so fließend, als hätte er alles, was er sagt, auswendig gelernt. Etwas Absichtliches liegt in seiner Art. Es ist die Art eines Menschen, der seine Schüchternheit durch einen Willensakt überwindet.
Seine Predigt begann mit einer Apostrophe an die Welt, in einer lieblichen und naiven Sprache, die deutlich verriet, daß sie eines anderen Geistes Kind war. Doch vergaß er im Eifer der Rezitation, anzumerken, woher er sie hatte. »O liebe Frau Schwester«, so redete er die Sonne an, und »lieber Herr Bruder« den Wind, und so pries er das Wasser, das Feuer, die Erde und Bäume, Kräuter und Getier als seine Geschwister. Bald aber verließ er diese friedliche Höhe und stieg in die Arena der Polemik herab. Auf eine kurze Formel gebracht, lautete der Sinn seiner umständlichen Ausführungen: »Zurück ins Mittelalter«. Alles Spätere war Verirrung, Mißverständnis, Unsinn, ein langer Weg in einer falschen Richtung. Und jetzt ist die Zeit gekommen, da die Menschheit nicht weiter kann, da sie einzusehen beginnt, daß sie sich in eine Sackgasse verrannt hat mit ihrem unzulänglichen Streben nach Wissen, mit ihrem kurzsichtigen Aberglauben an die Macht der Aufklärung. Jetzt fangen wir an, die Schuld der Väter am eigenen Leibe zu büßen; wie Blei liegt es in unseren Gliedern ... »sind wir nicht alle krank und möchten gerne genesen? Sind wir nicht alle müde und möchten gern ausruhen? Wenn wir uns besinnen, ergreift uns nicht ein Schwindel? Schaudern wir nicht, wenn wir in den schwarzen Abgrund des Nichts blicken, der vor unseren Füßen gähnt? Fühlen wir nicht immerfort die Verzweiflung wie eine kalte Faust im Nacken? Suchen wir nicht krampfhaft nach Heilmitteln für die fressende Unruhe, von der unsere Seele erfüllt ist?«
Der moderne Mensch weiß eben nicht, welchen Weg er einschlagen muß; er weiß nicht, was er thun muß, um dem Sansara zu entrinnen und in die große Ruhe einzugehen ... »Ertrinkende sind wir, die wild um sich schlagen, um sich an der Oberfläche zu erhalten. Wir wollen an der Oberfläche bleiben, weil wir nicht wissen, daß nur an der Oberfläche der Sturm wütet, von dem wir umhergeschleudert werden. Wir wollen an der Oberfläche bleiben, weil wir nicht wissen, daß in der Tiefe allein Ruhe herrscht. Wir kämpfen gegen Wellen und Winde, todmüde und sterbenskrank, anstatt daß wir die Hände auf die Brust legen ohne Widerstand und ergebungsvoll untersinken in die stille, heilige Tiefe. Freudig zu ertrinken, das ist es, was wir lernen müssen –«
Als der Meister ungefähr so weit gekommen war, stieß Elmenreich ein vernehmliches »mna« aus und stand auf.
Pipin hatte unverwandt mit einem Ausdruck höchster Spannung auf Elmenreich gestarrt. Er schien die Wirkung nicht erwarten zu können, die des Meisters Worte auf ihn hervorbringen mußten. Jetzt fuhr er zusammen, wie mit kaltem Wasser begossen. Auch der Graf, der bis dahin in einer aus Andacht und Bequemlichkeit gemischten Haltung auf seinem Plaid saß – er hatte die Kniee hoch hinaufgezogen, auf die Kniee seine gefalteten Hände und auf die Hände seine Stirn gelegt – auch der Graf erhob seinen Kopf. Beschwörend streckte er die Hand gegen Elmenreich aus. Es geschah aber nichts weiter, als daß Elmenreich sich mit gekreuzten Armen weiter rückwärts an den nächsten Baumstamm lehnte.
Der Meister fuhr unbeirrt fort. Er hatte nur einen flüchtigen Blick auf den Störenfried geworfen. Aber nun, in der Tiefe, in die er unter Elmenreichs skeptischer Interjektion versunken war, wurde seine Rede dunkel. Dort fand er das ewige Urfeuer, die Zentralsonne, von der alle einzelnen Seelen als Strahlen ausgehen. Dort sollte die Seele wieder eins werden mit dem Allgeiste, der ihr Vater ist, dort sollte sie allwissend und allgegenwärtig, sollte, aus der Sphäre des Individualbewußtseins entrückt, selber Gott werden ...
Aber nur die Auserwählten sind es, die dort anlangen. Und nur die Auserwählten kennen den Weg, der dorthin führt. Wenn wir ihn einschlagen wollen, dann müssen wir vor allem den Verstand überwinden, denn das ist der Erzfeind. Und das Schreiten in Begriffen, das Sohlen und Seelen schwer wie Blei macht, das ist die Erbsünde. Die Gedankenwelt, das ist die Hölle, wo wir von bösen Geistern ewig im Kreis herumgeführt werden, bis wir vor Ekel und Ohnmacht zusammenbrechen. Darum weg mit dem Denken, als mit einer vieltausendjährigen Verirrung, in die sich die Menschheit auf ihrem Suchen nach Wahrheit verstrickt hat. Sobald der Druck des Denkens von uns weicht, werden wir erkennen, was sich hinter der Erscheinungswelt verbirgt, die Nebel der Begrifflichkeit, in denen wir sorgenschwer herumtappen, werden sich teilen ... eine tanzende Freudigkeit wird unsere Seele erfassen, bis sich uns in einem dyonisischen Rausch die verborgenen Herrlichkeiten der jenseitigen Welt enthüllen. Unsere Füße aber werden leicht und frei sein wie unsere Herzen, und wir werden tanzen, tanzen, tanzen –
Bei diesen Worten schürzte er seinen Prophetenmantel, indem er ihn von rückwärts nach vorne zog und in den Ledergürtel steckte, der seine Blouse zusammenhielt. Und mit ausgestreckten Armen begann er taumelnde Schritte zu machen, ungeschlachte, groteske Bewegungen, wie sie ein Körper hervorbringt, der ungewohnt aller Leibesübungen ist.
Die Sonne lag mit abendlicher Glut auf den Wipfeln der Fichten. Still und unbeweglich standen sie; sie schienen zu erröten über ihren Bruder, dem sie so überlegen waren mit ihrer in sich gekehrten Ruhe.
Da rutschte der Mantel aus dem Gürtel, der Tänzer trat darauf, stolperte, verlor das Gleichgewicht und fiel der Länge nach hin.
Der Graf sprang herbei. Mit dem Eifer eines Neubekehrten half er dem Gefallenen aufstehen und schloß ihn in seine Arme.
»Ave, ave, Gottgeliebter«, sagte er laut zu ihm. »Und zum Zeichen, wie groß und aufrichtig mein empressement ist, erlaubt mir, teurer Meister –« er ergriff seine Hand und führte sie an seine Lippen.
Der Meister, verwirrt vielleicht durch seinen Sturz oder noch verloren in die Gedanken seines Vortrages, beachtete diese Huldigung nicht. Zerstreut und unruhig musterte er den Wiesengrund um sich herum.
Auch Eugenie trat auf ihn zu. Ihre Miene war so rätselhaft wie immer; kein Zug verriet eine Bewegung ihres Innern. Sie verbeugte sich leicht gegen den Grafen. »Ich folge dem Beispiel«, sagte sie und küßte die Hand des Meisters auf die Stelle, wo eben früher die Lippen des Grafen sie berührt hatten.
Gerade in dem Augenblick, als diese Huldigungen dem Meister dargebracht wurden, kam aus dem Walde hinter uns eine weibliche Gestalt. Es war die Hausfrau des Meisters. Sie trug auf dem Kopf, in ein grobes Tuch mit den vier Ecken zusammengebunden, ein ungeheures Bündel Heu – die landesübliche Art, das Heu von den steilen Berglehnen in die Scheunen zu bringen. Ihre magere Gestalt verschwindet beinahe unter der Last, die sie auf ihrem Kopf balanciert; und als sie nun stehen bleibt und nach dem Bündel faßt, kann man sehen, wie diese dünnen, fleischlosen Arme vor Anstrengung zittern. Etwas Hastiges, Unsicheres, Leidenschaftliches liegt in ihren Bewegungen.
Rasch hatte sie das Bündel über ihren Rücken auf die Erde gleiten lassen und war auf den Meister hingestürzt. Sie faßte als die dritte seine Hand, küßte sie mit Inbrunst und behielt sie in ihren gefalteten Händen eingeschlossen. Dann, als würde sie jetzt erst die fremden Zuschauer gewahr, ließ sie plötzlich die Hand fahren, und kehrte mit einem unterdrückten Aufschluchzen zu ihrem Heubündel zurück, das sie hinter sich her ins Haus schleifte.
Der Meister hatte alles ohne Widerstand über sich ergehen lassen. Er war noch immer wie abwesend. Endlich stammelte er:
»Ich – ich – der Zwicker ist mir heruntergefallen – meine hochgradige Kurzsichtigkeit – wenn Sie die Güte hätten, zu suchen – aber mit Vorsicht, bitte, damit er nicht zertreten wird – ich habe keinen zweiten bei mir –«
Sogleich begann ein eifriges Suchen nach dem Augenglas. Seite an Seite mit Eugenie durchstöberte der Graf das Gras. Pipin, der während des Tanzes verlegen und unglücklich zu Boden gestarrt hatte, kam dienstfertig herbei und half mit.
Da erschien Elmenreich auf dem Schauplatz der Ereignisse. Auf seinen Wangen brannten zwei scharfabgegrenzte Flecken, sein Bart war zerwühlt; er hatte den Hut ganz auf die Augenbrauen herabgerückt.
Mit Heftigkeit ergriff er Eugenie beim Handgelenk.
»Fühlen Sie denn nicht, wie lächerlich alles das ist –?« rief er und seine Stimme bebte vor Zorn. »Kommen Sie mit mir fort; ich kann es nicht sehen, daß Sie in dieser Posse mitwirken –«
Eugenie sah ihn erschreckt an. Er zog sie einige Schritte mit sich; sie folgte ihm widerstrebend.
Bei dem Wort Posse hatte der Graf sich aufgerichtet.
»Helfen Sie mir!« sagte Eugenie zu ihm mit einem ihrer flehendsten Blicke.
Aber der Graf näherte sich nicht. Er erhob nur mit seiner beschwörenden Geberde stumm die Hände gegen Elmenreich; dann wandte er sich wieder ab.
Eugenie machte einen ungeduldigen Versuch, ihre Hand aus der Umklammerung zu befreien. »Sie thun mir weh«, sagte sie unwillig. »Lassen Sie mich los, Sie thun mir weh!«
»Nein, ich lasse Sie nicht! Ich will es nicht haben, daß Sie hier mitthun. Ich erlaube es nicht –«
»Lassen Sie mich los!«
»Versprechen Sie mir vorher –«
»Ich verspreche nichts! Lassen Sie mich los!«
Ihre Wangen färbten sich mit einem lebhafteren Rot und ihr Gesicht belebte sich mit einem Ausdruck des Trotzes. Sie strebte ihre Hand mit Gewalt loszureißen. Elmenreich, der sich in diesem Ringen auch ihrer zweiten Hand bemächtigt hatte, stand dicht an sie gepreßt. Es sah beinahe aus, als wollte er sie im nächsten Augenblick in seine Arme schließen.
»Ein hinreißendes Weib!« murmelte Dr. Kranich neben mir. Er richtete sich aus seiner nachlässigen, gelangweilten Stellung auf und verfolgte mit einem seltsamen Lächeln das Schauspiel. Dann erhob er sich, immer den Blick unverwandt auf die beiden Ringenden geheftet, gleichsam fasziniert.
»Tiens!« sagte er nähertretend, aber ohne sich einzumischen, »Elmenreich, sind Sie auch ein Anhänger der Theorie, daß der Biceps am meisten Ueberredung gegenüber den Damen besitzt?«
Elmenreich lachte nervös auf und gab Eugenie frei.
Schmollend betrachtete sie ihre Handgelenke, auf denen seine Finger rote Streifen zurückgelassen hatten.
»Da! Sehen Sie nur, was Sie gemacht haben, Unhold –« und schon klang in ihrer Stimme wieder eine Nuance des Entgegenkommens.
Elmenreich ergriff die Hände, die sie ihm hinhielt, und küßte die roten Streifen.
»Ja, ein Unhold«, sagte er mit einiger Bewegung. »Aber wenigstens kein Mensch des Mißbrauchs – und vielleicht werden Sie eines Tages begreifen, was das heißt.« Dann kehrte er sich um und verschwand in den Wald.
*
Inzwischen kriecht Pipin auf allen Vieren im Gras herum und sucht das Augenglas. Jetzt hat er es glücklich entdeckt; der Meister nimmt es, putzt es, setzt es wieder auf.
Damit tritt das Fest des ersten Versuches in ein noch unbehaglicheres Stadium. Niemand weiß, was weiter geschehen soll; der Graf steht abseits mit dem Meister, Eugenie steht abseits mit Dr. Kranich, Pipin steht abseits mit mir. Pipin sieht sehr niedergeschlagen aus und ist vollkommen stumm.
Dann macht er einen Versuch, die gestörte Stimmung durch einen Imbiß ein wenig zu heben. Er holt seine Körbe hervor, packt aus, ordnet an, wartet auf, bedient alle.
Man setzt sich wieder auf die Plaids, der Meister gleichfalls, doch so sehr vertieft in sein Privatgespräch, daß er nicht zu bemerken scheint, was um ihn her vorgeht.
Als Pipin sich mit einem Teller, auf den er seine erlesensten Schätze gehäuft hat, Eugenien nähert, entreißt ihm Dr. Kranich den Teller.
»Königinnen muß man kniend bedienen«, sagt er, und mit einer anmutigen Wendung seines Pantherleibes kniet er vor Eugenie nieder. In dieser Stellung bleibt er und hält den Teller, während sie mit zarten Fingerspitzen die Beeren der Weintraube einzeln abzupft.
Er kniet dicht am Saume ihres Kleides. Aus den blaßlila Falten sieht ein kleiner, brauner Schuh hervor. Und Dr. Kranichs Kniee nähern sich wunderbar geschickt diesem kleinen, braunen Schuh, bis sie ihn zwischen sich einschließen und verschlingen. Der kleine braune Schuh ergiebt sich willig in sein Schicksal und macht keinen Versuch, sich aus dieser Gefangenschaft zu befreien.
Mit unbewegtem Gesichte, die Augen auf den Teller gesenkt, aß Eugenie ihre Weintrauben.
Nachdem Pipin alle bedient hatte, auch den Brunnhofer Seppl, setzte er sich auf den Platz neben Eugenie, wo früher Dr. Kranich gesessen hatte. In diesem Augenblick verschwand der kleine braune Schuh unter den blaßlila Falten.
»Pipin, was fällt Ihnen ein?« ruft Dr. Kranich hochmütig ärgerlich aus. »Dieser Platz gehört mir – räumen Sie ihn gefälligst sogleich, sonst wende ich Bracchialgewalt an.«
Pipin erfleht Eugeniens Beistand: ob er denn nicht zu guter Letzt die Belohnung, an ihrer Seite zu sitzen, verdiene, da er doch den ganzen Nachmittag diesen Platz anderen überlassen habe?
Gnädig sagt Eugenie: »Dr. Kranich wird sich zu Füßen der Königin niederlassen, nicht wahr, damit der arme Pipin seine Belohnung behält?«
Und Dr. Kranich läßt sich zu Füßen der Königin nieder. Er stützt sich halbliegend auf seinen linken Ellbogen; dieser Ellbogen versinkt in die blaßlila Falten, unter denen der kleine braune Schuh verschwunden ist.
Während Pipin sein Obst verzehrt, hält ihm Dr. Kranich eine Predigt über das Unmoralische des Essens, dieser doppelt egoistischen Beschäftigung. Denn erstens esse man stets für sich und niemals für einen anderen, und zweitens vernichte man dabei immer irgend ein Lebewesen, das doch die gleichen Ansprüche auf das Dasein habe, als man selbst, und wäre es auch nur ein Kohlhäuptel. Die einzige halbwegs moralische Nahrung seien abgefallene Blätter – weshalb die Menschheit, wenn sie sich auf ein höheres sittliches Niveau erheben wolle, sich vor allen Dingen zum ausschließlichen Genuß abgefallener Blätter bekehren müsse –
Pipin warf einen prüfenden Blick auf Dr. Kranich. Durch den Ernst in dessen Mienen getäuscht, versuchte er einzuwenden, daß abgefallene Blätter vielleicht nicht genug Nährwert besäßen, als daß die Menschheit dauernd davon leben könnte –
Gut, die Menschheit könnte vermutlich dauernd nicht davon leben. Ob es aber so notwendig sei, daß die Menschheit dauernd existiere? Ja, ob denn überhaupt ein triftiger Grund für die Existenz der Menschheit vorhanden sei, ein wirklich triftiger Grund? Er wenigstens kenne keinen. Ob Pipin einen kenne?
Und da Pipin gleichfalls nicht in der Lage war, auf der Stelle einen solchen triftigen Grund anzuführen, trug ihm Dr. Kranich auf, den Meister darüber zu interpellieren. Der Meister, der sich in den Tiefen jenseits des Denkens so gut auskenne, werde gewiß in dieser wichtigen Frage Bescheid geben können.
Pipin antwortet nichts. Er scheint doch zu argwöhnen, daß Dr. Kranich ihn zum besten hat.
*
Die Stimmung bleibt endgültig unbehaglich. Oede schleichen die Minuten; der Meister führt immer noch ein halblautes Gespräch mit dem Grafen, der, an den Brunnhofer Seppl gelehnt, ehrerbietig zuhört. Der Brunnhofer Seppl gähnt laut, indem er dabei »jaujaujau« macht. Er versteht die abwehrende Handbewegung des Grafen nicht und gähnt fort. In seiner ländlichen Ungeniertheit drückt er damit aus, daß er bei diesem Zwiegespräch vollkommen überflüssig ist. Ich fühle eine unwiderstehliche Neigung, ebenfalls »jaujaujau« zu machen.
Beim Aufbruch näherte sich Eugenie wieder dem Grafen.
»Durch Ihren mächtigen Einfluß könnte mir vielleicht eine große Gnade zu teil werden. Ich habe eine Bitte an den Meister – wollen Sie mein Fürsprecher sein?«
Der Graf verneigte sich zuvorkommend, während der Meister in linkischem Schweigen verharrte.
»Wäre es allzu unbescheiden, wenn ich den Meister um eine Zeile von seiner Hand für meine Autographen-Sammlung bäte?«
»Meister –?« sagte der Graf fragend.
»Bitte sehr«, versetzte der Meister nicht ungnädig. »Nur weiß ich nicht – ich habe weder Papier noch Bleistift – ich gebe gewöhnlich nichts Schriftliches von mir –«
Dr. Kranich überreichte ihm sein Notizbuch. »Diese Eigentümlichkeit teilen Sie mit allen großen Lehrern der Menschheit«, sagte er dabei mit tiefem Ernst.
Als der Meister Eugenien das beschriebene Blatt gab, setzte er hinzu: »Meine Hand ist nicht geübt, Sie werden es schwer lesen können –« und er rezitierte von dem Blättchen herab:
»Himmel oben, Himmel unten, |
Sterne oben, Sterne unten; |
Alles, was oben, ist auch unten, |
Solches nimm und sei glücklich.« |
*
Am Waldrand jenseits der Lichtung finden wir Elmenreich wieder.
»Ich habe einen Spaziergang während der übrigen Erbauungsstunde gemacht«, sagt er zu Eugenie. »Da Sie zu den Bekehrten zählen, Fräulein Eugenie, könnten Sie ja den Correpetitor des verlorenen Sohnes machen, wollen Sie nicht? Von so schönen Lippen nehmen die verlorenen Söhne noch am liebsten die Lehren der Weisheit an.«
Pipin gesellt sich zu mir. Nach einem beklommenen Schweigen sagt er mit erstickter Stimme:
»Lieber Gott! Was für Hoffnungen habe ich auf diesen Tag gesetzt! Und jetzt kommt es mir vor, als ob alle enttäuscht und schlecht aufgelegt wären, nicht bloß ich.«
In meiner Verstimmung antworte ich: »Pipin, es wäre das Gescheidteste, Sie würden endlich einen Strich darüber machen. Es kann Ihnen ja nichts als Enttäuschung auf Enttäuschung bringen.«
»Einen Strich machen? Worüber einen Strich? Warum einen Strich?«
»Aber Pipin! Dieses viele Fragen ist wirklich ermüdend!«
»Verzeihen Sie! Ich« – er schweigt hilflos. Nach einer Pause aber fährt er doch fort: »Ich habe wirklich nicht verstanden, was Sie meinen.«
»Desto besser! Dann lassen wir die Sache.«
»Ach so – jetzt verstehe ich! Sie meinen Elmenreich? Aber gleich einen Strich über ihn machen, das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Es ist wahr, er hat den Grafen durch sein Benehmen tief gekränkt – aber sagen Sie selbst, mußte man nicht etwas Aehnliches von ihm gewärtigen? Auf den ersten Anlauf ist so eine Festung wie er nicht zu nehmen. Meinen Sie wirklich, daß da alle Mühe vergeblich ist?«
»Ich habe nicht Elmenreich gemeint –«
»Ja, worüber soll ich dann einen Strich machen?«
»Ich glaubte, Sie hätten diesen Strich schon gemacht, Pipin. Aber wenn nicht – warum gehen Sie dann mit mir statt mit Eugenie?«
»Sie sehen ja, daß neben Fräulein Eugenie kein Platz frei ist. Ich kann doch nicht Elmenreich oder Dr. Kranich mit Gewalt von ihrer Seite wegreißen?«
»Wenn Sie sich immer freiwillig in den Hintergrund stellen –!«
»Ich stelle mich nicht, ich werde gestellt.«
»Sie müssen sich aber nicht stellen lassen! Sie müssen Ihren Platz behaupten, um Ihren Platz kämpfen –«
»Das wäre zudringlich von mir.«
»Sie warten also darauf, daß Eugenie Sie auffordert?«
»Ja! Ich warte darauf, wie man auf ein unverdientes Glück eben warten muß.«
»Nun, Pipin, auf diese Weise werden Sie nichts bei den Frauen erreichen, am allerwenigsten bei einem Mädchen, das durch Huldigungen so sehr verwöhnt ist, wie Eugenie. Ich glaubte, oder vielmehr ich hoffte, daß Sie sich Ihre Bewerbung um sie aus dem Sinn geschlagen hätten – und aufrichtig gestanden, es wäre das Gescheidteste, Sie thäten es wirklich.«
Pipin lächelte mit Seelenruhe; meine Worte brachten nicht den geringsten Eindruck bei ihm hervor. Er wundere sich, daß ich ihn für so unbeständig und wankelmütig halte. Wie? Vor vierzehn Tagen habe er den Entschluß gefaßt, sich um Eugenie zu bewerben, und heute sollte er ihr schon abtrünnig werden? Weil sie sich einen Nachmittag lang mit anderen mehr abgegeben habe als mit ihm? Das sei zwar schmerzlich für ihn, aber schließlich wäre es doch ungerecht, zu verlangen, daß sie sich mit ihm besser unterhalten sollte als mit Elmenreich und Dr. Kranich, die beide so überlegene Menschen seien –
Gut; nur wisse ich dann nicht, wie er sich die Sache in Zukunft vorstelle, wenn er immer freiwillig jedem »überlegenen Menschen« den Vorrang einräumen wolle –
Nun, was das betreffe, so könne ich doch nicht von ihm glauben, daß er jemals, jetzt oder später, seiner Frau vorspiegeln werde, er selber sei ein überlegener Mensch; oder daß er von ihr verlangen werde, sie müßte ihn für einen überlegenen Menschen halten –
Sehr großmütig gedacht; aber Großmut sei leider nicht immer am Platz –
Großmut? großmütig? Nicht im Entferntesten! Für einen Menschen von seiner Beschaffenheit sei das einfach selbstverständlich, und es wäre höchst lächerlich, wenn er irgendwie anders dächte oder empfände –
Er äußerte das in der That mit einer einfältigen Schlichtheit und Wärme, die noch überzeugender war als seine Worte. Ich faßte ihn bei der Hand und sagte noch einmal eindringlich:
»Pipin, hören Sie auf mich – Eugenie ist keine Frau für Sie! Schlagen Sie sich diesen Gedanken aus dem Sinn, solange es noch Zeit ist!«
Aber da wurde er sehr ernst. »Es ist nicht mehr Zeit, gnädige Frau! Vorgestern abends beim Nachhausegehen – es war sehr finster, ich bot Eugenie meinen Arm, und da – und da sagte ich ihr – wie es um mich steht – das heißt, ich sagte ihr, daß sie über mich befehlen könne, wie über einen Leibeigenen, daß ich jeden Tag und jede Stunde mit Leib und Leben und allem, was ich habe, ihr zur Verfügung stehe, daß ich ihr gehöre für Zeit und Ewigkeit. Ich sagte ihr, daß ich gar nicht die Anmaßung hätte, ihr eine Liebeserklärung zu machen, und daß sie das nicht als eine Liebeserklärung auffassen dürfe; aber wenn ein Tag käme, wenn jemals ein Tag käme, an dem sie mich brauchte oder an mich dächte, oder – oder – an dem sie frei sein wollte von dieser Umgebung zu Hause – oder wie immer – dann brauchte sie nur ein Wort zu sagen und dann würde sie mich zum Glücklichsten, zum Allerglücklichsten aller Menschen machen – und die bloße Vorstellung, daß ein solcher Tag kommen könnte –«
Er hielt atemlos inne. In seiner Stimme waren Thränen; er rang nach Worten und fand keine mehr. Die bloße Vorstellung, daß ein solcher Tag kommen könnte, hatte ihn völlig überwältigt.
* * *
(Aus einem Briefe.)
18. August 1893.
... Oder hätte dieses Mißverhältnis zwischen Theorie und Praxis, zwischen Denken und Handeln, das einem die Gegenwart verleidet, vielleicht zu allen Zeiten bestanden? Und es gäbe Helden und wahre Könige immer nur in der Vergangenheit? In der retrospektiven Betrachtung, wenn das dichterische Bedürfnis der menschlichen Phantasie alles Fehlende ersetzen kann, wenn sich durch die Wirkung der Distanz die eckigen und schlechten Linien des Alltäglichen verwischen, die störenden Details, die so kleinlich und so unmalerisch sind?
Also könnten sie noch Helden künftiger Legenden werden, alle diese Unzulänglichen, die da herumgehen mit großen Gedanken, denen sie nicht gewachsen sind –? Ueber die sie stolpern wie über ihre Mantelschleppe, sobald sie einen Schritt zu ihrer Verwirklichung machen –? Elmenreich hat einmal von dieser Art Menschen gesagt – – aber gehört denn Elmenreich nicht auch zu dieser Art Menschen? Er spielt nur in einer anderen Tonart, er posiert nur mit einer anderen Geberde, aber er posiert auch!
Du siehst, ich bin gegenwärtig so schlecht zu sprechen auf ihn, daß ich lieber gar nicht von ihm reden sollte. Du könntest dich sonst genötigt sehen, ihn zu verteidigen. Wenn du das beiliegende Heftchen durchliest – ich habe für dich das »Fest des ersten Versuches« ausführlich niedergeschrieben – dann wirst du aber selbst den Punkt bemerken, an dem es sich entschied, daß ich über Elmenreich umlernen muß. Ich habe ihn für einen tragischen Menschen gehalten, der durch sein inneres Leben in einen unlösbaren Konflikt mit dem äußeren Leben gebracht wird. Nun – jetzt halte ich ihn nicht mehr dafür. Jetzt glaube ich, daß das Leben nur in seinen Reden schwer und tragisch für ihn ist.
Darüber sollte ich mich eigentlich freuen. Und doch freue ich mich nicht. Ich fühle eher etwas wie Enttäuschung.
Deshalb teile ich auch nicht deine Meinung, daß eine Auseinandersetzung mich ihm wieder näher bringen könnte. Was in aller Welt sollte ich ihm auseinandersetzen? Kann ich ihm sagen: Lieber Elmenreich, Sie sind ja ein ganz anderer Mensch, als ich dachte –?
Und dann! Versuch' einmal, ihm mit Vorwürfen zu kommen! Da hast du schon verspielt. Er übertrumpft dich gleich: »habe ich nicht immer gesagt, daß ich ein ganz gewöhnliches Subjekt bin, ein unerträglicher Kerl, ein Mensch, den man sich drei Schritt vom Leib halten muß –« und so fort. Das ist freilich nur Maske. Im Grunde verletzt es ihn so wie uns Uebrige, wenn man schlecht von ihm denkt, obwohl er jedermann beständig dazu auffordert – – Nein, nein, es giebt keine Reparatur durch Auseinandersetzungen, sobald man von jemandem enttäuscht ist. Was immer zwei Menschen in einem solchen Fall einander sagen: Der eine kann es nicht verzeihen, daß er enttäuscht worden ist, und der andere kann es nicht verzeihen, daß er enttäuscht haben soll ...
»Ja, große Dinge sind im Werk«, sagte Pipin und errötete vor Vergnügen. »Wir haben stundenlange Unterredungen, der Meister, der Graf und ich. Was sagen Sie zu diesem Trifolium, gnädige Frau? Das hätte ich mir nicht träumen lassen, daß ich zu solchen geistigen Ehren gelangen werde!«
»Sie sind eben auch ein maßlos eitler Patron!« brummte Elmenreich.
Dagegen verwahrte sich Pipin mit Eifer. Ob er sich denn nicht darüber freuen dürfe, daß so überlegene Menschen wie der Meister und der Graf ihn ihres Umgangs würdigten? Und ob es denn nicht ein einwandfreier Ehrgeiz sei, nach geistiger Erweckung zu trachten? Nach der Erleuchtung, die man empfange, wenn höhere Geister sich einem offenbaren?
»Erweckung! Erleuchtung! Schau, schau! So weit sind Sie schon vorgeschritten? Die termini technici wenigstens haben Sie brav auswendig gelernt! Aber ich werde Ihnen etwas sagen, Pipin: wenn zwei Raubvögel einen Spatzen in ihre Mitte nehmen, so thun sie es nicht, um ihn zu »erwecken« oder zu »erleuchten«, sondern um ihn zu rupfen.«
Pipin wurde dunkelrot bis an die Haarwurzeln. Er stand auf, ging aufgeregt einige Schritte hin und her und schien mit einer heftigen Antwort zu ringen. Elmenreich aber fuhr fort:
»Nicht als gewöhnliche Gauner natürlich, nicht mit eingestandener Hinterlist, Gott bewahre! Sondern in aller Unschuld und Selbstverständlichkeit, als eine Sache, die geborene Raubvögel thun können, ohne sich etwas zu vergeben. Das gehört zu den Eigenheiten der species, lieber Pipin; und Sie würden gut daran thun, wenn Sie von Ihrem Standpunkt aus sämtliche »höhere Menschen« ein für allemal als Raubvögel betrachteten und sich mit ihnen nicht weiter einließen.«
Als er aber sah, daß er damit Pipins Mitteilsamkeit abgeschnitten hatte, lenkte er wieder ein:
»Uebrigens thun Sie, was Sie wollen; mich geht ja die Sache nichts an. Ich will nichts gesagt haben – Gott bewahre mich davor, daß ich mir einfallen lasse, einen erwachsenen Menschen zu bevormunden –« woran er noch einige längere Betrachtungen über das Verkehrte und Vergebliche des Besserwissens fügte.
Pipin fand noch immer nicht den Faden seiner Mitteilung wieder; da fragte er endlich geradezu: »Also Pipin, legen Sie nur los: was ist denn da oben im Werk?«
»Sie sind heute nicht in der Stimmung«, versetzte Pipin ausweichend. »Ich sehe schon, heute hätte ich wieder Pech mit jedem Wort –«
Elmenreich ärgerte sich über diesen ungewohnten Widerstand. Es war unverkennbar: er wollte nicht ausgeschlossen sein von den Vorgängen, zu denen man ihn nicht mehr einlud. Sollte die wegwerfende Gleichgültigkeit, die er sonst diesen Vorgängen gegenüber zur Schau trägt, nicht ganz echt sein? Nur eine Form, die er sich zurechtgelegt hat, weil er sich in keiner anderen äußern kann? Aber niemals würde er das zugeben. Er, der nicht ansteht, sich selbst das Schlechteste nachzusagen, wenn es darauf ankommt, seine Selbsterkenntnis zu zeigen, er würde sich um keinen Preis diese kleine Schwäche eingestehen. Denn als ich nun halb im Scherz zu ihm sagte: »Sie interessieren sich also doch ein wenig für das, was auf dem Berg Alvernia weiter geschieht –?« stieß er nur einen kleinen verächtlichen Pfiff aus, stand auf und ging davon.
»Warum haben Sie das gesagt?« fragte Pipin vorwurfsvoll. »Eine solche Bemerkung ist doch das sicherste Mittel, ihn zu vertreiben. Und was für ein Glück wäre es, wenn er sich wirklich dafür interessierte!«
Dann erzählte er: Nichts Geringeres habe der Graf im Sinne, als »eine Verbindung mit der übersinnlichen Welt« zu finden. Und zu diesem Zwecke veranstalte er täglich mit dem Meister Uebungen. Ueber diese Uebungen wußte Pipin nichts Näheres; er war noch nicht vorgeschritten genug, um sie mitzumachen, so wurde ihm gesagt. Ein glücklicher Zufall aber habe es gefügt, daß in der Person der Bäuerin dem Meister ein Medium von wunderbaren Fähigkeiten zur Verfügung stehe. Der Graf selbst sage, verglichen mit dieser Frau sei er nur ein bescheidener Anfänger in der Wissenschaft des Uebersinnlichen. Und doch sei der Graf von einer so großen Entschlossenheit und Leidenschaft im Experiment, daß er geäußert habe: »Für eine neue Sensation setze ich jeden Augenblick Leib und Leben auf's Spiel.« Dabei trage er sich mit sehr weitschauenden Plänen. Die Resultate dieser Forschungen sollten nicht das Geheimnis einiger Weniger bleiben: Dem Meister müsse ein Wirkungskreis geschaffen, es müsse ein Weg gefunden werden, auf dem er sich der Welt offenbaren und dazu beitragen könne, sie aus den Wirrnissen der Gegenwart zu erlösen.
Anfänglich dachte der Graf an die Veranstaltung großer Volksversammlungen, in denen der Meister persönlich zum Volke reden und durch die Kraft des gesprochenen Wortes Macht über die Gemüter gewinnen sollte. Denn der Graf – hier wurde Pipin ein wenig unsicher – der Graf teile durchaus nicht die Meinung, daß das Auftreten des Meisters kürzlich kein glückliches gewesen sei. Obwohl er sich über den erhofften Erfolg nach einer gewissen Richtung hin keiner Täuschung hingeben könne, erscheine merkwürdigerweise in seiner Erinnerung das »Fest des ersten Versuches« als eine geradezu epochale Veranstaltung, als eines der ergreifendsten und bedeutendsten Ereignisse seines Lebens, das bei allen Teilnehmern einen unauslöschlich tiefen Eindruck hinterlassen haben müsse.
»Ich bin schon ganz irr an meiner eigenen Erinnerung«, fuhr Pipin fort. »Der Graf ist so durchdrungen von seiner Auffassung, daß er keinen Einwand gelten läßt. Zum Glück will der Meister selbst nicht aus seiner Verborgenheit hervortreten und zeigt sich nur ungern einer größeren Volksmenge.«
Und so hatte Pipin, der durch den Einfluß des Grafen trotzalledem einigermaßen »irr an seiner Erinnerung« geworden zu sein schien, die Gründung einer Zeitung vorgeschlagen, deren spiritus rector Meister Wendl sein solle – eine Idee, die der Graf mit Begeisterung aufgriff. Diese Zeitung sollte das Organ der Vermittlung zwischen dem Meister und der Welt bilden; der Graf wolle auch dafür sorgen, daß sich ein Kreis von schreibekundigen Jüngern um den Meister versammle, damit »alle seine dunklen Worte in eine gemeinverständliche Fassung gebracht und den niedrigeren Intelligenzen verdolmetscht« würden. Ein solches Unternehmen müsse ohne Zweifel das ganze geistige Leben der Gegenwart reformieren; erst jetzt werde die alte Erfindung der Buchdruckerkunst ihre wahre segensreiche Kraft entfalten können, denn das gedruckte Wort reiche ja unendlich weiter als das gesprochene und geschriebene; ein neuer Menschheitsbund, ein Bund der erlesensten Geister werde auf diese Weise ins Leben treten; neue Geisteskräfte, die bisher in der Menschheit geschlummert hätten, würden Gestalt annehmen und zu wirken beginnen ...
Die gräflich Hermosasche Phantasie hatte ein bereitwilliges Gefäß gefunden, aus dem sie nun, erwärmt durch die Flamme dieses naiven Herzens, wieder überfloß. Pipin glaubt, was er sagt, er ist innig überzeugt davon – und doch ist er ein schlechter Apostel. Man hört ihm zu und lächelt. Man lächelt – selbst wenn man ihm so gutgesinnt ist wie ich.
Er bemerkte es und stutzte. »Sie sind also nicht der Meinung, daß eine solche Zeitschrift Erfolg haben müßte, gnädige Frau? Aber wenn zwei Menschen wie Meister Wendl und der Graf die Welt nicht in Bewegung setzen können, wer sollte es dann? Da muß doch was ganz Großartiges zu Stande kommen, nicht? Meinen Sie nicht?«
Ich fand es in diesem Augenblick unmöglich, seinen guten Glauben zu stören. »Warten wir erst, bis die Zeitung herauskommt«, sagte ich ausweichend. »Bis dahin ist ja noch lange Zeit –.«
»Oh nein! Die Vorarbeiten sind weiter fortgeschritten, als Sie denken –«
»Aber einen Verleger oder Herausgeber, kurz einen Menschen, der das Geld dazu hergiebt, werden Sie nicht so leicht finden, fürcht' ich –«
Pipin errötete wieder heftig. »Der ist schon gefunden«, versetzte er mit niedergeschlagenen Augen. »Der Graf wird Herausgeber und – ich Eigentümer sein.«
»Das heißt, Sie werden derjenige sein, der die Geschichte bezahlt? Denn Sie wissen doch, der Graf hat kein Vermögen?«
»Ganz richtig! Der Graf wird seinen Teil im Geistigen beitragen und ich im Materiellen, so haben wir es vereinbart, und so ist es auch in Ordnung. Umgekehrt ginge es freilich nicht!«
Dabei lachte er von Herzen. Und mit seiner wichtigsten Miene erzählte er, alles sei schon bis ins kleinste Detail ausgedacht und durchgesprochen – sogar einen Namen habe der Graf schon gefunden. »Leiweriam«, so werde das Blatt heißen.
»Leiweriam? aus welcher Sprache ist das?«
»Aus gar keiner. Es ist kein Sinnwort, sondern ein Klangwort, wie der Graf sagt, nämlich ein Wort, das nicht einen Begriff auslöst, sondern durch den bloßen Klang ein Gefühl. Auf das Gefühl muß man wirken, nicht auf den Verstand, das ist die Ansicht des Meisters; und darin liegt nach seiner Meinung der große Fehler der europäischen Kultur, daß sie den Verstand der Menschen hypertrophiert hat, daß sie sozusagen eine Ueberproduktion an Bewußtsein erzeugt hat –«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte ich eilig. Wenn nun auch Pipin anfängt, zu predigen und Weltanschauung zu propagieren –!
* * *
Abends bei Tisch, bevor der Graf da ist.
Dr. Kranich zu Pipin: »Wir müssen wieder einfältig werden, Pipin, schlicht und einfältig wie unsere Großväter. Unser Brot selbst backen, unseren Kohl selbst bauen, eine Familie gründen, an unserem Charakter arbeiten. Keinen Alkohol mehr, kein Nachtkaffeehaus! Auch keine französischen Romane mehr: Die Bibel als einzige Lektüre, dieses Buch voll strenger Seelengröße und Sittenreinheit –«
Elmenreich: »Mna!«
Pipin nachdenklich: »Jetzt weiß ich nicht, Dr. Kranich, meinen Sie das mit dem Kohl bauen und dem Brot backen wörtlich oder nur so allegorisch? Und warum eigentlich soll man das alles selber machen?«
Dr. Kranich: »Um des inneren Friedens willen.«
Elmenreich: »Lieber Arthur, Sie ergeben sich neuestens einem unverantwortlichen Kultus der Phrase. Sie bemerken gar nicht, daß Sie da einen sehr gewöhnlichen Kurs eingeschlagen haben. Das ganze Leben des gewöhnlichen Menschen besteht aus einer Summe von Phrasen. Sobald man aber diese Phrasen auf ihren reellen Gehalt hin durchdenkt –«
Dr. Kranich, in seinem wohlwollendsten Ton:
»Lieber Elmenreich, Sie bewerten die Phrase ganz falsch. Sie sind eben leider ein Intellektualist. Der Intellektualist denkt über die Phrase nach und vernichtet damit ihre wahre Funktion. Die Phrase ist bestimmt, Empfindungen zu wecken und Instinkte auszulösen. Deshalb ist die Phrase das Wirksame und Mächtige; Gedanken aber sind das Ohnmächtigste, was es auf der Welt giebt.«
Elmenreich: »Nur, solange die große Mehrzahl noch auf dem Standpunkte der Negerintelligenz steht, für die das Denken etwas Unerträgliches ist. Man müßte eben die Leute vor allem denken lehren, denken –«
Dr. Kranich: »Um Gottes willen, das fehlte gerade noch, daß auch der Mob anfinge zu denken! Lassen wir doch der großen Mehrzahl ihre gesunde Dummheit; der gebildete europäische Mensch ist ohnedies nur mehr ein Erkenntniskrüppel und Begriffsidiot.«
Hier ergreift Pipin mit glänzenden Augen seine Hand. »Wie glücklich bin ich, daß Sie auch dieser Ansicht sind!« sagt er frohlockend. »Ja, wenn wir solche Bundesgenossen finden –«
»Bundesgenossen? Wir?« Dr. Kranich runzelt seine schöngeschwungenen Augenbrauen.
»Ja, Bundesgenossen, oder wenn Sie wollen, Mitarbeiter! Sie müssen Mitarbeiter unserer Zeitschrift werden, Sie haben ganz dieselben Ansichten und Gesinnungen wie wir; wir haben eine gemeinsame – eine gemeinsame Weltanschauung –«
Dr. Kranich maß ihn vom Fuß zum Kopf mit einem boshaften Blick. Dann sagte er freundlich lächelnd:
»Oh, haben wir das? Wenn es Ihnen Spaß macht – Ihr Mitarbeiter, Pipin, kann ich werden; aber den Meister und den Grafen lassen »wir« aus dem Spiel. Mit denen haben »wir« keine gemeinsamen Bestrebungen!«
»Aber ja, die müssen doch dabei sein! Ohne die geht es doch nicht!«
Dr. Kranich lächelt ohne zu antworten. Dieses Lächeln ist vieldeutig und unergründlich, es ist voll Mutwillen und Bosheit, voll Behagen und Hinterlist, voll Selbstgenügsamkeit und Menschenverachtung – bestrickend und abschreckend zugleich.
*
Pipin schöpft tief Atem und wendet sich zu Elmenreich:
»Und an Sie, Herr Doktor, habe ich auch eine Bitte –«
Elmenreich: »Durch Bitten ist bei mir nichts zu erreichen, lieber Pipin.«
Pipin: »O ich werde nicht nachlassen! Ich werde Sie so lange bitten, Herr Doktor, bis ich Ihnen lästig werde, bis Sie ja sagen, nur um mich los zu werden. Bitten, bitten werde ich – und Sie können keinen Widerstand leisten, wenn man bittet, deshalb sagen Sie, daß man durch Bitten nichts bei Ihnen erreicht.«
Elmenreich, halb ärgerlich, halb liebevoll: »Kindskopf!«
Pipin: »Also ich fange gleich an! Machen Sie es mir leicht – was liegt Ihnen denn daran? Sie sind ja doch viel zu gerecht und zu objektiv, als daß Sie einen Menschen wie Meister Wendl nach einem einzigen mißglückten Versuch beurteilen wollten –«
Elmenreich, barsch: »Davon kein Wort mehr! Dorthin bringen Sie mich nicht, daß Sie's nur wissen. Machen Sie doch Ihre Augen auf, Pipin! Sie waren ja bis vor kurzem ein leidlich vernünftiger Bursche! Es wäre mir leid, wenn Sie in die unrechten Hände kämen. Sagen Sie mir nur, was suchen Sie denn dort oben bei diesem Verschleißer von verschimmelten Weltanschauungen? Glauben Sie wirklich, so ein Amateur-Apostel, der das Religionsstiften als Sport betreibt, kann von einem modernen Menschen ernst genommen werden?«
»Anfänglich schien mir das auch; aber jetzt bin ich bekehrt. Meister Wendl ist etwas, wofür wir modernen Menschen leider kein Verständnis haben – er ist ein Weiser!«
»Sie meinen wohl, Pipin, man braucht bloß ein Dutzend alter Schmöker gelesen und aufgehört haben, sich zu waschen, um ein »Weiser« zu sein? Sie meinen wohl, man ist schon ein »Weiser«, wenn man einen haarigen Mantel trägt und mit Scherben aus der metaphysischen Rumpelkammer hausieren geht? Solche Weise können wir alle jeden Tag werden!«
»Aber warum werden wir es nicht, wenn das so leicht ist?«
»Weil wir zu viel seelisches Anstandsgefühl haben, mein lieber Pipin! Weil wir nicht schamlos genug sind, uns als Narren aufzuspielen! Weil wir nicht unredlich genug sind, zusammengelesene Gedanken für eigene auszugeben! Weil wir nicht –«
In diesem Augenblick kam der Graf. Da brach Elmenreich sofort das Gespräch ab.
(Aus einem Briefe.)
3. September 1893.
... Der Herbst verkündigt sich. Und er verkündigt sich hier wie der Frühling und der Sommer – durch Regen. Aber dieser Regen ist noch ausgiebiger, noch eindringlicher, noch hartnäckiger. Er fällt mit der eiligen Wucht eines Platzregens vom Himmel, zwei Tage, drei Tage, vier Tage, unausgesetzt, eintönig, hoffnungslos. Und kein Windstoß kommt zwischen den hohen Bergwänden herein; unbeweglich liegen die Wolken auf den Abhängen, und alles Wasser, das sie heruntergießen, steigt unverweilt aus den Wäldern wieder zu ihnen hinauf.
Der Wirt und die Kellner gehen mit Armensündermienen herum und entschuldigen sich von früh bis abends für dieses unverantwortliche Wetter. Stündlich sehen sie nach, ob es denn noch nicht schneien will. Denn »wenn's schneit, wird's schön«, und dann beginnt die große Herrlichkeit des Herbstes, das beständige Wetter, auf das sie die Gäste unermüdlich von Woche zu Woche vertröstet haben.
Aber jetzt ist der Zorn über den »ewigen Regen« nicht mehr zu beschwichtigen. Die Langeweile wächst und mit der langen Weile der Ueberdruß an den Genüssen des Landlebens. Alle Promenaden, alle Aussichtspunkte, alle Jausenstationen hat man unzählige Male abgegrast; was steht da noch Großes zu erwarten, wenn auch nächste Woche wieder schönes Wetter wäre? Und die Vorstellung der Stadt mit ihren Kaffeehäusern und Theatern, mit ihrem vielsagenden Lärm und ihrem geschäftigen Hinundher, das den Eindruck einer so wunderbaren Wichtigkeit in der Seele der Müßiggänger erzeugt, wird täglich unwiderstehlicher. Flucht, Flucht von allen Seiten. Der Speisesaal ist schon halb leer, und so still geht es zu, daß Elmenreich mit seiner lauten Stimme für sämtliche Anwesende spricht, sobald er eine Bemerkung macht. Er ist der Chorführer der Mißvergnügten; von Tisch zu Tisch steigert sich beim Eintreten sein Grimm über die unerhörten Unbilden der Witterung. »Morgen früh reise ich ab«, das ist sein stehendes Wort. Da er alle Anwesenden kennt und mit jedem dritten Menschen einen Händedruck wechselt, dauert es stets ziemlich lange, bis er in den Hafen unseres eigenen Tisches einläuft ...
* * *
Im Speisesaal. Dr. Kranich zu Elmenreich, der eben seine Bekannten absolviert hat:
»Eine scheußliche Unsitte, dieser europäische shakehands-Verkehr! Man sieht, daß Sie noch robuste Nerven haben, Elmenreich, die gesegneten Nerven der früheren Generation! Alle diese heißen oder kalten, fetten oder knochigen, schwitzenden oder klebrigen Hände der Reihe nach in die meine zu bekommen – fi donc! In diesem Punkt halte ich es mit den Chinesen, die das Christentum ablehnen, weil die Missionäre ihnen gleichzeitig das Handgeben angewöhnen wollen.«
Statt zu antworten, starrte Elmenreich mit angespannter Aufmerksamkeit auf die Eingangsthür. Man sah durch die Scheiben eine Ansammlung von Regenschirmen und Regenmänteln, die sich eine Zeitlang draußen herumbewegten, ehe die Glasthür sich öffnete.
Dann trat Pipin mit Eugenie ein, hinterdrein die Stiefmutter an der Seite des Grafen. Sie ließen sich an einem Tische in einiger Entfernung von uns nieder. Der Graf schien sich verabschieden zu wollen, obwohl die Stiefmutter ihn mit ihrem zuthunlichsten Lachen zum Bleiben nötigte, und schon einen Stuhl zurechtrückte. Allein erst, nachdem Pipin sich ins Mittel gelegt hatte, setzte sich der Graf, zögernd und widerwillig, nieder. Mutter und Tochter bemühten sich fortwährend angelegentlich um ihn; Eugenie wurde beinahe lebhaft und ihre Augen leuchteten in erhöhtem Glanz, so oft sie sich auf das Gesicht des Grafen richteten.
Elmenreich hatte aufgehört zu essen. Sprachlos verfolgte er die Dinge, die da drüben geschahen, als seien es die seltsamsten und unerhörtesten Vorgänge.
Er murmelte unverständliche Worte vor sich hin. Und dann zu mir gewendet, blaß vor Erregung:
»Sehen Sie, das ist es, was ich an den Weibern verächtlich finde: diesen Mangel an Ehrgefühl, diese Unfähigkeit zu unterscheiden! Unglaublich! Sich so gewohnheitsmäßig anzubieten, ohne jede Empfindung dafür, was für ein Exemplar man vor sich hat! Es ist eine Schmach!«
Das sagte er halblaut in seinen Bart, unverwandt hinüberstarrend. Endlich stieß er seinen Sessel zurück, legte die Serviette mit einem Faustschlag auf den Tisch und ging hinüber.
Dort begrüßte er kurzangebunden die Damen, übersah den Grafen und setzte sich demonstrativ zwischen diesen und Eugenie. Das Gesicht des Grafen hellte sich auf, dasjenige Eugeniens verfinsterte sich.
Ich bemerkte zu Dr. Kranich, Elmenreich mache es wie die Hunde, die einen Bissen stehen lassen; aber wenn ein zweiter kommt, der danach schnappt, so wollen sie ihn doch selber haben.
»Stimmt nicht ganz«, antwortete Dr. Kranich lächelnd. »Denn hier ist kein zweiter Hund, der nach dem Bissen schnappt. Zum mindesten nicht der Graf.«
»Dann aber verstehe ich wirklich diese Eifersucht nicht.«
»Es ist auch nicht Eifersucht. Einer so simplen und primitiven Empfindung ist Elmenreich gar nicht fähig.«
»Wenn nicht Eifersucht, was ist es sonst?« Dr. Kranich zuckt die Achseln. »Giebt es nicht viele Empfindungen, für die wir noch keine Etikette besitzen? Der Fall Elmenreich scheint so zu liegen: Elmenreich hält diese junge Dame nicht für geeignet, die Würde seiner Frau zu bekleiden. Er achtet sie nicht. Néanmoins ist er verliebt in sie – und darum wird er immer wild, wenn sie etwas thut, was ihm besonders unwürdig erscheint. Denn seine Liebe möchte gar zu gern über seinen Verstand Herr werden, wie das so üblich ist bei der Liebe. Elmenreichs Verstand ist aber nicht unterzukriegen; er sitzt ihm auf dem Genick wie der gelbe Zwerg im Märchen, und Elmenreich muß dorthin laufen, wohin der befiehlt. Und weil der gelbe Zwerg um eine Nasenlänge über den Menschen Elmenreich hinausragt, so hält ihn dieser für ein höheres Wesen, und reicht ihm unterthänigst sein Herz zum Fraße hin. Manchmal aber will sich das Herz nicht gutwillig fressen lassen – und dann wird Elmenreichs Betragen eben »unverständlich«.
* * *
In einer Regenpause ging ich heute mit ihm den Fußweg um den See. Der Weg ist beinahe einsam geworden, so viele Sommergäste hat das schlechte Wetter schon vertrieben. Alle Uebriggebliebenen benützen den ersten trockenen Augenblick, um wieder ihren Spaziergang anzutreten; Elmenreich findet noch genug Hände zu schütteln.
Auch Eugenie mit ihrer Stiefmutter kommt uns entgegen.
Es war an einer Stelle unweit des Ortes, wo der Weg eine ziemlich lange Strecke geradlinig fortläuft; man kann dort einen Kommenden schon von weitem erblicken. Auf einmal machten die beiden Damen kehrt und gingen ihren Weg wieder zurück. Nach einigen hundert Schritten bogen sie in einen Seitenweg ein, der dort mündet. Es war die ganz unzweideutige Ablehnung einer Begegnung.
Elmenreich hatte im ersten Moment seine Schritte beschleunigt; dann blieb er stehen und sah starr den Verschwindenden nach. Mit einem finster schmerzlichen Ausdruck schüttelte er ein paarmal den Kopf wie über etwas Unbegreifliches, für das es nach dem normalen Verlauf der Dinge keine Erklärung giebt. Es schien mir, als ginge ihm dieser kleine Zwischenfall sehr nahe, mehr noch, daß er ihm unverhältnismäßig wehe that.
Da es ganz vergeblich ist, zu seiner Seele im Augenblick der Empfindung einen Zugang zu suchen, begnügte ich mich, gleichfalls nur den Kopf zu schütteln. Aber selbst dieses Kopfschütteln war schon ein zu eigenmächtiger Eingriff in sein Erleben. Kaum bemerkte er es, da wurde seine Miene gleich beherrscht und kalt. Er lachte höhnisch auf.
»Sie sehen, gnädige Frau, ich bin in Ungnade gefallen! Das Fazit ist, daß man mich ausstreicht und sein Glück anderwärts versucht. Ist es der eine nicht, so ist es der andere. Fräulein Eugenie scheint übrigens eine Vorliebe für uneinnehmbare Festungen zu haben: je unzugänglicher man ist, desto erpichter wird sie. Sie gehört offenbar zu jenen Weibern, denen gegenüber man sich nach bekanntem Rezept mit einer Peitsche bewaffnen muß. Mna! Jetzt ist sie aber an die unrechte Adresse gekommen; da könnte sie höchstens reüssieren, wenn sie selbst die Peitsche in die Hand nähme. Pfui Teufel! So gar keinen Instinkt zu haben!«
In dieser lieblosen und geringschätzigen Weise redete er einige Minuten lang hastig, mit gezwungenem Lachen dazwischen. Dann verstummte er wieder, verlor sich in Gedanken, vergaß seine Miene, die in ihren früheren schmerzlichen Ausdruck zurückfiel. Endlich auffahrend:
»Verzeihen Sie, gnädige Frau: aber dieser langsame Schritt ist mir heute unerträglich. Manchmal hat man das Bedürfnis, sich ordentlich auszulaufen. Ich verabschiede mich – Sie verzeihen!«
Er ging in heftigem Tempo vorwärts, bis er die Abzweigung des Weges erreichte, welche die Entflohenen benützt hatten. Auf dieser Abzweigung verschwand auch Elmenreich wie mit Siebenmeilenstiefeln ...
* * *
Pipin unternimmt unermüdlich neue Angriffe auf die Festung Elmenreich. Als er heute abermals mit dem Zeitungsprojekt herausrückte, faßte ihn Elmenreich wieder einmal bei den Schultern und schüttelte ihn, als ob er ihn mit Gewalt aus einem Traume aufwecken wollte.
»Mensch, Mensch, so nehmen Sie doch Vernunft an! Wozu habe ich Ihnen denn kürzlich meine Meinung gesagt? Nützt denn gar nichts bei Ihnen?«
Pipin richtete sich mit Heiterkeit seinen Rock, den ihm Elmenreich halb ausgezogen hatte. Nun ja, Elmenreich habe neulich einige Witze über den Meister gemacht – aber er könne doch nicht annehmen, daß er, Pipin, auf ein paar gelungene Witze hin im Ernst von dem Meister und dem Grafen abfallen werde?
Und dann begann er gleich wieder, mit inständiger Beharrlichkeit in Elmenreich zu dringen, daß er »mitarbeiten« solle. Er war mehr denn je durchdrungen davon, daß etwas geschehen müsse, daß die Zeit gekommen sei, und wiederholte alles, was er mir darüber gesagt hatte, mit eindringlichem Nachdruck zu Elmenreich, ohne sich durch dessen unaufhörliche Unterbrechungen beirren zu lassen. Der geduldige Zuhörer Pipin hatte endlich selbst einmal das Wort an sich gerissen und behauptete es dem ungeberdigsten aller Zuhörer gegenüber durch die Gewalt seiner Ueberzeugung.
»Geschehen, geschehen, was soll denn geschehen?« schrie Elmenreich endlich erbittert. »Können Sie die Gesetze ändern, nach denen sich alles Geschehen unabänderlich vollzieht? Sehen Sie denn nicht ein, daß alles Geschehen bloß der Ausdruck für einen Zustand ist? Ja, die Welt ist schlecht und gemein – diese alte Wahrheit braucht gar keiner Bestätigungen mehr. Aber zu ändern giebt es da nichts. Ich werde Ihnen das an einem naheliegenden Exempel beweisen: wenn ein Mensch, der voll Güte und gutem Glauben ist, ausgenützt und mißbraucht wird, so ist das sehr häßlich und sehr traurig – aber er wird ausgenützt und mißbraucht, weil er wehrlos ist gerade durch seine Güte und seinen Glauben, sintemal die Menschen Raubtiere sind, die über den Wehrlosen herfallen und ihn auffressen. Dieses einfache Exempel schreiben Sie sich hinter die Ohren, Pipin, und geben Sie sich nicht dazu her, den verkappten Ehrgeiz anderer Personen mit Ihrem guten Geld und Ihrem guten Glauben zu bezahlen.«
»Aber wenn mich Ihr einfaches Exempel gar nicht überzeugt? Ich meinesteils kann nicht finden, daß die Menschen der Güte und Gläubigkeit ausgenützt und mißbraucht werden; warum sollte ich da annehmen, daß die Menschen im allgemeinen Raubtiere sind –?«
»So, Pipin? Sie sind also in Ihrem Leben noch nie ausgenützt, noch nie mißbraucht worden?«
»Ach Gott, mich meinen Sie mit Ihrem Exempel, Herr Doktor? Nun ja, es ist ein paarmal vorgekommen, daß mir hinterdrein Gedanken darüber aufgestiegen sind, ob ich in einer Sache nicht der Gefoppte war. Aber wenn auch – was liegt denn da dran? Sie sagen ja selbst, daß das schon einmal so ist und nicht zu ändern. Also giebt es in einem solchen Fall nichts, als sich mit Heiterkeit in das Unvermeidliche ergeben und sich denken, daß es auf ein paar Gauner und Gaunerstreiche mehr oder weniger nicht ankommt; deshalb bleibt die Welt doch voll von lieben, wunderbaren, großartigen Menschen –«
»Mna –«
»Und weil Sie schon mich als Exempel genommen haben: auf mich paßt es am allerwenigsten. Denn ich bin ja ein besonders bevorzugter Mensch, ein wahres Glückskind, dem lauter unverdiente Herrlichkeiten in den Schoß fallen. Muß denn mein Herz nicht übergehen vor Glück und Dankbarkeit, wenn ich sehe, wie ich unablässig von allen Seiten königlich beschenkt werde? Gleich zum Beispiel – Sie, Herr Doktor! Sie meinen es so gut mit mir, daß Sie sogar dem Grafen und dem Meister Unrecht thuen, weil Sie denken, die beiden könnten am Ende mit mir nicht ganz aufrichtig umgehen –«
Er ergriff Elmenreichs Hand und sah ihn mit seinen lichtblauen Augen beweglich an. Unversehens fiel er ihm um den Hals.
Elmenreich machte sich von ihm frei. »Was sind das für Kindereien!« sagte er unwirsch. Und gleich beschleunigte er seine Schritte, und ging allein voraus.
Betrübt sah ihm Pipin nach. Als er aber bemerkte, daß Elmenreich in einiger Entfernung stehen blieb, um uns wieder herankommen zu lassen, sagte er ganz beglückt:
»Er wird doch nachgeben, glauben Sie nicht, gnädige Frau? Er hat ja ein so weiches Herz; deshalb ist er immer so grob.«
* * *
(Aus einem Briefe.)
5. September 1893.
... Es ist, als ob er die Menschen von innen heraus erleuchtet sähe, in strahlenden, feurigen Farben, wie seltene Blumen, deren Anblick das Herz höher schlagen macht. Und das versetzt ihn zuweilen in Anfälle der Entzückung, daß er mit nassen Augen herum geht und sich selig preist, daß er auf der Welt ist. In solchen Augenblicken scheint sich die verborgene Schönheit und unzugängliche Tiefe jeder Eigenart vor ihm aufzuthun und ihn zum Eingeweihten ihrer letzten Geheimnisse zu erheben. Dann begreift er alles mit liebreichem Verständnis, auch das ihm Entgegengesetzte, auch das ihm Feindliche – er betrachtet es durch ein anderes Medium als durch seinen bescheidenen Verstand, mit einer Helligkeit und Ueberlegenheit der Seele, die aus irgend einer unbekannten, besonderen Fähigkeit entspringt.
Wenn seine Psyche in ihren alltäglichen Zustand zurückfällt, wird allerdings wieder die Unzulänglichkeit seiner intellektuellen Mittel das Vorherrschende.
»Pipins maîtresse facultée ist die Dummheit«, sagte neulich Dr. Kranich; »ehren wir sie und lassen wir sie walten, wie es ihr gebührt.« Dr. Kranich hat etwas mit Pipin gemein: er betrachtet wie dieser alles, was geschieht, als gut – allerdings aus einer weniger liebevollen Grundstimmung der Seele. Als das regierende Weltprinzip erkennt er das Gesetz an, daß der Schwächere durch den Stärkeren aufgefressen wird: und weil es das Weltprinzip ist, bedeutet es für ihn das Recht nach göttlicher Ordnung. Daher spricht er diesen Grundsatz überall mit Offenheit, ja mit einer Art Unschuld aus.
Als ich ihn fragte, ob er nicht auch glaube, daß die Gemeinschaft, die der Graf mit Pipin angeknüpft hat, nur auf eigennützige Absichten zurückzuführen sei, und daß Pipin in dieser Zeitungsgeschichte um sein Geld gebracht werden wird, versetzte er beinahe entrüstet:
»Da fragen Sie noch, gnädige Frau? Das ist doch selbstverständlich –!«
Und auf meinen Einwand, daß man doch versuchen müßte, diesen armen Pipin davor zu bewahren:
»Für einen Menschen wie Pipin ist es by all means eine Ehre, mit zwei relativ interessanten Persönlichkeiten, wie der Graf und Herr Wendl, zusammen zu sein. Und wenn er für diesen Umgang tüchtig zahlen muß, so ist das nur in Ordnung ...«
* * *
(Aus einem Briefe.)
7. September 1893.
... In der letzten Zeit hatte es den Anschein, als sollte Elmenreichs Herz über den gelben Zwerg – wie Dr. Kranich seinen Verstand nennt – triumphieren. Seit Eugenie ihre Gunst dem Grafen zugewendet hat, oder genauer gesagt, sich um die Gunst des Grafen bewirbt, hat er seine ablehnende Haltung aufgegeben. Während er sich früher sorgfältig von Eugenie fern gehalten und alle Gelegenheiten, mit ihr allein beisammen zu sein, vermieden hatte, heftete er sich jetzt an ihre Fersen, verfolgte sie auf Schritt und Tritt. Sogar in eine Tarockpartie mit dem Oberst hat er sich eingelassen – was beinahe mit einem Duell geendet hätte, da er so zerstreut spielte, und der Oberst in seinen Ausdrücken nicht sehr wählerisch ist, wenn es gilt, Vergehen wider den heiligen Geist des Kartenspiels zu rügen.
Elmenreichs Benehmen war freilich nicht das eines zärtlichen Verliebten; aber wenn man mit seiner Art und Weise vertraut ist, konnte man wohl aus seinen bitteren und stacheligen Reden die Erregung heraushören, die in ihm arbeitete. Ich weiß nicht, ob Eugenie verstand, daß er seinen Gefühlen dieses rauhe Gewand anziehen muß, um sich mit ihnen abzufinden; so oft ich sie und ihn beisammen sah, verfiel sie noch immer in jene Ratlosigkeit ihm gegenüber, die von den ersten Zeiten an die Schwäche ihrer Stellung bildete. Jetzt aber verbarg sie ihre Ratlosigkeit unter einer hochmütigen Gleichgiltigkeit – und, gespielt oder echt, diese Gleichgiltigkeit gab ihr eine viel größere Macht über ihn als ihre früheren Bemühungen, ihm zu gefallen. Damit hielt sie ihn beständig in Atem, damit lenkte sie diesen widerhaarigen Liebenden nach ihrem Willen, zwang ihn, sich zähneknirschend zu unterwerfen. Er hat wahrhaftig kein glückliches erotisches Temperament: Die Liebe ist bei ihm kein Aufblühen seines ganzen Wesens, keine freudige Verschmelzung der eigenen Person mit einem anderen Ich: sie ist ein wilder Kampf gegen das Eindringen einer fremden Gewalt, eine Empörung, eine Rebellion. Der gelbe Zwerg geberdet sich wie ein Rasender, verfällt in Krämpfe, schlägt alles nieder, was in seinen Bereich kommt. Dennoch unterlag er Schritt für Schritt. Elmenreichs Laune wurde im selben Verhältnis schlechter und schlechter – aber sie berechtigte zu der Erwartung, daß in dem Augenblick, als die Entscheidung gefallen war, ein jäher Umschlag eintreten müsse.
Nun, der Umschlag ist eingetreten, – fast gleichzeitig mit dem schönen Wetter – aber die Entscheidung ist ausgeblieben. Irgend etwas hat sich zwischen Elmenreich und Eugenie ereignet – niemand kann erraten, was. Mit einem Male hat er seine Ruhe und Sicherheit zurückgewonnen, geht mit spöttischer Höflichkeit an derjenigen vorüber, die noch kurz vorher nur in seiner Sehweite aufzutreten brauchte, um ihn in einen Zustand nervöser Unruhe zu versetzen. Der Fieberanfall ist wieder überstanden – auf einen äußeren Anlaß hin, oder durch eine innerliche Wandlung, wer weiß es? Treibt er bloß ein grausames Spiel mit ihr? Unterhielt er sich damit, bei ihr Hoffnungen zu erwecken, um in dem Augenblick, als sie darauf eingehen will, ihr hohnlachend den Rücken zu kehren? Ich bemühe mich vergeblich, einen Schlüssel zu finden; wieviel er auch redet, über seine wahren Empfindungen läßt er sich doch keine Andeutung entschlüpfen. Er geht mit einer selbstzufriedenen Miene herum, die er sonst nicht hat, mit der Miene eines Siegers, oder mindestens eines Menschen, der einer Gefahr glücklich entronnen ist. Diese Miene scheint zu sagen: mich kann man nicht täuschen; ich behalte immer Recht.
Aber du wirst sagen, daß solche Interpretationen fremder Mienen etwas ganz Willkürliches sind. Ach, Liebster, unser ganzes Wissen von dem, was in den Seelen unserer Nebenmenschen vorgeht, ist ja nichts als eine willkürliche Interpretation! ...
* * *
Entwölkung. Eine unwiderstehliche Gewalt liegt in diesem Wetterschauspiel; die Seele verwandelt sich mit dem Himmel. Alles Schwere, Trübe scheint zu versinken, sich zu verflüchtigen, sich in eine himmlische Bläue aufzulösen.
Nun ruht das Firmament wie ein seidenes Zelt auf den beschneiten Gipfeln. Und in der tiefen Windstille dieses Thalkessels, unhörbar und unsichtbar, hebt die Luft ein wundersames Spiel an. Sie fließt von der blauen Kühle der Felsenwände herab und bringt den Hauch des Schnees mit sich; sie legt sich auf die sonnigen Matten hin, wo sie an den späten Blüten würziger Kräuter nippt, und schwebt erwärmt empor, um sich mit dem feuchten Atem der Wälder vollzusaugen, streicht über die taufunkelnden Wipfel, in deren Schatten sie sich erfrischt, bis sie wieder herabsinkt und auf dem Spiegel des Sees hingleitet, trunken von Düften, von allen zarten Gaben des Waldes, der Wiese, des Wassers. In diesem Spiel wird sie zu einem reineren, leichteren, freudigeren Element; man atmet sie, man überläßt sich ihr, geneigt, an alles zu glauben, wovon die hohen und einsamen Geister geträumt haben, wenn ihre Stimmung lauter, frei und spielerisch war wie die Luft des Hochgebirges.
*
Wir fahren im Boot; Pipin rudert, Elmenreich sitzt ihm gegenüber und steuert. Als Pipin bemerkt, daß Elmenreich ungewöhnlich guter Laune ist, fängt er gleich an: »Aber nicht wahr, Herr Doktor, zeigen wenigstens darf ich Ihnen die Vorarbeiten zu unserer Zeitung? Wenigstens ansehen werden Sie sich ein paar Blätter?«
Elmenreich, zwischen Aerger und Gelächter: »Gott steh mir bei, was für eine Wanze hab' ich mir in diesem Pipin zugezogen! Wenn ich gewußt hätte, daß der Besuch da oben mir so teuer zu stehen kommen sollte –«
Pipin hört auf zu rudern, legt seine Hand auf Elmenreichs Knie und sagt überredend: »Eines dürfen Sie aber nicht leugnen, Herr Doktor: der Meister hat Dinge gesagt, die – die Ihnen aus der Seele gesprochen waren, Dinge, die einen Eindruck auf Sie gemacht hätten, wenn Sie sich nicht absichtlich widersetzt hätten!«
Elmenreich wird sehr aufmerksam. Er richtet einen scharfen Blick auf Pipin. »Dinge, die mir aus der Seele gesprochen waren? Ich verstehe nicht ganz, Pipin – was für Dinge denn?«
Pipin, arglos: »O verstellen Sie sich nicht, Herr Doktor! Ich habe es ganz gut bemerkt, daß Sie wenigstens über den ersten Teil seiner Rede etwas – etwas betroffen waren. Wie hätte das auch keinen Eindruck machen sollen, da es doch nur Ihretwegen gesprochen wurde, sozusagen auf Sie gemünzt war –«
Elmenreich: »Also das war's! Eindruck sollte auf mich gemacht werden! Man weiß die Stelle, wo ich verwundbar bin, und da läßt man auf diese Stelle zielen. Lieber Pipin, sagen Sie dem Grafen, daß er sich verrechnet hat. Er mag mich für einen Ertrinkenden halten, meinetwegen – aber daß er glaubt, er könne mich mit seinen ausgedroschenen Strohhalmen zu sich an's Land ziehen, das ist einfach komisch. Das Land, auf dem er sitzt, ist keine Gegend für mich, sagen Sie ihm das; lieber kämpfe ich mein ganzes Leben lang mit Wellen und Winden, bevor ich dort vor Anker gehe. Wenn man ausgefahren ist, um einen neuen Weltteil zu entdecken, darf man nicht vor dem hohen Meer bange werden ... O diese Weltumsegler! Es geht ihnen umgekehrt wie dem Kolumbus: sie verkünden mit Triumph, daß sie eine neue Welt entdeckt haben, und bemerken gar nicht, daß sie in den wohlbekannten alten Hafen eingelaufen sind, wo schon seit längeren Jahrtausenden alle abgetakelten und seeuntüchtigen Herrschaften zu landen pflegen.«
Er war sehr vergnügt geworden. Etwas wie Stolz funkelte in seinen Augen; unter seinem mächtigen Bart kräuselten sich seine Lippen in einem mutwilligen Lächeln.
Als er Pipins niedergeschlagene Miene bemerkte, klopfte er ihm auf die Schulter:
»Na Pipin, Kopf hoch! Sie sind als Lotse ausgeschickt worden, um ein vermeintliches Wrack einzuholen, und Sie finden ein gutes Fahrzeug, das seinen Kurs fortsetzt – da haben Sie keine Ursache, Trübsal zu blasen, alter Schwede!«
Ein gutes Fahrzeug, das seinen Kurs fortsetzt! War das wirklich derselbe Elmenreich, der bisher das Leben unter der Perspektive seiner Wertlosigkeit betrachtete?
Ich konnte mich nicht enthalten, eine Anspielung darauf zu machen: »Aber damals, als wir zum Fest des ersten Versuches unterwegs waren, haben Sie ganz anders geredet, Elmenreich!«
Er sah mich groß an, und verstand zuerst gar nicht, was ich meinte. Pah, eine momentane Verstimmung! Sollte man etwa für jedes Wort einstehen, das man in einem Moment des Verdrusses von sich giebt? Als ob man immer das ganze Programm seiner Existenz auf den Lippen hätte!
Ja aber – wonach könne man einen Menschen sonst beurteilen, wenn nicht nach seinen Aeußerungen?
Man solle eben nicht ewig »beurteilen« wollen –
Also nicht beurteilen, sondern sich eine Vorstellung von ihm machen, von den inneren Zuständen seiner Seele –
Aber Elmenreich war entschieden nicht gesonnen, sich seine Laune durch Reminiszenzen verderben zu lassen. Die Gelegenheit war zu günstig; nun ließ er sich die Zügel schießen. Er begoß den unglücklichen Tänzer mit der Lauge seines Spottes; er sprudelte von witzigen Einfällen und vernichtenden Bosheiten über, und ergötzte sich selbst so sehr an dem Feuerwerk, das er hervorbrachte, empfand eine so große Lust an dem glänzenden Spiel seiner eigenen Gedanken, daß er ganz das Aussehen eines freudigen, selbstbewußten, hochgemuten Menschen bekam, der das Leben als ein königliches Kampfspiel aufnimmt und seinen Platz siegreich behauptet.
* * *
Pipin saß mit einer wunderlichen Miene bei Tisch. Wenn man ihn anredete, antwortete er in feierlicher Geistesabwesenheit; er hörte gewissermaßen nur mit einem Ohre zu, während er mit dem anderen einer fernen Musik zu lauschen schien.
Kaum waren wir mit dem Essen fertig, als er Elmenreich bat, ihn nach Hause begleiten zu dürfen. Und mir flüsterte er zu: »Kommen Sie mit, gnädige Frau; wenn Sie dabei sind, ist er doch eher für etwas zu haben.«
Wir setzen uns an den Tisch im Freien, wo Elmenreich nachmittags seinen Tschibuck zu rauchen pflegt und über die Hecke weg mit jedem dritten Menschen, der vorübergeht, ein Gespräch abhält.
Dort zieht Pipin mit vieler Behutsamkeit ein kleines Paket beschriebener Blätter aus seiner Brusttasche. Blaß vor Bewegung legt er sie Elmenreich hin. »Die ersten Beiträge«, lispelt er fast unhörbar.
Elmenreich ergreift sie mißtrauisch und betrachtet sie von vorne und hinten. »Von Ihrer Hand –?«
»Abgeschrieben«, ergänzt Pipin eilig. »Denn da der Meister eine so unleserliche Schrift hat –«
»Danke. Da weiß ich schon genug!«
Er schiebt die Blätter energisch von sich weg. Pipin schiebt sie tapfer wieder zurück.
»Aber anschauen können Sie sich doch die Sachen«, sagt er flehentlich. »Sie wissen ja noch gar nicht, was drin steht.«
»Na, ich denke, die »Weisheit« des Meisters habe ich schon in seiner Predigt genossen –«
»Das ist aber ganz was Anderes, etwas ganz Besonderes! Hier haben wir die Visionen des Meisters –«
»Visionen? Ist der Meister mit dem Grafen zusammen schon bei Visionen angelangt?«
»So buchstäblich dürfen Sie das nicht nehmen. Es ist nur die Form, in der er seine Gedanken mitteilt.«
Elmenreich scheint doch neugierig geworden zu sein; er nimmt in der That die Blätter und fängt an, darin zu blättern.
Pipin verliert beinahe die Fassung. Er giebt mir unter dem Tische seine Hand: diese arme, einfältige Hand ist kalt und zittert.
»Donnerwetter«, sagt Elmenreich, »da giebt es ja gar verführerische Leckerbissen: »Versuch über die Magie des Gebetes«, »Versuch über die mystische Vereinigung mit der Allseele«, »die Entschleierung der Lebensmysterien.« »Von den geheimen Entzückungen der Seele« – – Hier fing Elmenreich an, laut vorzulesen.
»Sich hinzugeben! ...
Sich hinzugeben dem geliebten Menschen in der Inbrunst der geistigen Vereinigung! Hand in Hand, Aug' in Aug', Brust an Brust überströmen zu lassen in sich das berauschende Fluidum seiner Lebenswärme ......
Sich hinzugeben den Geboten eines Meisters, das Werkzeug seines Willens und seiner Gewalt, vernichtet vor der Majestät eines Mächtigeren, hingestreckt durch den, der uns unter seine beseligende Herrschaft zwingt! Ihn erleiden in der mystischen Wollust der Entselbstung ...
Siehe, ich bebe, ich glühe, ich brenne – nimm mich hin, ergreife mich, erdrücke mich, laß mich der Schemel deiner Füße sein ...«
Elmenreich unterbrach seine Vorlesung. Was denn das heißen solle, daß Pipin ihm die Machwerke des Grafen als Visionen des Herrn Wendl auftische? Ob der Graf glaube, er brauche sich bloß hinter einem anderen zu verstecken, und man werde ihn nicht erkennen? Und ob Pipin selber wirklich nicht genug rechtschaffenes Empfinden habe, um die schielende Seele zu erkennen, die sich hinter dieser zweideutigen Manier verberge? Pfui Teufel!
Zornig warf er die Blätter auf den Tisch, daß sie auseinanderflogen und auf den Boden fielen.
Pipin sammelte sie behutsam und ordnete sie wieder. Einen Teil steckte er zu sich, den anderen legte er vor sich hin. »Der Graf ist so eigensinnig«, sagte er entschuldigend. »Was kann da ein Mensch wie ich machen? Ich habe gleich gesagt, das ist nicht die richtige Manier – aber er glaubt, er kennt Sie besser als ich. Und da er Sie ja um soviel länger kennt als ich –«
Elmenreich macht eine ungeduldige Bewegung.
»Hören Sie nur dieses eine noch«, fährt Pipin flehentlich fort. »Und – und lassen Sie mich es Ihnen lieber vorlesen, ja, darf ich?«
Ohne Elmenreichs Einwilligung abzuwarten, liest er mit steigender Bewegung und einer Stimme, die vor Ergriffenheit bebt:
Die Stimme des Suchenden.
Eine Vision.
Und ich sahe ein Meer, das dehnte sich aus von Aufgang bis Niedergang und hatte keine Grenze, so weit das Auge reicht.
Die Wellen gehen und kommen auf dem Meere, und niemand weiß, woher sie kommen und wohin sie gehen.
Und der Himmel hing über dem Meere in tiefen Wolken, und der Sturm trieb die Wolken vor sich her; aber es fiel kein Lichtstrahl durch die Wolken.
Dämmerung lag auf der Welt und das Brausen des Sturmes scholl über die Gewässer.
Und ich sahe einen Kahn, darinnen stand aufrecht ein Mensch, der streckte aus seine Arme gen Himmel.
Nackend und bloß, wie er aus seiner Mutter Leibe gegangen war, stand er; das Steuer hatte er weggelegt und die Segel ließ er flattern mit dem Winde, und streckte seine Arme aus gen Himmel.
Und schrie zu Gott in dem Brausen des Sturmes. Aber der Sturm verschlang seine Stimme, daß sie nicht gehört ward unter den Menschen.
Herr, Herr wo bist du? Warum hast du dein Angesicht verhüllt vor denen, die dich suchen?
Warum lässest du uns in der Irre gehen und führest uns nicht aus dem Dunkel?
Dein Tempel ist zerfallen, und die Stätten deiner Verehrung hat die Wüste verschlungen. Der Sand weht über sie hin und begräbt sie.
Herr, Herr, wo bist du? Teile die Wolken, du Herr des Sturmes, und laß mich sehen die Himmel, deiner Hände Werk und die Sterne, die du bereitest.
Der du stillest das Brausen des Meeres, gebiete den Wassern, daß sie mich tragen an die Schwelle, über die ich schreiten will in dein Heiligtum.
Sende mir den Boten, der meine Lippen rühre mit der glühenden Kohle, genommen von deinem Altare!
Dann will ich hingehen und Zeugnis geben, und mein Wort soll sein wie eine glühende Kohle, daran die Herzen der Menschen sich entzünden.
Aber der Himmel that sich nicht auf und kein Stern leuchtete durch das Dunkel.
Und ich sah, wie der einsame Kahn dahintrieb auf dem uferlosen Meere, bis er ferne unterging in den Gewässern der Nacht.
*
Pipin seufzte tief auf, der Atem schien ihm stille zu stehen.
Pause.
Elmenreich betrachtet Pipin mit teilnehmender Verwunderung und schüttelt den Kopf.
»Sie sind doch ein wunderlicher Patron, Pipin! Machen solche Travestien wirklich einen so großen Eindruck auf Sie?«
»Travestien?« haucht Pipin. »Und das ist alles, was Sie dazu sagen?«
»Ja was denn sonst, Pipin? Was haben Sie denn sonst erwartet?«
»Daß Sie darauf antworten!«
Elmenreich schüttelt wieder den Kopf und nimmt das Päckchen Blätter Pipin aus der Hand. Er blättert noch einmal darin; dann faltet er es zusammen und steckt es in die Tasche.
»Lassen Sie mir diese Dokumente bis morgen«, sagt er mit enigmatischer Miene. »Vielleicht habe ich bis dahin auch eine Vision, die ich der Welt mitteile.«
* * *
Es klopft.
»Herein!«
Pipin tritt ein. Blaß, niedergeschlagen, verstört. Er entschuldigt sich umständlich, daß er sich die Freiheit nehme. Aber die Ereignisse – wenn ein Mensch sich jeder Bemühung widersetzt und gar nichts gelten lassen will! Wenn er es nur darauf abgesehen hat, alles zu negieren, zu verspotten, zu zerstören! Kurz, es ist aus, es ist nichts mehr zu hoffen, die Zeitung wird nicht gemacht, der Graf und Elmenreich werden sich nie versöhnen; keine epochemachenden Werke, keine wunderbaren Enthüllungen, keine Wiedergeburt der geistigen Kultur –
Er zog sein Päckchen Schriften aus der Tasche und gab es mir. Es hatte sich um einige stark zerknitterte Blätter vermehrt, auf denen ich Elmenreichs gewaltthätige Schrift erkannte. Das war der versprochene Beitrag Elmenreichs. Pipin hatte ihn heute morgens bekommen – durch den Hotelportier, dem Elmenreich das an Pipin adressierte Couvert gestern beim Fortgehen übergeben hatte.
In seiner Herzensfreude hatte Pipin den versprochenen Beitrag schon dem Grafen angekündigt gehabt; wie hätte er ihn jetzt verheimlichen sollen?
So mußte Pipin – nach seinem eigenen Ausdruck »wie ein begossener Pudel –« den Ueberreicher dieses Schriftstückes machen, das doch eine blutige Kränkung, wenn nicht sogar eine Beleidigung des Grafen enthielt.
Natürlich fiel denn auch der ganze Zorn auf ihn. Der Graf maß ihm alle Schuld bei und überhäufte ihn mit Vorwürfen, daß er die Sache schlecht eingefädelt, daß er durch seine Ungeschicklichkeit alles verdorben, daß er mit seiner albernen und lächerlichen Weise Elmenreichs Spott herausgefordert habe. »Madre de Dios!« rief der Graf, »warum habe ich mich dieses Tölpels bedient! Wie konnte ich glauben, daß ein solcher Schafskopf etwas erreichen werde!« Er fluchte und tobte; seine Leidenschaft steigerte sich immer mehr, bis er sich die Haare ausraufte, sich die Kleider vom Leibe riß, sinnlos schreiend im Zimmer herumrannte, die Wasserflasche zertrümmerte und sich geberdete, als hätte er den Verstand verloren.
Als dieser Ausbruch vorüber war, bat er Pipin wieder alles ab, indem er ihn anflehte, auf andere Mittel und Wege zu denken, um Elmenreich zu gewinnen. Wenn Elmenreich eine prinzipielle Abneigung gegen alles Gedruckte habe, wenn er die Zeitung nicht wolle, gut, dann keine Zeitung – Elmenreich möge wünschen, verlangen, befehlen, aber nur in seiner kalten Ablehnung solle er nicht verharren, nicht in seiner haßerfüllten Unzugänglichkeit. »Sagen Sie ihm, wenn er fortfährt, mich von sich auszuschließen, so gehe ich zu Grunde, sagen Sie ihm, er tötet mich, wenn er mich nicht an sich herankommen läßt. Sagen sie ihm, ich will nichts von ihm, als daß er mir seine Nähe erlaube, daß er mich um sich dulde wie einen Hund, den auch Fußtritte nicht verscheuchen. Seinetwegen bin ich hierher gereist, seinetwegen habe ich mich an diesen gemeinen Wirtshaustisch gesetzt, seinetwegen denke ich Tag und Nacht darüber nach, etwas zu veranstalten, womit ich ihn fesseln, womit ich ihm imponieren könnte ...«
Und nachdem auch diese Phase seiner Leidenschaft vorüber war, mußte Pipin versprechen, daß er von alldem Elmenreich gegenüber kein Wort erwähnen werde. Er sollte thun, als wisse er ganz und gar nichts von dem weiteren Schicksal des Beitrages. Denn der Graf habe zum Schlusse den Vorsatz gefaßt, sich selbst mit Elmenreich auseinanderzusetzen.
»So ist es auch in Ordnung«, sagte ich, als Pipin unter großer Gemütsbewegung geendet hatte; »lassen Sie diese beiden ihre Sache allein miteinander ausfechten. Der Vermittler erntet immer nur Undank, wie Sie sehen.«
Aber Pipins Miene heitert sich nicht auf. »Was liegt mir an dem Undank«, sagt er niedergeschlagen. »Was liegt mir selbst an der Freundschaft des Grafen! Etwas ganz anderes steht auf dem Spiel. Hier ist viel mehr zu gewinnen und zu verlieren, als irgend ein Mensch ahnt. O gnädige Frau, wenn Sie alles wüßten! Wenn ich Ihnen alles sagen könnte! Es handelt sich ja nicht bloß darum, diese in die Brüche gegangene Freundschaft wieder herzustellen. Elmenreich – ich weiß nicht ob ich es Ihnen sagen darf –? Aber er hat es mir nicht unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitgeteilt. Freilich war es in einer Stunde, die zu den heiligsten meines Lebens gehört, und ich kann kaum davon reden, weil immer etwas von dem Schönen und Hohen verloren geht, wenn man eine Sache wiedererzählt. Und nie werde ich ihm vergessen, daß er mir dieses Vertrauen geschenkt hat, daß er mich gewürdigt hat, so tief in seine Seele zu blicken – nie, nie! Auch wenn er zehnmal alles mit Füßen tritt, was mir am Herzen liegt –«
Er faßt meinen Arm und zieht mich ein wenig zu sich. Seine guten blauen Augen sehen mich aus dieser Nähe mit einem so ehrlichen Ausdruck von Bekümmernis und Sorge an!
Und mit einer Stimme, in der eine tiefe Ergriffenheit bebt, erzählt er mir – ja, er erzählt mir, daß Elmenreich mit dem Leben unzufrieden sei, daß er daran denke, sich davon frei zu machen wie von einer Plage und Last. Doch werde er die Entscheidung darüber treffen als ein freier und besonnener Mensch und sich vorher das Leben unter der Perspektive seiner Wertlosigkeit ein paar Jahre lang ansehen. Dann wolle er ein Ende machen aus freiem Entschluß, mit unbewegter Seele, göttlich überlegen über Tod und Leben ...
Da war in Pipins Kopf der Plan gereift, Elmenreich zu retten. Pipin konnte nicht unthätig zuschauen, wie ein so überlegener Mensch zu Grunde ging, bloß weil er nichts hatte, woran sein Herz erfreuen. Und es sollte in der großen göttlichen Welt nichts geben, was dieser Seele neue Freude einzuflößen vermöchte? Nichts, was Trost, Hoffnung, Mut zu schenken vermöchte? Nichts, wodurch so hohe Gaben des Geistes zu einer Quelle der Lebensfreude und Menschenliebe werden könnten? Wenn er, der arme, kleine, beschränkte Pipin, schon nichts zu bieten hatte, gab es nicht höhere, weisere, reichere Intelligenzen? Pipin wollte kein Mittel unversucht lassen – und was für zuversichtliche Hoffnungen hatte er auf den Meister und den Grafen gesetzt! Was für Wirkungen hatte er sich versprochen, wenn nur erst Elmenreichs Widerstand gebrochen wäre! Aber es war alles vergeblich; Elmenreich verschanzte sich in seine hohnvolle Unzugänglichkeit, Elmenreich spottete nur, wo die anderen ihren tiefsten Ernst und ihre heiligsten Gefühle hergaben – und so war Elmenreich ein Verlorener, so war er vor dem sicheren Untergang nicht zu retten –
Pipin rang die Hände in aufrichtiger Verzweiflung.
Da konnte ich nicht länger an mich halten.
»Nehmen Sie Elmenreichs Aeußerung nicht so tragisch, Pipin«, sagte ich, ärgerlich darüber, daß ich selbst sie einmal tragisch genommen hatte; »sie ist ja nur ein Repertoirestück von ihm –«
»Was heißt das?«
»Das heißt, daß er sie jedem zum Besten giebt, auf den er Eindruck machen will, oder vielleicht sogar allen, mit denen er einige Zeit beisammen ist. Ich, zum Beispiel, weiß schon seit drei Jahren, daß er das Leben unter der Perspektive seiner Wertlosigkeit betrachtet, um eines Tages aus freiem Entschluß ein Ende zu machen; andere, die ihn länger kennen als ich, wissen es vermutlich länger. Und noch andere, die er in zwanzig oder dreißig Jahren kennen lernen wird, werden eben um so viel später erfahren, daß er sich noch einige Jahre das Leben »daraufhin« ansehen will –«
In Pipins Mienen malte sich ein unbeschreiblicher Schrecken – er starrte mich mit weitoffenen Augen sprachlos an.
»– Deshalb trösten Sie sich, Pipin. Elmenreich will sich nur Luft machen, will nur seine Gedanken los werden. Wenn er sie ausspricht, wird er sie los. Es genügt ihm, sie ausgesprochen zu haben. Und so braucht er bloß einen Zuhörer; wer der Zuhörer ist, thut nichts zur Sache. Die Person des Zuhörers ist ihm gleichgültig –«
Pipin unterbrach mich. »Guter Gott, Sie sind ja böse auf Elmenreich, gnädige Frau!« rief er außer sich. »Und ich, der ich davon geträumt hatte, in diesem Kreis auserlesener Geister die große, lebenslängliche Freundschaft zu finden! Die wunderbare Harmonie, die alle Gegensätze in Liebe und Freude verwandelt! Aber nicht wahr, das alles haben Sie nur gesagt, um mich zu trösten, um mich glauben zu machen, daß es mit Elmenreich nicht so gefährlich steht? Sie wollten mir in Ihrer Güte nur beweisen, daß an diesem Mißlingen nicht so viel gelegen ist? O dieser arme Elmenreich! Da geht er seit Jahren herum und sucht und sucht denjenigen, der ihm die rechte Antwort geben könnte. Aber niemand giebt sie ihm! Niemand! Und das sollte etwas Beruhigendes sein, daß er noch zwanzig, dreißig Jahre herumgehen wird mit seiner innerlichen Trostlosigkeit, und immer neuen Menschen sein Leiden klagen wird, und immer vergeblich –?«
*
Pipin ging so betrübt davon, daß er seine Schriften auf dem Tische vergaß. Er ließ sie liegen wie etwas, das seine Bedeutung verloren hat und nicht mehr wert ist, daß man die Hand danach ausstreckt. So sind sie in meinem Besitz verblieben.
* * *
Aus den Visionen des Meisters.
Von dem alten Tempel.
Und ich sahe und sieh, da war das Land von geschäftigen Händen voll und rings ein Gewimmel wie in einem Erdhaufen, den die Ameisen errichtet haben.
Und ich sahe die Mauern des alten Tempels, die umfassen viele Morgen Landes. Aber seine Vorhöfe waren verwüstet und seine Säulen geborsten, daß sie das Dach nicht mehr konnten tragen.
Und Schutt lag zu Haufen weit über das Land und bedeckte die fruchtbare Erde, daß die junge Saat nicht konnte aufgehen, und mußte ersticken unter den toten Steinen.
Und viele sahe ich, die waren emsig am Werke und arbeiteten mit Spaten und Aexten und Hämmern und wollten einreißen die alten Mauern und abtragen den baufälligen Tempel.
Unter den Streichen ihrer Aexte beben die Pfosten und die geborstenen Säulen wanken.
Und sie achten nicht des Staubes, der den Himmel verfinstert, noch des Schuttes, der sich mehret und das fruchtbare Erdreich ersticket.
Und wenn ein Ziegelstein vom Dache fällt, erhebt sich ein Geschrei der Freude unter denen, die da am Werke sind; und wenn ein Halm grünen will auf dem Schutt, zu dem sprechen sie: Unkraut, und zertreten ihn mit dem Fuße.
Und abermals sahe ich viele, die trugen herbei neue Bausteine und Mörtel, die Sprünge zu verkitten, so die Mauern zerreißen, und schnitten neues Holz, die morschen Balken zu stützen, und gruben in dem Schutt nach den verlorenen Kleinodien des Tempels.
Und die zertrümmerten Gefäße suchten sie aus den Scherben zusammen, um sie wieder jegliches an seinen Ort zu stellen, wo sie geglänzt hatten in den Tagen der Väter.
Und sie sprechen: Lasset uns den Tempel unserer Väter erhalten, denn in seinem Schatten ist gut sitzen und schlafen; er ist ein Bollwerk wider unsere Feinde und hält seine Zeit aus. Was nach uns kommt, das sorget uns nicht.
Aber unter den vielen waren ihrer Etliche, die sammelten die Wasser des Himmels und begossen die Halme, so da sprießen wollten aus dem Schutt, und senkten Schößlinge ein, wo sie gutes Erdreich fanden.
Und wollen nicht sitzen im Schatten des alten Tempels, noch stoßen das, was fallen wird zu seiner Zeit.
Sondern wollen neue Wohnungen bauen an neuen Stätten und pflanzen lebendige Gärten in den Verwüstungen, und wollen Korn säen, auf daß das Brot des Lebens nicht ausgehe, und kommende Geschlechter bereitet fänden den Boden und das Land bestellt.
Wer achtet ihrer, die da unter den vielen arbeiten im Schweiße ihres Angesichts?
Die, so da pflanzen, werden verhöhnet von denen, die müßig gehen, und die, so da weissagen, werden nicht gehöret in dem Getümmel.
Aber es kommt ein Tag, der brennen soll wie ein Ofen; da werden alle, die nicht säen wollen, sondern ausraufen, und alle, die da sitzen wollen im Schatten und die Hände in den Schoß legen, wie Stroh sein, und der künftige Tag wird sie anzünden und wird ihnen weder Wurzel noch Zweig lassen.
* * *
Die große Kuh.
Eine Vision zu Ehren der neuen Zeitung, erfunden und mitgeteilt von dem Propheten Elmenreich, der leider auch nicht gehört wird in dem Getümmel.
Und ich sahe und sieh, ich sahe einen Sumpf, der dehnte sich aus von Aufgang bis Niedergang und hatte keine Grenze, so weit das Auge reichte.
Und ein ungeheures Faß stand errichtet, das war voll von einem schwarzen übelriechenden Saft, und goß unablässig in den Sumpf einen Strom, dessen Name heißt Tinte.
Und abermals stand ein ungeheures Faß errichtet, das war voll von einem noch schwärzeren, noch übelriechenderen Saft und goß unablässig in den Sumpf einen Strom, dessen Name heißt Druckerschwärze.
Mitten in dem Sumpf aber stand ein Tier, anzusehen gleich einer großen scheckigen Kuh, die hatte zwei Hörner und zwei lange Ohren und auf ihrem Bauche siebenhundert Euter.
Und die Kuh stieß mit den Hörnern gegen Abend, gegen Mitternacht und gegen Mittag, und kein Mensch konnte vor ihr bestehen, noch vor ihr errettet werden, sondern sie that, was sie wollte.
Und war sehr stark und hatte große, eiserne Zähne, fraß um sich und käuete wieder alles, was sie gefressen hatte, und das Uebrige zertrat sie mit den Füßen.
Und um sie her unzählbar standen die goldenen Kälber, die sie zur Welt gebracht hatte; und es war ein großes Tanzen auf dem Sumpfe um alle die goldenen Kälber, die Kinder und Enkel der großen scheckigen Kuh.
Schmettert, ihr Trompeten, dröhnet, ihr Pauken! Pauken und Trompeten verkündigen den Ruhm der großen scheckigen Kuh, die mit Milch und Butter versorget alle, so ihr dienen.
Und so einer verlanget, daß es ihm wohlergehe auf Erden, der tanze mit und preise die große scheckige Kuh. Ihrer ist die Macht und die Herrschaft, und alle Gewalt muß ihr dienen und gehorchen!
Also ging der Lobgesang auf dem Sumpfe. Und ich trat näher herbei und siehe, da war das Tanzen kein festlicher Reigen und der Lobgesang kein Psalm.
Denn die, so da tanzten um jegliches Kalb, hielten das ihrige für das alleinige und rechte, und befehdeten grimmiglich alle, so da um ein anderes tanzten.
Sie hoben den Schlamm auf aus dem Sumpfe und bewarfen die Tänzer nebenan mit dem Schlamme, hinüber, herüber, daß die Luft davon verfinstert ward.
Und ein großes Geräusch erscholl, das war wie das Kratzen von zehntausendmal zehntausend Federn, die über zehntausendmal zehntausend Bogen Papier fahren.
Und das Geräusch nahm zu und ward gleich dem Heulen des Sturmwindes, und die schwarzen Ströme schwollen an gleich dem Meere, über das der Sturmwind einherfährt.
Und aus dem Sumpf wirbelten schmutzig weiße Wolken auf, die ballten sich übereinander gleich Ungewittern und bedeckten den Erdkreis mit Finsternis.
Und ein ungeheurer Staub ging daraus hervor, und aller Sand, der von dort kommt, wo es kahl und flach ist auf Erden, ward heruntergestreut in die Augen und Ohren derer, die da Augen haben, zu sehen und Ohren, zu hören.
Und ich fürchtete mich sehr und fiel auf mein Angesicht und schrie: Erbarme dich, Herr! Eine neue Sündflut will hereinbrechen und ersticken alles Lebendige in einem Element voll Gräuels und Unsauberkeit, das tückischer ist denn Wasser und gefräßiger denn Feuer.
Da hörte ich eine Stimme durch den Himmel schallen, die war wie ein großes Gelächter.
Und die Stimme des großen Gelächters rief: Mache die Augen auf, du Menschenkind, und fürchte dich nicht! Denn siehe, es ist alles nur Papier, eitel Papier!
Als Elmenreich sich anschickte zu gehen, erhob sich auch der Graf.
Er hat die ganze Zeit bei Tisch noch aufmerksamer als sonst jede Bewegung Elmenreichs belauert. In seinem blassen Gesicht, in dem die feingeschnittenen Nasenflügel so nervös über dem kleinen, eigensinnigen Mund beben, zuckt es von verhaltener Leidenschaft.
Aber Elmenreich übersieht ihn geflissentlich wie immer. Er unterhält sich mit Pipin in der besten Laune von der Welt und voll Wohlwollen, ganz menschlich sogar, fragt ihn, wie lange sein Vater schon tot sei, ob er noch einen Vormund habe, wo seine Mutter und Schwester den Sommer verbrächten – lauter Dinge, um die er sich sonst nicht im Entferntesten kümmert. Es scheint fast, daß er ihm ein ganz persönliches Zeichen seiner Gewogenheit geben will, nachdem er seinen »geistigen Ehrgeiz« schnöde abgeführt hat.
Entschlossen stellte sich der Graf ihm in den Weg. Er machte unverkennbar eine ungeheure Willensanstrengung; die Worte sprangen stoßweise über seine Lippen. »Ich habe eine Antwort zu geben – wird es mir gestattet, eine Strecke zu begleiten –?«
Elmenreich blieb stehen und trat einen Schritt zurück.
Sehr höflich:
»Eine Antwort? Ich bin mir nicht bewußt, eine Frage gestellt zu haben.«
»Ich möchte – ich möchte dennoch – ich habe nur einige Worte –«
»Dann bitte – vielleicht wollen Sie wieder Platz nehmen?«
»Ich möchte – mit Ihnen – ist es mir nicht gestattet, unter vier Augen zu sprechen?«
Elmenreich maß ihn vom Kopf bis zu den Füßen: »Zu welchem Zweck?«
»Ich möchte – eine Antwort geben.«
»Zu welchem Zweck?«
»Sie gestatten also nicht, daß ich Sie begleite?«
»Ich bedaure, Herr Graf – aber Sie wissen, ich bin der Meinung, daß es das Beste ist, wenn jeder von uns seinen Weg allein geht –«
Er lüftete höflich den Hut und wandte sich zum Gehen.
Aber noch einmal trat ihm der Graf entgegen.
»Ich habe gebeten – ich bitte noch einmal!« Elmenreich knöpfte sich mit einer ungestümen Bewegung seinen Rock zu. Der höfliche Ton schien ihn Ueberwindung zu kosten, als er sagte:
»Und ich habe mir erlaubt, anzudeuten, daß ich jede Unterredung zwischen uns für aussichtslos halte. Es fehlt jedes Mittel der Verständigung zwischen uns. Ich bedaure, aber ich kann daran nichts ändern.«
»Tonuelo, Sie müssen mich anhören, Sie müssen! Ich habe mich ferngehalten nach Ihrem Wunsche, ich habe gewartet mit übermenschlicher Geduld, ich habe nur stumm um Gnade gebettelt, und Sie haben mich nicht verstehen wollen –«
»Genug! Ersparen Sie sich doch die Wiederholung dieser ebenso peinlichen als unnützen Auseinandersetzungen.«
Er ging mit entschlossenen Schritten rasch dem Ausgang zu und verschwand.
Wortlos starrt ihm der Graf nach. Pipin stürzt voll Teilnahme zu ihm hin.
Mit einer heftigen, blinden Geberde schüttelt ihn der Graf ab. Seine Lippen bewegen sich in einem unhörbaren Murmeln, und wie ein Nachtwandler, den Blick starr in die Richtung gewendet, in welcher Elmenreich verschwand, geht er ihm langsam nach.
Pipin giebt sich einer rebellischen Anwandlung gegen Elmenreich hin.
»Nein, das geht zu weit! Das ist nicht recht! Wirklich, ich begreife ihn nicht –«
Dr. Kranich hatte mit beifälligem Interesse dem Auftritt zwischen Elmenreich und dem Grafen zugesehen. Pipins Bemerkung reizt ihn, wie alle Bemerkungen Pipins. Er antwortet mit funkelnden Augen, indes um seine Lippen das gewohnte Lächeln spielt.
»Natürlich begreifen Sie ihn nicht, Pipin! Ich hoffe doch, Sie vermessen sich nicht, Elmenreich begreifen zu wollen? Oder gar seine Handlungen zu kritisieren? Ein Mensch, der so turmhoch über Ihnen steht, daß Sie ein Fernrohr brauchen, nur um seine große Zehe zu betrachten –«
Dr. Kranichs Lächeln verleitet Pipin, gleichfalls zu lächeln.
»Für Sie ist er ein für allemal das au-delà, in das Sie nicht hineinsehen können, weil Ihnen das Organ dafür fehlt –«
Und indem Dr. Kranich fortfährt, Pipin abzukanzeln, gelangt er dahin, ein glänzendes Bild Elmenreichs zu entwerfen – vielleicht weniger, um Elmenreich zu verherrlichen, als um Pipin zu demütigen. Nach diesem Bilde wird aus Elmenreich ein »Charakter«. Charakter auf niedrigen Stufen der Intelligenz ist, nach Dr. Kranich, weder etwas Seltenes, noch etwas Besonderes; bornierte Menschen sind sogar gewöhnlich charaktervoll, weil sie Scheuleder vor ihrem Intellekt haben, die sie verhindern, rechts oder links zu schauen. Aber Charakter auf hohen Stufen der Intelligenz – das ist das ganz Seltene, das ganz Große. Denn der erleuchtete Mensch muß in jedem Augenblick der Entscheidung den ganzen Reichtum der Motive, die er nach allen ihren Möglichkeiten überblickt, beherrschen und eine Wahl aus überlegener Einsicht treffen. Und als Mensch der überlegenen Einsicht habe sich Elmenreich gezeigt, indem er mit herrlicher Unbeugsamkeit die Annäherung eines Menschen ablehnte, der durch alle seine verkehrten Veranstaltungen bewiesen hat, daß er gänzlich unfähig ist, auf die Bedürfnisse eines anders gearteten Geistes einzugehen.
Pipin macht einen tapferen Versuch, sich zur Verteidigung des Grafen mit Dr. Kranich in eine Auseinandersetzung einzulassen. »Wie? Darf man einen Menschen, der bittet, der sich demütigt, so hart von sich stoßen –?«
Aber Dr. Kranich wirft ihn gleich nieder.
»Ein Mensch, der sich demütigt, ist das Verächtlichste, was es giebt. Er verdient vollkommen den Fußtritt, den er bekommt ... Uebrigens diskutiere ich darüber nicht mit Ihnen. Ich, Pipin – wenn ich einen Adler auf einen Hasen herabstürzen sehe, so werde ich mich über die königliche Pracht des Adlers freuen; Sie aber werden mit dem jämmerlichen Hasen um Hilfe schreien und den Adler niederschießen, wenn Sie können –«
*
Mittlerweile war der Brunnhofer-Seppl hereingekommen und fragte um den Grafen. Vor dem Hotel warte der »gspaßige Fremde« auf ihn, der droben bei der Tressenbäuerin einlogiert sei, und habe dringend mit ihm zu sprechen; es sei »drobmat was passiert«.
Dr. Kranich fragte, was denn passiert sei. Da der Brunnhofer Seppl nicht gleich mit der Sprache herauswollte, schenkte ihm Dr. Kranich ein Glas Wein ein und sagte mit seinem malitiösen Lächeln:
»Ich bin mit dem Grafen so vertraut wie du, Seppl; vor mir brauchst du keine Geheimnisse zu bewahren. Sonst, wenn ich einmal schief gewickelt bin –« er drohte ihm mit dem Finger.
Der Brunnhofer Seppl lachte verlegen und machte Dr. Kranich das Kompliment, daß er »allerweil fidel« sei. Aber er sträubte sich hartnäckig, etwas zu verraten.
»I därf nöt, der Herr Graf hat's verboten« –
»Nun gut, Seppl, da du mir nichts erzählen willst, werde ich dir was erzählen. Vor ein paar Tagen bin ich beim Herrn Pfarrer gewesen; der hat mich gefragt, ob ich denn nicht mit dem Grafen von früher her bekannt bin, und was für ein Herr dieser Graf denn wäre. Denn sein Umgang mit dir, Seppl, gefalle ihm gar nicht, sagte der Herr Pfarrer – und wer Jahr aus Jahr ein so viele Sünden gebeichtet bekommt, der kennt sich aus, Seppl –. Ich habe dir und dem Grafen natürlich das beste Leumundszeugnis ausgestellt; aber wenn du dich so wenig nett gegen mich benimmst –! Also, was ist auf dem Tressenstein passiert, Seppl?«
Daraufhin gab der Brunnhofer Seppl schleunig seinen Widerstand auf und vertraute uns an, daß es die Bäuerin sei, um die es sich handle. Der gspaßige Fremde kenne sich nicht mehr aus und wolle den Grafen fragen, was denn mit der Bäuerin jetzt geschehen soll.
»Ja, was ist denn der Bäuerin passiert, Seppl?«
Mit angehaltenem Atem antwortete der Brunnhofer-Seppl:
»A Wunder!«
Dr. Kranich setzte sogleich eine ernste Miene auf. »A la bonne heure! Das läßt sich hören! Das freut mich! Das ist einmal ein Erfolg!«
Und diese ernste Miene behielt er, während er seinem Opfer alles entlockte, was er wissen wollte. Schon gestern, als der Brunnhofer Seppl den Grafen hinauf begleitete, habe er davon reden gehört, daß mit der Bäuerin was Besonderes vorgehe. Sie sei den ganzen Tag nicht klar wach geworden, habe der Fremde dem Grafen erzählt – der Brunnhofer-Seppl dachte einen Augenblick angestrengt nach: »er hat ihm gsagt, sie is immerfort sommerbühl«, sagte er geheimnisvoll; und mit noch leiserer Stimme setzte er hinzu: »sie hat gestern in ganzen Tag mit'n Erzengel Gabriel gredt. Der is ihr erschienen, sie hat'n genau beschrieben, wie er ausschaugt. No und heunt –«
Der Brunnhofer Seppl verstummte wieder, als könne er von diesen Dingen unmöglich vor Uneingeweihten mehr mitteilen. Er suchte sich vor Dr. Kranichs Fragen mit einem scheuen: »mehr woaß i selber nöt«, zu salvieren; Dr. Kranich hatte ihn aber mittelst einer versteckten Drohung ganz in der Gewalt: »Red', Seppl, sonst – red' ich –« und so wand sich der arme Seppl in den Klauen des schwarzen Panthers hilflos wie ein Kalb. Wenn der Graf erfahren möcht', daß er so viel ausplauschen thät –! Und der Herr Dr. Kranich sollt' do an Einsegn haben mit arme Leut'; das Leben is gar hart im Winter, und wer nöt dazuschaugt im Sommer, daß er si a bißl was zrucklegt –
Nach dieser kleinen, auf Dr. Kranichs »Einseg'n« zielenden Abschweifung fuhr er zu erzählen fort. Vormittags habe ihn der Graf, der »die ganze Zeit auf'n Dr. Elmenreich paßt hat«, mit einer Post an den Fremden hinaufgeschickt; und da sei es der Bäuerin eben sehr schlecht gegangen.
Die hohe Gnade, die der Tressenbäuerin widerfahren war, hatte den Neid des Teufels herausgefordert, wie das bei allen außerordentlichen Gnadengeschenken des Himmels der Fall ist. Und kaum war der Erzengel Gabriel von ihr weggegangen, so fiel der Teufel über sie her, verdrehte ihr alle Glieder, riß sie beim Kopf, und warf sie so heftig im Bett herum, daß der Brunnhofer-Seppl dem Meister beistehen mußte, sie zu halten. Aber schließlich mußte der Teufel doch wieder abziehen, weil die göttliche Kraft den Sieg über ihn davon trug. Das alles erklärte die Bäuerin selbst, als der Kampf mit dem Teufel überstanden war. Der Meister wollte sie bewegen, etwas Suppe zu sich zu nehmen, denn sie hatte schon seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen; aber sie weigerte sich und sagte, wer von dem himmlischen Brode zu essen bekomme, der brauche keine irdische Nahrung mehr. Dabei war ihr Gesicht so verklärt wie das einer Heiligen. Dann schickte sie alle aus dem Zimmer; es sei ihr angekündigt, sie werde die allerheiligste Jungfrau Maria von Angesicht zu Angesicht sehen und von ihr mit wunderthätigen Gaben gegen den Teufel und seine bösen Werke in der Welt begnadet werden –
Nachdem der Brunnhofer Seppl die Furcht, daß er zu viel »ausplauschen« könnte, einmal überwunden hatte, legte er sich keine Zurückhaltung mehr auf. Er erzählte mit jener atemlosen Gehobenheit, welche die Ueberbringer einer sensationellen Nachricht zu empfinden pflegen; und als er den Lauf der Begebenheiten erschöpft hatte, begann er ungesäumt von vorne. Er schien den Meister, der vor dem Hotel wartete, völlig vergessen zu haben.
Pipin aber war gleich nach den ersten Andeutungen Seppls zu ihm hinausgeeilt; jetzt brachte er ihn mit sich herein.
Der Meister sah sehr niedergeschlagen aus; er setzte sich gedrückt an den Tisch und blickte mit seinen zerstreuten Augen ratlos im Kreise herum.
Dr. Kranich gratulierte ihm zu seinem »schönen Erfolge«, ganz ernst, ohne die leiseste ironische Nuance. Dennoch nahm der Meister den Glückwunsch nicht an.
»Die Sache ist sehr fatal«, sagte er, zu Pipin gewendet. »Ich begreife nicht, wie das geschehen konnte – ich habe keine Gewalt mehr über die Frau – und dazu diese Ideen, die da plötzlich auftreten, ich weiß nicht, woher –«
Er sah sich nervös nach allen Seiten um. Wo denn der Graf bleibe? Man könne die Sache unmöglich länger anstehen lassen; er möchte um keinen Preis noch einen solchen Tag mitmachen, wie den heutigen. Es müsse etwas geschehen – der Graf müsse eine Entscheidung treffen. Denn der Graf habe von allem Anfang an die Verantwortung übernommen. Er selber sei immer nur ungern mit dieser Frau in Kontakt getreten. Man sollte sich nicht mit Medien abgeben, die auf einer anderen Bildungsstufe stehen; da stoße man auf zu viele unbekannte Mächte, die sich der Leitung widersetzen.
Pipin wagte eine Anfrage, ob man wohl daran denken dürfte, einen Arzt zu konsultieren. Diesen Gedanken griff der Meister bereitwillig auf. Es werde hier wohl einen Kurarzt geben? Den könnte man vielleicht dazu bewegen, daß er mit hinaufkäme? Ob Pipin nicht die Freundlichkeit haben wolle, das gleich zu veranlassen?
Aber Dr. Kranich ereiferte sich. Was? Einen Arzt? Unsinn! In solchen Zuständen kenne sich kein Arzt aus, das wisse man doch. Ein Arzt würde höchstens sagen, daß da in unverantwortlicher Weise mit einem labilen Nervensystem herumexperimentiert worden sei, und wohl gar, um seine eigene Hilflosigkeit zu bemänteln, eine Anzeige erstatten. Nein, nur keinen Arzt! Jetzt müsse man den Dingen schon ihren Lauf lassen; jede fremde Hand würde die Sache verpfuschen. Der ganze Fehler sei, daß der Meister contre-coeur und unter dem Einfluß eines fremden Willens operiert habe – unter solchen Umständen ließe sich natürlich die Einmischung anderer Mächte nicht verhüten –
Der Meister hörte ihm mit ängstlicher Spannung zu. Namentlich die Möglichkeit einer Anzeige schien ihm großes Unbehagen zu verursachen. Aufgeregt sagte er:
»Also dann – also dann muß der Graf entscheiden, was hier zu geschehen hat. Wo in aller Welt bleibt er denn? Seppl, schaffen Sie doch den Grafen herbei. Oder Sie, Pipin – weiß denn niemand, wo der Graf ist?«
Schließlich ging er mit Pipin und Seppl fort, um auf die Gefahr hin, von Elmenreich insultiert zu werden, den Grafen bei ihm zu suchen.
Dr. Kranich lehnte sich in seinen Sessel zurück und blies aus seiner Cigarette die denkbar vollkommensten Ringe in die stille Luft. Er machte einen Versuch, seinen Ernst zu bewahren; dann übermannte ihn doch sein mutwilliges Lächeln.
»Jetzt sitzen die beiden Revivalists mit ihrem Dilettantismus in der Tinte! Wollen sehen, wie sie sich aus dieser Affaire ziehen werden!«
* * *
12. September 1893.
... Dr. Kranichs Neugierde ist bald befriedigt worden. Die Revivalists haben es vorgezogen, allen etwaigen Verwickelungen ihrer Angelegenheit durch ärztliche oder geistliche Einmischung aus dem Wege zu gehen, und sind abgereist. Ganz in aller Stille, ohne Abschied, selbst ohne einzupacken. Für den Meister wäre das Einpacken freilich eine überflüssige Ceremonie gewesen; denn er besitzt – wenn Pipin recht unterrichtet ist – außer dem, was er auf dem Leibe trägt, nur ein Hemd und zwei Taschentücher. Diese Habe steckte er zwischen Deckel und Vorsatzpapier seines großen Folianten und schützte sie mit Bindfaden vor dem Herausfallen.
Schwieriger war die Frage des Einpackens für den Grafen. Er hinterließ sie unter zahlreichen anderen Vermächtnissen Pipin. Und Pipin packte einen halben Tag lang im Schweiße seines Angesichtes an allen diesen Anzügen aus weißem Flanell, aus gelber Rohseide, aus silbergrauem Kammgarn, an Schärpen und Krawatten, an weißen und bunten Seidenhemden, an gestickten Unterhosen und karrierten Strümpfen, an silbernen Bürsten und elfenbeinernen Kämmen, an Parfümflacons und Manicüre-Utensilien, an Schachteln, Dosen und Etuis ohne Zahl. Er konnte sich diese raffinierten Anstalten zur Pflege des irdischen Leichnams nicht ganz mit der Leidenschaft des Grafen für die »Wissenschaft des Uebersinnlichen« zusammenreimen und fand, daß die Tressenbäuerin im Grunde konsequenter sei, die keine Speise mehr anrühren will, seit sie sich mit dem Göttlichen in Verbindung glaubt.
Die Tressenbäuerin ist auch ein Vermächtnis des Grafen an Pipin. Er hat ihm strenge aufgetragen, dafür zu sorgen, daß sie nicht etwa in ihrem Wahn Hungers stirbt und auf diese Weise zu lästigen behördlichen Rekriminationen Anlaß giebt. Genau genommen, sei ja doch Pipin an diesem Zwischenfall schuld, da er es war, der den Meister dort oben bei dieser unzurechnungsfähigen Person einquartierte – eine unpraktische Idee schon deshalb, weil ihm, dem Grafen, dadurch die Unannehmlichkeit aufgebürdet war, eine Stunde bergan zu laufen, so oft er mit dem Meister zusammenkommen wollte.
Pipin geht getreulich jeden Tag hinauf, setzt sich an das Bett der Bäuerin und trachtet, ihr einen Löffel Suppe einzureden. Bisweilen hält sie ihn für eine der himmlischen Personen, mit denen sie verkehrt; dann thut sie gutwillig, was er anordnet. Zu anderen Zeiten liegt sie teilnahmlos, starr und stumm; dann nützt weder Güte noch Gewalt. Einen Arzt zu rufen, hat der Graf ausdrücklich verboten; das Ganze werde in wenigen Tagen ohnedies von selbst vorübergehen, wenn sie sich körperlich wieder ein wenig gekräftigt hätte. Pipin möge nicht etwa glauben, daß er dieses Zwischenfalles wegen so rasch abreise. Er bedaure im Gegenteil, daß er gerade jetzt gezwungen sei, zu scheiden – aber er könne unmöglich Elmenreichs Auftreten gegen ihn länger ertragen. Und er hinterließ eine ganze lange Auseinandersetzung für Elmenreich als drittes Vermächtnis an Pipin. Pipin sollte Elmenreich sagen – nun, Pipin hatte sich alle die leidenschaftlichen Vorwürfe, Klagen, Bitten und Versprechungen nicht gemerkt, nur den Auftrag, ihm zu erklären, daß der Graf im Begriffe sei, ein neues Werk in Angriff zu nehmen. Die Zeitung sei eine Verirrung gewesen, Elmenreich habe vollständig recht gehabt; aber jetzt sollte es etwas viel Wirksameres, viel Umfassenderes, viel Großartigeres werden, etwas Ungeheures und Niedagewesenes. Näheres darüber könne er noch nicht mitteilen; aber der Tag sei nicht ferne, an dem Elmenreichs Sinn sich wenden und er seine Ungerechtigkeit tief bedauern werde.
Dieses letzte Vermächtnis scheint Pipin nicht gerne übernommen zu haben. Im übrigen bleibt er dem Grafen unwandelbar ergeben; er hat ihm den Schafskopf vollkommen verziehen und ist nach wie vor bereit, an alle wunderbaren Dinge zu glauben, die dem Neophyten versprochen sind ...
* * *
(Aus einem Briefe.)
19. September 1893.
... Für Pipins Herzensangelegenheit war die Abreise des Grafen von ausschlaggebender Bedeutung. Der Zusammenhang zwischen dieser Abreise und der endgültigen Entscheidung Eugeniens sollte ihm nicht verborgen bleiben: Die Stiefmutter nahm nunmehr die Verlobungsfrage in die Hand und machte mit der ihr eigenen Resolutheit reinen Tisch.
Pipin ist eben von mir weggegangen, beseligt durch die Gewißheit, daß er der Erkorene ist, und doch zugleich betreten über die Umstände, unter denen er es ward.
Ganz unumwunden hat ihn die Stiefmutter aufgefordert, doch endlich »Ernst zu machen«. Worauf er denn warte? Er sei in ihrem Hause täglich aus- und ein gegangen, man habe ihm Vertrauen geschenkt, ihn für einen Ehrenmann gehalten, die ganze Welt spreche schon davon – er könne Eugenie unmöglich kompromittiert haben, wenn er nicht daran denke, Ernst zu machen –.
Pipin war ja mit Freuden bereit, Ernst zu machen; aber niemals würde er Fräulein Eugenie überreden, würde sie irgendwie zu einem Entschlusse drängen –
Wie? Was? Drängen? Sollte Eugenie noch immer nicht zur Raison gekommen sein? Was sie denn eigentlich denke? Ob sie wohl glaube, daß ihr Vater wieder das Opfer dieses kostspieligen Landaufenthaltes umsonst gebracht habe?
Und hierauf eine unverblümte Darstellung der Verhältnisse:
Dr. Kranich, ein Mensch ohne reelle Absichten, dem man nicht fünf Schritt über den Weg trauen könne, Elmenreich, ein alter Junggeselle mit grundsätzlicher Abneigung gegen das Heiraten, der Graf, ein Sonderling, der aus Angst Reißaus nimmt, wenn ihm eine Dame in die Nähe kommt – was gebe es da noch zu schwanken und zu überlegen? Da sei die Wahl doch einfach genug!
Armer Pipin! Das war die Art, auf welche er den »Rekord über alle anwesenden höheren Menschen« erzielt hat ...
* * *
»Guter Gott« – erzählte Pipin weiter – »Sie werden mich doch nicht mit solchen Argumenten dem Fräulein aufnötigen?«
»Aufnötigen?« antwortete sie ungehalten. »Wer spricht denn von aufnötigen? Die bloße Vernunft genügt da, sollte man denken. Wenn ein Mädchen jung und schön ist, und sonst nichts, muß sie ihre Zeit benützen. Eugenie ist fünfundzwanzig Jahre alt; glaubt sie vielleicht, daß sie ewig jung und schön bleibt? Aber es ist ihr ja keiner gut genug; sie will ja immer oben hinaus, sie hat ja lauter romantische Ideen im Kopf, oder was weiß ich – und eines schönen Tages wird sie verblüht sein und niemand wird mehr etwas von ihr wissen wollen –« Zum Schluß erklärte sie, sie werde ihr jetzt einmal selbst den Kopf zurecht setzen.
»Und nur nach vielem Bitten«, fuhr Pipin bewegt fort, »gelang es mir, sie dahin zu bringen, daß sie das mir überließ – nicht das Kopfzurechtsetzen, sondern eine entscheidende Unterredung mit Eugenie.«
Und dann hatte Pipin die entscheidende Unterredung.
Er fand Eugenie in tiefer Verstimmung, nicht geneigt, ihm ihr Herz zu eröffnen. Auf seine Frage, ob sie ihm nicht anvertrauen könne, was sie so sehr bedrücke, schüttelte sie nur stumm den Kopf. Er beteuerte, daß er bereit zu allem sei, was sie von ihm fordern möge; aber auch das brachte nicht den geringsten Eindruck auf sie hervor; »denn«, sagte Pipin entschuldigend, »das habe ich ihr schon allzuoft wiederholt, ohne doch einen Finger für sie zu rühren. Solche Beteuerungen sind auch etwas Abgeschmacktes. Aber wenn ich nur einen Weg zu ihrer Seele fände! Ein Wort, mit dem ich ihr eine Freude machen könnte! Endlich sagte ich, um mit etwas Positivem anzufangen: »ich habe eben mit Ihrer Frau Mama gesprochen, Fräulein Eugenie.« Das war natürlich nicht das Wort, das ihr Freude machen konnte. Sie antwortete in ihrer Verstimmung: »Nun, dann ist ja alles in Ordnung. Dann haben Sie ohnedies alles erfahren, was Sie wünschen!«
Was er wünsche? Niemals habe er gewünscht, daß ein Zwang auf sie ausgeübt werde, niemals würde er das zugeben! Wenn sie befehle, so verschwinde er für immer aus ihrem Gesichtskreise –
Sie lachte bitter auf. Ja wenn mit diesem Verschwinden etwas gethan wäre! Sie zu vergessen, das wäre für ihn einfach genug; doch sie selbst, wie würde sie weiterleben in diesem Hause, in dem sie von Jahr zu Jahr mehr als das Ueberflüssige, als ein lästiges Anhängsel behandelt werde! Wo sie dahinlebe wie jemand, der kein Recht auf sein Dasein hat, der bloß schandenhalber geduldet wird, weil man ihn nicht losbringt, weil man ihn nicht abschütteln kann, obwohl man ihn knebelt und mißhandelt und mit Füßen tritt –
Da fiel Pipin auf die Kniee und begrub sein Gesicht in den Falten ihres Kleides:
»Eugenie, ich schwöre es Ihnen – fordern Sie, was Sie wollen, ich werde es erfüllen. Sie brauchen nur ein Wort zu sprechen und Sie sind frei – warum sprechen Sie das Wort nicht aus, das mir die Erlaubnis giebt, Sie zu befreien?«
»Sie sind ein guter Mensch, Pipin, aber Sie können mir nicht helfen, Sie können mir nicht helfen!«
Sie stand auf, irrte im Zimmer herum, rang die Hände. »Gott, Gott, warum hat man nicht mehr Gewalt über sich, warum kann man nicht das, was man möchte!« Sie betrachtete ihn traurig.
»Ich weiß, was Sie mir nicht sagen wollen, Fräulein Eugenie. Wie könnte es mir verborgen geblieben sein? Aber habe ich denn die Anmaßung gehabt, es zu verlangen? Glauben Sie mir doch, ich will nichts als Sie glücklich sehen. Ein Lächeln auf Ihrem Gesicht ist eine solche Freude für mich, eine solche himmlische Belohnung, daß mir um diesen Preis nichts zu schwer und nichts unmöglich erscheint ...«
Er unterbrach sich und sah mit feuchten Augen vor sich hin. »Ja, es war keine leere Beteuerung! Mir ist, als ob sie mein zweites, höheres Selbst wäre, für das dieses niedrige und gewöhnliche Selbst, das mein eigenes ist, sich ganz auslöschen sollte, sich ganz und ohne Rest hingeben sollte. Und ich bin ihr so dankbar, so dankbar, daß ich sie so liebe! Daß sie mir diese selige Empfindung geschenkt hat! Es ist etwas, das über alle Worte geht, etwas Unaussprechliches. Und ich konnte es ihr auch nicht sagen. Ich sagte bloß: »Ich will alles, was Sie wollen. Was Sie thun, ist mir recht. Denn ich bin glücklich, daß ich Sie so lieb haben kann!« Aber sie wurde nur immer trostloser: »Ich bin zum Unglück geboren«, seufzte sie, »ich werde Sie nicht glücklich machen, Pipin. Wenn ich Ihre Schwester wäre, könnten Sie mir vielleicht raten, mich vielleicht beschützen –«
»Dann lassen Sie mich Ihren Bruder sein, Eugenie!«
»Nein, o nein, das ist nicht möglich! Ich will mich mit Ihnen verheiraten, ich will Ihre Frau werden, ja, ich will es! Ich habe den festen Vorsatz, ich will es mit allem, was gut in mir ist – und Sie werden mir Zeit lassen, bis ich es mit – mit meinem ganzen Wesen kann, nicht wahr, Pipin? Ich gebe Ihnen mein Jawort, Pipin! Feierlich geb' ich Ihnen jetzt mein Jawort – erinnern Sie mich in jeder Stunde und in jeder Minute daran, lassen Sie mich an nichts anderes denken, zwingen Sie mich, halten Sie mich fest, Pipin!«
Sie warf sich wie aus einem plötzlichen Entschluß an meinen Hals. Ich fühlte, daß durch ihren Leib ein Zittern lief, ein Schauder fast –. Da wagte ich nicht, sie an mich zu ziehen; ich löste ihre Hände von meinem Halse und sagte: »Ja, Eugenie, ich will Ihnen Zeit lassen, ich verspreche es Ihnen.«
Sie aber wandte sich mit einem Ausdruck von mir ab, den ich nicht begriff, mit einem Ausdruck der Enttäuschung, kam mir vor. Gott, hatte ich sie denn mißverstanden? Erwartete sie, daß ich sie zu einem Kusse zwingen würde? Daß ich ihr etwas abnötigen würde, was sie nicht freiwillig und gerne gab?
Sie verabschiedete mich kühl, indem sie sagte: »Gehen Sie nun, und teilen Sie der Mama mit, daß wir uns verlobt haben.«
* * *
(Aus einem Briefe.)
21. September 1893.
... Die Kunde von dem »Wunder« beginnt sich zu verbreiten. Sie steigt hinauf zu den einsamen Huben in den einsamen Hochthälern, wo die Menschen stundenweit von einander entfernt wohnen, wo sie tagelang allein sind, bei der harten, unbarmherzigen, eintönigen Arbeit auf dem steinigen Acker, auf den abschüssigen Wiesen, im feuchtdunklen Wald. Und die Arbeit macht ihre Gesichter faltig und verschlossen, ihre Lippen dünn und schweigsam. Aber hinter ihrer schweigsamen Verschlossenheit verbirgt sich das, was sie aufrechthält von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr, von Jugend zu Alter, das, was sie nicht aussprechen, weil sie keine Worte dafür haben, was nur in seltsamen und unverständlichen Aeußerungen an die Oberfläche dringt. Ist es die Hoffnung auf das Wunderbare, das sich endlich einmal ereignen und die unerbittliche Eintönigkeit des Lebens zerbrechen muß wie eine steinerne Grabplatte, unter der sich der verborgene Mensch als ein Wiedererweckter und Auferstandener erheben wird?
Und so gehen sie in die Kirche, wo das Wunderbare aus festlichen Schnörkeln und Schnitzereien, aus vergoldeten Heiligen und Engeln mit eindringlicher Ueberredung zu ihren Herzen spricht; und so wallfahren sie zu den Gnadenorten, wo sich vor Zeiten das Wunderbare erfolgreich festgesetzt und sich durch die hartnäckige Gewalt des Gebetes noch immer zu ihnen herab bewegen läßt; und so horchen sie mit offenem Munde, wenn über ihre Berge die Kunde geweht kommt, daß ein neues Zeichen geschehen ist. Du lieber Gott, und wenn es sich nun gar in ihrem Landl ereignet, auf dem Grund und Boden, zu dem sie gehören, der wie ein Stück von ihnen selbst ist! Da verfliegt ihr Mißtrauen, ihr Starrsinn, ihre hartköpfige Bauernlogik wie Reif in der Sonne: man kann wieder staunen und schaudern, der eiserne Ring des täglichen Lebens ist gesprengt, jetzt gilt es, den Augenblick zu benützen!
Täglich wächst die Zahl der Besucher.
Alle Krüppel, alle Siechen und Bresthaften, alle, die von Kummer, von Furcht, von irgend einer dunklen und unaussprechlichen Pein heimgesucht sind, für die es sonst nirgends Erleichterung giebt, ziehen herbei. Mühsam und stöhnend schleppen sie sich auf den Gebirgssteigen und Waldpfaden und weichen mit ängstlichen Augen zurück, wenn sie einmal beim Kreuzen eines Promenadeweges einem Fremden begegnen. Die ganze Gegend hat ihr verheimlichtes Elend ausgespien, das sich, solange die Fremden da sind, in den Winkeln der Viehställe, auf den Heuböden, in den Hinterstuben verstecken muß. Jetzt aber giebt es kein Halten mehr. Man führt sie heraus ans Licht, an die Wunderstätte; sie tragen ihre Kröpfe, ihre Eiterbeulen, ihre verkrümmten, ausgemergelten, schlottrigen Leiber an das Bett der Gebenedeiten, durch deren Mund die himmlischen Mächte, die über Segen und Fluch, Heil und Unheil gebieten, ihren Willen kundthun.
Drinnen aber in der niedrigen Stube mit der schwarzen Holzdecke und den weißgetünchten Wänden, in die blaukarrierten Federpölster versunken, weiß und blutlos wie ein Leichnam, liegt die unbewegliche Gestalt. Die Läden sind geschlossen; das Tageslicht dringt nur als Dämmerung zwischen den Spalten herein. Auf einem irdenen Teller neben dem Kopfende des Bettes brennen beständig eine Anzahl kleinerer und größerer Wachskerzen und ersticken die Luft mit ihrem heißen Geruch. Das sind die Opfergaben der Besucher. Schon hat sich ein Ritual herausgebildet, ohne daß jemand wüßte, wie es entstanden ist. Dazu gehört außer der Darbietung der Wachskerze auch ein Trunk und eine Besprengung aus dem Brunnen neben dem Hause, dessen eiskaltes Wasser ununterbrochen in den Holztrog plätschert.
Dort sitzen sie herum und teilen sich im Flüsterton alle wunderbaren Heilungen mit, die sich schon ereignet haben. Keiner von ihnen weiß es aus dem eigenen Munde des Geheilten; aber je ferner er ist, je unauffindbarer, desto sicherer und zuversichtlicher ist ihr Glaube. Und indem sie ihre groben, rauhen Stimmen zu diesem ungewohnten Flüstern dämpfen, verleihen sie dem Wunderbaren erst die rechte Stimmungsgewalt, etwas Feierliches und Unwiderstehliches. Einige verzehren dort ihr Mittagessen – zwei Stücke hartes Schwarzbrot mit einem brüchigen, trockenen, graugelben Landkäse dazwischen – langsam und andächtig, wie Menschen essen, die am eigenen Leibe erfahren haben, was für Plage und Schweiß an aller menschlichen Nahrung klebt. Andere verbinden daneben mit schmutzigen Lappen und Fetzen ihre gichtgeschwollenen Gelenke und wehen Füße, die Wunden, die ihnen das unbarmherzige Klima und der geizige Boden schlägt, der Hunger und der Frost.
Für den Fremden ist es nicht ratsam, sich dort einzudrängen. Dort sind sie nicht die ehrerbietigen, scheuen unterwürfigen Geschöpfe der Dienstbarkeit, die für ein Stück Geld ihre Haut verkaufen. Ihr Mißtrauen gegen den Stadtmenschen, der heimliche Haß gegen ihn, den zu verbergen und zu überwinden sie erst der Nutzen gelehrt hat, steigt dort wieder an die Oberfläche herauf. Sie verstummen, wenn man sich nähert; ihre Mienen nehmen einen finsteren und drohenden Ausdruck an – und es könnte leicht sein, daß ein skeptisches Lächeln oder ein geringschätziges Wort dem Frevler, an dem sie es bemerken, verhängnisvoll würde. Eine Art Instinkt scheint ihnen zu sagen, daß dieses Ereignis nicht von fremden Augen betrachtet werden darf. Und sie sind eifersüchtig darauf; denn es ist eigens für sie vom Himmelvater veranstaltet worden; eine der Ihrigen ist es, die er berufen hat, und so gehört das Wunder ihnen ganz allein.
Neulich begegnete ich auf dem Promenadeweg einem alten Mann. Er humpelte mit unsäglicher Mühe dahin; sein rechtes Kniegelenk war in einem stumpfen Winkel gegen das linke eingebogen; ein Kropf, groß wie ein zweiter Kopf, machte ihm das Atmen fast unmöglich. Als er mich kommen sah, blieb er stehen und stammelte keuchend eine Entschuldigung, daß er sich hier auf dem Promenadeweg antreffen lasse; aber auf dem anderen Weg sei halt das Gehen »gar so viel hart«. Ich fragte ihn, wohin er denn gehe. Da sah er mich prüfend einen Augenblick an; dann deutete er hinauf in die Richtung des Tressensteines; sein verrunzeltes Gesicht, das wie aus Baumrinde geschnitzt war, erhellte sich mit einem Ausdruck unwiderstehlicher Zuversicht, und er sagte freudig: »O mei! Der Himmelvater hat halt do no nöt auf uns arme Leut vergessn!«
Pipin war beim Speisen ausgeblieben.
Später kam er mit Eugenie am Arm, zu seiner Linken den unvermeidlichen Blumenhut, an unseren Tisch.
»Wir stellen uns als Verlobte vor«, sagte Eugenie in einem scherzhaften Ton. »Gratulieren Sie uns, Dr. Elmenreich, gratulieren Sie uns, Dr. Kranich –«
Sie nahm die konventionellen Redensarten mit einem halben Lächeln an, während Pipin mit feierlicher und gerührter Miene dankte.
Dr. Kranich schüttelte ihm über den Tisch hinüber die Hand: –
»Ja, ja, wer das Glück hat, führt die Braut heim! Das hätt' ich mir nicht gedacht, Pipin, daß Sie auch als ladykiller so viel Erfolg haben werden, wie als Adept. Ich sehe, Sie sind ein protégé des Glücks, man muß sich auf guten Fuß mit Ihnen stellen.«
Und mit seinem herrlich lachenden Munde, der immer seine ernstesten Worte Lügen straft, sprach er eine Art Segen über das Brautpaar: »denn ich bin ein frommer Mensch, wie Sie wissen. Ich liebe die schönen, heiligen Ceremonien, wenn sie auch in einem Restaurationslokal deplaciert erscheinen. Ja, Gott segne Sie, Pipin!«
Und dann rief er Eugenie, die er neben sich Platz zu nehmen gezwungen hatte, als Zeugin an, ob er ihr nicht stets Pipin als den geeignetsten Mann zum heiraten bezeichnet habe, als denjenigen, der alle erforderlichen Qualitäten besitze, mit denen ein Gatte und namentlich der Gatte einer schönen Frau, die auf den Händen zu tragen sei, ausgerüstet sein müsse –. Eugenie warf unter halbgesenkten Lidern einen abwehrenden Blick auf ihn. Als er aber so weit ging, zu behaupten, daß es seine Ratschläge seien, denen Pipin sein Glück verdanke, fiel sie ihm ins Wort.
»Sie irren sich, Dr. Kranich«, sagte sie mit einem Versuch, ihn kalt und von oben herab anzusehen. »Ich befolge Ihre Ratschläge nicht; es ist ganz mein eigener Entschluß. Es ist meine eigene Wahl! Pipin ist der liebste, beste Mensch von der Welt! Der einzige Mensch«, – mit einem Seitenblick auf Elmenreich – »der mich wirklich liebt, der an mich glaubt. Ich werde ihm das nie vergessen: ich werde ihm immer dankbar dafür sein! Wenn Sie auch über alles spotten, Dr. Kranich, ich werde meine Vorsätze doch ausführen, ja, das werd' ich!«
»Sapristi! dann bleibt mir allerdings nichts übrig, als meinen Irrtum freudig einzugestehen. Ich bin ein Bewunderer der guten Vorsätze und schönen Entschlüsse; sie sind ja in diesem gemeinen Leben, in dem sich alles nach langweiligen Gesetzen und mit öder Notwendigkeit vollzieht, das einzige Erhebende und Erbauliche. Hier aber sitzt so ein ruchloser Skeptiker, der an dergleichen löbliche Bestrebungen nicht glauben will. Auf, Elmenreich! Warum sind Sie so lässig? Lesen Sie dieser leichtsinnigen Jugend, die da mit guten Vorsätzen in die Ehe treten will, tüchtig die Leviten.«
Elmenreich antwortete nicht. Schweigsam und finster hatte er an seinem Barte gedreht, und er blieb schweigsam, bis die Verlobten sich wieder zum Gehen anschickten. Da sagte er zu Pipin: »Ich möchte mit Ihnen reden, Pipin. Kommen Sie zu mir, so bald Sie Zeit haben.«
* * *
Gegen Abend erhielt ich ein Billet von Elmenreich: »Adieu in aller Eile. Ich packe ein und reise mit dem Nachtschnellzug ab. Unwiderruflich. Sehe ich Sie vielleicht noch vorher?«
Ich fand ihn inmitten einer chaotischen Unordnung; der Inhalt seines Kleider- und Wäscheschrankes war über sämtliche Möbel des Zimmers verstreut.
Er war so irritiert, daß ihm in diesem Augenblick jeder Handgriff als eine unüberwindliche Schwierigkeit erschien.
Nicht ohne mißtrauisches Widerstreben ließ er es zu, daß ich seinen Koffer packte; er warf sich mit abgewendetem Gesicht in einen Fauteuil, und blieb sitzen, ohne sich zu rühren, bis ich fertig war und mich neben ihn setzte. Da zündete er sich eine Cigarre an – ein Zeichen, daß das Schlimmste vorüber war. Melancholisch verfolgte er die blauen Ringe, die in der Dämmerung gegen das Fenster hinzogen, wo das Abendrot sie mit violetten Schatten färbte.
»Und so geht ein Jahr nach dem anderen dahin, und ich werde immer ärmer, immer einsamer, immer kahler! Ich strecke meine Hand aus nach Liebe, nach Freundschaft, nach Teilnahme – aber ich ergreife nur faule Früchte, wohin ich lange. Und wenn ich einmal etwas Wertvolles finde – dann muß ich die Hand dennoch leer zurückziehen, weil eine gewandtere und listigere mir zuvorgekommen ist –!«
»Haben Sie denn die Hand ausgestreckt, Elmenreich? Haben Sie nicht vielmehr ein Herz, das Ihnen entgegengetragen wurde, so weit es ein junges Mädchen nur entgegentragen kann, auf das Entschiedenste abgelehnt?«
Elmenreich hatte aber ein anderes Herz gemeint.
Eugenie – pah, das war nichts, worüber ein Mann in seinem Alter nicht hinweg könne. Da spielen die erotischen Anziehungen nicht mehr jene große Rolle, wie es die Frauen voraussetzen; der Ersatz für Liebe ist zu leicht, und man hat sich zu sehr daran gewöhnt, Ersatz zu finden. Aber ein Freund, das Herz eines Mannes, ein Jünglingsherz – das ist das Unersetzliche, der Verlust, für den nichts in der Welt entschädigt. Ueber die Bitterkeit des Altwerdens kann nur eines hinwegtrösten: sich für die jüngere Generation, und wär' es auch nur für einen einzigen Menschen dieser Generation, als notwendig, als unentbehrlich zu fühlen, ihn zu führen, auf ihn den ganzen, unverbrauchten Schatz zu häufen, den man mit sich trägt, das Pfund, mit dem man selbst im Leben nicht gewuchert hat. – Ein hohes und subtiles Kulturproblem liegt in diesem Bunde zwischen zwei Generationen, zwischen der kommenden und der gehenden – –
Als Elmenreich so redete, ließ ich mich verleiten, ein Wort für den Grafen einzulegen. Wenn er diese Verbindung zweier Generationen so hoch einschätze, warum denjenigen unerbittlich zurückstoßen, der alles daran setze, das zerrissene Band wieder zu knüpfen –?
Diesmal aber war Elmenreich nicht in der Stimmung, den Grafen als einen Gegenstand der Unterhaltung zu behandeln.
»Nennen Sie nur den nicht! Erinnern Sie mich nur nicht daran, daß es einmal eine Zeit gegeben hat, in der ich diese sumpfige Gegend für einen Garten hielt, eine Zeit, in der ich mich durch diese Pose von Freundschaft und Hingebung täuschen ließ. Nein, erinnern Sie mich nicht an den! Ich könnte sonst Dinge sagen, die ich nicht sagen will. Wenn ein solcher Mensch große Worte in den Mund nimmt, dann sollten von rechtswegen alle, die es mit den großen Worten ehrlich meinen, sich zusammenthun und ihn aus dem Tempel hinaustreiben –«
»Aber wäre es nicht doch möglich, daß Sie ihn jetzt zu hart beurteilen, Elmenreich?«
»Das würde ich mir nur zur Ehre anrechnen. Nirgends muß man härter sein, als gegenüber den Mißbrauchenden. Das sind die Menschen, die alles entwerten, alles verderben, alles suspekt machen, was die echten Großen hervorbringen – schädliche Insekten sind sie, die das Fleisch der edelsten Früchte fressen und sie wurmstichig, hohl, ungenießbar zurücklassen. Ich, meinesteils, verkehre lieber mit Pfahlbauern und Spießbürgern als mit solchen Falschmünzern des Geistes ... Der Graf existiert nicht mehr für mich, ich habe ihn einfach ausgestrichen aus meinem Leben –«
»Verzeihen Sie, Elmenreich: Das kann ich Ihnen nicht glauben. Denn ein klein wenig hat Sie sein Thuen und Treiben die ganze Zeit her dennoch interessiert – und wenn er Ihnen so ganz gleichgiltig wäre, hätten Sie es nicht der Mühe wert gefunden, ihm den Streich mit der Zeitung zu spielen –«
Er sah mich überrascht an und begann heftig zu werden. »Wie? So wird das mißverstanden? Und obendrein von Ihnen? Ja, haben Sie denn nicht bemerkt, daß es dieser verdammte Pipin war, um den es sich handelte? Der da vor einer großen Dummheit bewahrt werden mußte? Wenn der Graf auf eigene Faust seine Leiweriam hätte herausgeben wollen, dann hätte ich mich einen blauen Teufel darum gekümmert. Oder wie? Hat er am Ende auch Eindruck auf Sie damit gemacht? Aber das sage ich Ihnen im Voraus: wenn Sie« – er sah mich unter finster zusammengezogenen Brauen böse an – »wenn Sie geneigt sein sollten, für ihn Partei zu ergreifen, so wäre das ein casus belli zwischen uns –«
»Sie fordern also, daß man sich Ihrem Urteil unbedingt unterwirft, blindlings, ohne eigene Meinung –?«
»Herr des Himmels!« brauste er auf, »ich fordere gar nichts! Meinetwegen mag jeder seinen Weg gehen wie er will, und sich das Genick brechen, wenn es ihn freut –«
Er sprang auf, stellte sich ans Fenster und sah in die einbrechende Nacht hinaus.
Nach einigen Minuten kam er zurück und entschuldigte sich. Mit diesem Einwand habe ihn früher schon Pipin zur Raserei gebracht, nun käme ich und wiederhole dieselbe Leier. Ob ich es auch darauf anlege, ihn fühlen zu lassen, daß er der Ueberflüssige sei, der Unnütze und Unausstehliche? Gewiß, er verlange, daß man an ihn glaube; wie anders wäre wohl ein Verhältnis von Person zu Person möglich! »Hol mich Gott, es liegt keine Befriedigung darin, den überflüssigen Warner zu spielen! Oder soll ich etwa auf die Genugthuung warten, daß Pipin in drei, vier Jahren gekrochen kommen und sagen wird: »Hätt' ich Ihnen doch gefolgt, Elmenreich!« Pfui Teufel über dieses Rechtbehalten im Nachhinein! Wenn erst Thatsachen eintreten müssen, und mir Recht geben, damit ein Mensch, dem ich zugethan bin, an mich glaubt! Wenn ich, ich, meine Person, meine Einsicht, ihm nichts gelten, keine Macht haben! Wenn ich meine Bestätigung von den Ereignissen erwarten soll! Aber ich danke für diese Bestätigungen! Wer Recht behält, ist immer unangenehm. Man geht ihm aus dem Weg, diesem beschwerlichen Herrn, der alles besser weiß, man hat keine Freude, wenn man ihn trifft, denn er erinnert einen nur daran, daß man eine Dummheit gemacht hat, daß man unterlegen ist. Und wie die Menschen einmal sind, lassen sie das denjenigen entgelten, der die Veranlassung zu dieser Erinnerung giebt. Da steht er dann, der Ganzgescheite, der Einsichtsprotz, und begreift nicht, warum man ihn meidet, warum er einsam ist! Da steht er draußen und kann zusehen, wie die anderen in warmer Gemeinschaft leben, wie sie leben, leben, während er zusieht, immer zusieht! Und eines Tages weiß er, daß er der Ueberflüssige ist, weil das, was er zu geben hat, keine Macht unter anderen Lebensmächten bedeutet, weil es nur als etwas Störendes und deshalb Feindliches empfunden wird« ...
Da entstand auf dem Gange ein Geräusch.
»Ganz bestimmt, er ist noch nicht fort«, sagte eine weibliche Stimme.
»Aber es ist alles finster bei ihm, seine Fenster sind nicht beleuchtet«, rief Pipins Stimme. Die Thür öffnete sich, ein Lichtstreifen fiel herein.
»Gott sei Dank«, sagte Pipin und faßte mit beiden Händen Elmenreich bei den Rockaufschlägen, als müßte er ihn noch in diesem Augenblick festhalten. »Gott sei Dank! Ich habe noch keinen Atem, so bin ich gerannt. Wenn Sie schon fortgewesen wären, ich weiß nicht, was ich gethan hätte!«
»Und eben früher hatten Sie es doch so eilig, von mir fortzukommen«, versetzte Elmenreich in dem gewohnten, trockenen und barschen Ton.
»Ich danke Gott, daß ich lieber davongelaufen bin. Ich danke Gott, daß ich wenigstens so viel Verstand hatte – denn jetzt sehe ich alles in einem anderen Licht« –
Elmenreich machte eine überraschte Bewegung: »Also sind Sie inzwischen zur Vernunft gekommen, Pipin?«
»Ja! mein ganzer Groll gegen Sie ist weg. Sie haben mir das Aergste angethan, Herr Doktor, ich muß es Ihnen sagen, – und als ich von hier fortrannte, dachte ich, daß ich Ihnen nie im Leben würde verzeihen können. Wenn Sie über mich geschimpft hätten, mir gesagt hätten, daß ich ein Esel bin, ein Dummkopf, ein Taugenichts – alles was Sie nur wollen, da hätte ich Ihnen Stand gehalten; aber Sie haben jemanden angegriffen, den ich mehr liebe als mich selbst, ein Wesen, das unendlich höher steht als ich – und wenn irgend wer anderer, als Sie es gewagt hätte, – aber nein, nein, davon wollte ich ja gar nicht reden! O Gott, wo soll ich nur anfangen – ich habe Ihnen so vieles zu sagen!«
Er fiel ganz gebrochen in den Fauteuil, in dem früher Elmenreich gesessen hatte.
Das Mädchen brachte die Lampe. Bei Licht konnte man erst bemerken, wie blaß und verfallen Pipin war. In sein junges, faltenloses Gesicht, in dem noch keine Erfahrung und keine Sorge ein Zeichen eingegraben hatte, war ein anderer Zug gekommen; die glatte Fröhlichkeit, die ihm etwas Ausdruckloses, Unbedeutendes verlieh, war mit einem Male daraus weggewischt.
»Hören Sie mich an, Doktor Elmenreich! Ich habe in diesen paar Stunden furchtbar gelitten – mehr als ich imstande bin, Ihnen zu erklären –«
»Erklären Sie mir nichts, Pipin. Sagen Sie mir lieber ohne Umschweife: ja oder nein? Alles andere interessiert mich nicht.«
Pipin machte einen schwachen Versuch zu lächeln. »Grade dieses andere müssen Sie mir von der Seele nehmen. Das ist es, was ich Ihnen sagen muß! Ich könnte nicht mehr ganz glücklich sein, wenn Sie mir nicht wieder gut sein wollen –«
»Sie kennen die Bedingung, Pipin –«
»Ich bitte Sie, ich beschwöre Sie, fangen Sie nicht wieder damit an! Wie soll denn ein Mensch von meiner Beschaffenheit sich in einen Streit mit Ihnen einlassen, sobald Sie sich auf Ihre überlegene Einsicht und Ihr überlegenes Urteil berufen? Da bin ich ja im vorhinein geschlagen. Sie waren doch sonst so voll Großmut und Wohlwollen gegen mich! Warum wollen Sie mich jetzt ganz vernichten? Sehen Sie, als ich früher davon ging, hatte ich wirklich die Empfindung, daß Sie mich ganz vernichten wollen. Ich war so außer mir, daß ich zu allen bösen Dingen fähig gewesen wäre – nein, fähig war, zu allen bösen Gedanken nämlich. Ich konnte einfach nicht glauben, daß Sie mit Ihrem hohen Verstand und Ihrer Ueberlegenheit im Ernst von mir fordern sollten, ich müßte meine Liebe, mein Alles, den Inhalt meines ganzen künftigen Lebens unter Ihren Schiedsspruch stellen! Was für ein elender Mensch wär ich, wenn mein Herz durch fremde Einflüsterungen irre zu machen wäre in seinem Glauben und Vertrauen –? Nein, nein, das konnten Sie nicht annehmen! Und deshalb fragte ich mich: warum? Warum handelt er so gegen mich? Warum handelt er so gegen sie, die ihm selbst früher nicht gleichgiltig war? Wenn, wenn – o Gott, wie soll ich es Ihnen nur sagen, damit Sie mir wieder verzeihen? – wenn er die ganze Welt nur deshalb für krank und bitter hielte, weil er selbst eine kranke und bittere Seele hat? Wittert er nicht überall unwürdige Hintergedanken, eigennützige Beweggründe? War es nicht genau dasselbe mit dem Grafen und dem Meister? Und – und noch mehr: ist er denn in diesem Fall wirklich unparteiisch? Ist er nicht vielleicht im innersten Grunde seines Herzens, dort wo die Dinge geschehen, von denen wir nichts Genaues wissen, ist er nicht vielleicht doch unbewußt böse auf mich und – auf sie?«
Pipin hielt inne und ließ seinen Kopf auf seine Hände sinken, wie um den Zorn Elmenreichs über sich ergehen zu lassen.
Elmenreich stand unbeweglich. Pipin faßte seine herabhängende Hand. »Ich bin aber schon wieder bei Besinnung. Jetzt weiß ich, daß das Alles undankbare, ungerechte, unsinnige Gedanken waren, wie sie der Schmerz eingiebt! Jetzt bin ich gekommen, um Ihnen alles zu gestehen, um Ihnen alles abzubitten; ich bin gekommen, weil ich es nicht aushielt, auch nur eine Stunde lang ein schlechtes Gefühl gegen Sie auf der Seele zu haben –«
Elmenreich hörte nicht auf ihn. Er drehte Locken in seinen Bart, ganz mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, und führte ein Selbstgespräch in unartikulierten Lauten.
Pipin hielt noch immer seine herabhängende Linke umfaßt. Er schüttelte ihn ungeduldig daran: »Sagen Sie doch etwas! Sagen Sie, daß alles zwischen uns wie früher ist! Was soll ich denn thun, daß Sie mir wieder verzeihen?«
Elmenreich befreite seine Hand und kreuzte seine Arme über der Brust.
»Wenn ein Mensch wie Sie, Pipin, mißtrauisch wird, muß wohl ein arger Fehlgriff in der Behandlung geschehen sein«, sagte er kühl. »Ich hatte gedacht, ich könnte durch mein persönliches Urteil, durch meine Autorität Eindruck auf Sie machen. Da war ich aber gewaltig auf dem Holzweg, wie ich sehe. Also gut, gehen wir einen anderen Weg! Sind Sie gar nicht auf den Gedanken gekommen, Pipin, daß das, was ich als bloße Vermutungen hinstellte, als meine subjektive Meinung über diejenige, die ich nicht nennen will – daß alles das einen realen Hintergrund hat? Daß es Thatsachen giebt, Pipin –«
»Thatsachen?« fragte Pipin mit vibrierender Stimme. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Hören Sie mich an, Pipin. Ich wollte Ihnen und mir die Erwähnung dieser Thatsachen ersparen – da Sie aber meiner Unparteilichkeit mißtrauen, muß ich mich rechtfertigen –«
»Nein, um keinen Preis!« rief Pipin heftig, sprang auf und hielt sich die Ohren zu. »Ich will nicht, daß Sie sich rechtfertigen. Lieber Gott, warum wollen Sie mich nicht mehr verstehen? Was würde alles Rechtfertigen nützen, wenn ich keinen Glauben an Sie hätte? Und wozu brauche ich Ihre Rechtfertigung, da ich meinen Glauben an Sie ohnedies wiedergefunden habe –?«
Elmenreich drückte ihn in den Fauteuil zurück.
»Also nicht als meine Rechtfertigung, sondern um Ihnen zu beweisen, daß Ihnen der Glaube eben jenen Possen spielt, den er gewöhnlich aufzuführen pflegt – er ist ein Vogel, der sich gern auf den unrechten Ast setzt. Daher geschieht es, daß Sie dort glauben, wo Sie mißtrauen sollten, und dort mißtrauen, wo Sie glauben sollten –«
Pipin wollte ihn unterbrechen, er wehrte ab.
»Beruhigen Sie sich, liebes Kind, ich bin nicht böse auf Sie«, sagte er mit einer Art Lachen; es war aber in seiner Stimme, wenn auch keine höhnische oder ärgerliche Note, so doch weder Wärme noch Herzlichkeit. »Ich verstehe zu gut, daß Sie nicht anders konnten. Ich hätte Ihnen eben gleich mit Thatsachen statt mit persönlichen Urteilen aufwarten sollen ... Eines Tages also – es ist noch nicht lange her, vierzehn Tage oder so dergleichen – eines Tages verirrte ich mich im Wald. Lassen wir es dahingestellt, ob ich mich ganz zufällig verirrte, oder ob ich die Spur eines Wildes verfolgte, in der Absicht, mir durch Thatsachen Gewißheit zu verschaffen. Es giebt ja bekanntlich Mittel, dem Zufall nachzuhelfen; man muß nur dem Zufall die Hand bieten. Sie sehen, Pipin, ich selbst habe es meinem eigenen Verstand gegenüber nicht anders gemacht, als Sie – ich habe diesem ewigen Besserwisser auch keinen Glauben schenken wollen, bevor ihn die Thatsachen nicht gerechtfertigt hatten. Und nun merken Sie gut auf, Pipin: als ich so durch den Wald irrte, weitab von allen Promenadewegen, wo die schöne Welt mit ihren feinen Schuhen und zarten Füßen lustwandelt, kam ich nach einiger Zeit auf eine kleine versteckte Wiese tief im Wald. Beileibe kein neuer Aussichtspunkt, den man einmal aus Ueberdruß an den bekannten Aussichtspunkten aufsucht, selbst wenn man nur auf einem morastigen Bauernsteig hinkommen kann, sondern eine ganz nichtssagende, langweilige Wiese, umgeben von lauter nichtssagenden, langweiligen Fichtenwipfeln. Das einzige Interessante auf dieser Wiese war ein Heustadel – und Sie werden zugeben, Pipin, daß man hier zu Land nicht eine halbe Stunde über Stock und Stein durch den Wald hinaufzuklettern braucht, um sich den Anblick eines Heustadels zu verschaffen. Für mein Wild aber schien dieser Heustadel eine magische Anziehungskraft zu besitzen; es ging schnurstracks darauf los wie auf ein wohlbekanntes Ziel und verschwand alsbald dahinter. Ich wartete – nichts rührte sich. Mein Wild blieb verschwunden. Während ich nun überlegte, wie ich es wohl anstellen sollte, dem Geheimnisse des Heustadels auf die Spur zu kommen, ohne mein Wild zu verscheuchen, erschien ein zweiter Jäger auf dem Anstand – ein gewandterer und keckerer Jäger, Pipin, einer, der sich besser als wir beide auf die Listen und Finten versteht, mit denen man auf der Jagd sein Glück macht. Und dieser Jäger verschwand gleichfalls, ohne eine Minute zu verlieren, hinter dem Heustadel. Da gab ich es auf, diese interessante Welt von der anderen Seite zu besehen. Wozu auch? Ich wußte jetzt vollkommen genug.«
»Nun, und?« fragte Pipin.
»Und so ging ich wieder den Wald hinunter nach Hause – um eine Illusion ärmer, aber um eine Erfahrung reicher, und so gründlich geheilt, Pipin, daß ich mich wie von einem Alpdruck befreit fühlte.«
Pipin sah ihn erstaunt an. »Sie wollten doch – Sie haben doch gesagt, daß es »Thatsachen« giebt?«
»Noch mehr Thatsachen? Haben Sie nicht genug an dieser einen Thatsache?«
Da brach Pipin in ein lautes herzliches Lachen aus. »Liebster bester Doktor Elmenreich! Und das ist alles? Und deswegen spannen Sie mich auf die Folter? Wie soll ich denn das verstehen? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein?«
»Es scheint, Pipin, ich habe mich nicht deutlich ausgedrückt. Muß ich Ihnen wirklich erst sagen, wer jener Jäger war –?«
»Nein; denn es versteht sich von selbst, daß es Doktor Kranich war –«
»Und sagt Ihnen das nicht genug? Aber natürlich! Sie »glauben« ja auch an Doktor Kranich eher als an mich!«
Pipin wurde wieder sehr ernst. »Mißverstehen Sie mich nicht absichtlich! Ich glaube nicht an Doktor Kranich, aber ich glaube – an Eugenie.« Und mit Lebhaftigkeit fuhr er fort: »Sie sagen, das sei vor vierzehn Tagen gewesen. Nun, bis gestern war Eugenie vollkommen frei, konnte thun und lassen, was ihr beliebte. Sie hatte niemandem ihr Wort gegeben, und niemand hatte ein Recht, ihre Freiheit einzuschränken und ihre Schritte zu bewachen. Wenn Doktor Kranich sie zu etwas verleitet hat, was mißdeutet werden kann, so war das sehr unrecht von ihm; denn er hätte bedenken sollen, daß man es nicht ihm, sondern ihr übelnehmen wird. Nein, ich begreife Sie nicht, Doktor Elmenreich! Hatten Sie denn damals ein Recht, von Eugenie zu fordern, daß sie sich ausschließlich mit Ihnen beschäftigen sollte?«
Elmenreich sah Pipin mit gerunzelter Stirne an.
»Sie glauben also trotz alledem, daß diese junge Dame zur Frau für Sie geeignet ist?«
»Warum sollten mich Dinge, die vorher geschehen sind, irre machen an ihr? Sie hatte die Freiheit der Wahl – sie brauchte sich vorher nicht gebunden zu fühlen. Jetzt hat sie mir ihr Wort gegeben, und an dieses Wort glaube ich. Nichts in der Welt wird meinen Glauben an ihr Wort erschüttern! Wenn es anders wäre, dürft' ich da sagen, daß ich sie liebe?«
Elmenreich antwortete nichts. Er stieß nur einen tiefen, ungeduldigen Seufzer aus, wie ein Mensch, der es aufgiebt, sich mit einem andern zu verständigen.
Es entstand eine lange Pause, eine Pause voll von unausgesprochenen Worten und unauflöslichen Dissonanzen. Etwas Frostiges lag in der Luft, eine Abschiedsstimmung, die nicht allein durch das Unbehagliche, das den letzten Augenblicken vor einer Abreise stets anhaftet, erzeugt war.
Draußen fuhr der Wagen vor's Hausthor. Die Magd kam mit dem Kutscher herein, um den Koffer zu holen. Elmenreich stand auf und verabschiedete sich trocken. Pipin hielt ihn an der Hand fest.
»Und so wollen Sie fortgehen? Ohne ein gutes Wort?« rief er schmerzlich. »Ich habe ein Gefühl, als ob – als ob Sie mir noch so vieles zu sagen hätten!«
»Gott bewahre!« versetzte Elmenreich, ohne ihn anzusehen; »ich habe Ihnen schon viel zu viel gesagt. Das Fazit ist ja doch nur, daß man Mißtrauen erntet –«
Da warf sich Pipin ungestüm an seine Brust, umschlang ihn mit den Armen und drückte sich an ihn. »Sie stoßen mich also von sich, Sie wollen nichts mehr von mir wissen? Sie verzeihen mir nicht? Dann nehmen Sie mir ein Stück von meinem Leben, dann bin ich nur mehr ein halber Mensch –« Elmenreich fuhr ihm mit der Hand über den Kopf.
»Armer Kerl!« sagte er nicht ohne Bewegung. »Aber wer von uns ist denn nicht ein halber Mensch? Wir sind alle miteinander nur Stücke von dem, was wir sein könnten, wenn – mna, da läßt sich eben nichts ändern!« Er schob Pipin von sich weg, lief zur Thür hinaus und sprang in den Wagen, ohne sich noch einmal umzusehen.
Lange sah Pipin dem davonfahrenden Wagen nach, der rasch in der Dunkelheit verschwand. Nachdenklich sagte er dann:
»Eines hätte ich ihm nicht sagen dürfen! Daß ich ihm nicht gefolgt habe, das wird er begreiflich finden, wenn er sich nicht mehr darüber ärgert, aber daß ich einen Augenblick an ihm irre geworden bin, das wird er mir nie verzeihen!«
* * *
26. September 1893.
... Ich werde ihn erst auf seinem alten Platz in unserem Wohnzimmer wiedersehen. Aber nicht mehr den alten Elmenreich – sondern einen neuen für mich, zu dem ich mich in ein neues Verhältnis setzen muß. Er ist als Sieger aus dem Erlebnis dieses Sommers hervorgegangen; er hat sich nicht täuschen lassen, er hat Recht behalten durch die Ueberlegenheit seines Verstandes. Ich sollte ihn bewundern. Und der arme Pipin ist in die Schlinge gefallen; er geht unabsehbaren Enttäuschungen entgegen, grausamen Schmerzen; sein Glaube wird ihn betrügen, sein Vertrauen wird ihn irreführen, seine Güte wird ihn vernichten. Ich sollte ihn bemitleiden.
Nach meinem innersten Empfinden aber ist alles umgekehrt. Da erscheint mir Elmenreich arm und kahl, ein dürrer Boden, aus dem nimmermehr ein Halm sprießen wird – und Pipin unendlich reich, ein Auserwählter, auf den das Leben seine ganze Fülle häufen will ...
* * *
(Aus einem Briefe.)
28. September 1893.
... Daß Pipin diese letzten Tage meiner Verbannung mit mir teilt, mußt du der Wundergeschichte zuschreiben, die ihn zu guterletzt noch um das Vergnügen gebracht hat, mit seiner Braut zu reisen. An seiner Stelle machte Dr. Kranich den Reisemarschall. Eugenie hatte ihren Verlobten zwar gefragt, ob er diese Begleitung gestatte; er antwortete, daß er sich weder jetzt noch jemals ihr gegenüber auf den Standpunkt des Gestattens oder Verbietens stellen wolle. Da ließ sich die Stiefmutter nicht einen Tag länger halten; denn sie war sehr böse darüber, daß Pipin unerschütterlich darauf beharrte, vor seiner Abreise die Angelegenheiten der Tressenbäuerin zu ordnen.
Der neue Wallfahrtsort hatte plötzlich das Augenmerk der geistlichen Autoritäten auf sich gezogen. Bis dahin hatten sie der Sache ihren Lauf gelassen, ohne sich irgendwie einzumischen. Als es aber ruchbar wurde, daß ein unbefugter Amateur seine Hände dabei im Spiel gehabt und durch die Experimente einer »übersinnlichen Wissenschaft« den Zustand der Bäuerin herbeigeführt hat, ließ sich der Pfarrer den Brunnhofer-Seppl kommen; dann stattete er Pipin einen Besuch ab. Pipin bekam sehr unangenehme Dinge zu hören, Dinge, die allerdings an die Adresse der beiden Abwesenden gerichtet waren, die er aber doch selber einstecken mußte.
Das Ergebnis dieser Unterredung war, daß er sich verpflichtete, die Sache in aller Stille und ohne Aufsehen ungesäumt in Ordnung zu bringen.
Vor allen Dingen sollte die Kranke ehestens aus dem Umkreis der Gläubigen entfernt werden. Mit Hilfe des Arztes und reichlicher Geldopfer nach allen Seiten gelang es ihm auch in den nächsten Tagen, ihr einen Platz im Spital der Kreishauptstadt zu verschaffen. Gestern bei Tagesanbruch wurde sie von zwei Wärterinnen in einem Wagen abgeholt und auf die Bahn gebracht.
Und so ist es wieder nichts mit dem Wunderbaren! Oben vor dem leeren Hause am Abhang des Tressensteines stehen die Zuspätgekommenen und murren. Sie, die mühselig und beladen sind, auf die das Leben seine eiserne Faust gelegt hat, die es blutig schindet mit seinem unbarmherzigen Druck, sie sollen bloß zum Narren gehalten worden sein von einem dieser Spaziergänger und Nichtsthuer? Die Heilige aus ihrem Fleisch und Blut, sie wäre nur durch die falschen und unnützen Künste behext gewesen, mit denen sich die Nichtsthuer die Zeit vertreiben –? Und man kann es ihnen nicht einmal heimzahlen! Sie sitzen in sicherer Ferne in den warmen Städten, wo sie sich's gut geschehen lassen, während der grimmige Winter von den beschneiten Gipfeln heruntersteigt in das Land und alles Lebendige zertritt ...
Unten im Orte ist es wie ausgestorben; in den Villen und Wirtshäusern werden die Läden geschlossen, Vorhänge und Teppiche abgenommen, die offenen Veranden mit Brettern verschlagen. Es giebt keine eleganten Gestalten mehr, keine Equipagen, keine geräuschvollen Vergnügungen. Das Fieber dreier Monate ist vorbei; die Gegend kehrt aus dem künstlichen Leben des Sommers zu ihrer natürlichen Bestimmung zurück. Auf den Pflug gebückt, bearbeitet der Bauer schweigend seinen Acker; und in der Furche schreitet der Säemann mit seiner großen, unsterblichen Geberde – ein Symbol des primitiven Lebens, das sich in den Jahrtausenden behauptet, Wurzel und Stamm jenes ewigen Baumes, dessen Wipfel in ruheloser Bewegung von allen Winden zerzaust werden ...
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Ein Kinderbuch für Mütter. 3. Auflage. Brosch. M. 3.–, geb. M. 4.–.
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»Linzer Tagespost«.
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Internationale Litteraturberichte, Leipzig.
Frances Hogdson Burnett, Der kleine Lord
Aus dem Englischen von Paul Seliger. Illustriert von S. v. Sallwürk. Preis M. 3.–.
Paul Herman Hartwig, Schnockelchen
Kindergeschichten. Brosch. M. 1.–, geb. M. 2.–.
Einer gesunden Reform des Ehe- und Geschlechtslebens der Gegenwart sind folgende Werke gewidmet:
Wenn die Menschen reif zur Liebe werden.
Von Edward Carpenter. Einzig autorisierte deutsche Ausgabe. Aus dem Englischen übersetzt und eingeleitet von Karl Federn. Brosch. M. 3.–, geb. M. 4.–.
Während unsere moderne Erziehung meist mit einer scheuen Verschwiegenheit über die Fragen sexueller Natur und ihre heimlichen Abgründe hinwegzuleiten sucht, erörtert der Verfasser, frei von aller Ängstlichkeit und Prüderie, dieses für das Lebensglück jedes Einzelnen und für unsere gesamte Kultur so hochwichtige Problem. Mit dem ruhigen und vorurteilslosen Blick des Naturforschers vereinigt er den idealen Schwung des Propheten und sozialen Reformators. Die unhaltbaren und unreifen Zustände der Gegenwart unterzieht er einer tiefeindringenden Kritik und gewinnt aus ihnen die Fundamente einer neuen, höheren Weltanschauung, welche die Sinne nicht durch Askese und unsinnliches Idealisieren verkrüppeln läßt, sondern der Persönlichkeit ein freies Ausleben aller ihrer Kräfte und Fähigkeiten ermöglicht. »Nicht nur fort sollst Du Dich pflanzen, sondern hinauf«. Dieses Wort Nietzsches könnte man der Schrift als Motto voransetzen. Es ist eins von jenen Büchern, durch das der warme Hauch des Lebens weht, ein Grund- und Eckstein von jenem großen Bau der Zukunft, an welchem wir mitzuarbeiten alle berufen sind.
Das Geschlechtsleben in der deutschen Vergangenheit
Von Max Bauer. Brosch. M. 4.–, geb. M. 5.50.
Auf ein reiches und gewissenhaft geprüftes Quellenmaterial gestützt, entwirft der Verfasser ein anschauliches Bild von den sexuellen Lebensgewohnheiten und Sitten unserer Vorfahren. Die naive Derbheit und Sinnlichkeit des mittelalterlichen Menschen mit ihren oft grotesken Äußerungen der Lebensbejahung ist hier ebenso anziehend wie historisch treu wiedergegeben. Keine Seite des geschlechtlichen Lebens, des legitimen, wie des illegitimen, bleibt unaufgehellt. Die Schrift bietet nicht nur dem Kulturhistoriker von Fach viel Interessantes, sondern ist, trotz ihres wissenschaftlichen Charakters, auch für jeden Laien lesenswert.
Schriften und Gegenschriften zur »Vera«-Frage.
Vera, Eine für Viele! Aus dem Tagebuche eines Mädchens. 15. Auflage. M. 2.–.
Christine Thaler, Eine Mutter für viele. Ein Brief an die Verfasserin von »Vera, Eine für Viele«. 3. Auflage. M. 1.–.
Auch jemand: Eine für sich selbst. Brief an die Verfasserin von »Eine Mutter für viele«. M. 1.–. 3. Auflage.
Verus, Einer für Viele. Aus dem Tagebuche eines Mannes. M. 2.–.
E... E..., Einer für Viele. M. 1.–.
Felix Ebner, Meine Bekehrung zur Reinheit. Aus dem Leben eines Junggesellen. M. 2.–.
Gerda Schmidt-Hansen, Eine für Vera. Aus dem Tagebuche einer jungen Frau. M. 2.–.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes.
Nicht nur denen, die Wert auf außerordentlich spannende Lektüre legen, sondern auch insbesondere für alle diejenigen, welche für die gerade in unseren Tagen soviel besprochenen Themata des Spiritismus, der Suggestion, der Gebetsheilung, der Seelenwanderung etc. Interesse haben, seien die folgenden belletristischen Novitäten auf das Angelegentlichste empfohlen:
Victor Blüthgen, Die Spiritisten. Roman. Preis brosch. M. 3,–, geb. M. 4,–.
»In seinem neuen Roman »Die Spiritisten« zeichnet Victor Blüthgen mit jener Mischung von köstlichem Humor und herzwarmem Ernst, der ihm eigen ist, einen Kreis von interessanten Personen, die sich in den Spiritismus vertiefen und schildert sie in den verschiedensten Stellungnahmen zum spiritistischen Problem. Besonders sind die Abschnitte, in denen Blüthgen den Wahn einer Befruchtung aus der vierten Dimension darstellt, von aktuellstem Reiz. Dem Dichter standen die weitgehendsten praktischen Studien auf dem problematischen Gebiet zur Verfügung. In den Tagen des Prozesses einer Anna Rothe, unter den Sensationen der Gebetsheilung dürfte sich ein solches Werk des allgemeinen Interesses erfreuen.«
Berliner Börsenzeitung.
C. Eysell-Kilburger (Frau Victor Blüthgen), Klänge aus einem Jenseits. Ein Mysterium. Preis brosch. M. 3,–, geb. 4,–.
Dilettanten des Lasters. Roman. Preis brosch. M. 3,–, geb. M. 4,–.
Der Roman, ein Beitrag zur Frauenfrage, spielt in einem kleinen Kreise jener auf geistigem Gebiete erwerbenden Mädchen, die Berlin an sich zieht: Musikerinnen, Malerinnen, Kunstgewerblerinnen, Schriftstellerinnen, die statt auf den Mann zu warten, ihr Schicksal in Ringen und Entbehren selbst in die Hand nehmen. Stolz auf ihre Selbständigkeit, geben sie vor, den Mann entbehren zu können, während sie innerlich mit allen Fibern nach ihm verlangen, weniger aus Temperament, als aus der großen Mädchenneugierde heraus. Sie kokettieren mit der Bohême, machen sich deren Allüren zu eigen, aber sie sind zu anständig, um über heimliche Wünsche, allenfalls Naschen und Nippen hinauszukommen, sind nichts weiter als Dilettanten des Lasters. Und eine und die andere wagt doch einmal zu viel, man beneidet sie und ergreift mit Feuer ihre Partei. Gerade die Heldin, die Vornehmste, innerlich Keuscheste unter allen wagt den letzten, gefährlichen Schritt, wird zum Opfer und bringt es doch nicht fertig, konsequent zu bleiben. Der ganze Roman bietet auch in der Handlung ein aufgegriffenes Stück Leben von ergreifendem Ausklang.
Brünner Morgenpost.
Bertha Saturny, Sein Wille. Eine Erzählung im Zeitalter der Suggestion. Preis brosch. M. 2,50, geb. M. 3,50.
Henry Wenden, Die Tote. Eine Artistengeschichte. Preis brosch. M. 2,50, geb. M. 3,50.
Dr. med. Fritz Köhler, Die Gebetsheilung. Eine psychologisch-naturwissenschaftliche Studie. Preis M. 1,–.
Herman Frank, Das Abendland und das Morgenland. Eine Zwischenreich-Betrachtung. Preis M. 2,50.
A. N. Apuchtin, Vom Tod zum Leben. Geschichte einer Seelenwanderung. Preis M. 2.–.
Ein Prager Studentenroman von Karl Hans Strobl.
2. Auflage. Brosch. M. 3.–, geb. M. 4.–. 2. Tausend.
»Nach der süßlichen Romantik »Alt-Heidelbergs« wirkt ein so gesundes Buch wie das vorliegende doppelt wohltuend. Strobl schildert in seinem Studentenroman die letzten Tage der sturmbewegten Zeit unter dem Ministerpräsidenten Badeni. Plötzlich fühlt man sich in jene Zeit zurückversetzt und lebt den Prager Rummel bis zur Verhängung des Ausnahmezustandes mit ... Die Schrecken dieser wenigen Wochen sind von dem Autor mit einer solchen Anschaulichkeit geschildert, daß es einem an mancher Stelle den Atem verschlägt.«
»Deutsche Zeitung«, Wien.
»Ein prächtiger Haß, eine lobenswerte Wut gegen die konventionellen Ausdrucksformeln ist hier in einer Weise zu Tage getreten, die in ihrer ganzen Bedeutung freilich nur der Selbstschaffende wird entsprechend würdigen können, der am besten weiß, wie viel fertige Phrasen an einen herandrängen, setzt man nur die Feder ans Papier.«
»Mährisch-schles. Korrespondent«.
»Strobls Erzählung, deren schlichte Helden ein paar Prager Burschenschafter sind, schildert mit großer dichterischer Kraft und Anschaulichkeit, die stellenweise an das Packendste, was Zola geschrieben hat, erinnert, Stimmungen und Vorgänge in den blutigen Prager Dezembertagen nach dem Sturz des Ministeriums Badeni, ohne dabei viel von Politik zu reden.«
»Vossische Zeitung«, Berlin.
Die Blauen
Eine humoristische Geschichte aus dem modernen Kunstleben
Von
Paul von Schönthan.
2. Auflage. Brosch. M. 2.50, geb. M. 3.50. 2. Auflage.
»Die bekannte glückliche Feder des beliebten Wiener Autors muß man auch an diesem Kabinetstücke der humoristischen Litteratur bewundern. Er schildert die Tragikomödie eines Mannes, der mit seinen Talenten zwischen der Sezession und der konservativen Kunstgenossenschaft schwankt, in den Strudel des mondänen Kunstkultus gezogen wird und in die Gefahr kommt, allerlei violetten Beeinflussungen stilisierter Damen und Snobs zu unterliegen. Zum Glück reißt ihn sein gesundes und im Grunde tüchtiges Naturell aus diesem verworrenen Treiben. Er malt statt blauer Symphonien wieder solide Bilder und heiratet eine brave Beamtentochter, statt sich von hysterischen Kommerzienratstöchtern als Kunstpriester verhimmeln zu lassen. Die Figuren stehen über dem Wiener Künstlerleben wie auf goldenem Grunde. Als besonders interessant dürfte es noch empfunden werden, daß zu der Zeichnung von einzelnen jener Figuren litterarische Persönlichkeiten, deren sensationelle Publikationen besonders den Wiener Boden stark aufregten, ihre Züge geliehen haben. Ganz abgesehen von seinem sensationellen Charakter dürfte dieser Roman schon darum das Interesse weitester Kreise erregen, weil Paul von Schönthan nicht nur spannend zu erzählen, sondern auch amüsant zu plaudern und humoristisch zu schildern versteht, wie nur wenige seiner schriftstellernden Kollegen.«
»Hamburgischer Correspondent«
Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt.
Darstellung abweichender Schriftarten: gesperrt, Antiqua, fett.
Der Titel "Dr." ist im Original in Antiqua gesetzt; auf eine Kennzeichnung wurde hier ausnahmsweise verzichtet, um den Lesefluss nicht zu hemmen.
Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, einschließlich uneinheitlicher Schreibweisen wie beispielsweise "Brunnhofer Seppl" – "Brunnhofer-Seppl", "nicht wahr" – "nichtwahr", "todmüde" – "totmüde", "verleumdet" – "verläumdet",
mit folgenden Ausnahmen,
Seite 13:
".." geändert in "..."
(am Orinoko oder Maranon Pflanzer geworden ...)
Seite 126:
".." geändert in "..."
(im Ernst behauptete sie, Elmenreich sei ein Weiberfeind ...)
Seite 184:
":" eingefügt
(Elmenreich: »Mna!«)
Seite 220:
".." geändert in "..."
(göttlich überlegen über Tod und Leben ...)